DREI
Ehe ich anfing, ihm aus dem Weg zu gehen, habe ich meinen Nachbarn Oleg Nikolaewitsch fast jeden Tag gesehen. Meist traf ich ihn auf der Treppe, sah ihn auf dem Absatz vor seiner Wohnung stehen und so tun, als hätte er nicht auf mich gewartet. Damals, als ich einzog und kaum jemanden in Moskau kannte, habe ich gern mit ihm geredet. Er hatte Nachsicht mit meinem Pidgin-Russisch und gab mir den wohlgemeinten Rat, gewisse Stadtviertel zu meiden. Und später dann, als ich mich eingelebt hatte, kostete es mich nicht viel, ein paar Minuten mit ihm zu schwatzen. Ich fand, das war ich ihm schuldig, und manchmal war der Tratsch sogar interessant.
Bis auf seine Katze wohnte Oleg Nikolaewitsch allein. Er trug einen weißen Spitzbart, und ihm wuchsen Haare aus den Ohren. Einmal erzählte er, er sei Herausgeber einer Literaturzeitschrift, nur wusste ich nicht, ob es die noch gab. Er gehörte zu jenen vorsichtigen russischen Krabben, die hingeduckt am Meeresboden kauern, wissen, wann sie sich verstecken, wann sie stillhalten müssen, die jedem Ärger aus dem Weg gehen und versuchen, keinen zu verursachen. Er war alt und einsam und trieb sich auf dem Treppenabsatz herum, einen seidenen Künstlerschal um den Hals, als ich zum Abendessen in den Traum des Ostens aufbrach.
»Guten Abend, Nikolai Iwanowitsch«, sagte er auf Russisch. »Und? Wie lebt es sich so als Anwalt?«
So wurde ich jedes Mal von Oleg Nikolaewitsch begrüßt. Nachdem er herausgefunden hatte, dass mein Vater Ian hieß, fing er an, mich Nikolai Iwanowitsch zu nennen, ein Name, unter dem man mich kennen würde, wenn ich Russe wäre. In diesem Land nannte man die Leute nicht nur beim eigenen Namen, sondern auch bei dem des Vaters, bis man sie besser kannte, alte Leute und Vorgesetzte aber immer. Niemand sonst nannte mich so, und mir gefiel der Name, die Anerkennung, die darin mitschwang, aber auch die altmodische Höflichkeit. Ich antwortete so lala und fragte, wie es ihm gehe.
»Normalno.«
Ich bat ihn, mich zu entschuldigen, ich habe es eilig. Der Grund für meine Eile dürfte offensichtlich gewesen sein. Ich war mit dem Aftershave nicht sparsam umgegangen – mit dem, das ich heute noch manchmal benutze und von dem du behauptest, es stinke wie Pferdepisse –, außerdem hatte ich mein knalliges, türkisfarbenes Hemd an, das ich sonst nur zu Hochzeiten trug, und hatte auch den unratsamen Versuch unternommen, mein Haar anzuklatschen.
»Nikolai Iwanowitsch!«, sagte er und hob mahnend einen haarigen Finger. Ich spürte, dass jetzt eines seiner geliebten russischen Sprichwörter fällig war. »Käse umsonst gibt es nur in der Mausefalle.«
Der Geruch nach Katzenfell, schimmligen Enzyklopädien und gammliger Wurst drang aus seiner Wohnung und folgte mir, als ich die Treppe hinabstürmte, immer zwei Stufen auf einmal.
Wenn ich die Augen schließe, kann ich den Abend auf der Innenseite meiner Lider ablaufen lassen, als wäre er einer dieser alten, körnigen Amateurfilme aus den siebziger Jahren.
Kaum trat ich aus dem Haus, wurde es dunkel, und der kalten Luft war anzumerken, dass Regen drohte. Auf dem Weg in Richtung Bulwar sah ich zwei Männer im roten Schiguli. Sie sahen nicht wie die aus, die das Kind gemalt hätte, sobald es mit dem Auto fertig war. Mein Blick kreuzte sich mit den Blicken von einem der Männer, aber ich sah rasch wieder beiseite, wie man es auch in London macht, ganz besonders aber in Moskau, wo man durch Torbögen und auf Parkplätzen ständig irgendetwas sieht, ehe einem klarwird, dass man es besser nicht sähe. Ich eilte zur nächsten Straßenecke, um mir ein Taxi zu rufen, streckte den Arm aus, und der zweite oder dritte Wagen hielt. (In Russland habe ich nie ein eigenes Auto besessen. Bei meiner Ankunft hatte Paolo mir geraten, sofort mit dem Fahren anzufangen, denn wenn ich wartete, bis ich mich mit der Anarchie, dem Eis und der Verkehrspolizei auskannte, würde ich mich nie mehr trauen, und er hat recht behalten. Allerdings bietet das inoffizielle Taxinetz eine erstaunlich sichere Alternative der Fortbewegung, solange man nur zwei simple Regeln beachtet: Steig zu keinem Fahrer ins Auto, wenn er einen Freund dabeihat, und erst recht nicht, wenn er betrunkener ist, als du es bist.)
Ich glaube, er war Georgier, mein Fahrer an jenem Abend. Auf dem Armaturenbrett klebten zwei Mini-Ikonen, kleine Mütter Gottes, was stets bewirkte, dass ich mich sicherer, aber auch bedrohter fühlte – weil es unwahrscheinlicher war, dass mir die Kehle durchgeschnitten wurde, während ich mein Leben zugleich jemandem anvertraute, der einen Blick in den Rückspiegel oder Tritt auf die Bremse eher für Gottes als für seine eigene Angelegenheit hielt. Ich griff nach dem Sicherheitsgurt, was dem Fahrer prompt eine strenge Warnung über die Gefahren des Gurttragens und eine Beteuerung seiner Fahrkünste entlockte. Er war Flüchtling, geflohen vor einem dieser dreckigen kleinen Kriege, die beim Kollaps des Reichs des Bösen im Kaukasus ausgebrochen waren, Kriege, von denen ich zum ersten Mal gehört hatte, als ich anfing, in Moskau mit dem Taxi zu fahren. Er begann mir davon zu erzählen, während wir in den Tunnel unter dem ganztägigen Verkehrsstau auf dem Neuen Arbat eintauchten (einer breiten, brutalen Allee mit lauter Boutiquen und Kasinos), um uns kurz darauf an der Gogol-Statue vorbeizuschieben. Als wir zur Metro-Station Kropotkinskaja, zum Fluss und der Kathedrale kamen, die hier in den Neunzigern in aller Eile wiederaufgebaut worden war, hatte er längst beide Hände vom Steuer genommen, um mir zu verdeutlichen, was irgendwer mit gewissen Körperteilen von irgendwem angestellt hatte.
Schließlich hielten wir auf der Uferstraße. Ich gab ihm die vereinbarten hundert Rubel, dazu noch gefühlsduselige fünfzig Rubel Trinkgeld und hastete durch den Verkehr zur anderen Flussseite hinüber. Trotz einsetzenden Nieselregens konnte ich das Weiß eines Raumschiffs und die Bögen der klapprigen Achterbahn im Gorki-Park auf der anderen Seite des schwarzen Wassers erkennen. Und ich erinnere mich, dass ich einen Mann in engsitzender Badehose aus dem Fluss auf eine Plattform klettern sah, als ich über die schmale Gangway zum schwimmenden Restaurant ging.
Trubeliger Lärm quoll aus dem Restaurant, in dem jeder jeden zu übertönen versuchte, und eine Band in schrillbunten Nationalkostümen spielte Sinatra mit aserbaidschanischem Einschlag. Als eine Kellnerin auf mich zukam, begann ich, ihr zu erklären, dass ich verabredet sei, nur fiel mir dann ein, dass ich nicht wusste, unter welchem Namen Mascha einen Tisch gebucht hatte, ja nicht einmal, ob sie wirklich Mascha hieß. Einen Moment lang dachte ich: Was mache ich hier eigentlich in diesem verrückten Land in meinem türkisfarbenen Hemd? Für so was bin ich zu alt; ich bin achtunddreißig, und ich komme aus Luton. Dann aber sah ich sie, wie sie mir vom anderen Ende des Restaurants zuwinkten, aus jenem Bereich, den man zu einer mittelalterlichen Galeone umgebaut hatte. Sie standen auf, um mich zu begrüßen, während ich ihnen im Zickzack durch die Menge entgegeneilte.
»Hallo, Nicholas«, sagte Katja auf Englisch.
Der Kontrast verstörte mich jedes Mal aufs Neue. Ihre Stimme klang, als gehörte sie einem Schulmädchen oder einer Comicfigur, und doch waren da diese langen Beine, nackt von den weißen Lederstiefeln bis zum Saum eines Faltenröckchens wie es Cheerleader tragen oder Kellnerinnen bei Hooters. Das blonde Haar fiel ihr offen auf die Schultern. Ich weiß, für viele Männer wäre sie die eigentliche Attraktion gewesen, aber ich fand sie ein bisschen zu jung, ein bisschen zu aufdringlich. Sie probierte sich noch aus, den Gang, die Frisur, die Rundungen, versuchte herauszufinden, wie weit sie gehen konnte.
»Hallo, Nikolai«, sagte Mascha. Sie hatte einen Minirock an, der farblich fast zu meinem Hemd passte, dazu einen vergleichsweise züchtigen schwarzen Pullover, Lippenstift und Wimperntusche, aber nicht so übertrieben wie man es oft sah. Blutrote Fingernägel.
Ich setzte mich ihnen gegenüber. Am Tisch hinter uns saßen ein halbes Dutzend lärmende Geschäftsleute mit sieben oder acht Frauen, alle jung genug, um ihre Töchter sein zu können, was sie aber nicht waren.
Natürlich gab es nicht viel zu reden.
Länger als nötig studierten wir die Speisekarte mit den zeitaufwendigen Listen von Fleischgerichten und Soßen (daneben zwei Zahlenreihen, der Preis und, wie in fast allen Moskauer Restaurants üblich, das Gewicht der jeweiligen Zutaten, Angaben, die den Kunden glaubhaft machen sollten, dass sie hier nicht über den Tisch gezogen wurden). Ich weiß noch, wie mein Blick unwillkürlich bei den Preisen für Schaschlik Royal und Überraschungen aus dem Meer hängenblieb. Ein Singledasein kann einen sogar knauserig machen, wenn man gut bei Kasse ist.
»Nun, Kolja«, wandte sich Mascha schließlich auf Englisch mit einer dieser kuriosen russischen Verkleinerungsformen an mich. »Was hat Sie nach Russland geführt?«
»Lassen Sie uns Russisch reden«, erwiderte ich. »Das ist bestimmt einfacher.«
»Bitte nicht«, sagte Katja. »Wir müssen üben für unser Englisch.«
»Okay«, gab ich mich einverstanden. Schließlich war ich nicht in den Traum des Ostens gekommen, um mich mit ihnen zu streiten. Von da an redeten wir meist Englisch, falls wir nicht mit anderen Russen zusammen waren.
»Tak«, sagte Katja. »Nun. Warum gerade Russland?«
Ich gab die Antwort, die ich stets gab, wenn mir diese Frage gestellt wurde: »Ich war auf Abenteuer aus.«
Was nicht ganz stimmte. Der eigentliche Grund, das weiß ich heute, war der, dass ich mich in die Dreißig-plus-Phase der Enttäuschungen vordringen sah, in jene Zeit also, in der Schwung und Ehrgeiz nachlassen und die Eltern der Freunde einer nach dem anderen sterben, in die Zeit von: ›War das schon alles?‹ Bekannte in London, die bereits geheiratet hatten, ließen sich wieder scheiden und legten sich Katzen zu. Andere fingen an, Marathon zu laufen, oder sie wurden Buddhisten, um damit fertig zu werden. Für dich waren es wohl diese windigen Seminare der evangelischen Kirche, von denen du ein paar mitgemacht hast, ehe wir uns kennenlernten. Letztlich aber hatte meine Firma mich nur gefragt, ob ich nach Moskau gehen wolle, für ein Jahr, hieß es, vielleicht auch für zwei. Man deutete an, dass es den Weg zur Teilhaberschaft verkürzen könnte. Ich stimmte zu und flüchtete aus London, aber auch davor, nicht mehr so jung zu sein.
Sie lächelten.
Ich sagte: »Meine Firma bat mich, ins Moskauer Büro zu wechseln. Für mich bedeutete das eine gute Gelegenheit. Und«, setzte ich noch hinzu, »ich wollte immer schon mal nach Russland. Mein Großvater hat im Krieg in Russland gekämpft.«
Letzteres stimmt, wie du weißt. Ich habe Opa nie richtig kennengelernt, aber als ich klein war, wurde immer wieder über seine Kriegserlebnisse geredet.
»Und als was hat Ihr Großvater gedient?«, fragte Mascha. »War er ein Spion?«
»Nein, Matrose. Er ist bei Konvois mitgefahren – Sie wissen schon, auf diesen Schiffen, die Vorräte aus England nach Russland gebracht haben. Er war auf den Konvois in die Arktis. Nach Archangelsk. Und nach Murmansk.«
Mascha beugte sich vor und murmelte Katja etwas ins Ohr. Ich nahm an, sie übersetzte.
»Ehrlich? Kein Witz? Er war in Murmansk?«!
»Ja, mehr als einmal. Er hat Glück gehabt. Sein Schiff wurde nie getroffen. Ich glaube, nach dem Krieg wollte er zurück, aber das war unter den Sowjets unmöglich. Mein Vater hat mir das erzählt – Großvater starb, als ich noch ziemlich klein war.«
»Das ist für uns interessant«, sagte Katja. »Denn wir kommen daher. Murmansk ist unsere Heimatstadt.«
In dem Moment kam der Kellner, um unsere Bestellung aufzunehmen. Sie wollten beide das Schaschlik. Ich bestellte das Lamm, dazu aserbaidschanische Pfannkuchen, die man hier mit Käse und Kräutern zubereitete, sowie kleine Auberginenröllchen, gefüllt mit Walnusscreme, etwas Granatapfelsauce und eine halbe Flasche Wodka.
Damals kam es mir wie ein bedeutsamer Zufall oder ein Fingerzeig vor, dass mein Großvater in ihrer Heimatstadt gewesen war. Ich fragte sie, warum ihre Familien dort oben wohnten, da ich wusste, dass Murmansk zu den Städten im militärischen Sperrbezirk gehörte, in dem man nur lebte, wenn man einen Grund dafür hatte oder wenn einem jemand anderes einen Grund dafür lieferte.
Mascha sah mir in die Augen und tippte sich mit den roten Nägeln der rechten Hand an die Schulter. Ich meinte, daraufhin etwas sagen oder tun zu müssen, wusste aber nicht, was. Also tippte ich mir nach einigen Sekunden ebenfalls an die Schulter. Sie lachten; Mascha warf den Kopf in den Nacken, Katja beschränkte sich auf ein unterdrücktes Lächeln, mit dem man in der Schule Ärger vermied, wenn man in der Stunde nicht aufgepasst hatte.
»Nein«, sagte Mascha. »Wie heißt das noch? Das, was Männer in der Armee da tragen?« Sie tippte sich wieder auf die Schulter.
»Epauletten?«, fragte ich.
»Wenn ein Russe das macht«, sagte sie und tippte sich immer noch auf die Schulter, »heißt das, Mann in der Armee. Oder in der Polizei. Eines von beidem.«
»Ihr Vater?«
»Ja«, sagte sie. »Er war Matrose. Genau wie sein Vater. Und wie sein Großvater.«
»Ja«, sagte Katja. »Unser Großvater ist auch mitgefahren bei den Konvois. Vielleicht haben sie sich gekannt.«
»Vielleicht«, antwortete ich.
Wir lächelten. Wir konnten nicht stillsitzen. Ich sah Mascha an und beiseite, wenn sie mich ansah, das Katz-und-Maus-Spiel des ersten Rendezvous. Durch das beschlagene Fenster in ihrem Rücken und dem in den Fluss fallenden Regen konnte ich gerade noch die reglosen Karussells im Park und die Krimski-Brücke erkennen, dahinter die Kontur der lächerlich großen Statue von Peter dem Großen, die im Fluss unweit der Schokoladenfabrik Roter Oktober steht.
Ich fragte, wie es war, in Murmansk aufzuwachsen. Natürlich nicht einfach, sagte Mascha. Und natürlich sei Murmansk nicht Moskau. Nur im Sommer, da war es rund um die Uhr hell, und man konnte mitten in der Nacht im Wald spazieren gehen.
»So was haben wir auch!«, sagte Katja und zeigte auf die Streben des Riesenrads im Gorki-Park. Wieder lächelte sie und kam mir dabei wie ein harmloses, unschuldiges Mädchen vor, für das ein Riesenrad Disneyland bedeutete.
»Bloß«, sagte Mascha, »war eine Fahrt viel zu teuer. Als ich noch klein war, in den Achtzigern, unter Gorbatschow, da konnte ich mir das Riesenrad nur ansehen. Ich fand es wunderschön.«
»Warum sind Sie fort?«, fragte ich. »Warum sind Sie nach Moskau gekommen?«
Ich glaubte, die Antwort bereits zu kennen. Die meisten Mädchen kamen aus der Provinz in die große Stadt und hatten gerade genug Geld, um einige Wochen lang gut auszusehen, während sie bei irgendwem auf dem Fußboden schliefen und versuchten, einen Job zu finden oder, besser noch, einen Mann, der sie zu einem Leben hinter den Elektrozäunen der ›elitny‹ Rubljowskoje Chaussee entführte. Und falls er schon verheiratet war, brachte er sie vielleicht in einer Wohnung in den Straßen rund um Patriarschije Prudy unter – dem Patriarchenteich, Moskaus Hampstead (allerdings mit mehr Automatikwaffen) –, wo er sie nur zweimal die Woche behelligte und ihr die Wohnung überließ, wenn er genug von ihr hatte. Nach Öl waren in jenen Tagen willige, langbeinige Mädchen Russlands wichtigstes Nationalprodukt. Man konnte sie über Internet bestellen, in Leeds ebenso wie in Minneapolis.
»Aus familiären Gründen«, sagte Mascha.
»Ihre Eltern sind nach Moskau gezogen?«
»Nein«, antwortete sie. »Die Eltern sind geblieben in Murmansk. Nur ich musste weg.«
Sie machte eine weitere Geste, diesmal eine, die ich verstand. Sie hob die Hand und tippte sich seitlich mit dem Zeigefinger an den weißen Hals. Säufer. Das in ganz Russland gebräuchliche Zeichen für Alkoholprobleme.
»Ihr Vater?«
»Ja.«
Ich stellte mir die Streitereien und Tränen vor, oben in Murmansk, dachte an die in Zahltagsgelagen versoffenen Löhne, an die kleinen Mädchen, die sich im Schlafzimmer versteckten und vom Riesenrad träumten, das sie sich nicht leisten konnten.
»Heute«, sagte Mascha, »lebt nur noch Mutter.«
Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr mein Beileid aussprechen sollte.
»Aber«, warf Katja ein, »in Moskau wir haben auch Familie.«
»Ja«, ergänzte Mascha, »in Moskau sind wir nicht allein. Es gibt Tante. Vielleicht Sie mögen sie kennenlernen. Ist alte Kommunistin. Ich denke, ist interessant für Sie.«
Ich sagte: »Ich würde Ihre Tante liebend gern einmal kennenlernen.«
»In Murmansk«, fuhr Mascha fort, »waren wir nichts. Was wir gelernt haben, haben wir in Moskau gelernt. Alles Gute. Aber auch alles Schlechte.«
Man brachte sämtliche Gerichte auf einmal, wie meist in kaukasischen Restaurants, hatte man doch für eine peu à peu-Befriedigung, wie sie in einem Vorspeise/Hauptspeise/Nachtisch-Konzept zum Ausdruck kommt, nicht besonders viel übrig. Wir aßen. Die Geschäftsleute hinter uns dagegen ließen vom Essen ab, um ihre Begleitung zu begrabschen, und dies keineswegs verstohlen und unauffällig. Rauchschwaden umnebelten ihren Tisch. Ich stellte mir vor, dass sie selbst noch unter der Dusche rauchten.
Ich versuchte herauszufinden, wo Mascha und Katja lebten. Sie sagten, sie hätten eine Wohnung an der Leningradskoje Chaussee, der ewig verstopften Schnellstraße, die zum Flughafen Scheremetjewo und nach Norden führte. Ich fragte Mascha, ob ihr die Arbeit im Handyladen gefalle.
»Ist Arbeit«, sagte Mascha. »Nicht immer interessant.« Sie bedachte mich mit einem kurzen, ironischen Lächeln.
»Und was machen Sie, Katja?«
»Ich studiere an MGU«, sagte sie. MGU stand für Moskauer Staatsuniversität, Russlands Version von Oxford, nur musste man bestechen, um dort hingehen, und bestechen, um mit einem Diplom wieder abgehen zu können. »Ich studiere Betriebswirtschaft«, sagte sie.
Ich war beeindruckt, ganz wie beabsichtigt, und fing an, von meiner Studienzeit in Birmingham zu erzählen, doch Mascha unterbrach mich.
»Tanzen wir«, sagte sie.
Die Band spielte ›I Will Survive‹ in doppeltem Tempo; und die Musiker klangen wie die versammelten Trauergäste einer kaukasischen Beerdigung, wenn sie in den Refrain einstimmten. Außer uns tanzte nur noch ein aufgedrehtes kleines Mädchen, das ihren beschwipsten Vater auf die freie Fläche vor die Band gezogen hatte. Mascha und Katja zeigten ihre Kurven, Beckenstöße, dazu eine Andeutung von gespieltem Lesbentum, auf Moskaus Tanzflächen der letzte Schrei, und waren so unbefangen, wie es nur jene sein können, die nichts zu verlieren haben. Noch etwas, was ich an Mascha mochte: Sie konnte sich ganz dem Augenblick hingeben, konnte ihn vom Davor und Danach lösen, um glücklich zu sein.
Ich zuckte und zappelte, probierte eine kleine Drehung, fürchtete, es zu übertreiben (ich weiß, ich muss noch ein paar Stunden nehmen, bevor wir am bewussten Tag unser Tanzbein schwingen; ich hab’s nicht vergessen). Mascha nahm meine Hand, und einige Minuten lang übten wir uns im subklassischen Gesellschaftsgestolper, wobei ich mich Deckung suchend an sie klammerte. Als wir es endlich bis zum Ende des Songs geschafft hatten und ich mich wieder an den Tisch zurückziehen konnte, war ich heilfroh.
»Sie sind ein toller Tänzer«, sagte Katja, und beide lachten.
»Auf die Frauen!«, erwiderte ich, ein Trinkspruch, zu dem man immer Zuflucht nehmen kann, und da in Russland auch jene trinken, denen der Toast gilt, stießen wir mit unseren kurzen, stummeligen Wodkagläsern an.
Ich war mir noch nicht sicher, worauf der Abend eigentlich hinauslaufen sollte, ob es um mehr ging oder nur um Neugier und die Aussicht auf ein kostenloses Abendessen. In Moskau war meist das dritte Treffen entscheidend, wie auch in London – wie wohl auch auf dem Mars –, im Sommer möglicherweise schon das zweite. Und ich hatte keinen Schimmer, was mit Katja werden würde.
»Vielleicht Sie möchten unsere Fotos sehen?«, fragte Mascha.
Sie nickte Katja zu, die daraufhin ihr Handy zückte. Sie fotografierten sich gern, die Mädchen in Russland – hatte vielleicht etwas damit zu tun, dass Kameras für sie noch neu waren, dachte ich, aber auch mit der Vorstellung, sie könnten wichtig sein, weil man ein Foto von ihnen machte.
»Aus Odessa«, sagte Katja. Anfang des Sommers seien sie dort gewesen, erklärten sie, offenbar bei Verwandten. So wie anscheinend alle Welt Verwandtschaft hatte in Odessa (wohl eine Mischung aus Teneriffa und Palermo).
Wir beugten uns über den Tisch, und Katja präsentierte uns auf dem winzigen Bildschirm ihres Telefons eine Diashow. Auf dem ersten Foto saßen sie mit einem dritten Mädchen in einer Bar. Katja hatte den Blick von der Kamera abgewandt und lachte, offenbar über einen Witz, den jemand gemacht hatte, der auf dem Bild nicht zu sehen war. Die zweite Aufnahme zeigte die beiden am Strand, wo sie in ihren Bikinis nebeneinander standen, im Hintergrund etwas, das einer ägyptischen Pyramide glich. Auf dem nächsten Bild war nur Mascha, wie sie sich im Kleiderschrankspiegel selbst fotografierte: Sie stand da, eine Hand auf der Hüfte, die andere hielt das Handy so, dass ein Teil ihres Gesichts bedeckt wurde. Im Spiegel trug sie das rote Bikiniunterteil, sonst nichts.
Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und fragte, ob sie nicht Lust hätten, auf einen Tee mit in meine Wohnung zu kommen.
Mascha sah mir direkt ins Gesicht und sagte ja.
Ich winkte dem Kellner und kritzelte mit einem imaginären Stift einen Schlenker in die Luft, das internationale ›Lass-mich-hier-raus‹-Signal, von dem man als Teenager, wenn die eigenen Eltern es schreiben, hofft, dass man es ihnen nie gleichtun wird.
Als wir nach draußen kamen, war es kalt. Nach drei Wintern in Russland wusste ich, jetzt war er da, der große Frost, das Eis in der Luft, das sich bis in den April hielt. Vor dunklem Himmel gerann der weiße Rauch vom Kraftwerk unten am Fluss. Es nieselte noch, Tropfen schlierten über meine Brille und verwischten die Sicht, ließen alles fantastischer aussehen, als es sowieso schon war. Mascha trug ihren Katzenfellmantel, Katja hatte einen purpurfarbenen Plastikregenmantel an.
Ich hob den Arm, um ein Taxi anzuhalten, und ein Wagen, der schon zwanzig Meter an uns vorbeigefahren war, bremste, setzte zurück und hielt an der Bordsteinkante. Der Fahrer verlangte zweihundert Rubel, und obwohl das einem Straßenraub am helllichten Tag gleichkam, willigte ich ein und setzte mich auf den Beifahrersitz. Er war ein fetter, verbitterter Russe mit Schnauzbart; in der Windschutzscheibe prangte ein Riss, der aussah, als stammte er von einer Stirn oder einer Kugel. Mit dem Zigarettenanzünder war provisorisch ein Mini-Fernseher verkabelt, und während wir am Fluss entlangfuhren, verfolgte der Fahrer eine synchronisierte Soap aus Brasilien. Auf den Kreml-Türmen und den Märchenkuppeln der rückseitig an den Roten Platz grenzenden Basilius-Kathedrale funkelten die Sterne; neben uns floss die suppige, noch nicht gefrorene Moskwa dahin, wand sich geheimnisvoll durch die wilde Stadt. Hinter mir flüsterten Mascha und Katja. Zehn Minuten lang war das Auto des fetten Russen ein rollendes Paradies, ein seliges Gefilde der Verwunderung und der Hoffnung.
Sah man sich die Decke meiner Wohnung genauer an, konnte man, kaum wahrnehmbar, ein Muster sich überschneidender Streifen erkennen, die ihre Geschichte verrieten wie Ringe an einem Baumstumpf oder die Falten im Gesicht eines Dichters. Sie war eine kommunalka gewesen, eine Gemeinschaftswohnung, in der drei oder vier Familien zusammen und doch getrennt gelebt hatten. Früher malte ich mir oft aus, wie hier Menschen gestorben und von ihren Mitbewohnern gefunden oder gestorben und nicht gefunden worden waren. Wie Millionen Bewohner ähnlicher Wohnungen hatten sie ihren jeweiligen Toilettensitz von der Wand genommen, wenn sie kacken gingen, hatten sich in der Gemeinschaftsküche wegen der Milch gestritten, sich bespitzelt und einander geholfen. In den Neunzigern wurden die alten Trennwände dann eingerissen, und eine Bleibe für Reiche entstand; vom früheren Leben zeugten nur noch die Spuren an der Decke, da, wo einmal die Wände gewesen waren. Jetzt gab es noch zwei Schlafzimmer, eines für Gäste, die fast niemals kamen. Mein Glück und die schlimme Geschichte machten mir ein schlechtes Gewissen, zumindest anfangs.
Wie es Russen beigebracht wird, zogen sie die Schuhe aus, und wir gingen in die Küche. Mascha setzte sich auf meinen Schoß und küsste mich. Ihre Lippen waren kalt und kräftig. Ich sah zu Katja hinüber; sie lächelte. Ich ahnte, dass sie auf etwas aus waren, doch gab es in meiner Wohnung nichts, was ich so sehr begehrte wie Mascha, und ich nahm nicht an, dass sie mich umbringen wollten. Mascha nahm mich bei der Hand und führte mich ins Schlafzimmer.
Ich ging zum Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen – Vorhänge aus schwerem Rüschenstoff, die aussahen, als sollten sie den Blick auf eine Opernbühne freigeben. Mascha hatte inzwischen den Pullover ausgezogen und saß in ihrem kurzen Rock und schwarzen BH auf dem Bettrand. Katja rekelte sich lächelnd auf einem Stuhl. Sie sollte es nie wieder tun, aber in dieser Nacht blieb sie bei uns, vielleicht aus Sicherheitsgründen, ich weiß nicht. Es war auf lüstern perverse Weise verwirrend, doch kam mir der ganze Abend irgendwie surreal vor, und der Wodka nahm dem Ganzen die Schärfe.
Mascha war anders als die Mädchen in England. Anders als du. Auch anders als ich. Nicht so höflich, sie schauspielerte nicht, täuschte nichts vor. Sie besaß eine elementare, erdhafte Energie, packend, fordernd, humorvoll, begierig zu gefallen und zu improvisieren. Sooft ich aufblickte, saß Katja da, grinste, so nah, dass ich sie auch ohne Brille deutlich sehen konnte, vollständig angezogen, als beobachtete sie ein wissenschaftliches Experiment.
Als wir hinterher in Löffelchenstellung lagen, Mascha schwer atmend, nicht schlafend, aber auch nicht wach, schüttelte sie die Hand, mit der ich über ihren Leib nach ihren Fingern gegriffen hatte, als wären sie ein kaputtes Spielzeug – nur, damit ich sie fester hielt oder wie um sich zu beweisen, dass meine Hand und ich real waren, als wären sie und ich etwas, was sie brauchte. Jedenfalls kam es mir so vor. Und am anderen Ende des Bettes, ein Teil von uns, wenn auch meilenweit fort, umklammerte sie mein Bein mit ihrem Bein, so dass ich, erinnere ich mich, gerade noch spürte, wie sich die angemalten Fußnägel ihrer weißen Zehen in meinen Unterschenkel gruben.
Als am Morgen Licht in mein Schlafzimmer sickerte, sah ich Katja im Sessel schlafen, die Knie ans Kinn gezogen, noch immer vollständig angezogen, das blonde Haar wie ein Schleier über das Gesicht gebreitet. Mascha lag neben mir, das Gesicht abgewandt, das Haar auf dem Kissen, ihr Geruch auf meiner Haut. Ich schlief wieder ein, und als ich das nächste Mal wach wurde, waren beide fort.