24
 
 
Maggie ließ ihren schmerzenden Arm sinken und tippte demonstrativ auf ihre Uhr, als Nick mit einer Leiter über der Schulter in die Spülküche kam. Sie stand auf einem wackligen Gartenstuhl, den sie auf den Küchentisch gestellt hatte, ihre Haare waren mit Spinnweben verklebt, ihre aufgekrempelten Ärmel klatschnaß. »Ist das vielleicht eine zivile Zeit?« fragte sie ihn. »Es ist Viertel vor zehn, und ich bin seit fünf Uhr auf den Beinen.«
»Gott im Himmel!« beschwerte er sich. »Eine Nacht ohne Schlaf wird Sie nicht gleich umbringen. Man muß auch mal über die Stränge schlagen.«
»Ich habe Sie bereits vor Stunden erwartet.«
»Dann heiraten Sie nie einen Polizisten«, sagte er und stellte die Leiter unter dem noch nicht behandelten Teil der Decke auf.
»Das Glück sollte ich mal haben.«
Er sah grinsend zu ihr hoch. »Sie meinen, Sie würden es in Betracht ziehen?«
»Garantiert nicht«, erwiderte sie, als wollte sie ihm zu verstehen geben, daß er sich hüten sollte, sein Glück bei ihr auch nur zu versuchen. »Ich meinte damit nur, daß mir noch kein Polizist jemals einen Antrag gemacht hat.«
»Er würde es nicht wagen.«
Er machte den Schrank unter dem Spülbecken auf und ging in die Hocke, um nach Putzzeug und Eimern zu suchen. Sie stand hoch über ihm und war heftig versucht, diese seltene Gelegenheit auszunützen und ihm Wasser in den Nacken zu gießen.
»Unterstehen Sie sich«, sagte er, ohne aufzublicken. »Wenn Sie das tun, können Sie den ganzen Krempel hier allein machen.«
Sie ignorierte ihn, nicht bereit, sich eine Blöße zu geben.
»Wie ist es denn gelaufen?« fragte sie und stieg vom Stuhl, um ihren Schwamm in den Eimer auf dem Tisch zu tauchen.
»Erstaunlich gut.«
»Das dachte ich mir schon, so vergnügt wie Sie sind.« Sie stieg wieder auf den Stuhl. »Was hat Harding gesagt?«
»Sie meinen, abgesehen davon, daß er Ihre Aussage in allen Punkten bestätigt hat?«
»Ja.«
»Er hat mir verraten, was er am Sonntag in Chapman’s Pool zu suchen hatte.« Er sah zu ihr hinauf. »Er ist wirklich ein Vollidiot, aber kaum ein Vergewaltiger und Mörder.«
»Sie haben sich also getäuscht?«
»Wahrscheinlich.«
»Gut. Es verdirbt den Charakter, wenn man immer recht behält. Und ist er nun pädophil?«
»Das kommt darauf an, wie man Pädophilie definiert.« Er setzte sich rittlings auf einen Stuhl, stützte die Ellbogen auf die Rückenlehne und sah ihr bei der Arbeit zu. »Er ist in ein fünfzehnjähriges Mädchen vernarrt, das zu Hause so unglücklich ist, daß es immer wieder mit Selbstmord droht. Das Mädel ist anscheinend bildhübsch, sehr groß, sieht aus wie fünfundzwanzig, hat das Zeug zum Starmodel und erregt überall Aufsehen. Ihre Eltern leben getrennt und streiten wie Katz und Hund - ihre Mutter ist eifersüchtig auf sie - ihr Vater hat eine Freundin nach der anderen - sie ist im vierten Monat schwanger von Harding - lehnt einen Abbruch ab - weint sich an seiner männlichen Brust aus, wann immer sie sich sehen« - er zog sarkastisch eine Braue hoch -, »was wahrscheinlich der Grund ist, warum er sie so attraktiv findet - und ist so verrückt darauf, das Kind zu bekommen, und so verrückt nach Liebe, daß sie zweimal damit gedroht hat, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Hardings geplante Patentlösung des ganzen Dilemmas war, sie auf der Crazy Daze nach Frankreich zu entführen, wo sie« - wieder ein sarkastisches Hochziehen der Augenbraue - »ihren Liebestraum hätten leben können, ohne daß ihre Eltern die geringste Ahnung gehabt hätten, wo sie ist und mit wem.«
Maggie lachte. »Ich habe Ihnen ja gesagt, er ist ein guter Samariter.«
»Eher ein Blaubart. Das Mädchen ist fünfzehn.«
»Und sieht aus wie fünfundzwanzig.«
»Sagt Harding.«
»Glauben Sie ihm nicht?«
»Na ja, sagen wir mal, wenn ich eine Tochter hätte, würde ich ihn nicht in ihre Nähe lassen«, antwortete er sachlich. »Er hat nichts als Sex im Kopf, ist hoffnungslos in sich selbst verliebt und so moralisch wie ein Straßenkater.«
»Mit anderen Worten, er ist dem hinterhältigen Wiesel, mit dem ich verheiratet war, sehr ähnlich?« fragte sie trocken.
»Ohne Frage.« Er lachte sie an. »Aber ich bin natürlich voreingenommen.«
Ihre Augen blitzten amüsiert. »Und was ist passiert? Paul und Danny haben ihm dazwischengefunkt, und der ganze schöne Plan ist geplatzt?«
Er nickte. »Als er sich ausweisen mußte, wurde ihm klar, daß es keinen Sinn hatte, an dem Plan festzuhalten, und er signalisierte seiner Freundin, die Sache zu vergessen. Danach hat er am Sonntag abend auf seinem Rückweg nach Lymington per Handy ein tränenreiches Gespräch mit ihr geführt, konnte aber seitdem nicht mehr mit ihr reden, weil er sein Handy nicht dabei hatte oder in einer Zelle saß. Sie hatten vereinbart, daß sie ihn anrufen sollte, und da er nichts von ihr gehört hat, befürchtet er, sie könnte sich das Leben genommen haben.«
»Aber das hat sie nicht, oder?«
»Nein. Eine der Nachrichten auf seinem Handy war von ihr.«
»Trotzdem - der arme Kerl. Sie haben ihn wieder eingesperrt, nicht? Er macht sich bestimmt schreckliche Sorgen. Hätten Sie ihn nicht wenigstens mit ihr sprechen lassen können?«
Ihre Reaktion erstaunte ihn. Er hätte gedacht, ihr Mitgefühl würde dem Mädchen gelten. »Nicht gestattet.«
»Ach, kommen Sie«, sagte sie aufgebracht. »Das ist doch einfach grausam.«
»Nein. Vernünftig. Ich persönlich würde ihm keinen Schritt über den Weg trauen. Er hat mehrere Straftaten verübt, vergessen Sie das nicht. Tätlicher Angriff auf Sie, Geschlechtsverkehr mit einer Minderjährigen, Verabredung zur Entführung, ganz abgesehen von Erregung öffentlichen Ärgernisses durch unsittliche Handlungen -«
»Du lieber Gott! Sie haben ihm doch nicht etwa eine Klage angehängt, weil er eine Erektion hatte?«
»Noch nicht.«
»Sie sind wirklich grausam«, sagte sie verärgert. »Das Mädchen, das er durch den Feldstecher beobachtet hat, war doch offensichtlich seine Freundin. Wenn Sie so pingelig sind, hätten Sie Martin jedesmal verhaften müssen, wenn er mir die Hand auf den Hintern gelegt hat.«
»Das konnte ich nicht«, entgegnete er in vollem Ernst. »Sie hatten nie was dagegen, also war’s keine tätliche Beleidigung.«
»Und was ist mit Unsittlichkeit?« fragte sie mit einem Zwinkern.
»Ich habe ihn nie mit runtergelassenen Hosen erwischt«, antwortete er bedauernd. »Ich hab’s ja versucht, aber er war jedesmal zu schnell.«
»Machen Sie mich an?«
»Nein«, sagte er. »Ich werbe um Sie.«
 
Schlaftrunken blickte Sandy Griffiths auf die Leuchtzeiger ihrer Uhr, sah, daß es drei war, und versuchte sich zu erinnern, ob William Sumner am Abend weggegangen war. Wieder hatte etwas ihren kostbaren Schlaf gestört, den sie sich hier stundenweise zusammenstehlen mußte. Sie glaubte, das leise Einschnappen der Haustür gehört zu haben, war sich jedoch nicht sicher, ob das Geräusch real gewesen war oder nur geträumt. Sie horchte auf Schritte draußen auf der Treppe, aber sie hörte nichts. Schließlich wälzte sie sich aus dem Bett und schlüpfte in ihren Morgenrock. Mit Kindern würde ich wahrscheinlich klarkommen, dachte sie. Aber mit einem Ehemann... niemals!
Sie machte Licht im Flur und öffnete die Tür zu Hannahs Zimmer. Ein Lichtstrahl fiel auf das Kinderbett, und ihre Besorgnis legte sich augenblicklich. Das Kind saß reglos im Bett, den Daumen im Mund, und starrte sie aus weit offenen Augen mit dem ihm eigenen seltsam eindringlichen Blick an. Wenn es sie erkannte, so ließ es sich jedenfalls nichts davon anmerken. Statt dessen blickte es durch sie hindurch, als sähe es Bilder hinter der Frau, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten. Griffiths erkannte, daß die Kleine fest schlief. Das also war die Erklärung für das Gitterbett und die Schlösser an allen Türen. Sie sollten eine kleine Schlafwandlerin vor Gefahren schützen, nicht die Abenteuerlust eines hellwachen Kindes unterdrücken.
Von draußen, gedämpft durch geschlossene Türen, hörte sie das Geräusch eines anspringenden Motors, dann das Krachen der Gangschaltung und das Knirschen von Reifen auf dem Kiesweg. Was zum Teufel hatte dieser Verrückte jetzt wieder vor? Glaubte er allen Ernstes, das Jugendamt würde es wohlwollend aufnehmen, wenn er seine kleine Tochter mitten in der Nacht allein ließ? Oder war das vielleicht der Sinn und Zweck der Übung? Hatte er beschlossen, sich der Verantwortung ein für allemal zu entledigen?
Müde lehnte sie sich an den Türpfosten und betrachtete voller Mitgefühl das blonde kleine Mädchen mit den leeren Augen, das seiner Mutter so ähnlich sah. Sie erinnerte sich wieder an den Kommentar des Arztes, als er die zertrümmerten Fotos im offenen Kamin gesehen hatte. »Sie ist wütend auf ihre Mutter, weil sie sie verlassen hat... das ist ein völlig normaler Ausdruck des Schmerzes... Sorgen Sie dafür, daß der Vater ihr viel Zärtlichkeit gibt… das ist das beste Mittel, um die Lücke zu füllen.«
William Sumners Verschwinden erregte zwar ein gewisses Aufsehen, als Griffiths ihre Kollegen davon unterrichtete, aber wenig echtes Interesse. Wie so oft in seinem Leben war Sumner unwichtig geworden. Statt dessen richtete sich das allgemeine Augenmerk jetzt auf Beatrice »Bibi« Gould, die in Tränen ausgebrochen war und sich im Badezimmer verbarrikadiert hatte, als am Samstag morgen um sieben die Polizei im Haus ihrer Eltern erschienen war, um sie zur Vernehmung nach Winfrith zu bringen. Erst als man ihr mit sofortiger Festnahme wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt drohte und ihr zusicherte, daß ihre Eltern sie begleiten dürften, kam sie endlich heraus. Ihre panikartige Reaktion schien den Umständen völlig unangemessen, und auf die Aufforderung, sie zu erklären, sagte sie: »Jetzt werden alle eine Mordswut auf mich haben.«
Auch Steven Harding wurde nach einem kurzen Auftritt vor Gericht wegen der gegen ihn vorliegenden Anzeige zur neuerlichen Vernehmung nach Winfrith zitiert. Er wurde von einem gähnenden Nick Ingram chauffiert, der die Gelegenheit nutzte, um dem unreifen jungen Mann an seiner Seite ein paar nackte Tatsachen klarzumachen. »Nur um das mal festzuhalten, Mr. Harding, ich würde Ihnen sämtliche Knochen brechen, wenn diese Fünfzehnjährige, die Sie geschwängert haben, meine Tochter wäre. Nein, ich würde Ihnen schon die Knochen brechen, wenn Sie sie nur anrühren würden.«
Harding blieb uneinsichtig. »Die Zeiten haben sich geändert. Man kann jungen Mädchen heute nicht mehr vorschreiben, wie sie sich zu benehmen haben. Sie entscheiden selbst.«
»Sie sollten mir besser zuhören. Ich sagte, ich würde Ihnen die Knochen brechen, nicht meiner Tochter. Glauben Sie mir, wenn ich je einen vierundzwanzigjährigen Kerl dabei erwischen sollte, daß er mein Kind in den Dreck zieht, wird der Bursche hinterher wünschen, er hätte seinen Reißverschluß nie aufgemacht.« Aus dem Augenwinkel sah er, daß Harding zu einer Erwiderung ansetzte. »Und erzählen Sie mir nicht, sie hätte es ebensosehr gewollt wie Sie«, fuhr er ihn an, »sonst brech ich Ihnen obendrein noch das Genick. Jeder kleine Hosenscheißer kann ein leicht beeinflußbares junges Mädchen beschwatzen, mit ihm zu schlafen, wenn er ihr Liebe verspricht. Ein Mann dagegen würde ihr die Zeit lassen zu prüfen, ob das Versprechen auch etwas wert ist.«
 
Bibi Gould wollte ihren Vater nicht mit im Vernehmungszimmer haben, bat jedoch ihre Mutter, bei ihr zu bleiben und ihr Beistand zu leisten. Superintendent Carpenter und Inspector Galbraith nahmen ihr gegenüber am Tisch Platz und konfrontierten sie mit ihrer vorangegangenen Aussage. Sie war sichtlich eingeschüchtert von Carpenters grimmiger Miene, und er brauchte nur zu sagen: »Wir glauben, daß Sie uns belogen haben, Miss Gould«, und schon öffneten sich die Schleusen der Wahrheit.
»Mein Vater mag es nicht, wenn ich die Wochenenden bei Tony verbringe - er sagt, ich mach mich zu billig... er wäre an die Decke gegangen, wenn er erfahren hätte, daß ich ohnmächtig geworden bin. Tony hat gesagt, es wäre eine Alkoholvergiftung gewesen, weil ich Blut gespuckt habe, aber ich glaube, es war das schlechte E, das sein Freund ihm angedreht hatte... Mir war noch stundenlang übel, nachdem ich wieder zu Bewußtsein gekommen war... Mein Vater hätte mich umgebracht, wenn er das gewußt hätte... Er kann Tony nicht ausstehen... Er sagt, er hätte einen schlechten Einfluß auf mich.« Sie lehnte ihren Kopf an die Schulter ihrer Mutter und weinte herzzerreißend.
»Wann war das?« fragte Carpenter.
»Am letzten Wochenende. Wir wollten eigentlich auf diesen Rave in Southampton, und Tony hatte bei einem Typen, den er kennt, ein bißchen E gekauft…« Sie geriet ins Stocken und schwieg.
»Weiter.«
»Die werden alle eine Riesenwut auf mich haben«, jammerte sie. »Tony hat gesagt, es wäre doch gemein, wenn wir Steve in Schwierigkeiten bringen, bloß weil sein Boot am falschen Ort war.«
Mit beträchtlicher Mühe gelang es Carpenter, seine Stirnfalten zu glätten und eine halbwegs väterliche Miene aufzusetzen. »Tonys Freund interessiert uns jetzt nicht, Miss Gould, uns geht es einzig darum zu erfahren, wo alle Beteiligten am vergangenen Wochenende waren. Sie haben uns gesagt, daß Sie Steven Harding gern mögen«, fuhr er scheinheilig fort, »und es wird ihm sehr helfen, wenn wir einige Ungereimtheiten in seiner Geschichte aufklären können. Sie und Mr. Bridges sagten, Sie hätten ihn am Samstag nicht gesehen, weil Sie auf einem Rave in Southampton waren. Stimmt das?«
»Es stimmt, daß wir ihn nicht gesehen haben.« Sie schniefte. »Zumindest ich habe ihn nicht gesehen - Tony vielleicht schon -, aber es stimmt nicht, daß wir auf dem Rave waren. Der hat erst um zehn angefangen, und Tony meinte, wir könnten uns ruhig schon vorher ein bißchen in Stimmung bringen. Ich kann mich an den Abend kaum noch erinnern... Wir haben um fünf zu trinken angefangen, und dann habe ich das E genommen...« Sie begann wieder zu schluchzen.
»Das wollen wir doch mal eben festhalten, Miss: Sie haben eine Ecstasy-Tablette genommen, die Ihnen Ihr Freund Tony Bridges gegeben hat?«
Sein Ton erschreckte sie. »Ja«, flüsterte sie.
»Haben Sie früher schon einmal im Beisein von Mr. Bridges das Bewußtsein verloren?«
»Manchmal - wenn ich zuviel getrunken hatte.«
Nachdenklich strich Carpenter sich das Kinn. »Wissen Sie noch, um welche Zeit am Samstag Sie die Tablette genommen haben?«
»Vielleicht um sieben. Ich kann mich wirklich nicht mehr genau erinnern.« Sie schneuzte sich in ein Kleenex. »Tony hat hinterher gesagt, er hätte keine Ahnung gehabt, daß ich soviel getrunken hatte, sonst hätte er mir das E gar nicht gegeben. Es war furchtbar - ich tue das nie wieder, ich meine trinken oder Ecstasy nehmen… Ich war praktisch die ganze Woche krank.« Sie lächelte matt. »Es stimmt wahrscheinlich, was sie über das Zeug sagen. Tony meint, ich hätte Glück gehabt, daß ich nicht daran gestorben bin.«
Galbraith verspürte inzwischen wesentlich weniger Neigung, sich väterlich zu geben. Seiner ganz persönlichen Meinung nach war sie eine verwahrloste kleine Schlampe mit zuviel Babyspeck und zu wenig innerem Halt, und er machte sich ernsthaft Gedanken über das geheimnisvolle Zusammenspiel von Natur und Chemie, das bewirken konnte, daß ein bisher vernünftiger Mann sich wegen eines solchen Mädchens plötzlich wie ein Verrückter benahm. »Sie waren am Montag abend, als Sergeant Campbell Mr. Bridges aufsuchte, bereits wieder betrunken«, erinnerte er sie.
Sie warf ihm von unten herauf einen durchtriebenen Blick zu, der jeden noch vorhandenen Rest an Mitgefühl in ihm abtötete. »Ich hatte nur zwei Lager getrunken«, sagte sie. »Ich hab gedacht, danach würde es mir vielleicht bessergehen - aber sie haben nicht geholfen.«
Carpenter klopfte mit seinem Füller auf den Tisch, um ihre Aufmerksamkeit wieder für sich zu fordern. »Wann sind Sie am Sonntag morgen wieder zu sich gekommen, Miss Gould?«
Sie zuckte wehleidig die Achseln. »Ich weiß nicht. Tony hat gesagt, ich hätte ungefähr zehn Stunden lang dauernd gebrochen, und es hat erst am Sonntag abend um sieben aufgehört. Deshalb bin ich auch zu spät nach Hause gekommen.«
»Demnach also am Sonntag morgen gegen neun?«
Sie nickte. »So ungefähr, ja.« Sie wandte ihr tränennasses Gesicht ihrer Mutter zu. »Es tut mir so leid, Mam. Ich tu so was bestimmt nie wieder.«
Mrs. Gould drückte ihre Tochter an sich und sah die beiden Polizeibeamten ängstlich an. »Wird jetzt Anzeige gegen sie erstattet?«
»Weswegen, Mrs. Gould?«
»Weil sie Ecstasy genommen hat.«
Carpenter schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. So wie die Dinge liegen, gibt es keine Beweise dafür, daß sie welches genommen hat.« Rohypnol vielleicht... »Aber Sie waren wirklich sehr dumm, Miss Gould, und ich hoffe, Sie kommen nicht, um der Polizei Ihr Leid zu klagen, wenn Sie sich das nächste Mal wieder von einem Mann irgendein unbekanntes Mittel andrehen lassen. Ob es Ihnen nun gefällt oder nicht, Sie sind für Ihr Tun und Lassen selbst verantwortlich, und ich kann Ihnen nur raten, zur Abwechslung hin und wieder auf Ihren Vater zu hören.«
Bravo, Chef, dachte Galbraith.
Carpenter klopfte auf das Protokoll von Bibis früherer Aussage. »Ich habe für Lügner nichts übrig, junge Frau. Das gilt übrigens für uns alle hier. Ich glaube, Sie haben meinem Kollegen, Inspector Galbraith, gestern abend wieder eine Lüge aufgetischt. So ist es doch, nicht wahr?«
Ihre Augen weiteten sich wie in Panik, aber sie antwortete nicht.
»Sie sagten, Sie wären nie auf der Crazy Daze gewesen. Aber das stimmt nicht.«
»Doch!«
»Anfang der Woche haben Sie uns freiwillig Ihre Fingerabdrücke zur Verfügung gestellt. Sie stimmen mit denen überein, die wir auf Steven Hardings Boot gefunden haben. Würden Sie mir erklären, wie Ihre Fingerabdrücke dort hingekommen sind, obwohl Sie doch angeblich nie an Bord waren?« Er maß sie mit finsterem Blick.
»Es ist... Tony weiß nichts davon, verstehen Sie... o Gott!« Sie schlotterte vor Angst. »Es war doch nur - Steve und ich haben mal einen Abend zusammen getrunken, als Tony weg war. Es würde ihn furchtbar kränken, wenn er es erfahren würde... Er ist doch sowieso schon so empfindlich, weil Steve so gut aussieht, und es würde ihn total fertigmachen, wenn er rauskriegen würde, daß wir - ach, Sie wissen schon...«
»Daß Sie auf der Crazy Daze mit Steven Harding Geschlechtsverkehr hatten?«
»Wir waren beide blau. Ich kann mich gar nicht mehr richtig daran erinnern. Es hatte überhaupt nichts zu bedeuten«, beteuerte sie verzweifelt, als wäre Untreue eher zu entschuldigen, wenn der Alkohol die Hemmungen weggespült hatte.
»Warum macht Ihnen die Vorstellung, Tony könnte dahinterkommen, so große Angst?« fragte Carpenter neugierig.
»Ich hab doch gar keine Angst.« Aber ihre Augen verrieten, daß sie log.
»Was tut er mit Ihnen, Miss Gould?«
»Gar nichts. Es ist nur - er wird manchmal schrecklich eifersüchtig.«
»Auf Steven Harding?«
Sie nickte.
»Wie äußert sich seine Eifersucht?«
Sie leckte sich die Lippen. »Er hat’s nur einmal getan. Er hat mir die Hand in der Autotür eingeklemmt, als er mich mal mit Steve zusammen im Pub aufgestöbert hatte. Er hat gesagt, das mit der Tür wäre ein Versehen gewesen, aber - also, ich glaub das nicht.«
»War das bevor oder nachdem Sie mit Steve Harding geschlafen hatten?«
»Danach.«
»Er hat also von Steve und Ihnen gewußt?«
Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Das kann ich mir nicht vorstellen - wie denn? - er war ja die ganze Woche nicht dagewesen... aber seitdem war er - na ja, seltsam, das stimmt.«
»Wann ist das denn überhaupt passiert?«
»Ende Mai.«
Carpenter warf einen Blick in seinen Terminkalender. »Zwischen dem vierundzwanzigsten und einunddreißigsten Mai?«
»Ich weiß noch, daß es ein Feiertag war. In den Schulferien.«
»Gut.« Er lächelte ermutigend. »Nur noch ein oder zwei Fragen, Miss Gould, dann haben wir es geschafft. Erinnern Sie sich an einen Tag, als Tony Bridges mit Ihnen in Steve Hardings Wagen fahren wollte und Kate Sumner den Türgriff auf der Beifahrerseite mit Kot beschmiert hatte?«
Sie schnitt eine Grimasse. »Das war total ekelhaft. Meine ganze Hand war voll.«
»Wissen Sie noch, wann das war?«
Sie überlegte. »Ich glaube, es war Anfang Juni. Tony wollte mit mir in Southampton ins Kino, aber dann habe ich so lange gebraucht, um mir die Hände zu waschen und den Gestank loszuwerden, daß wir gar nicht mehr gefahren sind.«
»Also nachdem Sie mit Steven Harding geschlafen hatten?«
»Ja.«
»Danke. Die letzte Frage. Wo war Tony Bridges während dieser Ferien im Mai?«
»Ach, am Ende der Welt«, sagte sie mit Betonung. »Seine Eltern haben einen Wohnwagen an der Bucht von Lulworth, da fährt Tony immer mal allein hin, wenn er Energie tanken muß. Ich habe ihm schon hundertmal gesagt, er soll in der Schule aufhören, er haßt Kinder nämlich. Er sagt immer, wenn er mal einen Nervenzusammenbruch kriegen sollte, dann wär’s ihre Schuld, auch wenn alle anderen wahrscheinlich behaupten, er hätte zuviel Gras geraucht.«
 
Die Vernehmung Steven Hardings gestaltete sich schwieriger. Man teilte ihm mit, daß Marie Freemantle vor der Polizei eine Aussage über ihre Beziehung zu ihm gemacht hatte, und wies ihn darauf hin, daß er wegen ihres Alters mit einer Anzeige rechnen müsse. Dennoch lehnte er es ab, einen Anwalt hinzuzuziehen. Er habe nichts zu verbergen, erklärte er. Er schien anzunehmen, man habe Marie Freemantle aufgrund seines inoffiziellen Gesprächs mit Nick Ingram am vergangenen Abend befragt, und weder Carpenter noch Galbraith belehrten ihn eines Besseren.
»Sie haben derzeit eine Beziehung zu einem fünfzehnjährigen Mädchen namens Marie Freemantle?« begann Carpenter.
»Ja.«
»Und Sie wußten, als Sie das erstemal Geschlechtsverkehr mit ihr ausübten, daß sie minderjährig war?«
»Ja.«
»Wo ist Marie Freemantle wohnhaft?«
»In Lymington, Dancer Road 54.«
»Wieso hat Ihr Agent uns erzählt, Sie hätten eine Freundin namens Marie, die in London lebt?«
»Weil er glaubt, daß sie dort lebt. Er hat ihr ein paar Fototermine verschafft, und da sie nicht wollte, daß ihre Eltern was davon erfahren, haben wir eine Adresse in London angegeben.«
»Was waren das für Fototermine?«
»Für Nacktaufnahmen.«
»Pornographie?«
Harding fühlte sich sichtlich unbehaglich. »Nur Softporno.«
»Videos oder Standaufnahmen?«
»Standaufnahmen.«
»Waren Sie auch auf diesen Fotos?«
»Auf einigen«, gab er zu.
»Wo sind die Aufnahmen jetzt?«
»Ich habe sie von meinem Boot aus über Bord geworfen.«
»Weil sie Sie bei unsittlichen Handlungen mit einer Minderjährigen zeigten?«
»Sie sieht nicht wie eine Minderjährige aus.«
»Beantworten Sie die Frage, Mr. Harding. Haben Sie die Aufnahmen über Bord geworfen, weil sie Sie bei unsittlichen Handlungen mit einer Minderjährigen zeigten?«
Harding nickte.
»Steven Harding beantwortet die Frage mit Kopfnicken«, diktierte Carpenter ins Mikrofon und fuhr dann fort: »Wußte Tony Bridges, daß Sie mit Marie Freemantle ein Verhältnis hatten?«
»Was hat Tony damit zu tun?«
»Beantworten Sie die Frage, Mr. Harding.«
»Ich glaube nicht. Ich hab’s ihm nie erzählt.«
»Hat er die Fotos von ihr gesehen?«
»Ja. Er kam am Montag zu mir aufs Boot, und da lagen sie auf dem Tisch.«
»Hatte er sie vorher schon einmal gesehen?«
»Ich habe keine Ahnung. Er hat vor vier Monaten mal mein Boot völlig auseinandergenommen.« Er fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen. »Kann sein, daß er sie da gefunden hat.«
Carpenter lehnte sich zurück und spielte mit seinem Füller. »Was ihn sicher wütend machte«, sagte er. »Sie ist eine Schülerin von ihm, und er hatte offenbar selbst etwas für sie übrig, durfte sich ihr aber seiner Stellung wegen natürlich nicht nähern.«
»Ich - ja, kann schon sein.«
»Unseren Informationen zufolge haben Sie Marie Freemantle am vierzehnten Februar kennengelernt. Hatten Sie zu dieser Zeit intime Beziehungen zu Kate Sumner?«
»Ich hatte keine Beziehung zu Kate.« Er zwinkerte nervös, während er, wie Bridges am Abend zuvor, zu erahnen versuchte, wohin diese Fragen führen würden. »Ich war ein einziges Mal bei ihr zu Hause, und sie - na ja - sie hat sich mir förmlich an den Hals geworfen. Es war ganz okay, aber ich habe nie besonders auf ältere Frauen gestanden. Ich habe ihr klar und deutlich zu verstehen gegeben, daß ich kein Interesse an etwas Längerfristigem hätte, und ich dachte, das hätte sie begriffen. Es war nichts weiter als eine schnelle Nummer in der Küche - weiß Gott nichts Weltbewegendes.«
»Dann lügt Mr. Bridges also, wenn er behauptet, daß die Beziehung drei oder vier Monate dauerte?«
»Ach, Herrgott noch mal!« Harding wurde zusehends nervöser. »Hören Sie, es kann sein, daß ich ihm diesen Eindruck vermittelt habe. Ich meine, ich habe Kate eine ganze Weile gekannt - oberflächlich, verstehen Sie -, bevor es zu dieser Geschichte in ihrem Haus kam, und es ist schon möglich, daß ich - äh, Tony gegenüber angedeutet habe, es steckte mehr dahinter. Aber das habe ich wirklich nur getan, um ihn ein bißchen zu ärgern. Er hat so eine prüde Seite.«
Carpenter betrachtete ihn einen Moment lang aufmerksam, ehe er seinen Blick auf das Blatt Papier senkte, das vor ihm auf dem Tisch lag. »Drei Monate nachdem Sie Marie kennengelernt hatten, irgendwann in der Woche vom vierundzwanzigsten bis zum einunddreißigsten Mai, praktizierten Sie auch mit Bibi Gould, Tony Bridges’ Freundin, eine, wie Sie es ausgedrückt haben, ›schnelle Nummer‹. Ist das richtig?«
Harding stöhnte gequält. »Jetzt hören Sie aber auf! Das war nun wirklich gar nichts. Wir haben uns im Pub einen angetrunken, und dann habe ich sie mit auf die Crazy Daze genommen, um sie dort ihren Rausch ausschlafen zu lassen, weil Tony weg war und sie nicht in sein Haus konnte. Sie hat mich ziemlich angebaggert und - also, um ehrlich zu sein, ich kann mich an die Nacht kaum noch erinnern. Ich war stockblau und könnte nicht beschwören, daß überhaupt was Erwähnenswertes passiert ist.«
»Weiß Tony Bridges von der Geschichte?«
Er antwortete nicht gleich. »Ich... he, warum fragen Sie mich eigentlich dauernd über Tony aus?«
»Bitte beantworten Sie die Frage. Weiß Mr. Bridges, daß Sie mit seiner Freundin geschlafen haben?«
»Keine Ahnung. Er war in letzter Zeit ein bißchen seltsam. Ich habe mich schon gefragt, ob er vielleicht gesehen hat, wie sie am nächsten Morgen aus meinem Beiboot gestiegen ist.« Er strich sich nervös das Haar aus der Stirn zurück. »Er wollte eigentlich die ganze Woche draußen im Wohnwagen seiner Eltern bleiben, aber Bob Winterslow hat erzählt, er hätte ihn an dem Tag drüben bei seinem Großvater gesehen, wie er gerade sein Schlauchboot rausholen wollte.«
»Wissen Sie denn noch, welcher Tag das war?«
»Es war dieser Feiertag, der auf einen Montag fiel. Bibis Friseursalon war geschlossen, deshalb konnte sie von Sonntag auf Montag bleiben.« Er wartete auf Carpenters nächste Fragen, und als dieser schwieg, sagte er mit einem kleinen Achselzucken: »Hören Sie, es war wirklich völlig bedeutungslos. Ich hätte es Tony sofort erklärt, wenn er je etwas gesagt hätte« - wieder ein Achselzucken -, »aber das hat er nicht getan.«
»Sagt er denn sonst etwas, wenn Sie mit seinen Freundinnen schlafen?«
»Ich schlafe nicht gewohnheitsmäßig mit seinen Freundinnen, verdammt noch mal! Das Problem ist - na ja, Bibi war wie Kate. Wenn man solchen Frauen den kleinen Finger reicht, nehmen sie gleich die ganze Hand.«
Carpenter runzelte die Stirn. »Soll das heißen, daß sie Sie zum Geschlechtsverkehr gezwungen hat?«
»Nein, aber -«
»Dann ersparen Sie mir doch bitte Ihre Ausflüchte.« Er sah wieder in seine Notizen. »Wie kam Ihr Agent überhaupt auf die Idee, daß Bibi Gould Ihre Freundin wäre?«
Harding besaß den Anstand, ein verlegenes Gesicht zu machen. »Weil ich ihm erzählt habe, daß sie eine flotte Nummer ist.«
»Womit Sie sagen wollten, daß sie gegen Pornofotos nichts einzuwenden hätte?«
»Ja.«
»Kann es sein, daß Ihr Agent Tony Bridges davon erzählt hat?«
Harding schüttelte den Kopf. »Wenn er das getan hätte, hätte Tony mich fertiggemacht.«
»Aber Kate Sumners wegen hat er Sie nicht fertiggemacht, nicht wahr?«
Harding blickte ihn verständnislos an. »Tony hat Kate doch gar nicht gekannt.«
»Und wie gut haben Sie sie gekannt, Mr. Harding?«
»Das ist ja das Irre«, antwortete er. »So gut wie gar nicht - okay, wir haben’s einmal gemacht, aber dabei lernt man einen Menschen doch nicht kennen. Danach bin ich ihr aus dem Weg gegangen, weil es mir peinlich war. Und dann hat sie plötzlich angefangen, mich zu behandeln, als hätte ich ihr was angetan.«
Carpenter zog das Protokoll von Hardings früherer Aussage heraus. »Sie haben behauptet, sie wäre auf Sie fixiert gewesen, Mr. Harding. ›Ich wußte, daß sie in mich verliebt war …‹«, las er vor. »›Immer wenn ich hier war, trieb sie sich beim Jachtklub herum und wartete, bis ich in meinem Beiboot kam und an Land ging. Meistens stand sie nur da und beobachtete mich, aber manchmal stieß sie ganz bewußt mit mir zusammen und drückte ihre Brüste an meinen Arm …‹ Entspricht irgend etwas von alldem der Wahrheit?«
»Kann schon sein, daß ich ein bißchen übertrieben habe. Aber sie hat tatsächlich eine Woche lang da rumgehangen, bis ihr aufging, daß ich kein Interesse hatte. Dann hat sie... die Idee wohl aufgegeben, vermute ich. Ich habe sie jedenfalls nicht wiedergesehen bis zu dem Tag, als sie den Inhalt von Hannahs schmutziger Windel auf meinem Boot hinterließ.«
Carpenter suchte Tony Bridges’ Aussage aus dem Papierstapel heraus. »Tony Bridges hat folgendes gesagt: ›Er hat mir in diesem Jahr mehr als einmal erzählt, daß er Probleme mit einer Frau namens Kate Sumner hätte, die ihm ständig auflauerte...‹ Haben Sie vielleicht auch Tony Bridges gegenüber etwas übertrieben?«
»Ja.«
»Haben Sie Kate Sumner als ›Flittchen‹ bezeichnet?«
Er sank in sich zusammen. »Das ist doch nur so eine Redensart.«
»Haben Sie Tony Bridges erzählt, Kate Sumner sei leicht rumzukriegen?«
»Jetzt hören Sie aber auf. Das war doch alles nur ein Witz. Tony hatte mit Sex schon immer Probleme. Alle haben ihn deswegen gehänselt, nicht nur ich... Dann erschien Bibi auf der Bildfläche, und er... na ja, er wurde um einiges lockerer.«
Carpenter musterte ihn einen Moment lang scharf. »Dann haben Sie wohl auch nur aus Jux mit Bibi Gould geschlafen?«
Harding starrte auf seine Hände. »Ich habe es aus keinem speziellen Grund getan. Es ist ganz einfach passiert. Ich meine, sie war nun wirklich leicht rumzukriegen. Sie bleibt doch nur bei Tony, weil sie auf mich steht. Hören Sie« - er krümmte sich noch mehr zusammen -, »ich möchte wirklich nicht, daß Sie hier einen völlig falschen Eindruck bekommen.«
»Einen falschen Eindruck inwiefern, Mr. Harding?«
»Ach, ich weiß nicht, aber mir scheint, Sie haben es auf Tony abgesehen.«
»Aus gutem Grund«, versetzte Carpenter. Er zog ein neues Blatt Papier aus dem Stapel und verdeckte das Geschriebene mit der Hand. »Man hat uns erzählt, Sie hätten gesehen, wie er Bibi Gould ein Mittel namens« - er blickte auf das Blatt Papier, als stünde das Wort dort geschrieben - »Rohypnol gegeben hat, damit sie sich nicht über seine kläglichen Leistungen als Liebhaber beschwert. Ist das wahr?«
»Ach, Scheiße!« Er stützte den Kopf in seine Hände. »Das können Sie nur von Marie haben.« Er massierte sich mit leichten, kreisenden Bewegungen die Schläfen. Galbraith war fasziniert von der Anmut seiner Hände. Er war in der Tat ein außergewöhnlich schöner junger Mann, und es wunderte ihn nicht, daß Kate Sumner ihn attraktiver gefunden hatte als ihren Ehemann.
»Ist das wahr, Mr. Harding?«
»Teilweise. Er hat mir erzählt, er hätte es ihr mal gegeben, als sie sich beschwert hat, aber ich habe es nicht mit eigenen Augen gesehen. Er kann genausogut gelogen haben.«
»Woher kannte er Rohypnol denn überhaupt?«
»Das kennt doch jeder.«
»Haben Sie ihm davon erzählt?«
Harding hob den Kopf und starrte auf das Papier vor dem Superintendent. Es war klar, daß er gern gewußt hätte, wie weit die Informationen reichten, die dort niedergeschrieben waren. »Sein Großvater hat Schlafstörungen, seit seine Frau gestorben ist, und da hat der Arzt ihm Rohypnol verschrieben. Als Tony mir das erzählt hat, habe ich gelacht und gesagt, wenn er sich davon was beschaffen könnte, wären alle seine Probleme sofort gelöst. Ich kann doch nichts dafür, wenn der verrückte Hund das Zeug tatsächlich verwendet hat.«
»Haben Sie es schon einmal verwendet, Mr. Harding?«
»Also wirklich! Als hätte ich das nötig!«
Ein schwaches Lächeln spielte um Carpenters Mundwinkel, als er abrupt das Thema wechselte. »Wann hat Kate Sumner angefangen, Ihren Wagen mit Kot zu beschmieren und die Alarmanlage auszulösen? Wie lange etwa, nachdem sie das Bett in Ihrem Boot beschmutzt hatte?«
»Ich weiß nicht genau. Das war vielleicht ein paar Tage später.«
»Und woher wissen Sie, daß sie es war?«
»Weil sie mir auch schon die Laken auf dem Boot versaut hatte.«
»Und das war irgendwann gegen Ende April, nicht wahr?« Harding nickte. »Aber mit dieser« - Carpenter suchte nach einem geeigneten Wort - »›Schmutzkampagne‹ hat sie erst angefangen, als ihr klarwurde, daß Sie an einer Beziehung mit ihr nicht interessiert waren?«
»Na und, ist das vielleicht meine Schuld?« versetzte Harding verzweifelt. »Sie war so - so unglaublich langweilig!«
»Meine Frage war, ob sie diese ›Schmutzkampagne‹ startete, nachdem sie erkannt hatte, daß Sie nicht an ihr interessiert waren«, sagte Carpenter geduldig.
»Ja.« Mit einer heftigen Bewegung drückte er die Handballen auf seine geschlossenen Augen, als könnte er sich so die Details ins Gedächtnis zurückrufen. »Sie hat mir schlicht und einfach das Leben zur Hölle gemacht, bis ich es nicht mehr ausgehalten habe. Und da bin ich dann auf die Idee gekommen, ihrem Mann weiszumachen, ich wär schwul, weil ich hoffte, er würde es ihr erzählen.«
Carpenter las in Hardings Protokoll nach. »Das war im Juni?«
»Ja.«
»Hatte es einen bestimmten Grund, daß Sie anderthalb Monate warteten, ehe Sie beschlossen, etwas Drastisches zu unternehmen?«
»Es wurde immer schlimmer statt besser«, erklärte Harding mit einer plötzlichen Aufwallung von Zorn, als machte die Erinnerung ihn immer noch wütend. »Zuerst habe ich gedacht, sie würde irgendwann die Lust verlieren, wenn ich nur Geduld bewahrte. Aber als sie sich dann mein Schlauchboot vornahm, hat’s mir gereicht. Ich hatte Angst, sie würde sich als nächstes an der Crazy Daze vergreifen, und da war bei mir Schluß.«
Carpenter nickte, als fände er die Erklärung plausibel. Wieder beugte er sich über das Protokoll von Hardings Aussage. »Sie suchten also William Sumner auf und zeigten ihm Fotos von sich, die in einer Schwulenzeitschrift erschienen waren, weil Sie hofften, er würde seiner Frau erzählen, Sie wären schwul?«
»Ja.«
»Hm.« Carpenter griff wieder nach Tony Bridges’ Protokoll. »Mr. Bridges sagt dazu allerdings etwas anderes: Als Sie ihm gegenüber erwähnten, Sie wollten Kate Sumner wegen Belästigung bei der Polizei anzeigen, habe er Ihnen geraten, sich doch einfach einen anderen Parkplatz für Ihr Auto zu suchen. Seiner Aussage zufolge sei damit das Problem gelöst gewesen. Er fand es im übrigen ziemlich erheiternd, als wir ihm gestern abend erzählten, Sie hätten versucht, den Belästigungen damit ein Ende zu setzen, daß Sie William Sumner diese Fotos von sich zeigten. Er sagte: ›Steve hatte immer schon eine lange Leitung.‹«
Harding zuckte die Achseln. »Na und? Es hat doch gewirkt. Das ist das einzige, was mich interessiert hat.«
Mit einer bedächtigen Handbewegung strich Carpenter die Papiere vor sich glatt. »Und wie kam das, was meinen Sie?« fragte er. »Sie wollen doch sicher nicht im Ernst unterstellen, daß eine Frau, die derart wütend über Ihre Zurückweisung war, daß sie Sie wochenlang auf übelste Weise belästigte, plötzlich sang- und klanglos kapitulierte, als sie hörte, Sie wären schwul? Ich gebe zu, daß ich mich mit Neurotikern nicht auskenne, aber ich würde annehmen, daß die Schikane eher schlimmer geworden wäre. Niemand läßt sich gerne lächerlich machen, Mr. Harding.«
Harding starrte ihn perplex an. »Aber sie hat doch aufgehört.«
Carpenter schüttelte den Kopf. »Man kann nicht mit etwas aufhören, das man nie begonnen hat, mein Junge. Oh, es besteht kein Zweifel daran, daß sie in einem Moment der Verärgerung Hannahs Windeln an Ihrem Bettlaken abgewischt hat, aber es war nicht Kate Sumner, die Ihnen etwas heimzahlen wollte, sondern Ihr Freund, Tony Bridges. Der Zwischenfall mit den Windeln hat ihn wahrscheinlich überhaupt erst auf die Idee gebracht, Sie auf diese Weise zu schikanieren. Und es war auch noch so eine passende Rache! Sie hatten jahrelang auf ihn und seine Gefühle ›geschissen‹. Da muß es ihm einen Heidenspaß gemacht haben, es Ihnen mit gleicher Münze heimzuzahlen. Aufgehört hat er damit nur, weil Sie damit gedroht hatten, zur Polizei zu gehen.«
Ein mattes Lächeln, so verwaschen wie nasse Wasserfarben, breitete sich auf Hardings Gesicht aus. Er sieht krank aus, dachte Carpenter mit Genugtuung.
 
Angela Sumner hatte längst alle Bemühungen aufgegeben, ihren Sohn zum Sprechen zu bringen. Ihre anfängliche Überraschung über sein unangemeldetes Erscheinen in ihrer Wohnung war einem Gefühl der Beängstigung gewichen, und ähnlich wie das Opfer einer Geiselnahme versuchte sie stets zu beschwichtigen statt herauszufordern. Was immer ihn nach Chichester zurückgeführt hatte, er wollte nicht mit ihr darüber sprechen. Er schien ständig von einem Extrem ins andere zu fallen, konnte von einem Tobsuchtsanfall getrieben im Zimmer hin und her laufen, nur um im nächsten Moment in Tränen aufgelöst zusammenzubrechen und in Apathie zu versinken. Sie konnte ihm nicht helfen. Er bewachte das Telefon mit der Beharrlichkeit eines Wahnsinnigen, und gelähmt vor Angst und Hilflosigkeit, zog sie sich in stumme Beobachtung zurück.
Er war in den vergangenen zwölf Monaten ein Fremder für sie geworden, und eine Art unterschwelliger Abneigung trieb sie zur Grausamkeit. Sie wurde sich bewußt, daß sie ihren Sohn verachtete. Im Grunde hat er nie viel Rückgrat besessen, dachte sie, sonst hätte Kate nicht so leichtes Spiel mit ihm gehabt. Ihre Lippen wurden zu einem schmalen Strich der Geringschätzung, während sie dem trockenen Schluchzen lauschte, das seinen mageren Körper schüttelte, und als er endlich sein Schweigen brach, erkannte sie mit einem Gefühl der Unausweichlichkeit, daß sie seine Worte hätte vorhersagen können. »…ich wußte einfach nicht mehr, was ich tun sollte...«
Sie vermutete, daß er seine Frau ermordet hatte. Und jetzt befürchtete sie, er könnte auch sein Kind getötet haben.
 
Tony Bridges stand auf, als die Zellentür geöffnet wurde, und sah Galbraith mit einem unsicheren Lächeln entgegen. In den Stunden der Haft war er zu einem kleinen, unbedeutenden Menschen geschrumpft, der entdeckt hatte, was es hieß, der Gnade anderer ausgeliefert zu sein. Verschwunden war die Arroganz von gestern, verdrängt von der beunruhigenden Erkenntnis, daß all seine Beredsamkeit nichts gegen das Mißtrauen der Polizei auszurichten vermochte.
»Wie lange wollen Sie mich eigentlich noch hierbehalten?«
»So lange wie nötig, Mr. Bridges.«
»Ich weiß überhaupt nicht, was Sie von mir wollen.«
»Die Wahrheit.«
»Das einzige, was ich getan habe, war, ein Boot zu stehlen.«
Galbraith schüttelte den Kopf. Er meinte, flüchtiges Bedauern in dem verschreckten Blick des jungen Mannes zu sehen, bevor er zurücktrat, um Bridges vorbeizulassen. Man konnte es vielleicht Reue nennen, vermutete er.
 
›... ich wollte es nicht tun. Ich habe es auch nicht getan - nicht wirklich. Kate wäre noch am Leben, wenn sie nicht versucht hätte, mich aus dem Boot zu stoßen. Es ist ihre eigene Schuld, daß sie tot ist. Alles war gut, bis sie auf einmal auf mich losging, und dann war sie plötzlich im Wasser. Das können Sie mir doch nicht zum Vorwurf machen. Glauben Sie denn, ich hätte nicht auch Hannah ertränkt, wenn ich die Absicht gehabt hätte, ihre Mutter zu töten...?‹