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Maggie ließ ihren schmerzenden Arm sinken und
tippte demonstrativ auf ihre Uhr, als Nick mit einer Leiter über
der Schulter in die Spülküche kam. Sie stand auf einem wackligen
Gartenstuhl, den sie auf den Küchentisch gestellt hatte, ihre Haare
waren mit Spinnweben verklebt, ihre aufgekrempelten Ärmel
klatschnaß. »Ist das vielleicht eine zivile Zeit?« fragte sie ihn.
»Es ist Viertel vor zehn, und ich bin seit fünf Uhr auf den
Beinen.«
»Gott im Himmel!« beschwerte er sich. »Eine Nacht
ohne Schlaf wird Sie nicht gleich umbringen. Man muß auch mal über
die Stränge schlagen.«
»Ich habe Sie bereits vor Stunden erwartet.«
»Dann heiraten Sie nie einen Polizisten«, sagte er
und stellte die Leiter unter dem noch nicht behandelten Teil der
Decke auf.
»Das Glück sollte ich mal haben.«
Er sah grinsend zu ihr hoch. »Sie meinen, Sie
würden es in Betracht ziehen?«
»Garantiert nicht«, erwiderte sie, als wollte sie
ihm zu verstehen geben, daß er sich hüten sollte, sein Glück bei
ihr auch nur zu versuchen. »Ich meinte damit nur, daß mir noch kein
Polizist jemals einen Antrag gemacht hat.«
»Er würde es nicht wagen.«
Er machte den Schrank unter dem Spülbecken auf und
ging in die Hocke, um nach Putzzeug und Eimern zu suchen. Sie stand
hoch über ihm und war heftig versucht, diese seltene Gelegenheit
auszunützen und ihm Wasser in den Nacken zu gießen.
»Unterstehen Sie sich«, sagte er, ohne
aufzublicken. »Wenn Sie das tun, können Sie den ganzen Krempel hier
allein machen.«
Sie ignorierte ihn, nicht bereit, sich eine Blöße
zu geben.
»Wie ist es denn gelaufen?« fragte sie und stieg
vom Stuhl, um ihren Schwamm in den Eimer auf dem Tisch zu
tauchen.
»Erstaunlich gut.«
»Das dachte ich mir schon, so vergnügt wie Sie
sind.« Sie stieg wieder auf den Stuhl. »Was hat Harding
gesagt?«
»Sie meinen, abgesehen davon, daß er Ihre Aussage
in allen Punkten bestätigt hat?«
»Ja.«
»Er hat mir verraten, was er am Sonntag in
Chapman’s Pool zu suchen hatte.« Er sah zu ihr hinauf. »Er ist
wirklich ein Vollidiot, aber kaum ein Vergewaltiger und
Mörder.«
»Sie haben sich also getäuscht?«
»Wahrscheinlich.«
»Gut. Es verdirbt den Charakter, wenn man immer
recht behält. Und ist er nun pädophil?«
»Das kommt darauf an, wie man Pädophilie
definiert.« Er setzte sich rittlings auf einen Stuhl, stützte die
Ellbogen auf die Rückenlehne und sah ihr bei der Arbeit zu. »Er ist
in ein fünfzehnjähriges Mädchen vernarrt, das zu Hause so
unglücklich ist, daß es immer wieder mit Selbstmord droht. Das
Mädel ist anscheinend bildhübsch, sehr groß, sieht aus wie
fünfundzwanzig, hat das Zeug zum Starmodel und erregt überall
Aufsehen. Ihre Eltern leben getrennt und streiten wie Katz und Hund
- ihre Mutter ist eifersüchtig auf sie - ihr Vater hat eine
Freundin nach der anderen - sie ist im vierten Monat schwanger von
Harding - lehnt einen Abbruch ab - weint sich an seiner männlichen
Brust aus, wann immer sie sich sehen« - er zog sarkastisch eine
Braue hoch -, »was wahrscheinlich der Grund ist, warum er sie so
attraktiv findet - und ist so verrückt darauf, das Kind zu
bekommen, und so verrückt nach Liebe, daß sie zweimal damit gedroht
hat, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Hardings geplante
Patentlösung des ganzen Dilemmas war, sie auf der Crazy Daze
nach Frankreich zu entführen, wo sie« - wieder ein sarkastisches
Hochziehen der Augenbraue - »ihren Liebestraum hätten leben können,
ohne daß ihre Eltern die geringste Ahnung gehabt hätten, wo sie ist
und mit wem.«
Maggie lachte. »Ich habe Ihnen ja gesagt, er ist
ein guter Samariter.«
»Eher ein Blaubart. Das Mädchen ist
fünfzehn.«
»Und sieht aus wie fünfundzwanzig.«
»Sagt Harding.«
»Glauben Sie ihm nicht?«
»Na ja, sagen wir mal, wenn ich eine Tochter hätte,
würde ich ihn nicht in ihre Nähe lassen«, antwortete er sachlich.
»Er hat nichts als Sex im Kopf, ist hoffnungslos in sich selbst
verliebt und so moralisch wie ein Straßenkater.«
»Mit anderen Worten, er ist dem hinterhältigen
Wiesel, mit dem ich verheiratet war, sehr ähnlich?« fragte sie
trocken.
»Ohne Frage.« Er lachte sie an. »Aber ich bin
natürlich voreingenommen.«
Ihre Augen blitzten amüsiert. »Und was ist
passiert? Paul und Danny haben ihm dazwischengefunkt, und der ganze
schöne Plan ist geplatzt?«
Er nickte. »Als er sich ausweisen mußte, wurde ihm
klar, daß es keinen Sinn hatte, an dem Plan festzuhalten, und er
signalisierte seiner Freundin, die Sache zu vergessen. Danach hat
er am Sonntag abend auf seinem Rückweg nach Lymington per Handy ein
tränenreiches Gespräch mit ihr geführt, konnte aber seitdem nicht
mehr mit ihr reden, weil er sein Handy nicht dabei hatte oder in
einer Zelle saß. Sie hatten vereinbart, daß sie ihn anrufen sollte,
und da er nichts von ihr gehört hat, befürchtet er, sie könnte sich
das Leben genommen haben.«
»Aber das hat sie nicht, oder?«
»Nein. Eine der Nachrichten auf seinem Handy war
von ihr.«
»Trotzdem - der arme Kerl. Sie haben ihn wieder
eingesperrt, nicht? Er macht sich bestimmt schreckliche Sorgen.
Hätten Sie ihn nicht wenigstens mit ihr sprechen lassen
können?«
Ihre Reaktion erstaunte ihn. Er hätte gedacht, ihr
Mitgefühl würde dem Mädchen gelten. »Nicht gestattet.«
»Ach, kommen Sie«, sagte sie aufgebracht. »Das ist
doch einfach grausam.«
»Nein. Vernünftig. Ich persönlich würde ihm keinen
Schritt über den Weg trauen. Er hat mehrere Straftaten verübt,
vergessen Sie das nicht. Tätlicher Angriff auf Sie,
Geschlechtsverkehr mit einer Minderjährigen, Verabredung zur
Entführung, ganz abgesehen von Erregung öffentlichen Ärgernisses
durch unsittliche Handlungen -«
»Du lieber Gott! Sie haben ihm doch nicht etwa eine
Klage angehängt, weil er eine Erektion hatte?«
»Noch nicht.«
»Sie sind wirklich grausam«, sagte sie
verärgert. »Das Mädchen, das er durch den Feldstecher beobachtet
hat, war doch offensichtlich seine Freundin. Wenn Sie so pingelig
sind, hätten Sie Martin jedesmal verhaften müssen, wenn er mir die
Hand auf den Hintern gelegt hat.«
»Das konnte ich nicht«, entgegnete er in vollem
Ernst. »Sie hatten nie was dagegen, also war’s keine tätliche
Beleidigung.«
»Und was ist mit Unsittlichkeit?« fragte sie mit
einem Zwinkern.
»Ich habe ihn nie mit runtergelassenen Hosen
erwischt«, antwortete er bedauernd. »Ich hab’s ja versucht, aber er
war jedesmal zu schnell.«
»Machen Sie mich an?«
»Nein«, sagte er. »Ich werbe um Sie.«
Schlaftrunken blickte Sandy Griffiths auf die
Leuchtzeiger ihrer Uhr, sah, daß es drei war, und versuchte sich zu
erinnern, ob William Sumner am Abend weggegangen war. Wieder hatte
etwas ihren kostbaren Schlaf gestört, den sie sich hier
stundenweise zusammenstehlen mußte. Sie glaubte, das leise
Einschnappen der Haustür gehört zu haben, war sich jedoch nicht
sicher, ob das Geräusch real gewesen war oder nur geträumt. Sie
horchte auf Schritte draußen auf der Treppe, aber sie hörte nichts.
Schließlich wälzte sie sich aus dem Bett und schlüpfte in ihren
Morgenrock. Mit Kindern würde ich wahrscheinlich klarkommen, dachte
sie. Aber mit einem Ehemann... niemals!
Sie machte Licht im Flur und öffnete die Tür zu
Hannahs Zimmer. Ein Lichtstrahl fiel auf das Kinderbett, und ihre
Besorgnis legte sich augenblicklich. Das Kind saß reglos im Bett,
den Daumen im Mund, und starrte sie aus weit offenen Augen mit dem
ihm eigenen seltsam eindringlichen Blick an. Wenn es sie erkannte,
so ließ es sich jedenfalls nichts davon anmerken. Statt dessen
blickte es durch sie hindurch, als sähe es Bilder hinter der Frau,
die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten. Griffiths erkannte,
daß die Kleine fest schlief. Das also war die Erklärung für das
Gitterbett und die Schlösser an allen Türen. Sie sollten eine
kleine Schlafwandlerin vor Gefahren schützen, nicht die
Abenteuerlust eines hellwachen Kindes unterdrücken.
Von draußen, gedämpft durch geschlossene Türen,
hörte sie das Geräusch eines anspringenden Motors, dann das Krachen
der Gangschaltung und das Knirschen von Reifen auf dem Kiesweg. Was
zum Teufel hatte dieser Verrückte jetzt wieder vor? Glaubte er
allen Ernstes, das Jugendamt würde es wohlwollend aufnehmen, wenn
er seine kleine Tochter mitten in der Nacht allein ließ? Oder war
das vielleicht der Sinn und Zweck der Übung? Hatte er beschlossen,
sich der Verantwortung ein für allemal zu entledigen?
Müde lehnte sie sich an den Türpfosten und
betrachtete voller Mitgefühl das blonde kleine Mädchen mit den
leeren Augen, das seiner Mutter so ähnlich sah. Sie erinnerte sich
wieder an den Kommentar des Arztes, als er die zertrümmerten Fotos
im offenen Kamin gesehen hatte. »Sie ist wütend auf ihre Mutter,
weil sie sie verlassen hat... das ist ein völlig normaler Ausdruck
des Schmerzes... Sorgen Sie dafür, daß der Vater ihr viel
Zärtlichkeit gibt… das ist das beste Mittel, um die Lücke zu
füllen.«
William Sumners Verschwinden erregte zwar ein
gewisses Aufsehen, als Griffiths ihre Kollegen davon unterrichtete,
aber wenig echtes Interesse. Wie so oft in seinem Leben war Sumner
unwichtig geworden. Statt dessen richtete sich das allgemeine
Augenmerk jetzt auf Beatrice »Bibi« Gould, die in Tränen
ausgebrochen war und sich im Badezimmer verbarrikadiert hatte, als
am Samstag morgen um sieben die Polizei im Haus ihrer Eltern
erschienen war, um sie zur Vernehmung nach Winfrith zu bringen.
Erst als man ihr mit sofortiger Festnahme wegen Widerstands gegen
die Staatsgewalt drohte und ihr zusicherte, daß ihre Eltern sie
begleiten dürften, kam sie endlich heraus. Ihre panikartige
Reaktion schien den Umständen völlig unangemessen, und auf die
Aufforderung, sie zu erklären, sagte sie: »Jetzt werden alle eine
Mordswut auf mich haben.«
Auch Steven Harding wurde nach einem kurzen
Auftritt vor Gericht wegen der gegen ihn vorliegenden Anzeige zur
neuerlichen Vernehmung nach Winfrith zitiert. Er wurde von einem
gähnenden Nick Ingram chauffiert, der die Gelegenheit nutzte, um
dem unreifen jungen Mann an seiner Seite ein paar nackte Tatsachen
klarzumachen. »Nur um das mal festzuhalten, Mr. Harding, ich würde
Ihnen sämtliche Knochen brechen, wenn diese Fünfzehnjährige, die
Sie geschwängert haben, meine Tochter wäre. Nein, ich würde Ihnen
schon die Knochen brechen, wenn Sie sie nur anrühren würden.«
Harding blieb uneinsichtig. »Die Zeiten haben sich
geändert. Man kann jungen Mädchen heute nicht mehr vorschreiben,
wie sie sich zu benehmen haben. Sie entscheiden selbst.«
»Sie sollten mir besser zuhören. Ich sagte, ich
würde Ihnen die Knochen brechen, nicht meiner Tochter.
Glauben Sie mir, wenn ich je einen vierundzwanzigjährigen Kerl
dabei erwischen sollte, daß er mein Kind in den Dreck zieht, wird
der Bursche hinterher wünschen, er hätte seinen Reißverschluß nie
aufgemacht.« Aus dem Augenwinkel sah er, daß Harding zu einer
Erwiderung ansetzte. »Und erzählen Sie mir nicht, sie hätte es
ebensosehr gewollt wie Sie«, fuhr er ihn an, »sonst brech ich Ihnen
obendrein noch das Genick. Jeder kleine Hosenscheißer kann ein
leicht beeinflußbares junges Mädchen beschwatzen, mit ihm zu
schlafen, wenn er ihr Liebe verspricht. Ein Mann dagegen
würde ihr die Zeit lassen zu prüfen, ob das Versprechen auch etwas
wert ist.«
Bibi Gould wollte ihren Vater nicht mit im
Vernehmungszimmer haben, bat jedoch ihre Mutter, bei ihr zu bleiben
und ihr Beistand zu leisten. Superintendent Carpenter und Inspector
Galbraith nahmen ihr gegenüber am Tisch Platz und konfrontierten
sie mit ihrer vorangegangenen Aussage. Sie war sichtlich
eingeschüchtert von Carpenters grimmiger Miene, und er brauchte nur
zu sagen: »Wir glauben, daß Sie uns belogen haben, Miss Gould«, und
schon öffneten sich die Schleusen der Wahrheit.
»Mein Vater mag es nicht, wenn ich die Wochenenden
bei Tony verbringe - er sagt, ich mach mich zu billig... er wäre an
die Decke gegangen, wenn er erfahren hätte, daß ich ohnmächtig
geworden bin. Tony hat gesagt, es wäre eine Alkoholvergiftung
gewesen, weil ich Blut gespuckt habe, aber ich glaube, es war das
schlechte E, das sein Freund ihm angedreht hatte... Mir war noch
stundenlang übel, nachdem ich wieder zu Bewußtsein gekommen war...
Mein Vater hätte mich umgebracht, wenn er das gewußt hätte... Er
kann Tony nicht ausstehen... Er sagt, er hätte einen schlechten
Einfluß auf mich.« Sie lehnte ihren Kopf an die Schulter ihrer
Mutter und weinte herzzerreißend.
»Wann war das?« fragte Carpenter.
»Am letzten Wochenende. Wir wollten eigentlich auf
diesen Rave in Southampton, und Tony hatte bei einem Typen, den er
kennt, ein bißchen E gekauft…« Sie geriet ins Stocken und
schwieg.
»Weiter.«
»Die werden alle eine Riesenwut auf mich haben«,
jammerte sie. »Tony hat gesagt, es wäre doch gemein, wenn wir Steve
in Schwierigkeiten bringen, bloß weil sein Boot am falschen Ort
war.«
Mit beträchtlicher Mühe gelang es Carpenter, seine
Stirnfalten zu glätten und eine halbwegs väterliche Miene
aufzusetzen. »Tonys Freund interessiert uns jetzt nicht, Miss
Gould, uns geht es einzig darum zu erfahren, wo alle Beteiligten am
vergangenen Wochenende waren. Sie haben uns gesagt, daß Sie Steven
Harding gern mögen«, fuhr er scheinheilig fort, »und es wird ihm
sehr helfen, wenn wir einige Ungereimtheiten in seiner Geschichte
aufklären können. Sie und Mr. Bridges sagten, Sie hätten ihn am
Samstag nicht gesehen, weil Sie auf einem Rave in Southampton
waren. Stimmt das?«
»Es stimmt, daß wir ihn nicht gesehen haben.« Sie
schniefte. »Zumindest ich habe ihn nicht gesehen - Tony
vielleicht schon -, aber es stimmt nicht, daß wir auf dem Rave
waren. Der hat erst um zehn angefangen, und Tony meinte, wir
könnten uns ruhig schon vorher ein bißchen in Stimmung bringen. Ich
kann mich an den Abend kaum noch erinnern... Wir haben um fünf zu
trinken angefangen, und dann habe ich das E genommen...« Sie begann
wieder zu schluchzen.
»Das wollen wir doch mal eben festhalten, Miss: Sie
haben eine Ecstasy-Tablette genommen, die Ihnen Ihr Freund Tony
Bridges gegeben hat?«
Sein Ton erschreckte sie. »Ja«, flüsterte
sie.
»Haben Sie früher schon einmal im Beisein von Mr.
Bridges das Bewußtsein verloren?«
»Manchmal - wenn ich zuviel getrunken hatte.«
Nachdenklich strich Carpenter sich das Kinn.
»Wissen Sie noch, um welche Zeit am Samstag Sie die Tablette
genommen haben?«
»Vielleicht um sieben. Ich kann mich wirklich nicht
mehr genau erinnern.« Sie schneuzte sich in ein Kleenex. »Tony hat
hinterher gesagt, er hätte keine Ahnung gehabt, daß ich soviel
getrunken hatte, sonst hätte er mir das E gar nicht gegeben. Es war
furchtbar - ich tue das nie wieder, ich meine trinken oder Ecstasy
nehmen… Ich war praktisch die ganze Woche krank.« Sie lächelte
matt. »Es stimmt wahrscheinlich, was sie über das Zeug sagen. Tony
meint, ich hätte Glück gehabt, daß ich nicht daran gestorben
bin.«
Galbraith verspürte inzwischen wesentlich weniger
Neigung, sich väterlich zu geben. Seiner ganz persönlichen Meinung
nach war sie eine verwahrloste kleine Schlampe mit zuviel Babyspeck
und zu wenig innerem Halt, und er machte sich ernsthaft Gedanken
über das geheimnisvolle Zusammenspiel von Natur und Chemie, das
bewirken konnte, daß ein bisher vernünftiger Mann sich wegen eines
solchen Mädchens plötzlich wie ein Verrückter benahm. »Sie waren am
Montag abend, als Sergeant Campbell Mr. Bridges aufsuchte, bereits
wieder betrunken«, erinnerte er sie.
Sie warf ihm von unten herauf einen durchtriebenen
Blick zu, der jeden noch vorhandenen Rest an Mitgefühl in ihm
abtötete. »Ich hatte nur zwei Lager getrunken«, sagte sie. »Ich hab
gedacht, danach würde es mir vielleicht bessergehen - aber sie
haben nicht geholfen.«
Carpenter klopfte mit seinem Füller auf den Tisch,
um ihre Aufmerksamkeit wieder für sich zu fordern. »Wann sind Sie
am Sonntag morgen wieder zu sich gekommen, Miss Gould?«
Sie zuckte wehleidig die Achseln. »Ich weiß nicht.
Tony hat gesagt, ich hätte ungefähr zehn Stunden lang dauernd
gebrochen, und es hat erst am Sonntag abend um sieben aufgehört.
Deshalb bin ich auch zu spät nach Hause gekommen.«
»Demnach also am Sonntag morgen gegen neun?«
Sie nickte. »So ungefähr, ja.« Sie wandte ihr
tränennasses Gesicht ihrer Mutter zu. »Es tut mir so leid, Mam. Ich
tu so was bestimmt nie wieder.«
Mrs. Gould drückte ihre Tochter an sich und sah die
beiden Polizeibeamten ängstlich an. »Wird jetzt Anzeige gegen sie
erstattet?«
»Weswegen, Mrs. Gould?«
»Weil sie Ecstasy genommen hat.«
Carpenter schüttelte den Kopf. »Das glaube ich
nicht. So wie die Dinge liegen, gibt es keine Beweise dafür, daß
sie welches genommen hat.« Rohypnol vielleicht... »Aber Sie
waren wirklich sehr dumm, Miss Gould, und ich hoffe, Sie kommen
nicht, um der Polizei Ihr Leid zu klagen, wenn Sie sich das nächste
Mal wieder von einem Mann irgendein unbekanntes Mittel andrehen
lassen. Ob es Ihnen nun gefällt oder nicht, Sie sind für Ihr Tun
und Lassen selbst verantwortlich, und ich kann Ihnen nur raten, zur
Abwechslung hin und wieder auf Ihren Vater zu hören.«
Bravo, Chef, dachte Galbraith.
Carpenter klopfte auf das Protokoll von Bibis
früherer Aussage. »Ich habe für Lügner nichts übrig, junge Frau.
Das gilt übrigens für uns alle hier. Ich glaube, Sie haben meinem
Kollegen, Inspector Galbraith, gestern abend wieder eine Lüge
aufgetischt. So ist es doch, nicht wahr?«
Ihre Augen weiteten sich wie in Panik, aber sie
antwortete nicht.
»Sie sagten, Sie wären nie auf der Crazy
Daze gewesen. Aber das stimmt nicht.«
»Doch!«
»Anfang der Woche haben Sie uns freiwillig Ihre
Fingerabdrücke zur Verfügung gestellt. Sie stimmen mit denen
überein, die wir auf Steven Hardings Boot gefunden haben. Würden
Sie mir erklären, wie Ihre Fingerabdrücke dort hingekommen sind,
obwohl Sie doch angeblich nie an Bord waren?« Er maß sie mit
finsterem Blick.
»Es ist... Tony weiß nichts davon, verstehen Sie...
o Gott!« Sie schlotterte vor Angst. »Es war doch nur - Steve und
ich haben mal einen Abend zusammen getrunken, als Tony weg war. Es
würde ihn furchtbar kränken, wenn er es erfahren würde... Er ist
doch sowieso schon so empfindlich, weil Steve so gut aussieht, und
es würde ihn total fertigmachen, wenn er rauskriegen würde, daß wir
- ach, Sie wissen schon...«
»Daß Sie auf der Crazy Daze mit Steven
Harding Geschlechtsverkehr hatten?«
»Wir waren beide blau. Ich kann mich gar nicht mehr
richtig daran erinnern. Es hatte überhaupt nichts zu bedeuten«,
beteuerte sie verzweifelt, als wäre Untreue eher zu entschuldigen,
wenn der Alkohol die Hemmungen weggespült hatte.
»Warum macht Ihnen die Vorstellung, Tony könnte
dahinterkommen, so große Angst?« fragte Carpenter neugierig.
»Ich hab doch gar keine Angst.« Aber ihre Augen
verrieten, daß sie log.
»Was tut er mit Ihnen, Miss Gould?«
»Gar nichts. Es ist nur - er wird manchmal
schrecklich eifersüchtig.«
»Auf Steven Harding?«
Sie nickte.
»Wie äußert sich seine Eifersucht?«
Sie leckte sich die Lippen. »Er hat’s nur einmal
getan. Er hat mir die Hand in der Autotür eingeklemmt, als er mich
mal mit Steve zusammen im Pub aufgestöbert hatte. Er hat gesagt,
das mit der Tür wäre ein Versehen gewesen, aber - also, ich glaub
das nicht.«
»War das bevor oder nachdem Sie mit Steve Harding
geschlafen hatten?«
»Danach.«
»Er hat also von Steve und Ihnen gewußt?«
Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Das kann ich
mir nicht vorstellen - wie denn? - er war ja die ganze Woche nicht
dagewesen... aber seitdem war er - na ja, seltsam, das
stimmt.«
»Wann ist das denn überhaupt passiert?«
»Ende Mai.«
Carpenter warf einen Blick in seinen
Terminkalender. »Zwischen dem vierundzwanzigsten und
einunddreißigsten Mai?«
»Ich weiß noch, daß es ein Feiertag war. In den
Schulferien.«
»Gut.« Er lächelte ermutigend. »Nur noch ein oder
zwei Fragen, Miss Gould, dann haben wir es geschafft. Erinnern Sie
sich an einen Tag, als Tony Bridges mit Ihnen in Steve Hardings
Wagen fahren wollte und Kate Sumner den Türgriff auf der
Beifahrerseite mit Kot beschmiert hatte?«
Sie schnitt eine Grimasse. »Das war total ekelhaft.
Meine ganze Hand war voll.«
»Wissen Sie noch, wann das war?«
Sie überlegte. »Ich glaube, es war Anfang Juni.
Tony wollte mit mir in Southampton ins Kino, aber dann habe ich so
lange gebraucht, um mir die Hände zu waschen und den Gestank
loszuwerden, daß wir gar nicht mehr gefahren sind.«
»Also nachdem Sie mit Steven Harding geschlafen
hatten?«
»Ja.«
»Danke. Die letzte Frage. Wo war Tony Bridges
während dieser Ferien im Mai?«
»Ach, am Ende der Welt«, sagte sie mit Betonung.
»Seine Eltern haben einen Wohnwagen an der Bucht von Lulworth, da
fährt Tony immer mal allein hin, wenn er Energie tanken muß. Ich
habe ihm schon hundertmal gesagt, er soll in der Schule aufhören,
er haßt Kinder nämlich. Er sagt immer, wenn er mal einen
Nervenzusammenbruch kriegen sollte, dann wär’s ihre Schuld, auch
wenn alle anderen wahrscheinlich behaupten, er hätte zuviel Gras
geraucht.«
Die Vernehmung Steven Hardings gestaltete sich
schwieriger. Man teilte ihm mit, daß Marie Freemantle vor der
Polizei eine Aussage über ihre Beziehung zu ihm gemacht hatte, und
wies ihn darauf hin, daß er wegen ihres Alters mit einer Anzeige
rechnen müsse. Dennoch lehnte er es ab, einen Anwalt hinzuzuziehen.
Er habe nichts zu verbergen, erklärte er. Er schien anzunehmen, man
habe Marie Freemantle aufgrund seines inoffiziellen Gesprächs mit
Nick Ingram am vergangenen Abend befragt, und weder Carpenter noch
Galbraith belehrten ihn eines Besseren.
»Sie haben derzeit eine Beziehung zu einem
fünfzehnjährigen Mädchen namens Marie Freemantle?« begann
Carpenter.
»Ja.«
»Und Sie wußten, als Sie das erstemal
Geschlechtsverkehr mit ihr ausübten, daß sie minderjährig
war?«
»Ja.«
»Wo ist Marie Freemantle wohnhaft?«
»In Lymington, Dancer Road 54.«
»Wieso hat Ihr Agent uns erzählt, Sie hätten eine
Freundin namens Marie, die in London lebt?«
»Weil er glaubt, daß sie dort lebt. Er hat ihr ein
paar Fototermine verschafft, und da sie nicht wollte, daß ihre
Eltern was davon erfahren, haben wir eine Adresse in London
angegeben.«
»Was waren das für Fototermine?«
»Für Nacktaufnahmen.«
»Pornographie?«
Harding fühlte sich sichtlich unbehaglich. »Nur
Softporno.«
»Videos oder Standaufnahmen?«
»Standaufnahmen.«
»Waren Sie auch auf diesen Fotos?«
»Auf einigen«, gab er zu.
»Wo sind die Aufnahmen jetzt?«
»Ich habe sie von meinem Boot aus über Bord
geworfen.«
»Weil sie Sie bei unsittlichen Handlungen mit einer
Minderjährigen zeigten?«
»Sie sieht nicht wie eine Minderjährige aus.«
»Beantworten Sie die Frage, Mr. Harding. Haben Sie
die Aufnahmen über Bord geworfen, weil sie Sie bei unsittlichen
Handlungen mit einer Minderjährigen zeigten?«
Harding nickte.
»Steven Harding beantwortet die Frage mit
Kopfnicken«, diktierte Carpenter ins Mikrofon und fuhr dann fort:
»Wußte Tony Bridges, daß Sie mit Marie Freemantle ein Verhältnis
hatten?«
»Was hat Tony damit zu tun?«
»Beantworten Sie die Frage, Mr. Harding.«
»Ich glaube nicht. Ich hab’s ihm nie
erzählt.«
»Hat er die Fotos von ihr gesehen?«
»Ja. Er kam am Montag zu mir aufs Boot, und da
lagen sie auf dem Tisch.«
»Hatte er sie vorher schon einmal gesehen?«
»Ich habe keine Ahnung. Er hat vor vier Monaten mal
mein Boot völlig auseinandergenommen.« Er fuhr sich mit der Zunge
über die spröden Lippen. »Kann sein, daß er sie da gefunden
hat.«
Carpenter lehnte sich zurück und spielte mit seinem
Füller. »Was ihn sicher wütend machte«, sagte er. »Sie ist eine
Schülerin von ihm, und er hatte offenbar selbst etwas für sie
übrig, durfte sich ihr aber seiner Stellung wegen natürlich nicht
nähern.«
»Ich - ja, kann schon sein.«
»Unseren Informationen zufolge haben Sie Marie
Freemantle am vierzehnten Februar kennengelernt. Hatten Sie zu
dieser Zeit intime Beziehungen zu Kate Sumner?«
»Ich hatte keine Beziehung zu Kate.« Er zwinkerte
nervös, während er, wie Bridges am Abend zuvor, zu erahnen
versuchte, wohin diese Fragen führen würden. »Ich war ein einziges
Mal bei ihr zu Hause, und sie - na ja - sie hat sich mir förmlich
an den Hals geworfen. Es war ganz okay, aber ich habe nie besonders
auf ältere Frauen gestanden. Ich habe ihr klar und deutlich zu
verstehen gegeben, daß ich kein Interesse an etwas Längerfristigem
hätte, und ich dachte, das hätte sie begriffen. Es war nichts
weiter als eine schnelle Nummer in der Küche - weiß Gott nichts
Weltbewegendes.«
»Dann lügt Mr. Bridges also, wenn er behauptet, daß
die Beziehung drei oder vier Monate dauerte?«
»Ach, Herrgott noch mal!« Harding wurde zusehends
nervöser. »Hören Sie, es kann sein, daß ich ihm diesen Eindruck
vermittelt habe. Ich meine, ich habe Kate eine ganze Weile gekannt
- oberflächlich, verstehen Sie -, bevor es zu dieser Geschichte in
ihrem Haus kam, und es ist schon möglich, daß ich - äh, Tony
gegenüber angedeutet habe, es steckte mehr dahinter. Aber das habe
ich wirklich nur getan, um ihn ein bißchen zu ärgern. Er hat so
eine prüde Seite.«
Carpenter betrachtete ihn einen Moment lang
aufmerksam, ehe er seinen Blick auf das Blatt Papier senkte, das
vor ihm auf dem Tisch lag. »Drei Monate nachdem Sie Marie
kennengelernt hatten, irgendwann in der Woche vom
vierundzwanzigsten bis zum einunddreißigsten Mai, praktizierten Sie
auch mit Bibi Gould, Tony Bridges’ Freundin, eine, wie Sie es
ausgedrückt haben, ›schnelle Nummer‹. Ist das richtig?«
Harding stöhnte gequält. »Jetzt hören Sie aber auf!
Das war nun wirklich gar nichts. Wir haben uns im Pub einen
angetrunken, und dann habe ich sie mit auf die Crazy Daze
genommen, um sie dort ihren Rausch ausschlafen zu lassen, weil Tony
weg war und sie nicht in sein Haus konnte. Sie hat mich ziemlich
angebaggert und - also, um ehrlich zu sein, ich kann mich an die
Nacht kaum noch erinnern. Ich war stockblau und könnte nicht
beschwören, daß überhaupt was Erwähnenswertes passiert ist.«
»Weiß Tony Bridges von der Geschichte?«
Er antwortete nicht gleich. »Ich... he, warum
fragen Sie mich eigentlich dauernd über Tony aus?«
»Bitte beantworten Sie die Frage. Weiß Mr. Bridges,
daß Sie mit seiner Freundin geschlafen haben?«
»Keine Ahnung. Er war in letzter Zeit ein bißchen
seltsam. Ich habe mich schon gefragt, ob er vielleicht gesehen hat,
wie sie am nächsten Morgen aus meinem Beiboot gestiegen ist.« Er
strich sich nervös das Haar aus der Stirn zurück. »Er wollte
eigentlich die ganze Woche draußen im Wohnwagen seiner Eltern
bleiben, aber Bob Winterslow hat erzählt, er hätte ihn an dem Tag
drüben bei seinem Großvater gesehen, wie er gerade sein
Schlauchboot rausholen wollte.«
»Wissen Sie denn noch, welcher Tag das war?«
»Es war dieser Feiertag, der auf einen Montag fiel.
Bibis Friseursalon war geschlossen, deshalb konnte sie von Sonntag
auf Montag bleiben.« Er wartete auf Carpenters nächste Fragen, und
als dieser schwieg, sagte er mit einem kleinen Achselzucken: »Hören
Sie, es war wirklich völlig bedeutungslos. Ich hätte es Tony sofort
erklärt, wenn er je etwas gesagt hätte« - wieder ein Achselzucken
-, »aber das hat er nicht getan.«
»Sagt er denn sonst etwas, wenn Sie mit seinen
Freundinnen schlafen?«
»Ich schlafe nicht gewohnheitsmäßig mit seinen
Freundinnen, verdammt noch mal! Das Problem ist - na ja, Bibi war
wie Kate. Wenn man solchen Frauen den kleinen Finger reicht, nehmen
sie gleich die ganze Hand.«
Carpenter runzelte die Stirn. »Soll das heißen, daß
sie Sie zum Geschlechtsverkehr gezwungen hat?«
»Nein, aber -«
»Dann ersparen Sie mir doch bitte Ihre Ausflüchte.«
Er sah wieder in seine Notizen. »Wie kam Ihr Agent überhaupt auf
die Idee, daß Bibi Gould Ihre Freundin wäre?«
Harding besaß den Anstand, ein verlegenes Gesicht
zu machen. »Weil ich ihm erzählt habe, daß sie eine flotte Nummer
ist.«
»Womit Sie sagen wollten, daß sie gegen Pornofotos
nichts einzuwenden hätte?«
»Ja.«
»Kann es sein, daß Ihr Agent Tony Bridges davon
erzählt hat?«
Harding schüttelte den Kopf. »Wenn er das getan
hätte, hätte Tony mich fertiggemacht.«
»Aber Kate Sumners wegen hat er Sie nicht
fertiggemacht, nicht wahr?«
Harding blickte ihn verständnislos an. »Tony hat
Kate doch gar nicht gekannt.«
»Und wie gut haben Sie sie gekannt, Mr.
Harding?«
»Das ist ja das Irre«, antwortete er. »So gut wie
gar nicht - okay, wir haben’s einmal gemacht, aber dabei lernt man
einen Menschen doch nicht kennen. Danach bin ich ihr aus dem Weg
gegangen, weil es mir peinlich war. Und dann hat sie plötzlich
angefangen, mich zu behandeln, als hätte ich ihr was
angetan.«
Carpenter zog das Protokoll von Hardings früherer
Aussage heraus. »Sie haben behauptet, sie wäre auf Sie fixiert
gewesen, Mr. Harding. ›Ich wußte, daß sie in mich verliebt war
…‹«, las er vor. »›Immer wenn ich hier war, trieb sie sich
beim Jachtklub herum und wartete, bis ich in meinem Beiboot kam und
an Land ging. Meistens stand sie nur da und beobachtete mich, aber
manchmal stieß sie ganz bewußt mit mir zusammen und drückte ihre
Brüste an meinen Arm …‹ Entspricht irgend etwas von alldem der
Wahrheit?«
»Kann schon sein, daß ich ein bißchen übertrieben
habe. Aber sie hat tatsächlich eine Woche lang da rumgehangen, bis
ihr aufging, daß ich kein Interesse hatte. Dann hat sie... die Idee
wohl aufgegeben, vermute ich. Ich habe sie jedenfalls nicht
wiedergesehen bis zu dem Tag, als sie den Inhalt von Hannahs
schmutziger Windel auf meinem Boot hinterließ.«
Carpenter suchte Tony Bridges’ Aussage aus dem
Papierstapel heraus. »Tony Bridges hat folgendes gesagt: ›Er hat
mir in diesem Jahr mehr als einmal erzählt, daß er Probleme mit
einer Frau namens Kate Sumner hätte, die ihm ständig
auflauerte...‹ Haben Sie vielleicht auch Tony Bridges gegenüber
etwas übertrieben?«
»Ja.«
»Haben Sie Kate Sumner als ›Flittchen‹
bezeichnet?«
Er sank in sich zusammen. »Das ist doch nur so eine
Redensart.«
»Haben Sie Tony Bridges erzählt, Kate Sumner sei
leicht rumzukriegen?«
»Jetzt hören Sie aber auf. Das war doch alles nur
ein Witz. Tony hatte mit Sex schon immer Probleme. Alle haben ihn
deswegen gehänselt, nicht nur ich... Dann erschien Bibi auf der
Bildfläche, und er... na ja, er wurde um einiges lockerer.«
Carpenter musterte ihn einen Moment lang scharf.
»Dann haben Sie wohl auch nur aus Jux mit Bibi Gould
geschlafen?«
Harding starrte auf seine Hände. »Ich habe es aus
keinem speziellen Grund getan. Es ist ganz einfach passiert. Ich
meine, sie war nun wirklich leicht rumzukriegen. Sie bleibt doch
nur bei Tony, weil sie auf mich steht. Hören Sie« - er krümmte sich
noch mehr zusammen -, »ich möchte wirklich nicht, daß Sie hier
einen völlig falschen Eindruck bekommen.«
»Einen falschen Eindruck inwiefern, Mr.
Harding?«
»Ach, ich weiß nicht, aber mir scheint, Sie haben
es auf Tony abgesehen.«
»Aus gutem Grund«, versetzte Carpenter. Er zog ein
neues Blatt Papier aus dem Stapel und verdeckte das Geschriebene
mit der Hand. »Man hat uns erzählt, Sie hätten gesehen, wie er Bibi
Gould ein Mittel namens« - er blickte auf das Blatt Papier, als
stünde das Wort dort geschrieben - »Rohypnol gegeben hat, damit sie
sich nicht über seine kläglichen Leistungen als Liebhaber
beschwert. Ist das wahr?«
»Ach, Scheiße!« Er stützte den Kopf in seine Hände.
»Das können Sie nur von Marie haben.« Er massierte sich mit
leichten, kreisenden Bewegungen die Schläfen. Galbraith war
fasziniert von der Anmut seiner Hände. Er war in der Tat ein
außergewöhnlich schöner junger Mann, und es wunderte ihn nicht, daß
Kate Sumner ihn attraktiver gefunden hatte als ihren Ehemann.
»Ist das wahr, Mr. Harding?«
»Teilweise. Er hat mir erzählt, er hätte es ihr mal
gegeben, als sie sich beschwert hat, aber ich habe es nicht mit
eigenen Augen gesehen. Er kann genausogut gelogen haben.«
»Woher kannte er Rohypnol denn überhaupt?«
»Das kennt doch jeder.«
»Haben Sie ihm davon erzählt?«
Harding hob den Kopf und starrte auf das Papier vor
dem Superintendent. Es war klar, daß er gern gewußt hätte, wie weit
die Informationen reichten, die dort niedergeschrieben waren. »Sein
Großvater hat Schlafstörungen, seit seine Frau gestorben ist, und
da hat der Arzt ihm Rohypnol verschrieben. Als Tony mir das erzählt
hat, habe ich gelacht und gesagt, wenn er sich davon was beschaffen
könnte, wären alle seine Probleme sofort gelöst. Ich kann doch
nichts dafür, wenn der verrückte Hund das Zeug tatsächlich
verwendet hat.«
»Haben Sie es schon einmal verwendet, Mr.
Harding?«
»Also wirklich! Als hätte ich das nötig!«
Ein schwaches Lächeln spielte um Carpenters
Mundwinkel, als er abrupt das Thema wechselte. »Wann hat Kate
Sumner angefangen, Ihren Wagen mit Kot zu beschmieren und die
Alarmanlage auszulösen? Wie lange etwa, nachdem sie das Bett in
Ihrem Boot beschmutzt hatte?«
»Ich weiß nicht genau. Das war vielleicht ein paar
Tage später.«
»Und woher wissen Sie, daß sie es war?«
»Weil sie mir auch schon die Laken auf dem Boot
versaut hatte.«
»Und das war irgendwann gegen Ende April, nicht
wahr?« Harding nickte. »Aber mit dieser« - Carpenter suchte nach
einem geeigneten Wort - »›Schmutzkampagne‹ hat sie erst angefangen,
als ihr klarwurde, daß Sie an einer Beziehung mit ihr nicht
interessiert waren?«
»Na und, ist das vielleicht meine Schuld?«
versetzte Harding verzweifelt. »Sie war so - so unglaublich
langweilig!«
»Meine Frage war, ob sie diese ›Schmutzkampagne‹
startete, nachdem sie erkannt hatte, daß Sie nicht an ihr
interessiert waren«, sagte Carpenter geduldig.
»Ja.« Mit einer heftigen Bewegung drückte er die
Handballen auf seine geschlossenen Augen, als könnte er sich so die
Details ins Gedächtnis zurückrufen. »Sie hat mir schlicht und
einfach das Leben zur Hölle gemacht, bis ich es nicht mehr
ausgehalten habe. Und da bin ich dann auf die Idee gekommen, ihrem
Mann weiszumachen, ich wär schwul, weil ich hoffte, er würde es ihr
erzählen.«
Carpenter las in Hardings Protokoll nach. »Das war
im Juni?«
»Ja.«
»Hatte es einen bestimmten Grund, daß Sie
anderthalb Monate warteten, ehe Sie beschlossen, etwas Drastisches
zu unternehmen?«
»Es wurde immer schlimmer statt besser«, erklärte
Harding mit einer plötzlichen Aufwallung von Zorn, als machte die
Erinnerung ihn immer noch wütend. »Zuerst habe ich gedacht, sie
würde irgendwann die Lust verlieren, wenn ich nur Geduld bewahrte.
Aber als sie sich dann mein Schlauchboot vornahm, hat’s mir
gereicht. Ich hatte Angst, sie würde sich als nächstes an der
Crazy Daze vergreifen, und da war bei mir Schluß.«
Carpenter nickte, als fände er die Erklärung
plausibel. Wieder beugte er sich über das Protokoll von Hardings
Aussage. »Sie suchten also William Sumner auf und zeigten ihm Fotos
von sich, die in einer Schwulenzeitschrift erschienen waren, weil
Sie hofften, er würde seiner Frau erzählen, Sie wären
schwul?«
»Ja.«
»Hm.« Carpenter griff wieder nach Tony Bridges’
Protokoll. »Mr. Bridges sagt dazu allerdings etwas anderes: Als Sie
ihm gegenüber erwähnten, Sie wollten Kate Sumner wegen Belästigung
bei der Polizei anzeigen, habe er Ihnen geraten, sich doch einfach
einen anderen Parkplatz für Ihr Auto zu suchen. Seiner Aussage
zufolge sei damit das Problem gelöst gewesen. Er fand es im
übrigen ziemlich erheiternd, als wir ihm gestern abend erzählten,
Sie hätten versucht, den Belästigungen damit ein Ende zu setzen,
daß Sie William Sumner diese Fotos von sich zeigten. Er sagte:
›Steve hatte immer schon eine lange Leitung.‹«
Harding zuckte die Achseln. »Na und? Es hat doch
gewirkt. Das ist das einzige, was mich interessiert hat.«
Mit einer bedächtigen Handbewegung strich Carpenter
die Papiere vor sich glatt. »Und wie kam das, was meinen Sie?«
fragte er. »Sie wollen doch sicher nicht im Ernst unterstellen, daß
eine Frau, die derart wütend über Ihre Zurückweisung war, daß sie
Sie wochenlang auf übelste Weise belästigte, plötzlich sang- und
klanglos kapitulierte, als sie hörte, Sie wären schwul? Ich gebe
zu, daß ich mich mit Neurotikern nicht auskenne, aber ich würde
annehmen, daß die Schikane eher schlimmer geworden wäre. Niemand
läßt sich gerne lächerlich machen, Mr. Harding.«
Harding starrte ihn perplex an. »Aber sie
hat doch aufgehört.«
Carpenter schüttelte den Kopf. »Man kann nicht mit
etwas aufhören, das man nie begonnen hat, mein Junge. Oh, es
besteht kein Zweifel daran, daß sie in einem Moment der Verärgerung
Hannahs Windeln an Ihrem Bettlaken abgewischt hat, aber es war
nicht Kate Sumner, die Ihnen etwas heimzahlen wollte, sondern Ihr
Freund, Tony Bridges. Der Zwischenfall mit den Windeln hat ihn
wahrscheinlich überhaupt erst auf die Idee gebracht, Sie auf diese
Weise zu schikanieren. Und es war auch noch so eine passende Rache!
Sie hatten jahrelang auf ihn und seine Gefühle ›geschissen‹. Da muß
es ihm einen Heidenspaß gemacht haben, es Ihnen mit gleicher Münze
heimzuzahlen. Aufgehört hat er damit nur, weil Sie damit gedroht
hatten, zur Polizei zu gehen.«
Ein mattes Lächeln, so verwaschen wie nasse
Wasserfarben, breitete sich auf Hardings Gesicht aus. Er sieht
krank aus, dachte Carpenter mit Genugtuung.
Angela Sumner hatte längst alle Bemühungen
aufgegeben, ihren Sohn zum Sprechen zu bringen. Ihre anfängliche
Überraschung über sein unangemeldetes Erscheinen in ihrer Wohnung
war einem Gefühl der Beängstigung gewichen, und ähnlich wie das
Opfer einer Geiselnahme versuchte sie stets zu beschwichtigen statt
herauszufordern. Was immer ihn nach Chichester zurückgeführt hatte,
er wollte nicht mit ihr darüber sprechen. Er schien ständig von
einem Extrem ins andere zu fallen, konnte von einem Tobsuchtsanfall
getrieben im Zimmer hin und her laufen, nur um im nächsten Moment
in Tränen aufgelöst zusammenzubrechen und in Apathie zu versinken.
Sie konnte ihm nicht helfen. Er bewachte das Telefon mit der
Beharrlichkeit eines Wahnsinnigen, und gelähmt vor Angst und
Hilflosigkeit, zog sie sich in stumme Beobachtung zurück.
Er war in den vergangenen zwölf Monaten ein Fremder
für sie geworden, und eine Art unterschwelliger Abneigung trieb sie
zur Grausamkeit. Sie wurde sich bewußt, daß sie ihren Sohn
verachtete. Im Grunde hat er nie viel Rückgrat besessen, dachte
sie, sonst hätte Kate nicht so leichtes Spiel mit ihm gehabt. Ihre
Lippen wurden zu einem schmalen Strich der Geringschätzung, während
sie dem trockenen Schluchzen lauschte, das seinen mageren Körper
schüttelte, und als er endlich sein Schweigen brach, erkannte sie
mit einem Gefühl der Unausweichlichkeit, daß sie seine Worte hätte
vorhersagen können. »…ich wußte einfach nicht mehr, was ich tun
sollte...«
Sie vermutete, daß er seine Frau ermordet hatte.
Und jetzt befürchtete sie, er könnte auch sein Kind getötet
haben.
Tony Bridges stand auf, als die Zellentür geöffnet
wurde, und sah Galbraith mit einem unsicheren Lächeln entgegen. In
den Stunden der Haft war er zu einem kleinen, unbedeutenden
Menschen geschrumpft, der entdeckt hatte, was es hieß, der Gnade
anderer ausgeliefert zu sein. Verschwunden war die Arroganz von
gestern, verdrängt von der beunruhigenden Erkenntnis, daß all seine
Beredsamkeit nichts gegen das Mißtrauen der Polizei auszurichten
vermochte.
»Wie lange wollen Sie mich eigentlich noch
hierbehalten?«
»So lange wie nötig, Mr. Bridges.«
»Ich weiß überhaupt nicht, was Sie von mir
wollen.«
»Die Wahrheit.«
»Das einzige, was ich getan habe, war, ein Boot zu
stehlen.«
Galbraith schüttelte den Kopf. Er meinte,
flüchtiges Bedauern in dem verschreckten Blick des jungen Mannes zu
sehen, bevor er zurücktrat, um Bridges vorbeizulassen. Man konnte
es vielleicht Reue nennen, vermutete er.
›... ich wollte es nicht tun. Ich habe es auch
nicht getan - nicht wirklich. Kate wäre noch am Leben, wenn sie
nicht versucht hätte, mich aus dem Boot zu stoßen. Es ist ihre
eigene Schuld, daß sie tot ist. Alles war gut, bis sie auf einmal
auf mich losging, und dann war sie plötzlich im Wasser. Das können
Sie mir doch nicht zum Vorwurf machen. Glauben Sie denn, ich hätte
nicht auch Hannah ertränkt, wenn ich die Absicht gehabt hätte, ihre
Mutter zu töten...?‹