Regel Nr. 11: Ein Tag nach dem anderen
In vierundzwanzig Stunden kann viel passieren. Mach das Beste aus jeder Stunde, die du hast.
Miguel öffnete die Tür und ließ den Arzt herein. Er war dem Mann in all den Jahren, die er diesen Job jetzt machte, erst ein paar Mal begegnet. Normalerweise war der Boss hier, wenn der Arzt gebraucht wurde, und regelte alles. Wie schade, dass es jetzt nicht auch so war. Miguel hatte das Gefühl, dass er sich um Dinge kümmern musste, die nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fielen, und er wusste nicht, was er deswegen unternehmen sollte.
Er hatte seinem Notfallkontakt gemeldet, dass Mädchen 219 krank war. Der Kontakt hatte ihm gesagt, er habe den Arzt gerufen; die Situation habe sich geändert, und das Mädchen würde einem anderen Zweck zugeführt. Letzteres war sehr zeitaufwendig. Miguel wusste, dass der Arzt vor allem aus diesem Grund hier war – er sollte herausfinden, ob das Mädchen für einen seiner Patienten geeignet war. Das bedeutete, dass Miguel sie länger hierbehalten musste, als ursprünglich geplant, und dafür sorgen musste, dass sie gesund blieb und keinen Ärger machte. Verdammt! Schon in dem Moment, in dem die Kleine hier angekommen war, hatte er gewusst, dass er Schwierigkeiten mit ihr haben würde, und so war es auch gekommen. Allerdings stellte das Mädchen momentan nicht sein größtes Problem dar.
Der Arzt war ein großer, dünner Mann mit hagerem Gesicht und tief eingesunkenen Augen. Er wirkte kränklich und schludrig. Dünne weiße Haare bedeckten seinen ledrigen Kopf, und er trug eine rahmenlose Brille. Er war immer mit demselben grauen Anzug bekleidet, der ihm viel zu weit war, als hätte er stark abgenommen. Miguel bemerkte, dass der Arzt leicht nach Lavendel und altem Essen roch. Er trug keinen Ehering und sprach nie über etwas anderes als seinen Beruf. Wenn Miguel genau darüber nachdachte, hatte er bei ihren Treffen vielleicht zwei Dutzend Worte mit diesem Mann gewechselt.
»Seit wann erbricht sie sich schon?«, fragte der Arzt.
»Es hat vor zwei Tagen angefangen. Am ersten Tag hat sie normal gegessen und sich dann plötzlich übergeben.«
»Dasselbe Essen wie die anderen?«
»Ja.«
»Medikamente?«
»Diazepam, wie die anderen. Aber ich habe gestern damit aufgehört. Sie hat sich sowieso kaum noch bewegt.«
»Ich werde sie mir mal ansehen.«
Miguel führte den Arzt durch den Flur und an mehreren identischen Türen vorbei, bis er in der Mitte des Flures stehen blieb. Er schloss die Tür auf und öffnete sie.
»Warten Sie draußen. Es wird nicht lange dauern«, sagte der Arzt, ging durch die Tür und schloss sie leise hinter sich.
Miguel hörte, wie er das Mädchen mit tiefer, ernster Stimme begrüßte, als er die Tür zuzog. Dann fing das Mädchen wieder zu weinen an. Miguel ballte die Fäuste. Er konnte es nicht mehr hören. Merkte das Gör denn nicht, dass sie ihm Ärger machte?
Außerdem war Miguel unruhig. Sein Notfallkontakt hatte ihm mitgeteilt, dass der Boss einen Autounfall gehabt habe; er, Miguel, solle sich darauf einstellen, die Kinder jederzeit wegbringen zu müssen. Zwei Stunden später hatte er Miguel noch einmal angerufen und ihm aufgetragen, sich um die beiden Personen zu kümmern, die bald eintreffen mussten. Das gehörte eindeutig nicht zu Miguels Aufgaben, aber der Kontaktmann hatte ihm gesagt, beide wären von der Polizei. Kurz darauf waren sie auch schon erschienen, und Miguel hatte schnell handeln müssen. Er hoffte, das Richtige getan zu haben; ihm war auf die Schnelle nichts anderes eingefallen.
Roberto muss gehen, dachte er nun verbittert. Er hatte den Wachmann nie gemocht, und das war nun schon das zweite Mal, dass er Personen auf das Gelände gelassen hatte, die nicht die Erlaubnis dazu hatten. Wenn sie die ganze Operation in ein anderes Lagerhaus verlegen mussten, konnten sie sich gleich einen neuen Wachmann suchen.
Miguel hasste es, die Kinder zu verlegen. Das Risiko, dabei aufzufliegen, war viel zu groß. Es wäre nun schon das dritte Mal, dass er mit ihnen umziehen musste; das letzte Mal lag gerade sechs Monate zurück. Damals hatte die Polizei die Namen mehrerer Käufer in Erfahrung gebracht, und einige von ihnen waren verhaftet worden. Da die Gefahr bestand, dass einer von ihnen etwas ausplauderte, hatte man die gesamte Operation gezwungenermaßen an einen anderen Ort verlagert. Der Boss hatte dafür gesorgt, dass es keine Hinweise gab, die zu Miguel und zur Einheit zurückverfolgt werden konnten, aber sie war stinksauer gewesen. Es war auch das einzige Mal gewesen, dass Miguel Angst um seinen Job bekommen hatte.
Und jetzt hieß es, der Boss wäre fort. Miguel fühlte sich ohne sie völlig verloren. Wer würde jetzt dafür sorgen, dass alles seinen gewohnten Gang nahm? Im Laufe der Jahre hatte er eine Übereinkunft mit dem Boss getroffen: Sie ließ ihn die Einheit leiten, wie er wollte, und sorgte dafür, dass er alles bekam, was er brauchte.
Miguel wusste nie, wohin die Kinder kamen, und er fragte auch nie danach. Er sorgte nur dafür, dass sie sauber, gesund und bereit waren, wenn der Boss ihm mitteilte, dass es losging. Nun fragte er sich, ob es mit einem neuen Boss genauso laufen würde. Vielleicht war es Zeit, sich einen anderen Job zu suchen.
Miguel hoffte, dass die Untersuchung des Arztes nicht zu lange dauern würde. Wenn sie Mädchen 219 schnell loswurden, konnte Miguel sich auf die anderen Kinder konzentrieren. Die beiden Jungen waren bereit und sollten Ende der Woche abgeholt werden. Miguel hoffte, dass das Problem mit dem Boss nicht zur Folge hatte, dass er alle Kinder länger dabehalten musste, wie beim letzten Mal. Je länger die Bälger in der Einheit blieben, desto mehr Probleme gab es mit ihnen.
Miguel lehnte sich an die Wand. Im Lagerhaus war es jetzt ganz still. Die Arbeiter waren über Nacht nach Hause gegangen. Heute würden keine Züge mehr ankommen, die be- oder entladen werden mussten. Draußen hörte er das vertraute Klirren der Metallketten an den Kränen. Aus den anderen Räumen kam kein Mucks. Nur hinter der Tür, vor der er wartete, hörte er die leise Stimme des Arztes und die noch leiseren Antworten des Mädchens.
Vorsichtig ging Miguel zur nächsten Tür weiter und lauschte. Als aus dem Inneren keine Geräusche kamen, öffnete er sie einen Spalt weit und schaute hinein. Nichts rührte sich. Erfreut schloss Miguel die Tür und ging zurück zum Zimmer von Mädchen 219.
Nach ungefähr zehn Minuten kam der Arzt wieder heraus.
»In Ordnung«, sagte er. »Folgen Sie mir.«
Miguel ging hinter ihm durch den Korridor und in das kleine Büro, in dem seine Monitore schweigend über seine Schützlinge wachten. Der Arzt stellte seine Tasche auf den Schreibtisch und nahm zwei Tablettenschachteln heraus.
»Sie braucht dreimal täglich eine hiervon, die sie mit viel Flüssigkeit einnehmen muss. Sie wird keinen Hunger haben, aber Sie müssen dafür sorgen, dass sie etwas isst. Sie hat Gastroenteritis, aber sie wird es überleben. Außerdem ist sie stark dehydriert. Sorgen Sie dafür, dass sie genug trinkt. Es wird noch etwa einen Tag dauern, bis ihr Erbrechen aufhört, deshalb müssen Sie wachsam bleiben. Wenn sie nicht endlich etwas trinkt, bekommen Sie ein weitaus größeres Problem.«
Der Arzt ließ die Tabletten, mehrere Spritzen und ein paar Fläschchen mit einer durchsichtigen Flüssigkeit auf dem Schreibtisch zurück.
»Ich habe ihr Blut abgenommen und werde nach Übereinstimmungen suchen. Wenn ich sie nehmen kann, rufe ich Sie in zwei Tagen an. Aber sie muss gesund sein. Momentan ist sie sehr bekümmert, deshalb sollten Sie ihr heute Abend eine Dosis verabreichen, damit sie sich beruhigt. Können Sie das übernehmen, oder soll ich es machen, bevor ich gehe?«
»Das schaffe ich schon«, erwiderte Miguel. Er hatte im Laufe der Jahre schon einige Injektionen verabreicht.
Der Arzt klappte seine Tasche zu und starrte Miguel mit stählernem Blick an.
»Die nächsten vierundzwanzig Stunden sind die wichtigsten. Rufen Sie mich sofort an, wenn sich ihr Zustand verschlechtert.«
»Ist gut.« Miguel nickte.
Der Arzt ging ohne ein Wort des Abschieds.
Es kam Mitchell seltsam vor, von seinem Motorrad zu steigen und zum NCCU-Gebäude zu gehen. Er hatte das Gefühl, sich in die Höhle des Löwen zu begeben, wusste aber auch, dass es keinen anderen Weg gab, um Strider zu retten – Mitchell musste die Kontrolle über die Situation übernehmen. Black Flag wusste, dass er Sheila Davies und Anthony Prince getötet hatte, und man war hinter ihm her. Aber sie wussten nicht, dass Mitchell und Strider ein und derselbe waren, und auch nicht, dass Mitchell für die NCCU arbeitete. Die NCCU wiederum wusste nicht, dass Sheila Davies ermordet worden war. Man würde ihren Tod als Unfall betrachten, zumal es keinen Grund gab, etwas anderes anzunehmen.
Mitchell ging an der Ladestation vorbei, an der sich Davies und Roche immer um den Parkplatz gestritten hatten. Jetzt war er leer, also war Roche noch nicht zurück. Zumindest musste er jetzt nicht mehr um den Parkplatz kämpfen. Mitchell gestattete sich den Anflug eines Lächelns, als er daran dachte, wie er Davies’ Toyota gehackt hatte. Er war stolz darauf. Zwar war der Hack bei Weitem nicht perfekt, aber er hatte sich enorm verbessert und hoffte, bald ein wenig Zeit zu haben, um ihn weiter zu modifizieren. Es hatte ihm nichts ausgemacht, dass er direkten Zugang zu Davies’ Fahrzeug gebraucht hatte, um das Gerät zu installieren, aber eine softwarebasierte Lösung, bei der seine Anwesenheit nicht mehr erforderlich war, wäre ihm lieber. Der Einbau des Geräts kostete nur Zeit. Aber da alles seinen Zweck wie gewünscht erfüllt hatte, war er zufrieden.
Im Verlauf der nächsten Tage würde Mitchell langsam ernst machen und nach und nach enthüllen, was er über Black Flag wusste. Die NCCU war technisch lange nicht so gut ausgerüstet wie seine eigene Wohnung, aber sie war der beste Ort für Mitchells weiteres Vorgehen. Denn eines wusste er mit Sicherheit: Innerhalb der NCCU würde Black Flag nicht nach Strider suchen. Schließlich wussten sie, dass ihnen die NCCU-Agenten auf der Spur waren; nach dem, was der Salesman ihm anvertraut hatte, war das für Mitchell offensichtlich. Aber Black Flag wusste nicht, wie dicht die NCCU ihnen tatsächlich auf den Fersen war.
Mitchell war bisher nicht klar gewesen, dass er die Aufregung dieser Jagd auch in seinem täglichen Leben spüren konnte. Er hatte immer geglaubt, dieses Privileg wäre Strider und seinem Leben im Zwielicht vorbehalten. Aber als er jetzt über den Parkplatz auf sein Büro zuging, fühlte Mitchell, wie das Adrenalin ihm durch die Adern schoss. Strider schlug zurück.
Er ging an dem an der Wand angebrachten Aschenbecher vorbei und musste daran denken, wie Sheilas Lippen sich immer um ihre Zigaretten geschlossen hatten. Dabei war jedes Mal eine harte Seite von ihr zutage getreten, die er erst jetzt richtig erkannte. Mitchell verdrängte den Zorn und die Abscheu; diese Empfindungen durfte er auf keinen Fall vor seinen Kollegen zeigen. Er zog seinen Ausweis durch das Lesegerät und drückte die Tür auf, als ein leiser Piepton zu hören war. Dann holte er tief Luft und ging hinein.
Auf geht’s, dachte er. Maske auf und los.
Langsam ging er zum Schweinestall, da er feststellen wollte, ob das Gebäude sich ohne Sheila anders anfühlte. War es ohne sie vielleicht leerer, trister? Trauerte Sheilas wunderbares intelligentes Gebäude um ihren Verlust? Beinahe hätte er laut aufgelacht.
Im Schweinestall saßen die niedergeschlagenen Teammitglieder an ihren Schreibtischen und versuchten zu arbeiten. Die Agenten Squires und Miller waren zurück, hatten offenkundig aber nichts Produktives bewerkstelligen können. Sie nickten Mitchell zu und lächelten gequält. Die anderen tippten ohne jeden Elan auf ihren PC-Tastaturen. Der Raum wirkte öd und leer. Von Roche und Rebecca war nichts zu sehen. Mitchell fragte sich, ob sie in ihr eigenes Büro zurückgekehrt war. Auch Franklin konnte er nirgends entdecken.
Als Mitchell zum Whiteboard im hinteren Teil des Raumes schaute, bemerkte er, dass viele der potenziellen Ziele durchgestrichen waren und entweder Squires’ oder Millers Initialen dahinter standen. Die beiden hatten offenbar viel geschafft. Hinter Newcastle stand ein Fragezeichen. Hatte Roche dort etwas herausgefunden, oder hatte er sich nur noch nicht zurückgemeldet? Mitchell sah auch eine neue Referenz: das Drax-Kraftwerk. Dahinter stand Rebeccas Name. Da steckt sie also, dachte er. Cleveres Mädchen.
»Wo ist Franklin?«, erkundigte er sich bei Miller.
»Der hockt schon den ganzen Nachmittag mit dem Forensiker Willis in seinem Büro. Ich glaube, Franklin ist ziemlich schockiert. Wie wir alle. Wo haben Sie gesteckt?« In Millers Frage lag der Hauch einer Anschuldigung, als wäre er der Ansicht, Mitchell hätte an diesem Morgen hier bei ihnen sein sollen.
»Ich habe am Prince-Fall gearbeitet. Das war mit …« Er machte eine Pause, um den gewünschten Effekt zu erzielen. »… Sheila abgesprochen.«
Er stellte die Tasche auf seinen Platz und ging hinüber zu den Kästen, in denen sie die Beweise aufbewahrten. Seit dem Desaster mit Teddybärs Picknicknetzwerk wurden sämtliche Beweise im Untersuchungsraum geschützt aufbewahrt, verschlossen in feuerfesten, wasserfesten, alles-Mögliche-festen Kästen, die ständig überwacht wurden. Zu Mitchells Freude hatte man diesen Fehlschlag ernst genug genommen und die Beweissicherung verbessert. Nun wollte er weiter an Prince’ Laptop arbeiten, auf dem es mehr als genug Hinweise auf Black Flag gab, die er im Laufe des Tages nach und nach preisgeben konnte. Das würde ein Heidenspaß werden. Er wünschte nur, Sheila Davies wäre noch da und könnte alles mit ansehen. Hör auf damit, ermahnte er sich gleich darauf. Maske auf.
Er gab den Zugangscode ein, und der Käfig öffnete sich. Gerade als er den Laptop herausnehmen wollte, hörte er, wie die Tür des Schweinestalls geöffnet wurde und Franklin hereinkam.
»Da sind Sie, Mitchell«, sagte Franklin. »Kommen Sie in mein Büro, ja?«
Mitchell wurde mulmig. Es ist alles okay, sagte er sich. Vermutlich hatte Franklin heute mit jedem einzeln gesprochen. Das ist nun mal so, wenn ein Kollege stirbt. Man bietet den anderen Trost, Unterstützung oder einen freien Tag an.
Mitchell schloss den Käfig, hörte, wie das Schloss zuschnappte, und folgte Franklin über den Flur in sein Büro. Als er sah, dass Willis noch dort war, setzte sein Herz einen Schlag aus. Vor Willis lag eine ganze Sammlung an Fotos von der Unfallstelle im Tunnel. Mitchell fühlte sich auf morbide Weise davon angezogen. Dann wissen sie es also, dachte er. Aber woher?
Alles schien in Zeitlupe abzulaufen. Mitchell konnte spüren, wie sein Herz schlug, und hörte sein Blut durch die Adern fließen.
Willis schaute ihn an, als er hereinkam, und stand auf, als wollte er versuchen, die Fotos mit seinem Körper abzuschirmen.
»Setzen Sie sich, Mitchell«, forderte Franklin ihn auf und deutete auf das Sofa, das Willis gegenüberstand.
Mitchell nahm Platz. Er hatte das Gefühl, sich langsam und träge zu bewegen, als würde er durch Sirup waten. Er schaute Willis an und versuchte abzuschätzen, was der Mann wusste, bevor er auf die Fotos blickte, die ordentlich auf dem Tisch ausgebreitet lagen. Was hatten sie entdeckt?
Franklin ging mit langsamen Schritten vor seinem Schreibtisch auf und ab. »Mitchell«, sagte er, »wir haben ein kleines Problem.«
Mitchell schluckte schwer. Das war es also. Aus irgendeinem Grund wussten sie es. Seine Tarnung war aufgeflogen. Sein Plan, Strider zu retten, war gescheitert. Sie würden ihn ins Gefängnis werfen, und dort würde Black Flag ihn umbringen lassen.
»Was ist das alles?«, fragte er und starrte weiterhin auf die Fotos vor sich. Er wollte Willis nicht in die Augen blicken, denn er befürchtete, der Mann könnte ihn durchschauen.
Willis räusperte sich. »Ich glaube, dass hinter Sheila Davies’ Unfall mehr steckt, als es den Anschein hat.«
Das hatte ich befürchtet, dachte Mitchell. »Wie kommen Sie darauf?«, fragte er und versuchte, möglichst verwirrt und unschuldig zu klingen. Vor allem unschuldig.
Willis erklärte ihm seine Theorie, dass noch eine weitere Person im Tunnel gewesen sein musste.
Also haben sie doch nicht so viel herausgefunden, dachte Mitchell erleichtert. Offenbar hatten sie nicht die leiseste Ahnung, dass er mit dem »Unfall« zu tun hatte. Er atmete auf, während Willis ihm alles erklärte. Pflichtbewusst schaute Mitchell sich die Beweise an. Er musste zugeben, dass Willis’ Schlussfolgerungen ihn beeindruckten. Der Forensiker betrachtete einen Tatort, wie Mitchell einen Programmcode studierte: Sie beide konnten Dinge sehen, die anderen verborgen blieben. Willis hatte erkannt, dass Sheila Davies erst Sekunden, nachdem der Wagen sich drehte, gebremst hatte, was Mitchell sehr beeindruckte, aber er war überzeugt, dass Willis nie auf die Idee käme, dass zum Unfallzeitpunkt jemand anders als Davies die Kontrolle über den Wagen übernommen hatte. Willis versuchte noch immer, Beweise mit den Methoden der alten Schule zu erklären, bevor es elektronische Steuergeräte gegeben hatte, mit denen man die Kontrolle über ein Fahrzeug an sich reißen konnte. Mitchell konnte es nur recht sein.
»Das Nächste haben wir Oscar zu verdanken«, sagte Willis, nachdem er seine Fundgrube größtenteils geleert hatte. »Seine Adleraugen haben den wahren Durchbruch ermöglicht.«
Mitchell blickte Franklin an, der ernst, aber entschlossen wirkte.
»Die Radarfalle hat ein perfektes Bild von Sheila Davies geschossen, als sie in den Tunnel gefahren ist«, fuhr Willis fort. »Aber mir fiel die Reflexion im Heckfenster erst auf, als er mich gefragt hat, um was es sich handeln könnte. Ich habe das Bild vergrößern lassen.« Willis nahm eines der Fotos vom Tisch und reichte es Mitchell, der es zögernd in die Hand nahm.
»Ist schon okay, Sie können nichts kaputt machen«, versicherte ihm Willis.
Da bin ich mir nicht so sicher, dachte Mitchell. Er schaute auf ein vergrößertes Foto von sich selbst, wie er mit dem Steuergerät in der Hand neben seinem Motorrad stand, wobei er sich offenbar in der Heckscheibe von Davies’ Wagen gespiegelt hatte. Es war ein Schwarz-Weiß-Foto. Er trug einen Helm, und das Nummernschild des Motorrads war nicht zu entziffern. Doch selbst wenn man es hätte erkennen können, würde es zu keiner Nummer in der Datenbank passen. Trotzdem wurde Mitchell übel, als er das Foto betrachtete. Er hatte mehr Glück als Verstand gehabt. Der Salesman hatte recht: Er hatte vorschnell gehandelt und hätte sich besser vorbereiten müssen. Er hatte zugelassen, dass seine Besessenheit, was Teddybärs Picknicknetzwerk betraf, sein Urteilsvermögen beeinflusste, und sich wieder einmal in Gefahr gebracht. So langsam hatte er das Gefühl, seit dem Hacken von Prince’ Privatflugzeug nichts als Fehler gemacht zu haben.
»Ich nehme an, Sie können mir nicht sagen, was für ein Motorrad das ist?«, fragte Willis.
Mitchell kniff die Augen zusammen. Eine Ducati natürlich, dachte er. »Das ist nicht so leicht«, erwiderte er. »Ein besseres Bild haben Sie nicht?«
»Das ist der vergrößerte Ausschnitt einer Radarfalle, was erwarten Sie da?«, entgegnete Franklin angespannt.
»Das ist auch nicht so wichtig«, schaltete Willis sich wieder ein. »Aber wir wissen jetzt mit Sicherheit, dass sich noch jemand im Tunnel aufgehalten hat, und diese Person hat sich die Unfallstelle offensichtlich einige Zeit angesehen, bevor sie beschlossen hat, zu verschwinden. Aber keine Sorge, wir werden den Betreffenden schon kriegen«, versicherte ihm Willis.
Das bezweifle ich, dachte Mitchell.
»Was wir von Ihnen wollen, Mitchell«, fuhr Willis fort, »ist, dass Sie sich heute Nachmittag die Zeit nehmen und Sheilas Telefonate und E-Mails der letzten Tage durchgehen. Wir möchten wissen, ob sie möglicherweise bedroht oder erpresst wurde.«
Mitchell war überrascht, dass sie ihn für diese Aufgabe ausgewählt hatten, und blickte Franklin erstaunt an.
»Sie wollen, dass ich das mache?«, fragte er.
»Kommen Sie nicht auf dumme Gedanken, Mitchell«, erwiderte Franklin. »Es liegt nicht daran, dass ich Sie auf einmal ins Herz geschlossen habe. Aber alle anderen hat Sheilas Tod zu sehr getroffen. Ich weiß, dass Sie Sheila respektiert haben, ebenso wie sie Sie respektiert hat, aber Sie standen sich nicht allzu nahe, daher halte ich das für eine gute Lösung. Aber wenn Sie der Meinung sind, Sie schaffen das nicht, dann sagen Sie es ruhig, und ich setze jemand anderen daran.«
»Nein, das kann ich schon machen«, meinte Mitchell. »Wenn Sie glauben, dass es uns weiterbringt.«
Franklin verdrehte die Augen.
»Ich muss nur noch einigen Hinweisen im Prince-Fall nachgehen, dann kann ich alles weitergeben«, sagte Mitchell.
»Sie müssen nichts weitergeben, und wir wollen auch nicht zu viel von Ihrer Zeit beanspruchen«, entgegnete Willis. »Wenn es etwas zu finden gibt, dürfte es ziemlich offensichtlich sein. Ansonsten kehren wir zu meiner Lieblingstheorie zurück, dass irgendein Arschloch Sheila im Tunnel erschreckt hat, sodass sie einen Unfall gebaut hat, und dass der Betreffende abgehauen ist, bevor man ihm die Schuld anhängen konnte.«
Mitchell grinste. Das trifft es ziemlich genau, dachte er.
»Lassen Sie sich Zeit, Mitchell«, erklärte Franklin. »Sie können Sheilas Büro benutzen. Ich möchte nicht, dass jemand erfährt, was genau Sie da tun, wenn es nicht unbedingt erforderlich ist, also sprechen Sie nicht darüber, okay?«
Mitchell stand auf. Er hätte sich keinen besseren Vorwand einfallen lassen können, um mehr darüber in Erfahrung zu bringen, was Sheila Davies ihren Kollegen bei Black Flag verraten hatte.