21
Galbraith stand auf und trat an eines der Fenster
mit Blick auf die Straße. Die kleine Menschenmenge von zuvor hatte
sich inzwischen zerstreut, nur ein paar ältere Frauen standen noch
schwatzend auf dem Bürgersteig und warfen hin und wieder einen
Blick zum Haus. Er beobachtete sie ein paar Minuten lang und
beneidete sie um ihr ganz normales Leben. Wie oft mußten sie sich
die schmutzigen kleinen Geheimnisse von Mordverdächtigen anhören?
Manchmal, wenn er die Bekenntnisse von Menschen wie Sumner hörte,
kam er sich wie ein Priester vor, der lediglich durch geduldiges
Zuhören eine Art Segen erteilte. Aber er besaß weder die Macht,
noch hatte er das Verlangen, Sünden zu vergeben, und er fühlte sich
unweigerlich herabgewürdigt durch das, was diese Menschen ihm
heimlich anvertrauten.
Er drehte sich wieder zu Sumner um. »Es wäre also
richtiger zu sagen, daß Ihre Ehe eine Form sexueller Sklaverei war?
Ihre Frau war bereit, alles zu tun, damit ihre Tochter in der
Geborgenheit aufwachsen konnte, die sie selbst nie gekannt hatte,
und Sie konnten sie damit wunderbar erpressen.«
»Ich habe gesagt, sie hätte alles dafür
getan, und nicht, daß sie es tatsächlich getan hat oder daß ich es
je von ihr verlangt hätte.« Ein Blitzen des Triumphs stahl sich in
Sumners Augen, als hätte er einen wichtigen Punkt gemacht. »Ein
Mittelding gibt es für Sie nicht, wie? Vor einer halben Stunde
haben Sie mich wie einen Kretin behandelt, weil Sie glaubten, Kate
hätte mich reingelegt. Jetzt beschuldigen Sie mich der sexuellen
Sklaverei, weil ich Kates Lügen über Hannah satt hatte und sie
darauf hinwies - sehr milde, im übrigen -, daß ich die Wahrheit
wußte. Weshalb hätte ich ihr dieses Haus kaufen sollen, wenn sie in
unserer Beziehung nichts zu sagen hatte? Sie haben selbst
festgestellt, daß ich in Chichester besser dran war.«
»Ich weiß es nicht. Verraten Sie es mir.«
»Weil ich sie geliebt habe.«
Ungeduldig schüttelte Galbraith den Kopf. »Sie
schildern mir Ihre Ehe als ewiges Kriegsgebiet, und dann erwarten
Sie, daß ich solchen Quatsch schlucke? Ich möchte den wahren Grund
wissen.«
»Das ist der wahre Grund. Ich habe meine
Frau geliebt, und ich hätte ihr alles gegeben, was sie
wollte.«
»Und gleichzeitig haben Sie sie dazu genötigt, Sie
zu befriedigen, wann immer Ihnen danach war?« Die Atmosphäre im
Zimmer war geladen, und er spürte, wie er selbst grausam wurde
angesichts der Grausamkeit dieser Ehe zwischen Kate und William
Sumner. Er konnte einfach nicht die Erinnerung an die kleine,
schwangere Frau auf dem Tisch des Pathologen loswerden, sah in
Gedanken immer wieder Dr. Warner vor sich, wie er beinahe achtlos
ihre Hand hob und leicht schüttelte, um zu zeigen, daß die Finger
gebrochen waren. Das Geräusch knirschender Knochen hatte sich wie
eine Made in Galbraith’ Hirn hineingefressen, und nachts träumte er
von Schlachthäusern. »Wissen Sie, ich kann mir einfach nicht
schlüssig werden, ob Sie sie geliebt oder gehaßt haben. Oder war es
vielleicht ein bißchen was von beidem? War es eine Beziehung voller
Haßliebe, die schiefging?«
Sumner schüttelte den Kopf. Er sah plötzlich
niedergeschlagen aus, als wäre das Spiel, das er trieb - was immer
das auch sein mochte -, der Mühe nicht mehr wert. Galbraith
wünschte, er verstünde, was Sumner mit seinen Antworten erreichen
wollte, und starrte den Mann ratlos an. Sumner war entweder sehr
offen oder äußerst geschickt darin, den wahren Sachverhalt zu
verschleiern. Insgesamt wirkte er ehrlich, und Galbraith kam der
Gedanke, daß er vielleicht auf eine plumpe Art zu demonstrieren
versuchte, daß Kate Sumner eine Frau gewesen war, die einen Mann
leicht zur Vergewaltigung hätte treiben können. Er erinnerte sich,
was James Purdy über diese Frau gesagt hatte. »... was ich an
jenem Abend mit Kate erlebte, war etwas noch nie Dagewesenes für
mich... es war das, wovon Männer träumen... Ich kann meine Gefühle
für Kate nur als ein Fieber beschreiben...«
»Hat Ihre Frau Sie geliebt, Mr. Sumner?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe sie nie danach
gefragt.«
»Weil Sie fürchteten, sie würde nein sagen?«
»Im Gegenteil. Ich wußte, sie würde ja
sagen.«
»Und Sie wollten nicht, daß sie Sie belügt?«
Sumner nickte.
»Ich mag es auch nicht, wenn man mich belügt«,
murmelte Galbraith, den Blick auf Sumner gerichtet. »Es bedeutet,
daß der andere einen für so dumm hält, alles zu glauben, was er
sagt. Hat Ihre Frau eine Affäre gehabt und Sie belogen?«
»Sie hatte keine Affäre.«
»Sie hat Steven Harding ohne jeden Zweifel an Bord
seines Boots besucht«, entgegnete Galbraith. »Wir haben dort
überall ihre Fingerabdrücke gefunden. Sind Sie dahintergekommen?
Vielleicht hatten Sie den Verdacht, daß auch das zweite Kind, das
sie erwartete, nicht von Ihnen war? Vielleicht hatten Sie Angst,
sie wollte Ihnen wieder ein Kuckucksei ins Nest legen?«
Sumner starrte auf seine Hände hinunter.
»Haben Sie sie vergewaltigt?« fuhr Galbraith
gnadenlos fort. »War das ein Teil der Gegenleistung dafür, daß Sie
Hannah als Ihre Tochter anerkannten? Das Recht, mit Ihrer Frau zu
machen, was Sie wollten, wann immer Sie wollten?«
»Weshalb hätte ich sie vergewaltigen sollen, wenn
ich es gar nicht nötig hatte?« fragte er.
»Mich interessiert nur ein Ja oder Nein, Mr.
Sumner.«
Seine Augen blitzten zornig. »Nein, verdammt noch
mal. Ich habe meine Frau nie vergewaltigt.«
»Vielleicht haben Sie ihr Rohypnol gegeben, um sie
gefügiger zu machen?«
»Nein.«
»Dann sagen Sie mir, wieso Hannah so sexbewußt
ist«, verlangte Galbraith. »Haben Sie und Ihre Frau im Beisein des
Kindes Verkehr gehabt?«
Neuerlicher Zorn. »Das ist ja widerwärtig.«
»Ja oder nein, Mr. Sumner.«
»Nein.« Das Wort ging fast unter in einem
erstickten Schluchzen.
»Sie lügen, Mr. Sumner. Vor einer halben Stunde
haben Sie mir noch erzählt, daß Sie bei ihr im Hotelzimmer bleiben
mußten, weil sie nicht aufhörte zu weinen. Ich vermute, zu Hause
war es genauso. Ich denke, wenn Sie mit Ihrer Frau geschlafen
haben, war Hannah dabei. Sie hatten es so satt, daß Ihre Frau
ständig Hannah als Vorwand benutzte, um Sie abzuwimmeln, daß Sie
darauf bestanden, es im Beisein des Kindes zu tun. Ist das
richtig?«
Er vergrub sein Gesicht in den Händen und wiegte
sich hin und her. »Sie wissen ja nicht, wie es war... Nie hat sie
uns in Ruhe gelassen... nie hat sie geschlafen... immer nur
gequengelt... Kate hat sie immer vorgeschoben...«
»Heißt das ja?«
Die Antwort war nur ein Flüstern. »Ja.«
»Constable Griffiths sagte, Sie seien gestern nacht
in Hannahs Zimmer gegangen. Würden Sie mir sagen, warum?«
»Sie glauben mir ja doch nicht.«
»Vielleicht doch.«
Sumner hob das tränennasse Gesicht. »Ich wollte sie
ansehen«, sagte er verzweifelt. »Sie ist alles, was mir von Kate
noch geblieben ist.«
Carpenter zündete sich eine Zigarette an, als
unter Ingrams sorgfältigen Spatenstichen der erste Riemen eines
Rucksacks zum Vorschein kam. »Gute Arbeit, mein Junge«, sagte er
beifällig. Er schickte einen seiner Constables zum Wagen, um
Gummihandschuhe und Plastikfolie zu holen, und richtete sein
Augenmerk dann wieder auf Ingram, der fortfuhr, das Geröll rund um
den zerknautschten Stoff zu entfernen.
Nach weiteren zehn Minuten hatte Ingram den
Gegenstand ganz freigelegt und auf die Plastikfolie befördert. Es
war ein robuster grüner Campingrucksack mit einem Taillengurt als
zusätzliche Stütze und Schnallen am Boden zum Befestigen eines
Zelts. Er war alt und abgenützt, und der Metallrahmen war aus
irgendeinem unerfindlichen Grund herausgeschnitten worden -
allerdings schon vor geraumer Zeit, wie an den ausgefransten
Stoffkanten zu erkennen war. Der Rucksack lag auf der Plastikfolie,
unter dem Gewicht seiner Riemen in sich zusammengefallen, und was
immer er enthalten mochte, nahm nicht einmal ein Drittel seines
Volumens ein.
Carpenter wies einen seiner Mitarbeiter an, jedes
Stück, das er dem Rucksack entnahm, in einem Plastikbeutel zu
verschließen und zu notieren, um was für einen Gegenstand es sich
jeweils handelte. Dann kauerte er neben dem Rucksack nieder,
öffnete mit behandschuhten Händen die Schnallen und klappte ihn
auf.
»Es geht los«, sagte er. »Ein Feldstecher, Fabrikat
nicht mehr lesbar, möglicherweise Optikon... eine Flasche
Mineralwasser, Volvic... drei leere Chipsbeutel der Firma Smith...
eine Baseballmütze, Marke River Island... eine cremefarbene
Herrenhose, Baumwolle, Marke River Island... ein Paar braune
Safaristiefel, Größe vierzig.«
Er griff in die Seitentaschen und zog ein paar
verschimmelte Orangenschalen heraus, weitere leere Chipsbeutel,
eine angebrochene Packung Camel-Zigaretten, in der ein Feuerzeug
steckte, und eine kleine Menge einer Substanz, die wie Cannabis
aussah und in Klarsichtfolie verpackt war. Blinzelnd sah er zu den
drei Polizeibeamten auf.
»Also? Was halten Sie davon? Was ist daran so
belastend, daß Nick es nicht sehen durfte?«
»Das Gras«, sagte der eine Beamte. »Er wollte damit
nicht erwischt werden.«
»Vielleicht.«
»Weiß der Himmel«, sagte der andere Beamte.
Carpenter stand auf. »Und Sie, Nick? Was meinen
Sie?«
»Ich würde sagen, das Interessanteste sind die
Schuhe, Sir.«
Carpenter nickte. »Zu klein für Harding, der gut
eins achtzig groß ist, und zu groß für Kate Sumner. Also warum
schleppt er ein Paar Schuhe Größe vierzig mit sich rum?«
Niemand wußte eine Antwort.
Galbraith wollte gerade aus Lymington wegfahren,
als Carpenter ihn anrief und sagte, er solle sich Tony Bridges
vorknöpfen und den »kleinen Bastard« durch die Mangel drehen. »Er
hat uns belogen, John«, erklärte er, berichtete dann von dem
Rucksack und dem Video des Franzosen und wiederholte wörtlich die
Nachrichten, die Ingram auf dem Handy vorgefunden hatte. »Bridges
muß sehr viel mehr wissen, als er uns gesagt hat. Nehmen Sie ihn
ruhig unter dem Verdacht der Verabredung zur Verübung einer
Straftat fest, wenn es nicht anders geht. Kriegen Sie raus, wann
und warum Harding nach Frankreich wollte, und sehen Sie zu, ob Sie
was über die sexuellen Vorlieben dieses Kerls in Erfahrung bringen
können. Die ganze Sache stinkt, wenn Sie mich fragen.«
»Und was ist, wenn ich Bridges nicht finde?«
»Er war vor zwei oder drei Stunden noch zu Hause.
Die letzte Nachricht kam von seinem Anschluß. Er ist Lehrer, zur
Arbeit ist er also bestimmt nicht gegangen, es sei denn, er hat
einen Ferienjob. Campbell meint, Sie sollen es in den Pubs
versuchen.«
»In Ordnung.«
»Wie sind Sie mit Sumner weitergekommen?«
Galbraith überlegte. »Er ist kurz vor dem
Zusammenbruch«, antwortete er. »Er hat mir leid getan.«
»Dann ist es nicht mehr so sicher, daß er unser
Kandidat ist?«
»Oder noch sicherer«, erwiderte Galbraith trocken.
»Kommt ganz auf den Standpunkt an. Sie hatte eindeutig ein
Verhältnis, von dem er wußte. Ich glaube, er hat zumindest daran
gedacht, sie umzubringen - was wahrscheinlich der Grund ist,
warum er jetzt zusammenbricht.«
Zum Glück für Galbraith war Tony Bridges nicht nur
zu Hause, sondern obendrein auch noch so bekifft, daß er
splitterfasernackt an die Haustür kam. Einen Moment lang hatte
Galbraith Skrupel, einen Menschen in diesem Zustand durch die
Mangel zu drehen, wie Carpenter ihm aufgetragen hatte, aber auch
nur einen Moment lang. Für einen Polizisten kam es schließlich
einzig und allein darauf an, daß der Zeuge die Wahrheit
sagte.
»Ich habe dem blöden Hund gleich gesagt, daß Sie
ihm noch auf den Zahn fühlen werden«, bemerkte Bridges redselig,
als er durch den Korridor in das chaotische Wohnzimmer vorausging.
»Ich finde, man sollte besser nicht versuchen, die Bullen für dumm
zu verkaufen, es sei denn, man ist ein kompletter Idiot. Aber er
hat sich ja noch nie was sagen lassen - und von mir schon gar
nicht. Seiner Meinung nach hab ich mich verkauft, und meine
Ansichten sind keinen Scheißdreck mehr wert.«
»Verkauft an wen?« fragte Galbraith, der sich einen
Weg zu einem freien Sessel bahnte und daran dachte, daß angeblich
auch Harding, wenn er auf der Crazy Daze war, am liebsten
nackt herumlief. Er fragte sich, ob Nacktheit neuerdings
wesentlicher Bestandteil der Jugendkultur war, und hoffte es nicht.
Der Gedanke an Polizeizellen voller Junkies mit haarloser Brust und
Pickeln auf dem Hintern deprimierte ihn.
»Ans Establishment«, sagte Bridges. Er hockte sich
im Schneidersitz auf den Boden und nahm einen halbgerauchten Joint
aus einem Aschenbecher vor ihm. »Feste Anstellung. Festes Gehalt.«
Er bot Galbraith den Joint an. »Wollen Sie mal?«
Galbraith schüttelte den Kopf. »Was für eine
Anstellung?« Er hatte alle Berichte über Harding und seine Freunde
gelesen, wußte alles über Bridges, was es zu wissen gab, aber im
Moment hielt er es für vorteilhafter, das für sich zu
behalten.
»Als Lehrer«, antwortete Bridges mit einem
Achselzucken. Er war zu bekifft - oder schien es zumindest
zu sein, wie Galbraith sich zynisch sagte -, um sich daran zu
erinnern, daß er das der Polizei bereits mitgeteilt hatte. »Okay,
die Bezahlung ist nicht gerade umwerfend, aber die Ferien sind gut.
Und es ist auf jeden Fall besser, als mit nacktem Arsch vor
irgendeinem miesen kleinen Fotografen rumzuhampeln. Aber Steve hat
für Kinder nicht viel übrig. Er mußte mal mit so ein paar richtigen
kleinen Monstern zusammenarbeiten, und da war bei ihm der Ofen
aus.« Er zog sich mit seinem Joint in zufriedenes Schweigen
zurück.
Galbraith spielte den Überraschten. »Sie sind
Lehrer?«
»Ganz recht.« Bridges blinzelte durch den Rauch.
»Und jetzt regen Sie sich bloß nicht gleich auf. Ich rauche nur in
meiner Freizeit, und ich habe ebensowenig Lust, mein Gras mit den
Kindern zu teilen, wie es meinem Chef einfällt, ihnen von seinem
Whisky abzugeben.«
Die Rechtfertigung war derart stark vereinfachend
und so typisch für die Befürworter einer Legalisierung von Drogen,
daß Galbraith lächeln mußte. Es gab bessere Argumente dafür, fand
er, aber der Durchschnittsraucher war entweder zu beschränkt oder
zu high, um sie ins Feld zu führen.
»Okay, okay.« Er hob kapitulierend die Hände. »Das
ist nicht mein Revier, ich brauche den Vortrag nicht.«
»Und ob Sie ihn brauchen! Ihr Bullen seid doch alle
gleich.«
»Mich interessiert eigentlich mehr Steves Tätigkeit
im Pornogeschäft. Die scheint Ihnen ja sehr zu mißfallen?«
Bridges’ Miene wurde verschlossen. »Das ist doch
alles Dreck. Ich bin Lehrer. Ich mag solchen Dreck nicht.«
»Was denn für Dreck? Beschreiben Sie mal.«
»Was gibt’s da groß zu beschreiben? Er hat einen
Schwanz von der Größe des Eiffelturms und zeigt ihn gern her.« Er
zuckte die Achseln. »Aber das ist sein Problem, nicht
meines.«
»Sind Sie da sicher?«
Bridges starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen
durch den Rauch seines Joints an. »Was soll das heißen?«
»Wir haben gehört, daß Sie immer schon in seinem
Schatten gestanden haben.«
»Wer hat das gesagt?«
»Steves Eltern.«
»Na, denen brauchen Sie gar nichts zu glauben«,
sagte er wegwerfend. »Die haben mich schon vor zehn Jahren in Grund
und Boden verdammt und ihre Meinung seitdem nicht geändert. Die
behaupten, ich hätte einen schlechten Einfluß auf ihn.«
Galbraith lächelte leise. »Und haben Sie
den?«
»Sagen wir mal so, meine Eltern sind der
Meinung, daß Steve einen schlechten Einfluß auf mich hat. Wir haben
einige Dummheiten zusammen gemacht, als wir jünger waren, aber das
ist doch Schnee von gestern.«
»Und was unterrichten Sie?« fragte Galbraith,
während er sich in dem Zimmer umsah und sich fragte, wie ein Mensch
in solcher Verwahrlosung leben konnte. Noch interessanter fand er
die Frage, wie ein derart schmutziges Individuum an eine Freundin
kam. War Bibi genauso schlimm wie er?
Campbells Beschreibung des Hauses nach seinem
Gespräch mit Bridges am Montag hatte an Deutlichkeit nichts zu
wünschen übriggelassen. »Das Haus ist eine Müllhalde«, hatte er
gesagt. »Der Kerl ist völlig durchgeknallt, überall stinkt’s, er
lebt mit einer Schlampe zusammen, die aussieht, als hätte sie mit
sämtlichen Männern von Lymington geschlafen, und dabei ist dieser
Kerl Lehrer, Herrgott noch mal!«
»Chemie.« Tony Bridges grinste spöttisch über
Galbraith’ Gesichtsausdruck, den er falsch interpretierte. »Ja, ich
weiß, wie man Lysergsäurediäthylamid herstellt. Und ich könnte auch
den Buckingham-Palast in die Luft sprengen. Ein sehr nützliches
Fach, die Chemie. Der Haken ist nur« - er unterbrach sich, um
sinnend an seinem Joint zu ziehen -, »daß die Leute, die es
unterrichten, so stinklangweilig sind, daß sie den Kindern allen
Spaß daran verderben, bevor es überhaupt richtig interessant
wird.«
»Aber Sie tun das nicht?«
»Nein. Ich bin gut.«
Galbraith glaubte ihm sogar. Rebellen, mochten sie
noch so viele Mängel haben, übten oft eine charismatische Wirkung
auf Jugendliche aus.
»Ihr Freund ist im Krankenhaus in Poole«, sagte er
unvermittelt. »Er wurde heute morgen auf der Insel Purbeck von
einem Hund angefallen und mußte mit dem Hubschrauber zum Nähen
einer Armverletzung ins Krankenhaus gebracht werden.« Er sah
Bridges fragend an. »Haben Sie eine Ahnung, was er dort zu tun
hatte? Schließlich wurde ihm zur Auflage gemacht, unter Ihrem Dach
zu wohnen, deshalb wissen Sie vermutlich, was er so treibt.«
»Tut mir leid, da täuschen Sie sich. Steve ist für
mich ein Buch mit sieben Siegeln.«
»Sie sagten eben, Sie hätten ihn gewarnt, daß ich
ihn überprüfen würde.«
»Ich meinte nicht Sie persönlich. Sie kenne ich
doch gar nicht. Ich hab ihm gesagt, daß die Bullen kommen würden.
Das ist was anderes.«
»Aber wenn Sie ihn warnen mußten, Mr. Bridges, dann
müssen Sie doch gewußt haben, daß er verschwinden wollte. Also,
wohin wollte er, und was hatte er vor?«
»Ich sag’s Ihnen doch, ich weiß nichts über
ihn.«
»Ich dachte, Sie seien alte Schulfreunde.«
»Wir haben uns auseinandergelebt.«
Ȇbernachtet er nicht hier, wenn er nicht auf sein
Boot kann?«
»Ja, aber selten.«
»Und seine Beziehung zu Kate Sumner?«
Bridges schüttelte den Kopf. »Alles, was ich über
sie weiß, steht in meinem Aussageprotokoll«, erklärte er
tugendhaft. »Wenn ich sonst noch was wüßte, würde ich es Ihnen
sagen.«
Galbraith sah auf seine Uhr. »Wir haben hier ein
kleines Problem, Sportsfreund«, sagte er freundlich. »Ich habe
einen vollen Terminkalender, mehr als dreißig Sekunden kann ich
Ihnen nicht mehr geben.«
»Wofür?«
»Um mir die Wahrheit zu sagen.« Er löste die
Handschellen von seinem Gürtel.
»Jetzt machen Sie aber mal halblang«, meinte
Bridges mit einem geringschätzigen Lachen. »Sie können mich nicht
festnehmen.«
»O doch, ich kann. Und ich bin ein fieser Typ, Mr.
Bridges. Wenn ich einen kleinen Schlawiner wie Sie kassiere, nehme
ich ihn mit wie gewachsen, ohne Rücksicht darauf, daß sein Hintern
platt wie eine Pizza ist und sein Schwanz in der Wäsche
eingegangen.«
Bridges lachte. »Die Presse würde Sie fertigmachen.
Sie können nicht einfach jemanden nackt auf die Straße schleppen,
nur weil er ein bißchen Gras im Haus hat. Das ist heutzutage wohl
kaum noch ein Verbrechen.«
»Wetten, daß?«
»Na, dann mal los.«
Galbraith legte eine Fessel um sein eigenes
Handgelenk und ließ die andere um das von Tony Bridges zuschnappen.
»Anthony Bridges, ich verhafte Sie wegen des Verdachts der
Verabredung zur Verübung einer Straftat in Zusammenhang mit der
Vergewaltigung und darauffolgenden Ermordung von Mrs. Kate Sumner
in der vergangenen Samstagnacht und mit dem tätlichen Angriff auf
Miss Margaret Jenner heute morgen.« Er stand auf und zog Bridges
hinter sich her zur Tür. »Sie haben das Recht zu schweigen, aber es
kann für Ihre Verteidigung von Nachteil sein -«
»Scheiße!« rief Bridges stolpernd. »Das kann doch
nur ein Witz sein!«
»Kein Witz.« Galbraith nahm Bridges den Joint aus
der Hand und warf ihn, noch brennend, in den Korridor. »Steven
Harding wurde heute morgen von einem Hund angefallen, weil er genau
an dem Ort, wo Kate Sumner umgekommen ist, wieder eine Frau
überfallen wollte. Sie können mir jetzt entweder erzählen, was Sie
wissen, oder Sie begleiten mich nach Winfrith, wo man Sie in aller
Form anklagen und vernehmen wird.« Er sah den jungen Mann von oben
bis unten an und lachte. »Mir ist es ehrlich gesagt schnurzegal,
wie Sie sich entscheiden. Es wäre eine Zeitersparnis für mich, wenn
Sie gleich jetzt mit mir reden, aber« - er schüttelte bedauernd den
Kopf - »es wäre doch schade, Ihre Nachbarn um den Spaß zu bringen.
Es muß die Hölle sein, mit Ihnen Tür an Tür zu wohnen.«
»Der Joint steckt mir gleich die ganze Bude in
Brand!«
Galbraith warf einen Blick auf den Joint, der auf
den hölzernen Dielen gemächlich vor sich hin schwelte. »Das Zeug
ist zu grün. Sie trocknen es nicht richtig.«
»Na klar doch! Sie müssen’s ja wissen.«
»Glauben Sie mir.« Er zerrte Bridges durch den
Korridor. »Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja. Es kann für Ihre
Verteidigung von Nachteil sein, wenn Sie auf Befragen etwas
verschweigen, worauf Sie sich später vor Gericht berufen wollen.«
Er zog die Tür auf und schob den Mann hinaus. »Alles, was Sie
sagen, kann als Beweis verwendet werden.« Er stieß Bridges vor
einer verdutzten alten Frau mit toupiertem, weißem Haar und
untertassengroßen Augen hinter scharfen Brillgengläsern auf den
Bürgersteig. »Morgen, Madam«, sagte er höflich.
Sie sperrte verblüfft den Mund auf.
»Mein Auto steht hinter Tesco’s Supermarkt«, sagte
er zu Bridges, »da wird’s wahrscheinlich am besten sein, wir gehen
gleich die High Street rauf.«
»Sie können mich doch nicht in diesem Zustand durch
die High Street jagen. Sagen Sie’s ihm, Mrs. Crane.«
Die alte Frau legte eine Hand hinter ihr Ohr und
beugte sich vor. »Was soll ich ihm sagen, mein Junge?«
»Ah, verdammt! Schon gut. Vergessen Sie’s!«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, meinte sie. »Ist
Ihnen klar, daß Sie nackt sind?«
»Natürlich ist mir das klar!« schrie er ihr ins
Ohr. »Die Polizei verweigert mir meine Rechte. Sie sind
Zeugin.«
»Na wunderbar! Ich wollte schon immer mal Zeugin
sein.« In ihren Augen blitzte plötzlich Belustigung. »Das muß ich
unbedingt meinem Mann erzählen. Er wird sich kaputtlachen. Er hat
immer schon gesagt, wenn man die Kerze an beiden Enden anzündet,
wird nur der Docht kleiner.« Sie lachte vergnügt. »Und wissen Sie
was? Ich hab immer gedacht, das wäre ein Witz«, sagte sie und ging
weiter.
Galbraith sah ihr lächelnd nach. »Soll ich die
Haustür zuschlagen?« fragte er, die Hand schon am Knauf.
»Um Gottes willen, nein!« Bridges sprang zurück, um
zu verhindern, daß die Tür zufiel. »Ich habe doch keinen
Schlüssel!«
»Wird’s Ihnen schon ein bißchen mulmig?«
»Dafür könnte ich Sie verklagen.«
»Keine Chance. Es war Ihre Entscheidung, erinnern
Sie sich? Ich habe Ihnen erklärt, daß ich Sie mitnehmen würde, wie
Sie sind, wenn ich Sie verhaften müßte, und Sie haben geantwortet:
›Na, dann mal los‹.«
Bridges schaute in wilder Verzweiflung die Straße
hinauf, als ein Mann um die Ecke bog, und flüchtete zu Galbraiths
Genugtuung mit einem Satz in die Sicherheit des Korridors.
Galbraith schlug die Tür zu und lehnte sich dagegen. »Also, wollen
wir noch mal von vorn anfangen? Warum ist Steven Harding heute
morgen noch einmal nach Chapman’s Pool gefahren?«
»Das weiß ich doch nicht. Ich wußte ja nicht mal,
daß er dort war.« Bridges riß erschrocken die Augen auf, als
Galbraith wieder zum Türknauf griff. »Hey, der Kerl, der da eben
die Straße runterkam, ist Journalist. Er hat mich schon den ganzen
Vormittag wegen Steve genervt. Wenn ich gewußt hätte, wo der blöde
Kerl ist, hätt’ ich ihm den Journalisten auf den Hals gehetzt, aber
ich kann ihn ja nicht mal über sein Handy erreichen.« Er wies mit
einer Kopfbewegung zum Wohnzimmer. »Gehen wir wenigstens außer
Hörweite«, sagte er. »Der lauscht wahrscheinlich an der Tür, und
Sie wollen doch die Presse bestimmt genausowenig auf dem Hals haben
wie ich.«
Galbraith öffnete die Handschelle an seinem eigenen
Arm und folgte Bridges wieder ins Wohnzimmer, wobei er unterwegs
den Joint austrat. »So, und jetzt erzählen Sie mir etwas über die
Beziehung zwischen Steve Harding und Kate Sumner«, sagte er,
nachdem er sich wieder in seinen Sessel gesetzt hatte. »Ich würde
Ihnen raten, sich an die Wahrheit zu halten, Sportsfreund«, fügte
er hinzu und nahm seufzend sein Notizheft aus der Tasche, »ich bin
nämlich erstens hundemüde, zweitens gehen Sie mir langsam auf die
Nerven, und drittens ist es mir völlig gleichgültig, wenn Sie
morgen in sämtlichen Zeitungen als mutmaßlicher Vergewaltiger und
Mörder angeprangert werden.«
»Ich habe nie verstanden, was er eigentlich in ihr
gesehen hat. Ich bin ihr nur einmal begegnet, und für meine
Begriffe war sie die langweiligste Frau, die man sich vorstellen
kann. Es war an einem Freitag nachmittag in einem Pub. Sie hat nur
dagesessen und Steve angestarrt, als wäre er Leonardo DiCaprio. Und
als sie zu reden anfing, war’s noch schlimmer. Mein Gott, war die
Frau dumm! Ungefähr so interessant wie eingeschlafene Füße. Ich
glaube, die hat nur von Seifenopern gelebt. Jede Bemerkung, die ich
gemacht habe, hat sie an irgendwas aus einer Fernsehserie erinnert,
es ist mir nach einer Weile wahnsinnig auf den Geist gegangen. Ich
habe Steve später gefragt, was er denn mit der am Hut hätte, und da
hat er gelacht und gesagt, ihm ginge es nicht um hochgeistige
Gespräche. Er fand, sie hätte einen Traumarsch, und das war für ihn
das einzige, was zählte. Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß er
jemals die Absicht hatte, die Sache so ernst werden zu lassen. Er
hatte sie eines Tages auf der Straße kennengelernt, bei dieser
Geschichte mit Hannahs Kinderwagen, und sie lud ihn daraufhin zu
sich ein. Er sagte, es wäre der reine Wahnsinn gewesen. Sie saßen
in der Küche beim Kaffee, und er hat noch krampfhaft überlegt,
worüber er sich mit ihr unterhalten soll, da ist sie ihm schon an
die Hose gegangen. Er sagte, übel wäre nur gewesen, daß das Kind im
Hochstuhl gesessen und ihnen zugeschaut hätte, weil Kate
behauptete, Hannah würde brüllen ohne Ende, wenn sie versuchen
würde, sie rauszubringen.
Für Steve war der Fall damit erledigt. So hat er’s
mir jedenfalls erzählt. Ruck, zuck, danke, Ma’am, und tschüs. Ich
war darum ziemlich erstaunt, als er mich im Herbsthalbjahr
verschiedentlich fragte, ob er Kate hierherbringen könne. Sie kam
immer tagsüber, weil ihr Mann dann in der Firma war, ich habe sie
also nie zu Gesicht bekommen. Manchmal haben sie sich auch auf
seinem Boot oder bei ihr zu Hause getroffen, aber meistens haben
sie’s in seinem Volvo Kombi getrieben. Er ist dann mit ihr zum New
Forest rausgefahren, sie haben die Kleine mit Paracetamol
ruhiggestellt, und dann ging’s los. Das ist ungefähr zwei Monate so
gelaufen, dann wurde ihm die Sache allmählich langweilig. Kate
hatte nämlich außer ihrem Traumarsch nichts zu bieten. Sie hat
nicht getrunken, nicht geraucht, hatte keinen Spaß am Segeln und
null Humor. Sie hat nur davon geträumt, daß Steve eine Rolle in
einer ihrer Seifenopern kriegen würde. Im Grunde war’s traurig. Ich
glaube, das war ihr größter Traum im Leben, sich einen Star aus
irgendeiner Fernsehserie zu angeln und sich an seinem Arm vor den
Fotografen zu produzieren.
Ich glaube, es ist ihr nie in den Sinn gekommen,
daß er nur mit ihr bumsen könnte, weil sie verfügbar war und ihn
keinen Penny kostete. Er sagte, sie wäre aus allen Wolken gefallen,
als er ihr eröffnete, daß er genug hätte und sie nicht wiedersehen
wollte. Da ist sie dann richtig gemein geworden. Ich nehme an, sie
war schon so lange daran gewöhnt, Schwachköpfe wie ihren Ehemann
reinzulegen, daß sie stinksauer wurde, als sie merkte, daß zur
Abwechslung mal sie von einem jüngeren Typen aufs Kreuz gelegt
worden war. Sie hat die Koje in seiner Kabine mit Scheiße
verdreckt, dann fing sie an, dauernd die Alarmanlage an seinem Auto
auszulösen und den Wagen mit Scheiße zu beschmieren. Steve kriegte
es richtig mit der Angst. Alles, was er anrührte, war voll Scheiße.
Am schlimmsten hat ihn die Sache mit seinem Beiboot getroffen. Er
kam eines Freitags hier an und fand es knöcheltief mit Wasser und
Exkrementen gefüllt. Er meinte, sie müßte wochenlang gesammelt
haben. Jedenfalls, das war der Zeitpunkt, als er ernsthaft daran
dachte, zur Polizei zu gehen.
Ich habe ihm das ausgeredet. Wenn du die Bullen da
reinziehst, hab ich gesagt, wird das nie ein Ende nehmen. Und dann
wirst du es nicht mehr nur mit Kate zu tun haben, sondern auch mit
William. Du erwartest doch wohl nicht, daß du einfach mit der Frau
eines anderen schlafen kannst, ohne daß der was unternimmt. Ich
habe ihm geraten, er soll sich erst einmal beruhigen und sein Auto
in Zukunft woanders abstellen. Okay, und was ist mit meinem
Schlauchboot, hat er gefragt, und ich habe ihm versprochen, ihm
eines zu leihen, das sie nicht erkennen würde. Damit war der Fall
erledigt. Ganz einfach. Soviel ich weiß, hatte er danach keinen
Ärger mehr mit ihr.«
Es dauerte eine Weile, bevor Galbraith etwas sagte.
Er hatte aufmerksam zugehört und sich Notizen gemacht und überlegte
einen Moment, ehe er auf das Gehörte einging. »Und haben Sie ihm
ein Schlauchboot geliehen?« fragte er.
»Natürlich.«
»Wie sah es aus?«
Bridges runzelte die Stirn. »Genauso wie jedes
andere Schlauchboot. Warum fragen Sie?«
»Nur aus Interesse. Welche Farbe hatte es?«
»Schwarz.«
»Woher hatten Sie es?«
Bridges begann, die Zigarettenpapierchen aus der
Packung zu zupfen und sie auf dem Boden zu einem Muster zu legen.
»Aus einem Versandhauskatalog, glaube ich. Es war dasjenige, das
ich hatte, bevor ich mir mein neues Schlauchboot mit dem
Fiberglaskiel gekauft hatte.«
»Hat Harding das Boot noch?«
Er zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Keine
Ahnung. War es nicht auf der Crazy Daze, als Sie sie
durchsucht haben?«
Gedankenverloren klopfte Galbraith sich mit dem
Bleistift an die Zähne. Er erinnerte sich an Carpenters Worte am
Mittwoch: »Dieser Bridges hat mir gar nicht gefallen. Er ist ein
arroganter kleiner Mistkerl und viel zu gewieft im Umgang mit der
Polizei.«
»Okay«, sagte er, »kommen wir noch einmal auf Kate
Sumner zurück. Sie sagten, damit wäre der Fall erledigt gewesen.
Was geschah dann?«
»Nichts. Das war’s. Ende der Geschichte. Es sei
denn, Sie zählen die Tatsache, daß sie an einem Strand in Dorset
tot aufgefunden wurde und Steve zufällig an dem fraglichen
Wochenende in der Gegend war.«
»Ja, die zähle ich. Und ebenso die Tatsache, daß
ihre Tochter ungefähr zweihundert Meter von der Stelle entfernt, wo
Hardings Boot liegt, mutterseelenallein auf einer Hauptstraße
herumirrte.«
»Das war doch eine abgekartete Sache«, sagte
Bridges. »Sie sollten William Sumner mal in die Zange nehmen. Der
hatte weit mehr Grund, Kate zu ermorden, als Steve. Sie hat ihn
schließlich betrogen.«
Galbraith zuckte die Achseln. »Aber William Sumner
hat seine Frau nicht gehaßt, Mr. Bridges. Er wußte schon bei der
Heirat, was er von ihr zu halten hatte, und es änderte nichts an
seinem Entschluß. Steven Harding andererseits hatte sich in eine
unangenehme Situation hineinmanövriert und wußte nicht, wie er da
wieder rauskommen sollte.«
»Deswegen ist er noch lange kein Mörder.«
»Vielleicht glaubte er, er brauchte eine endgültige
Lösung für das Problem.«
Bridges schüttelte den Kopf. »So ein Mensch ist
Steve nicht.«
»Aber William Sumner schon?«
»Das weiß ich nicht. Ich bin dem Mann nie
begegnet.«
»Ihrer Aussage zufolge haben Sie und Steven Harding
aber eines Abends in einem Pub mit ihm zusammengesessen.«
»Okay. Ich korrigiere: Ich kenne den Mann
nicht näher. Ich bin allerhöchstens eine Viertelstunde geblieben
und habe vielleicht fünf Worte mit ihm gewechselt.«
Galbraith musterte Bridges mit forschendem Blick.
»Aber Sie scheinen eine Menge über ihn zu wissen«, stellte er fest.
»Und auch über Kate, obwohl Sie beiden nur einmal begegnet
sind.«
Bridges wandte seine Aufmerksamkeit wieder den auf
dem Boden ausgebreiteten Zigarettenpapierchen zu und begann, sie
mit den Handballen zu verschieben, um ein neues Muster zu bilden.
»Steve quasselt viel.«
Galbraith nickte, als akzeptierte er diese
Erklärung. »Warum wollte Steve diese Woche nach Frankreich?«
»Davon weiß ich gar nichts.«
»Er hatte ein Zimmer in einem Hotel in Concarneau
reserviert. Die Buchung wurde heute morgen storniert, weil er sie
nicht bestätigt hat.«
Bridges’ Blick wurde plötzlich mißtrauisch. »Er hat
nie was davon erwähnt.«
»Hätten Sie das denn erwartet?«
»Klar.«
»Aber Sie sagten doch, Sie beide hätten sich
auseinandergelebt«, erinnerte Galbraith.
»Das war nur so eine Redensart.«
Spott verdunkelte Galbraith’ Augen. »Okay, letzte
Frage. Wo hat Steven Harding seinen Lagerraum, Mr. Bridges?«
»Was für einen Lagerraum?« fragte Bridges
erstaunt.
»Na schön, lassen Sie es mich anders formulieren.
Wo bringt er seine Bootsausrüstung unter, wenn er sie nicht
benutzt? Das Beiboot zum Beispiel und den Außenbordmotor.«
Ȇberall. Hier. In seiner Wohnung in London. In
seinem Wagen.«
Galbraith schüttelte den Kopf. »Keine Ölspuren«,
sagte er. »Wir haben alle diese Möglichkeiten überprüft.« Er
lächelte liebenswürdig. »Und behaupten Sie jetzt nicht, ein
Außenbordmotor leckt nicht, wenn er auf der Seite liegt. Das kaufe
ich Ihnen nämlich nicht ab.«
Bridges kratzte sich bedächtig am Kinn, sagte aber
nichts.
»Sie sind nicht sein Aufpasser, mein Junge«, sagte
Galbraith freundlich, »und nichts zwingt Sie, mit Ihrem Freund
zusammen in die Grube zu springen, die er sich selbst gegraben
hat.«
Bridges lächelte schief. »Ich habe ihn wirklich
gewarnt. Ich habe ihm sogar gesagt, es wäre besser, gleich
freiwillig reinen Tisch zu machen, anstatt sich alles Stück für
Stück aus der Nase ziehen zu lassen. Aber er wollte ja nicht auf
mich hören. Er bildet sich immer ein, er hätte alles im Griff, aber
in Wahrheit hat er seit dem Tag, an dem ich ihn kennengelernt habe,
nie irgend etwas im Griff gehabt. Er ist immer nur von einer
Katastrophe in die nächste gestolpert. Manchmal wünschte ich, ich
wär dem blöden Kerl nie begegnet, weil ich es so satt habe, ständig
für ihn lügen zu müssen.« Er zuckte die Achseln. »Aber was soll’s.
Er ist nun mal mein Freund!«
Galbraith lächelte. Die Beteuerung des jungen
Mannes war etwa so glaubhaft wie eine Erklärung des Ku Klux Klan,
mit Rassismus nichts zu tun zu haben. Die Redewendung ›Wozu braucht
man noch Feinde, wenn man solche Freunde hat?‹ fiel ihm ein. Müßig
ließ er seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Zu viele
Ungereimtheiten, dachte er, vor allem in bezug auf die
Fingerabdrücke, und er hatte das Gefühl, in eine Richtung gedrängt
zu werden, in die er nicht wollte. Er fragte sich, warum Bridges es
für nötig hielt, das zu tun.
Weil er wußte, daß Harding schuldig war? Oder weil
er wußte, daß sein Freund unschuldig war?