Kapitel 40
Krassawtschenko rief Lisa übers Handy an und teilte ihr mit, er werde sie auf der Straße vor dem Fernsehzentrum erwarten.
»Ich habe keine Zeit«, sagte sie.
»Zehn Minuten werden Sie schon erübrigen.«
Sie erblickte ihn sofort, als sie aus dem Auto stieg. Er lenkte seinen silberfarbenen BMW zu ihrem Škoda hinüber, lächelte ihr freundlich zu und winkte. Ohne ihn zu beachten, stieg sie aus, schloß den Wagen ab und schaltete die Alarmanlage ein. Er stieg ebenfalls aus und hakte sich bei ihr unter.
»Guten Tag, Jelisaweta Pawlowna.«
»Ich habe doch gesagt, ich habe keine Zeit.« Sie riß ihren Arm los. »Und sowieso muß ich Sie enttäuschen. Alle Ihre heroischen Anstrengungen waren vergeblich. Sie haben irgendeine Frau engagiert, sind mit ihr ins Bett gegangen und haben sich dabei filmen lassen. Sie sieht mir tatsächlich etwas ähnlich.«
»Sie sieht Ihnen sogar sehr ähnlich. Sie sind unglücklicherweise ein ausgesprochener Allerweltstyp.«
»Ja, und Sie sind doch eine kluge Frau, Jelisaweta Pawlowna, Sie kennen die garstige menschliche Natur gut genug. Viele werden in der Frau auf diesem Band Sie sehen wollen und nicht irgendeine Unbekannte. Sie sind ein Star. Außerdem werde ich der Boulevardpresse einige sehr offenherzige Interviews geben, in denen ich von unserer heimlichen, leidenschaftlichen Affäre erzählen werde.«
»Mit demselben Erfolg könnte jeder beliebige von einer Affäre mit mir erzählen. Ein paar Beweise sind dafür doch schon nötig, sogar für die Boulevardpresse.«
»Die habe ich ja. Die Fotos und die Videokassette. Ist das vielleicht nichts? Ich verkünde der Welt die rührende Geschichte, daß ich Sie schon seit langem liebe, ohne daß meine Gefühle erwidert wurden, und daß Sie sich nun endlich meiner erbarmt haben, das Glück aber nicht von langer Dauer war. Es fand sich ein Widerling, der uns beide gefilmt hat und dann eine gewaltige Geldsumme von uns erpressen wollte. Und Sie haben vor lauter Schreck beschlossen, mit mir zu brechen. Vor Gericht werde ich Ihnen schmachtende Blicke zuwerfen, vielleicht sogar eine mannhafte Träne zerdrücken. Ich werde immer wieder sagen: Lisa, verzeih mir, ich liebe dich. Denk daran, wie glücklich wir waren. Und man wird mir glauben. Mir, nicht Ihnen. Beweise spielen da gar keine Rolle. Man wird mir glauben, weil meine Version interessanter und melodramatischer ist. Ich werde eine solche Show abziehen, eine solche Seifenoper aus der Geschichte machen, daß mir ein cleverer Produzent noch Geld dafür bezahlen wird.«
»Ich habe mir noch niemals Fingernägel oder Fußnägel lackiert«, bemerkte Lisa gleichgültig, »ich habe eine Allergie gegen Azeton. Ihre Dame hat knallrote Nägel.«
»Was Sie nicht sagen!« Er klatschte erschrocken in die Hände. »Ach, da habe ich ja einen Bock geschossen, wie unangenehm! Aber trotzdem, ich bin Optimist. Ausweglose Situationen gibt es nicht. Ich wußte natürlich von Ihrer Allergie, aber Sie haben mir trotzdem den Gefallen getan, weil ich so wahnsinnig auf rote Nägel stehe. Übrigens, wie hat der Film Ihrem Juri gefallen? Auf die Farbe der Nägel wird er wohl kaum geachtet haben. Und wenn sogar er, der Ihnen so nahesteht, diesen Lapsus nicht bemerkt hat, was kann man dann vom breiten Publikum an Wachsamkeit erwarten? Allerdings, ich muß zugeben, da habe ich mir eine Nachlässigkeit geleistet. Ich hätte die Dame bitten sollen, den Lack zu entfernen.«
Lisa sah, daß der dunkelblaue Mercedes ihres Chefs auf den Parkplatz fuhr, und stürzte sofort, ohne ein weiteres Wort zu sagen, zum Eingang des Fernsehzentrums. Das hätte ihr noch gefehlt, daß man sie zusammen mit Krassawtschenko erblickte.
»Warten Sie, Jelisaweta Pawlowna, wir sind noch nicht fertig. Ich verstehe, daß es hier und jetzt nicht so gut paßt. Nennen Sie mir einen Ort und eine Zeit.«
»Gut«, knurrte Lisa, »kennen Sie das Restaurant ›Patio-Pizza‹ am Puschkin-Museum?«
»Natürlich.«
»Heute abend um neun.«
Er hat recht, dachte sie, als sie im Schneideraum saß und stumpf auf die Monitore starrte, ich muß seine Bedingungen erfüllen. Da hilft mir kein Nagellack.
Es war ein ganz normaler Arbeitstag, hektisch und anstrengend wie immer. In der kurzen Besprechung verlor Lisa den Gesprächsfaden und starrte gedankenverloren in das harte Gesicht des Programmdirektors. Sein Mund lächelte, die Augen blieben stechend und ernst. Sie überlegte, wie sie ihm Krassawtschenko am besten servieren und sich gleichzeitig selber maximal absichern könnte und wann sie das Gespräch auf dieses Thema bringen sollte.
Oder soll ich vielleicht doch auf Zeit spielen? Versuchen, ihn hinzuhalten? Solange er noch darauf hofft, in die Sendung zu kommen, wird er seine Seifenoper nicht erzählen, überlegte sie, während sie in dem kleinen Zimmer neben dem Fernsehstudio Make-up auflegte.
In diesem Raum trank man Kaffee, erzählte sich Witze, rauchte heimlich und zuckte bei jedem Klopfen an der Tür zusammen, weil das Rauchen eigentlich streng verboten war.
Aber zuerst muß ich herausfinden, was er eigentlich im Fernsehen erzählen will und wem, dachte sie, während die Sendung aufgezeichnet wurde und sie mechanisch ihren Text aufsagte.
»Du bleibst ja bei jedem zweiten Wort stecken«, sagte der Redakteur verärgert, »noch mal von vorn.«
Um halb neun verließ sie mit ihrem Wagen den Parkplatz des Fernsehzentrums, Punkt neun kam sie vor dem Restaurant an. Auf dem Parkplatz stand bereits der ihr wohlbekannte silberfarbene BMW.
Freie Tische gab es genügend. Sie schaute sich um, ging durch die verschiedenen Räume, sah Krassawtschenko aber nicht. Sie setzte sich an einen Tisch am Fenster, von wo aus sie auf den beleuchteten Parkplatz blicken konnte, bestellte vorläufig nur einen Saft, stellte dann ihre Tasche ab und holte sich vom kalten Büfett verschiedene Salate und Knoblauchbrot. Als sie zu ihrem Tisch zurückkam, schaute sie auf die Uhr. Es war schon Viertel nach neun.
Wo bleibt er bloß? Sein Wagen ist doch da … Sie begann zu essen. Der Kellner kam und fragte, ob er eine Pizza bringen solle. Sie lehnte ab.
Um halb zehn tauchten neben dem robusten Jeep, der direkt hinter dem silberfarbenen BMW stand, schlüsselklappernd zwei breitschultrige Burschen in Leder und ein hochgewachsenes hellblondes Mädchen in langem, offenem Pelzmantel auf. Der BMW hatte so geparkt, daß der Jeep nicht herauskonnte. Einer der Burschen beugte sich herunter, klopfte an die Scheibe und fuhr fast im selben Moment erschrocken zurück. Er stürzte zu seinen Freunden, die neben dem Jeep standen und rauchten. Alle drei begannen erregt zu diskutieren. Schließlich holte das Mädchen ihr Handy heraus und wählte eine Nummer.
Lisa wäre gern hinausgegangen, um zu erfahren, was los war. Aber sie zwang sich sitzenzubleiben. Sie trank ihren Saft aus, bestellte sich Kaffee, rauchte.
Etwa zehn Minuten später ertönte Sirenengeheul. Ein Krankenwagen kam auf den Parkplatz gefahren, hinter ihm ein Milizauto. Helle Scheinwerfer flammten auf, unter dem Vordach des Restaurants wurde ein starker Strahler eingeschaltet, und Lisa sah, daß in dem BMW auf dem Fahrersitz ein Mensch saß, dessen Kopf seltsam verdreht an der Kopfstütze lehnte. Sie stand halb auf, preßte das Gesicht an die Fensterscheibe und erkannte das kantige Profil von Krassawtschenko.
Die Milizionäre baten alle Gäste, auf ihren Plätzen zu bleiben, zeigten ihnen einen Paß mit einem Foto und fragten, ob jemand diesen Mann kenne.
Lisa wurde von dem Milizionär sogleich lächelnd und mit Namen begrüßt.
»Was ist dem Mann denn geschehen?« wollte sie wissen. »Ein Herzanfall? Eine Gehirnblutung?«
»Ein Kopfschuß«, erwiderte der Milizionär leise.
»Wieso hat niemand den Schuß gehört?«
»Es war eine Pistole mit Schalldämpfer. Profiarbeit. Der Parkplatzwächter hat gesehen, wie irgendein junger Kerl auf den Wagen zugegangen ist, kann ihn aber nicht genauer beschreiben.«
Der Milizionär wurde gerufen, er lächelte noch einmal und nickte Lisa zu.
»Alles Gute, Jelisaweta Pawlowna. Es war mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Er hatte gar nicht mehr gefragt, ob sie diesen Mann kenne.
»Guten Abend, Dmitri Wladimirowitsch!« Der Besitzer des Clubs »ST« zerfloß in einem breiten Lächeln, drückte Malzew die Hand, nickte Warja wieder nur zu, würzte diese nicht allzu ehrerbietige Begrüßung aber immerhin mit einem Kompliment: »Sie sehen heute blendend aus, Warja. Ich freue mich, Sie zu sehen.«
Sie gingen zu ihrem Tisch. Der Club war diesmal fast leer, das Orchester machte gerade Pause, aus einem unsichtbaren Lautsprecher strömte leise alte Lautenmusik.
Warja öffnete die in einen teuren kirschroten Einband gebundene Speisekarte.
Neben den Namen der Gerichte standen keine Preise. Die Stammkunden bezahlten bargeldlos, mit einer speziellen Clubkarte. So konnte man das Verzeichnis der Speisen und Weine lesen wie ein Gedicht, ohne von unangenehmen Zahlen abgelenkt zu werden.
»Afrikanischer Fisch ›Loup de mer‹ in einer Sauce aus fernöstlichen Krabben mit Crevettenchips«, las Warja laut vor.
»Bloß nicht«, lächelte Malzew, »diese exotische Spezialität hast du schon probiert.«
»Ach ja, natürlich. Ein schauderhaftes Zeug.«
Warja dachte daran zurück, wie sie zum ersten Mal in dieses paradiesische Etablissement gekommen war, lange die Speisekarte studiert und schließlich dieses Gericht, den afrikanischen Loup-Fisch, ausgewählt hatte. Ungefähr eine halbe Stunde später war eine ganze Eskorte an ihrem Tisch erschienen. Der Chef selber und der Oberkellner trugen auf ausgestreckten Armen Teller mit runden silbernen Deckeln. Dabei machten sie Gesichter wie die Soldaten der Ehrenwache am Mausoleum. Sie blieben exakt ausgerichtet stehen und verharrten regungslos, ohne zu atmen. Mit einer leichten Bewegung der Augenlider gab der Chef ein Zeichen, und im selben Moment wurden die Silberdeckel gehoben.
Auf Warjas Teller lagen mehrere kleine grauweiße Fischstückchen, die mit einer trüb-orangefarbenen Sauce übergossen waren. Dem Geschmack nach erinnerte der afrikanische Fisch an trockenen Kabeljau in Tomatensauce. Warja war so enttäuscht, daß sie fast geweint hätte. Sie hatte etwas ganz besonders Leckeres, Ausgefallenes wählen wollen, und nun so etwas.
»Beim nächsten Mal bist du klüger«, sagte Malzew und bestellte ihr Bliny mit Kaviar. »Ein Freund von mir hat sich einmal in Marseille, in einem afrikanischen Restaurant namens ›Guinea‹, die Nationalspeise dieses Landes bestellt, das teuerste Gericht auf der Karte. Unter Schellengeläut und Trommelwirbeln wurde ihm ein riesiger Kessel an den Tisch gebracht, in dem eingeweichte rohe Hirse, bestreut mit gekochten Möhrenscheibchen, war. Also merk dir, Warja, du mußt immer die Gerichte bestellen, die du kennst, sonst bleibst du hungrig.«
Sie mochte es, wenn er lustige Geschichten erzählte. Aber heute war er schweigsam und finster. Die Probleme des langen, schwierigen Arbeitstages ließen ihm keine Ruhe. Zweimal klingelte das Handy, er antwortete knapp und ärgerlich, verzog das Gesicht, weil er wegen der Musik schlecht verstehen konnte.
»Ich glaube, ich nehme Schaschlik vom Stör.« Warja klappte die Speisekarte zu und zündete sich eine Zigarette an.
Das Essen wurde mit der üblichen Feierlichkeit serviert. Die großen, auf einen silbernen Spieß gesteckten Scheiben des bernsteingelben und rosafarbenen Schaschliks waren mit einer dünnen goldenen Kruste bedeckt, wie sie nur gelingt, wenn der Fisch auf einem richtigen Holzkohlengrill gebraten wird.
Dmitri Malzew aß rasch und gierig und trank sehr viel Wasser dazu. Der Chef des Clubs trat an ihren Tisch und fragte, ob sie mit allem zufrieden seien oder ob vielleicht die Musik zu laut sei.
»Hör mal, Stas«, sagte Malzew, »du weißt doch immer alles. Wer war dieser Journalist, der kürzlich ermordet wurde?«
»Wo soll das gewesen sein, Dmitri Wladimirowitsch? Wenn es an einem der Krisenherde war, dann …«
»Nein. In Moskau.«
»Von den prominenten Reportern ist meines Wissens niemand getötet worden. Oder nein, warten Sie. Einen haben sie doch umgebracht. Allerdings war es keiner von den ganz bekannten, sicher haben Sie von ihm noch nie gehört. Artjom Butejko.«
»Was hast du gesagt? Butejko?« Malzew erstarrte für einen Augenblick.
»Ja, er hat erst vor kurzem auf Kanal Sechs eine Nachtshow bekommen. Wissen Sie, so eine Klatsch-und-tratsch-Sendung.«
»Danke, Stas. Bring doch bitte einen Kaffee für Warja und für mich wie immer grünen Tee.«
Der Clubchef nickte ehrerbietig und entfernte sich. Malzew zog sofort sein Telefon heraus und wählte eine Nummer.
»Weißt du, wie der ermordete Journalist heißt?« sagte er ohne Einleitung. »Butejko. Natürlich, der Sohn …«
Er steckte das Telefon zurück in die Tasche. Stas brachte Kaffee und Tee. Schweigend tranken sie. Warja nahm eine Zigarette aus der Schachtel.
»Laß sie stecken. Wir fahren«, sagte Malzew.
Im Foyer kämmte sich Warja vor dem Spiegel, nahm dann ihre Autoschlüssel aus der Handtasche und warf sie dem Bodyguard Serjosha zu, wobei sie riskierte, die Spiegelwand oder die chinesische Bodenvase zu treffen. Aber Serjosha fing das schwere Bündel geschickt im Fluge auf.
»Mach keinen Unsinn.« Malzew wuschelte ihr lässig durch die gerade gekämmten Haare.
»Versprochen.« Warja lächelte schuldbewußt, fuhr in die Ärmel ihres blaß-türkisfarbenen Pelzmantels, knöpfte die goldenen Knöpfe mit den großen echten Perlen zu und griff wieder nach ihrem Kamm.
»Rasch, steh nicht so lange vor dem Spiegel herum«, mahnte Malzew.
Sie traten in den dichten, feuchten Schneesturm hinaus. Die Jeeps und Mercedeslimousinen schimmerten weiß. Warjas Renault war völlig eingeschneit. Aber das beunruhigte sie nicht weiter. Serjosha, der Bodyguard, würde den Wagen sauberfegen und wegfahren. Viel ärgerlicher fand sie, daß ihr Gesicht vom Schnee naß wurde und die Wimperntusche zu zerlaufen drohte. Sie rannte fast über den feuchten Teppichläufer, der vom Eingang des Clubs bis zum Fahrdamm, wo der Jeep stand, ausgelegt war.
Der gepanzerte Jeep von Dmitri Malzew funkelte bereits wieder in makellosem Schwarz. Der Chauffeur Kolja und der Bodyguard Fjodor fegten eilig die letzten Schneereste von der Windschutzscheibe. Es waren nur noch wenige Schritte bis zum Jeep, da tauchte plötzlich aus dem Nichts ein riesiger Schäferhund auf. Er hatte ein Halsband, aber keine Leine und keinen Maulkorb. Warja hatte keine Angst vor Hunden, wich aber instinktiv zur Seite, rutschte dabei aus und verlor das Gleichgewicht. Ihr spitzer Absatz blieb in einer Ritze zwischen den feuchten Platten des Gehwegs hängen, ihr Fuß verdrehte sich schmerzhaft, und Warja stürzte. Die Wimperntusche lief, in den Augen brannte es, sie konnte nichts mehr sehen, spürte nur den heißen Atem des Hundes. Aus dem Rachen des Tieres stank es unerträglich nach faulem Hering. In der Nähe stieß jemand einen lauten, obszönen Fluch aus. Durch Tränen und Schneesturm erkannte Warja zwei riesige Männergestalten, die neben ihr zu Boden fielen, und gleich darauf krachten drei Schüsse. Warja preßte das Gesicht in den Schnee und bedeckte den Kopf mit den Armen.
Wowa Muchin huschte aus dem Hauseingang und rannte durch die Schneeverwehungen, fast ohne den Boden zu berühren. Lange konnte er dieses Tempo jedoch nicht durchhalten. Wowa war ein schlechter Läufer, außerdem war der Schnee tief und naß. Hinter sich hörte er Hundegeröchel. Im Laufen drehte er sich um und sah, daß ein riesiger Hund, groß wie ein Bär, ihn schon fast eingeholt hatte und ihn gleich zerfleischen würde. Er konnte an nichts mehr denken, ihm war völlig egal, ob er getroffen oder vorbeigeschossen hatte, Hauptsache, er entkam diesem Hund, Hauptsache, er blieb am Leben.
In der Mitte des Hofes lag unter einer dünnen Schneeschicht ein glattes Stück Plastik, ein selbstgebasteltes Snowboard, wie es Kinder benutzen, um von Hügeln herunterzurutschen. Wowa Muchin glitt aus, der Hund war mit einem Sprung über ihm, seine kräftigen Zähne gruben sich in Wowas rechte Hand. Er versuchte den Hund mit der linken und mit den Beinen wegzustoßen, ohne den Schmerz zu spüren, denn mehr als alles andere fürchtete er, der Hund könne ihm an die Gurgel gehen.
»Frida, her zu mir!« hörte er schon halb besinnungslos durch das Rauschen in seinen Ohren.
Er begriff nicht sofort, daß der Hund ihn losgelassen hatte, wagte nicht, die Augen zu öffnen. Der Schmerz in der Hand durchbohrte ihn so heftig, daß er aus vollem Halse zu schreien begann.
»Leise, leise, schrei nicht so laut, bleib ruhig liegen, gleich ist es vorbei«, erklang dicht an seinem Ohr eine vertraute Stimme, »gib mir deine Hand, nein, nicht die, die linke.«
»Klim, es tut so weh, ich kann nicht«, stöhnte Wowa und bemühte sich mit aller Kraft, den Schrei zu unterdrücken, »es tut so wahnsinnig weh, sag mal, der Hund ist doch nicht tollwütig?«
Daß Klim jetzt bei ihm war, beruhigte ihn, doch der Schmerz in der zerbissenen Hand wurde immer heftiger und war kaum noch zu ertragen.
»Klim, tu doch irgendwas!«
Klim handelte bereits. Er zog Wowa die dicke Jacke aus und schob den Ärmel seines Pullovers hoch. Wowa war so verwirrt, daß er gar nicht darüber nachdachte, was Klim hier im Hof machte, woher der Hund gekommen war und warum er Klim gehorchte, wieso Klim plötzlich eine Spritze in der Hand hatte und vor allem, was das für ein Medikament in der Spritze war.
Das alles dauerte nicht länger als eine Minute.
»Gleich wird es dir besser gehen.« Klim streifte ihm den aufgekrempelten Ärmel herunter, pfiff leise nach dem Hund, der etwas abseits saß und wartete, und gab Wowa einen Schubs. »Gehen wir.«
Wowa war völlig benommen. Der Schmerz in der Hand hatte etwas nachgelassen, doch dafür wurden seine Beine weich, und ihm war heiß. Er begann heftig zu schwitzen, der Pullover wurde feucht, und nun fröstelte er so stark, daß er mit den Zähnen klapperte.
Aber wie schlecht er sich auch fühlte, er bemerkte trotzdem, daß Klim ihn keineswegs in die richtige Richtung schubste, zur Straße hin, sondern zurück, auf den großen Torbogen zu.
»Wohin? Was machst du?« ächzte er und versuchte stehenzubleiben.
Aber da schlossen sich auch schon Fesseln um seine Hände. Er wimmerte vor Schmerz auf.
Nach den Schüssen trat auf dem Vorplatz vor dem Club Stille ein, eine so lastende Stille, daß es Warja schien, als drücke man sie tief in den stechenden, feuchten Schnee. Erst allmählich kam wieder Leben auf. Aus dem Torbogen, der in den Hof führte, hallten rasche, laute Schritte herüber und das Knirschen des überfrorenen Schnees. Die Alarmanlagen mehrerer Autos auf dem Parkplatz begannen in verschiedenen Tonlagen zu heulen, schließlich hörte man aus der Ferne Sirenen. Die Miliz und ein Krankenwagen näherten sich dem Ort des Geschehens.
Warja entschloß sich aufzustehen. Das war gar nicht so einfach. Ein Schuh war in eine tiefe Pfütze gefallen, der andere steckte mit der Spitze des Absatzes zwischen den Gehwegplatten. Die dünne Eisschicht knirschte unter ihren Füßen, durch die Strumpfhose versengte ihr der Schnee die Fußsohlen.
»Bist du in Ordnung?« Malzew war schon neben ihr, faßte sie am Ellenbogen und drehte sie zu sich herum. »Wo tut es weh? Schnell, sag, wo tut es weh?«
Er war ohne Mantel, sein Jackett stand offen, die Krawatte war zur Seite gerutscht. Sie umarmte ihn, drückte ihr Gesicht an sein feuchtes Hemd und brach in Tränen aus.
»Mitja, Mitja, haben sie dich nicht getroffen? Bist du noch am Leben?«
»Du stehst ja barfuß im Schnee. Du wirst dich erkälten«, sagte er heiser und abgerissen und hob Warja auf seine Arme. So etwas erlebte sie zum ersten Mal. Nicht nur mit ihm, dem Herrn Minister, sondern überhaupt, in ihrem ganzen zwanzigjährigen Leben, hatte noch nie jemand sie auf die Arme genommen. Höchstens ihre Mutter, als sie noch ganz klein war, ja, und Hauptmann Sokolow, als er sie aus dem Wasser holte.
»Wenn dir etwas passiert wäre, wäre ich gestorben«, gestand sie völlig aufrichtig.
Er gab keine Antwort und ging schnell auf den Jeep zu. Er trug sie mit solcher Leichtigkeit, als wäre sie ein kleines Kind.
Die Leibwächter, der Chauffeur und die Männer vom Sicherheitsdienst des Clubs hasteten hin und her, jemand gab laute, abgehackte Befehle, das Einsatzkommando der Miliz untersuchte den Tatort. Aus dem Torbogen tauchte zuerst der Schäferhund mit heraushängender Zunge auf, dann sah man zwei männliche Gestalten, die aus der Dunkelheit ans Licht traten. Der eine Mann hielt den anderen am Ellbogen gepackt und schleifte ihn durch den Schnee. Die Arme waren ihm auf den Rücken gefesselt, er krümmte sich tief zusammen.
Hat man den Killer tatsächlich noch geschnappt? dachte Warja erstaunt.
Malzew bugsierte sie auf den Rücksitz des Jeeps, der herbeigeeilte Chauffeur zog sich schwungvoll seine warme Lederjacke aus, legte sie ihr über die Beine, schaltete die Heizung ein und schlug die Tür zu.
Warja beruhigte sich, langam wurde ihr wärmer, und sie hörte auf zu zittern. Sie kletterte auf den Vordersitz, drehte den Rückspiegel so, daß sie sich im Halbdunkel betrachten konnte. Schließlich mußte sie ihr Gesicht wieder einigermaßen herrichten. In ihren Manteltaschen fand sie nur ein Kaugummipapier. Die Handtasche, in der sie alles Nötige hatte – Taschentuch, Puderdose, Kamm –, war im Schnee liegengeblieben, zusammen mit den Schuhen. Große Lust, in Strümpfen aus dem Auto zu steigen, hatte sie nicht, andererseits tat es ihr um die Handtasche leid. Sie öffnete die Autotür einen Spaltbreit, um jemanden zu rufen. Aber der Chauffeur und der Leibwächter standen zu weit weg. Zusammen mit Malzew redeten sie mit den Milizionären, wahrscheinlich machten sie Zeugenaussagen.
Neben ihnen, direkt auf den schneebedeckten Betonplatten, lag ein Mann. Warja konnte seine schwarze Jacke und die gespreizten Beine erkennen. Er war es gewesen, der geschossen hatte, ihn hatte der Halter des Schäferhundes vor ein paar Minuten mit gefesselten Armen durch den Torbogen geführt.
»Verflixt, was soll ich nur tun?« murmelte Warja und schob die Tür noch ein Stück weiter auf.
In der feuchten Luft roch es nach Tabak, und sofort bekam sie Lust auf eine Zigarette. Aber auch die Zigarettenschachtel war in der Handtasche. Sie schaute sich um und bemerkte ganz in der Nähe einen kräftigen, untersetzten Mann, der rauchte und in den Schnee spuckte. Neben ihm saß mit heraushängender Zunge der Schäferhund. Aus seiner Schnauze dampfte es, seine Flanken bebten, er hechelte schwer und rasch.
»Entschuldigung, könnte ich eine Zigarette haben?«
Der Mann drehte sich um, trat auf die geöffnete Autotür zu und fischte noch im Gehen eine Schachtel aus der Tasche.
»Waren Sie das, der den Banditen geschnappt hat?« Warja nahm sich Feuer von seiner brennenden Zigarette.
»Nicht ich. Frida«, sagte der Unbekannte abgehackt, »sie hat ihn mit zwei Sätzen eingeholt, ich konnte sie kaum wegziehen.«
»Womit haben Sie ihn gefesselt?«
»Mit der Hundeleine.«
»Hat er aus dem Fenster geschossen?«
»Nein. Er ist auf das Vordach gestiegen.«
Durch die Windschutzscheibe blickte Warja zum Clubeingang hinüber. Das breite steinerne Vordach verlief direkt über der Eingangstür und erstreckte sich auf der Höhe des ersten Stockwerks weiter über die ganze Fassade,.
»Seltsam … Dann mußte er doch zuerst in eine der Wohnungen im ersten Stock.«
»Das Fenster im Treppenhaus«, erklärte der Unbekannte kurz.
Eins der sechs Treppenhausfenster über dem Vordach stand offen. Warja bemerkte erst jetzt, wie die Fensterflügel von dem starken Wind hin und her bewegt wurden.
»Als Sie ihn verfolgt haben, hatten Sie da gar keine Angst, daß er auf Sie schießt?«
»Nein.«
»Hat er die Pistole weggeworfen?«
»Weiß ich nicht.«
Warja bemerkte an seiner rechten Hand zwei Ringe. In dem hellen Licht der Laterne funkelten die farblosen Steine auf, Steine, die zu groß waren, um echte Brillanten zu sein. An seinem Handgelenk baumelte eine dicke goldene Kette. Sein Gesicht konnte sie nicht richtig erkennen, die Laterne, die am nächsten stand, leuchtete ihm in den Nacken. Breite, muskelbepackte Schultern, der Kopf kahlgeschoren, ein kurzer, kräftiger Hals. Vielleicht ein Sportler, ein Gewichtheber oder ein Elitesoldat aus einer Spezialeinheit, vielleicht auch ein Wachmann.
Sie rutschte ganz an den Rand des Sitzes, sie wollte zu gern sein Gesicht sehen.
»Bewachen Sie hier irgendwen?«
»Ich war mit meinem Hund spazieren.«
»Wohnen Sie in diesem Haus?«
»Nein. Im Nachbarhaus.«
»Das heißt, Sie waren ganz zufällig hier?«
»Ja.«
»Und Sie haben alles gesehen?«
»Fast alles.«
»Als die Schüsse fielen, da hat doch ein Mann einen anderen zu Boden geworfen. Wissen Sie zufällig, wer wen?« fragte sie und versuchte ihm in die Augen zu schauen.
Er wandte sich ab, gab keine Antwort, warf die Zigarettenkippe in den Schnee und ging schnell weg.
»Warten Sie!« schrie sie ihm nach. »Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?«
Er blieb abrupt stehen.
»Da drüben im Schnee liegt meine Handtasche, vielleicht kann sie mir jemand bringen. Und meine Schuhe auch.«
Er nickte schweigend und ging rasch dorthin, wo die Wachleute und die Milizionäre standen. Der Schäferhund lief, an sein Bein gedrückt, neben ihm her. Warja sah, wie Malzew mit großen Schritten dem Mann mit dem Hund entgegenkam. In der einen Hand hielt er ihre Tasche, in der anderen die Schuhe. Als er auf einer Höhe mit dem Unbekannten war, blieb er stehen. Sie sprachen ziemlich lange miteinander. Worüber, konnte Warja nicht hören.
Er war es, der Malzew eine Sekunde vor dem Schuß zu Boden geworfen hat, erriet Warja plötzlich. Durch den spärlicher fallenden Schnee sah sie, wie der Festgenommene hochgehoben und in den Wagen der Miliz gestoßen wurde. Er hat Malzew gerettet. Und seine Frida hat mich gerettet. Wenn ich nicht hingefallen wäre, hätte die Kugel mich leicht erwischen können.
Das Milizauto fuhr davon und brachte den Festgenommenen fort. Malzew sprach immer noch mit dem Unbekannten.
Wer weiß, wie viele deutsche Schäferhunde es in Moskau gibt, dachte Warja. Und wie viele durchtrainierte junge Kerle, die einen heiseren Baß haben, eine abgehackte Redeweise und diese idiotische Art, den Zigarettenfilter mit den Zähnen zu zerquetschen.
»Sie haben ihn also auf dem Vordach über dem Eingang stehen sehen?« fragte Dmitri Malzew und blickte in die kleinen hellen Augen seines Retters.
»Es war Instinkt. Eine Sekunde vor dem Schuß habe ich gespürt, auf wen er zielt.«
»Woher haben Sie einen solchen Instinkt?«
»Afghanistan. Tschetschenien.«
»Sie sind Soldat?«
»Ich war Offizier einer Spezialeinheit.«
»Was machen Sie jetzt?«
»Ich führe meinen Hund spazieren.« In der Dunkelheit blitzten schneeweiße Zähne auf. Es war nur das Aufzucken eines Lächelns, wie ein Blitzlicht, dann versteinerte das Gesicht sofort wieder. Malzew spürte, wie angespannt sein Gesprächspartner war. Auf diese Frage wollte er offenbar keine Antwort geben.
Natürlich, einem so kräftigen Burschen ist es peinlich zuzugeben, daß er Probleme hat, Arbeit zu finden, dachte Malzew mit ehrlichem Mitgefühl für den ehemaligen Elitesoldaten.
»Nun gut, und wie haben Sie erraten, in welche Richtung er fliehen würde?«
»Ich habe das offene Fenster gesehen und begriffen, daß es vom Clubeingang bis zum Torbogen in der Mitte des Hofes nur ein paar Meter sind. Also war es für ihn bequemer, den Hof zu überqueren und erst dann in eine der Straßen abzubiegen. Aber eingeholt habe nicht ich ihn, das war Frida.«
»Haben Sie Ihrem Hund diese Fertigkeiten antrainiert?«
»So ist es.«
»Und hat er schon oft Verbrecher verfolgen müssen?«
»Ist schon vorgekommen.«
»Einen prächtigen Hund haben Sie.« Malzew streckte die Hand aus und tätschelte die nasse, verfilzte Mähne. »Wie alt ist Ihre Frida?«
»Dreieinhalb Jahre.«
»Ein schönes Alter.«
»So ist es.«
»Gut. Noch einmal vielen Dank. Hier ist meine Visitenkarte. Rufen Sie mich morgen um zehn an.«
Warja war wieder auf den Rücksitz zurückgeklettert, hatte sich die zusammengerollte Jacke des Chauffeurs unter den Kopf gelegt, die Beine hochgezogen und sich mit ihrem Pelzmantel zugedeckt. Erst jetzt merkte sie, wie schrecklich müde sie war. Die Augen fielen ihr zu.
Als erste setzten sich der Chauffeur und der Leibwächter ins Auto. An ihrem finsteren Schweigen merkte Warja, daß beiden die Entlassung drohte. Wäre nicht der zufällige Hundehalter gewesen, hätte alles böse enden können.
Malzew setzte sich auf den Rücksitz neben Warja.
»Wer ist dieser Typ mit dem Hund?« fragte sie gähnend.
»Ein ehemaliger Soldat, von einer Spezialeinheit.«
»Ja? Und ich dachte, es wäre ein Milizionär.«
»Schlaf ein bißchen, mein Herz.« Malzew streichelte ihr übers Knie. »Die Fahrt dauert noch lange, schlaf inzwischen.«
»Er hat einen prima Hund«, murmelte Warja mit schon geschlossenen Augen, halb im Schlaf, »sicher ein altes Tier. Nur alte Hunde sind so klug.«
»Nein, er ist erst dreieinhalb Jahre.«
Warja schlief immer sofort ein, sie brauchte nur die Augen zu schließen, und einen Moment später träumte sie schon etwas. Ihre Träume waren farbig und lebhaft.
Diesmal erblickte sie ein kleines Zimmer, eine wattierte zweischläfrige Matratze, die direkt auf dem Boden lag, mit zerknüllter, nicht mehr frischer Bettwäsche, ein schwarzes Fenster ohne Vorhänge, eine nackte Glühbirne an der Decke. Neben ihr ein breiter weißer Rücken, ein kräftiger, militärisch kurz geschorener Nacken. Der bis zum Gürtel nackte Mann kauerte neben einem Welpen.
»Soll ich ihn Warja nennen, dir zu Ehren? Warja, die Hündin. Klingt doch gut.«
Der Traum war so lebendig, daß sogar die Gerüche wieder aus dem Nichtsein auftauchten und in der Nase kitzelten. Der Gestank des mit Kippen gefüllten Aschenbechers. Der schwere Geruch nach Guttalin, den die braunen Dienstschuhe, die er immer direkt neben die Matratze stellte, ausströmten. Der Welpe mit seinen dicken Pfötchen roch angenehm nach Milch, sauberem Fell und frischem Heu. An einem Kleiderbügel, der am geöffneten Oberlicht hing, schaukelte eine graue Milizionärsjacke mit den Schulterstücken eines Hauptmanns.
So deutlich, als sei sie wach, sah sie sein kantiges, großes Gesicht auf sich zukommen, die kleinen grünlichen Augen, den blonden Offiziersschnäuzer.
»Na, nun sei doch nicht gleich beleidigt. Als ich klein war, hatten unsere Nachbarn aus der Wohnung gegenüber einen Schäferhund. Ich habe sie glühend beneidet, mehr als alles auf der Welt habe ich mir auch so einen Hund gewünscht. Ein prächtiges Tier war das. Zum Andenken an diesen Hund werde ich den Welpen Frida nennen …«