FÜNFZEHN

Als wir von Odessa zurückkamen, war der Sommer in vollem Schwung. Frühling passiert in Moskau auf die Schnelle und vergeht über Nacht oder während man sich einen Film ansieht: Man wacht auf oder tritt blinzelnd aus dem Kino an die warme Luft, nur um festzustellen, dass er da war und schon vorüber ist. Ich konnte die Hormone spüren, die Energie. Irgendwas musste mit dieser Energie passieren, irgendwer musste irgendwas damit anfangen.

Einige Tage nach dem Rückflug – und ein, zwei Tage vor dem Termin, den wir zur Unterzeichnung der Wohnungsverträge vereinbart hatten – gingen Mascha und ich noch einmal zu Tatjana Wladimirowna. Sie empfing uns an der Tür, scheuchte uns aber gleich wieder nach draußen, um mit ihr einen Spaziergang um den aufgetauten Teich zu machen. Wir hatten ihr erneut ein kleines Geschenk mitgebracht, einen Kühlschrankmagneten, auf dem das Opernhaus von Odessa und der Kopf einer stolzen Zarin zu sehen waren. Tatjana Wladimirowna hielt ihn sich dicht vor die Augen und steckte ihn dann in die Innentasche ihres knappen, marineblauen Frühlingsmantels. Eines Tages, sagte sie, würde sie gern einmal ans Schwarze Meer fahren.

»Werden Sie«, sagte ich.

»Vielleicht«.

Danach erzählte ihr Mascha, dass es mit den Wohnungen ein Problem gebe. Eigentlich sogar zwei. Bei dem ersten Problem, das laut Mascha mir aufgefallen sei, gehe es darum, dass Tatjana Wladimirowna, wenn sie wie vereinbart ihre alte gegen die neue Wohnung tauschte, unter Umständen mehrere hunderttausend Rubel Grundsteuer zahlen müsste. Die Behörden, sagte Mascha, würden berechnen, was ihrer Ansicht nach die neue Wohnung wert sei und auf diese Summe dann die fünfzigtausend Dollar aufschlagen, um den Nennwert ihrer alten Wohnung zu ermitteln. Die Gesamtsumme läge damit vermutlich über dem Limit, bei dessen Überschreitung Grundsteuer anfalle. Folglich könnte Tatjana Wladimirowna die fünfzigtausend Dollar verlieren und müsste außerdem vielleicht sogar noch Geld zahlen.

»Stimmt das, Nikolai?«, fragte mich Tatjana Wladimirowna. Ich weiß nicht, wieso sie mir dermaßen vertraute. Mascha sah mich an und blinzelte nicht, ermutigte mich nicht, nickte mir nicht einmal verstohlen zu, da sie längst wusste, was ich bereit zu tun und zu sagen war.

»Das stimmt«, sagte ich in meinem besten Anwaltston, obwohl ich davon zum ersten Mal hörte. Später habe ich es überprüft: Es stimmte nicht, klang aber echt.

Es gäbe eine Lösung, erklärte Mascha. Man könnte zwei separate Verträge aufsetzen: einen für den Verkauf von Tatjana Wladimirownas Wohnung am Teich, ausschließlich über die fünfzigtausend Dollar, und einen zweiten für den Kauf der neuen Wohnung in Butowo. In diesen zweiten Vertrag würde eine angemessen klingende Summe für die Butowo-Wohnung eingesetzt werden, eine Zahl, die hoch genug war, damit die Behörden keinen Betrug vermuteten. Allerdings sei die genaue Summe unwichtig, da Tatjana Wladimirowna sie nicht zahlen müsse.

»Zwei Verträge«, sagte Tatjana Wladimirowna. »Ich verstehe. Wie lang wird es noch dauern, bis wir den zweiten Vertrag unterschreiben, den für meine neue Wohnung?«

»Das ist bald so weit«, sagte Mascha. »Sehr bald.«

Tatjana Wladimirowna blieb stehen, schlug einen Moment die Augen nieder und schaute auf ihre Schuhe. Dann zuckte sie die Achseln. »Okay.«

Bei dem zweiten Problem, fuhr Mascha fort, gehe es darum, dass Stepan Mikhailowitsch angerufen habe. Die neue Wohnung sei fast fertig, aber eben noch nicht ganz. In ein, zwei Wochen würde es so weit sein, habe er versprochen, spätestens in drei Wochen. Mascha schlug vor, dass Tatjana Wladimirowna dennoch die alte Wohnung wie geplant verkaufe, die Papiere unterschreibe und das Geld nehme. Wir hätten, sagte Mascha, bereits einen Termin mit der Bank vereinbart, wo man das Bargeld zählen würde, und wenn wir den Vertragsabschluss jetzt noch verschöben, würden wir trotzdem dafür zahlen müssen. (In jenen Tagen wurden Immobiliengeschäfte, wie auch alle übrigen russischen Transaktionen einer gewissen Größenordnung – Richter kaufen, Steuerinspektoren bestechen – ausnahmslos in bar abgewickelt.)

»Dafür müssen wir bezahlen?«

»Ja, Tatjana Wladimirowna«, sagte ich.

Allerdings, führte Mascha weiter aus, könne Tatjana Wladimirowna in der Wohnung am Teich wohnen bleiben, bis die in Butowo fertig sei. Es ginge nur noch um die Küche, sagte sie, Stepan Mikhailowitsch müsse die neuen Arbeitsflächen anbringen und den Geschirrspüler aufstellen, dann sei alles fertig. Danach brauche sich Tatjana Wladimirowna bloß noch aus dem Register für die alte Wohnung auszutragen – den Behörden also Bescheid geben, dass sie nicht mehr dort lebte. Offiziell wohnte sie dann nirgendwo. Mascha erklärte dies alles ohne Hast und ohne sich zu verhaspeln, wirkte weder nervös noch irgendwie beunruhigt. Sie war erstaunlich.

»Geschirrspüler!«, sagte Tatjana Wladimirowna und lachte. Dann schwieg sie, eine lange Pause, in der ich fürchtete, dass sie zustimmte, noch mehr aber – ich gebe es zu –, dass sie es nicht tat. Ich weiß noch, ich blickte auf den Boden und dachte, wie wundersam trocken der Weg um den Teich doch war. Die Bäume sahen wieder lebendig aus, ein fast reines Grün, und aus dem Restaurantzelt am anderen Ufer drang lautes Klopfen. Die zauberhaften Tiere an der Wand des dem Haus von Tatjana Wladimirowna gegenüberliegenden Gebäudes schlichen sich an, stürzten sich auf ihre Beute und schimmerten wieder so kräftig, als wären sie für den Sommer frisch gestriegelt worden.

Schließlich sagte Tatjana Wladimirowna: »Okay. Treffen wir uns auf der Bank«, und zu dritt gingen wir weiter.

*

Der auf meiner Straße begrabene Schiguli war aus seinem Schneekokon wieder aufgetaucht. In der Windschutzscheibe klaffte ein Riss, ansonsten aber sah er sauberer als vor seinem Verschwinden aus, fast als wären die Flecken vom Winter fortgewaschen worden. Als ich an dem Gebäude vorbeikam, in dem Oleg Nikolaewitschs Freund wohnte, vielmehr gewohnt hatte, bemerkte ich einen Trupp tadschikischer Bauarbeiter, die Karren mit Sand anfuhren, Sperrholzplatten schleppten und Farbeimer die Treppe hinauftrugen. Das Sommercafé an der Ecke zum Bulwar hatte die Läden weit geöffnet, um die zärtliche Luft einzulassen. Und die Pappeln, die irgendein genialer sowjetischer Planer in der ganzen Stadt hatte pflanzen lassen, waren brunftig und verspritzten ihren pelzigen weißen Samen – eine gutartige Juniplage, die von den Moskauern ›Sommerschnee‹ genannt wird, der im Haar hängenbleibt, manchmal auch in der Kehle, und sich am Straßenrand in Klumpen sammelt, die von betrunkenen Jugendlichen in Brand gesteckt werden.

Die Bank, in der wir den Vertrag unterzeichnen und das Geld zählen lassen wollten, lag unweit von Tatjana Wladimirownas Wohnung in einem als Kitai-Gorod, also Chinatown, bekannten Stadtteil Moskaus. Nebenan, das weiß ich noch, war eine Spielhalle und gegenüber ein DVD-Discounter. Ich hätte mich fast verspätet. Es war ein Wochentag, ein Montag, meine ich, und wir hatten im Büro alle Hände voll mit einem neuen Kredit zu tun. Moskau wurde immer noch mit Geld überschüttet, selbst nach dem, was der Kreml diesem aufmüpfigen Öltycoon, seinem unglückseligen Anwalt und den aufgebrachten Aktienbesitzern angetan hatte. Als ich kam, standen sie in einem Grüppchen vor der Bank, Mascha und Katja in hüftengen Hosenanzügen, Stepan Mikhailowitsch mit seinem Rattenschwanz und einer vage nach Tweed aussehenden Jacke, Tatjana Wladimirowna in langem Faltenrock und brauner Bluse. Wir gingen hinein, vorbei an einer Reihe griesgrämig dreinblickender Schalterbeamter hinter Sicherheitsglas und durch mit Sicherheitskodes geschützte Türen in eine Art Sitzungszimmer, die Fenster wie in einem Gefängnis hoch in der Wand, nahe der Decke, auf dem Tisch lauwarmes Wasser in einer Karaffe.

Zwei Bankangestellte erwarteten uns: ein Mann, um die Dokumente gegenzuzeichnen, die zum staatlichen Katasteramt geschickt werden würden, eine Frau, um das Geld zu zählen, das Stepan Mikhailowitsch in einer zerschlissenen Ledertasche mitgebracht hatte. (Ich sollte nie erfahren, von wem die übrigen fünfundzwanzigtausend Dollar stammten) In der hinteren Ecke des Raumes war eine Tür mit einem dieser zuziehbaren Sicherheitsgitter, wie sie Ladengeschäfte sichern, die für die Nacht geschlossen wurden. Man öffnete das Gitter, und wir traten einer nach dem anderen durch die Tür, um eine eiserne Wendeltreppe hinabzusteigen – die Angestellten der Bank, Stepan Mikhailowitsch, Tatjana Wladimirowna sowie ich als ihr gesetzlicher Stellvertreter – bis auf unsere Schritte und gelegentlich ein paar Seufzer der alten Dame war kein Laut zu hören. Sie ging vor mir, und als jemand hinter uns das Gitter schloss, es kreischend zuzog und versperrte, sah ich ihren Kopf in einem halbautomatischen, sowjetischen Zucken herumfahren.

Der untere Raum war ein fensterloser, luftloser, unerbittlicher Gewölbekeller mit einem kleinen Holztisch in der Mitte, so einem, auf dem du und ich vor ewiger Zeit unsere Examen geschrieben haben; darüber baumelte eine einsame Glühbirne. An den Wänden reihte sich ein Schließfach ans andere. Die Bankangestellte, deren Aufgabe es war, das Geld zu zählen – eine Armenierin, wie ich vermutete, eine dralle, auf erschöpfte Weise recht freundliche Frau mittleren Alters – setzte sich auf den einzigen Stuhl. Stepan Mikhailowitsch nahm das Geld, fünfzigtausend Dollar in Tausend-Rubel-Scheinen, aus der Aktentasche und reichte es ihr zum Nachzählen. Wir standen herum, warteten, atmeten, während sie die Scheine unter einer Neonlampe auffächerte und durch ein Okular prüfte, wie es Diamantenhändler benutzen, dann ließ sie das Geld durch eine ratternde Zählmaschine laufen. Schließlich teilte sie die Scheine in drei Stapel, erwürgte sie mit einem Gummiband, legte sie in einen anthrazitgrauen Kasten, füllte ein Formular aus und schob den Kasten in eines der Schließfächer an der Wand.

Wir keuchten wieder die Treppe hinauf. Tatjana Wladimirowna setzte sich mit Stepan Mikhailowitsch an einen Tisch; ich blieb zwischen Mascha und Katja an eine Wand gelehnt stehen. Tatjana Wladimirowna unterzeichnete den neuen Vertrag, den Olga, die Tatarin, in aller Eile für mich aufgesetzt hatte: Ihre Wohnung für unsere fünfzigtausend Dollar. Sie unterschrieb rasch, ohne sich das Dokument durchzulesen, dann wandte sie sich lächelnd zu uns um. Eine Kopie des Abkommens würde nun an das Katasteramt geschickt werden, erklärten die Leute von der Bank. Wenn das Amt in etwa ein bis zwei Wochen den Bescheid zurücksandte, demzufolge Stepan Mikhailowitsch der neue Besitzer war, würde man ihm einen Satz Zweitschlüssel für die Immobilie aushändigen, den die Bank bis dahin verwahrte, und Tatjana Wladimirowna könne dann kommen, um das Geld abzuholen.

»Herzlichen Glückwunsch!«, sagte Mascha.

»Ach, Tatjana Wladimirowna!«, sagte Katja, stürzte vor und umarmte sie von hinten, obwohl sie noch am Tisch saß.

»Herzlichen Glückwunsch!«, sagte ich.

»Danke«, erwiderte Stepan Mikhailowitsch.

»Geschirrspüler!«, sagte Tatjana Wladimirowna und lachte.

*

Etwa um diese Zeit wurde Wjatscheslaw Alexandrowitsch, der Inspektor, als vermisst gemeldet. Das Darlehen hatte man inzwischen vollständig ausgezahlt, doch sollte Wjatscheslaw Alexandrowitsch bestätigen, dass sämtliche Bedingungen und Termine eingehalten wurden – insbesondere jene, die besagten, dass man noch in diesem Sommer das erste Öl vom Terminal verschiffen würde, die Firma also pünktlich mit der Kreditrückzahlung beginnen konnte. Sein Telefon war abgestellt, und schickte man ihm eine E-Mail, kam die automatische, etwas seltsame Antwort, es tue ihm schrecklich leid, man möge ihm bitte vergeben, doch dürfte es einige Zeit dauern, ehe er sich wieder melden könne. Auch der Kosak war plötzlich nicht mehr zu sprechen. Sergei Borisowitsch fuhr zu dem Gebäude gegenüber dem Kreml, in dem unser letztes Treffen stattgefunden hatte. Wie sich herausstellte, gehörte es einer Ölhandelsgesellschaft, die sich wiederum im Besitz eines korpulenten usbekischen Mörders befand. Man sagte Sergei Borisowitsch, vom Kosaken habe man noch nie gehört, und begleitete ihn auf die Straße. Als wir daraufhin Narodneft kontaktierten, erinnerte man uns schriftlich daran, dass Narodneft keinerlei legale Verantwortung für jedwedes Unterfangen des Joint-Venture-Unternehmens trage. Paolo sagte, es gäbe noch keinen Grund, die Banken zu beunruhigen, doch merkte ich ihm an, in welchem Stress er steckte: Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und fing an, auf Italienisch zu fluchen. Den Kosaken nannte er nur noch ›dieser Freund von Nicholas‹. Im Büro mieden ihn die Leute und starrten nervös auf die roten Ziffern über der Fahrstuhltür, sehnten ihr Stockwerk herbei, falls sie mit ihm in der Kabine standen.

An dem Tag, an dem der Bescheid kam, konnte ich nicht aus dem Büro, weshalb ich nicht da war, um zu sehen, wie Tatjana Wladimirowna loszockelte, in einer Plastikeinkaufstasche, so zumindest malte ich es mir aus, Rubel im Wert von fünfzigtausend Dollar, zurück in die Wohnung, in der sie vierzig Jahre gelebt hatte und in der sie hoffte, noch einige Wochen bleiben zu können. Definitiv aber musste es zehn Tage später passiert sein, Mitte Juni, wenn die Tage am längsten sind und der Winter kaum mehr als ein Traum zu sein scheint. Diesen Teil konnten sie nicht türken. Die Bank war verantwortlich; ihre Angestellten hätten nur an sie ausgezahlt. Also musste sie das Geld gehabt haben, zumindest zu Beginn.

Ehe ich mich an jenem Tag verabschiedete, an dem im Gewölbekeller das Geld gezählt wurde, hatte Tatjana Wladimirowna uns ein letztes Mal zu sich eingeladen. Von der Bank aus war es nur ein kurzes Stück. Die Kisten standen ordentlich gestapelt im Flur. Teller und Urkunden waren von der Wand abgenommen worden. Im Spülbecken lag ein Strauß Blumen, den Tatjana Wladimirowna, wie sie erzählte, zusammen mit einem Radio von ihren Kollegen im Museum bekommen hatte, als sie letzte Woche mit ihrer Arbeit dort aufhörte.

Sie gab mir auch ein Geschenk. Sie sagte, sie habe zu viel und wisse nicht, ob es in Butowo dafür genügend Platz gebe. Und welchen Nutzen habe sie schon von all dem Kram? Sie wollte, dass mir eine Erinnerung an unsere Freundschaft blieb. Es war das Foto von ihr im Gymnastikrad, aufgenommen, als sie noch vier Jahrzehnte kommunistischer Lügen und Mangelwirtschaft vor sich hatte, dann ein Jahrzehnt der Hoffnung, noch mehr Lügen, noch mehr Mangel, und schließlich Mascha, Katja und mich. Ich wollte es ablehnen, aber sie bestand darauf, dass ich es annahm. Ich glaube, du hast das Foto einmal in einer Schublade entdeckt und gefragt, wer das sei, und ich habe irgendwas von Souvenir gemurmelt, eigentlich aber keine Antwort gegeben. Von allem, was ich besitze – zugegebenermaßen nicht viel für einen Mann meines Alters und Einkommens –, ist das Foto von Tatjana Wladimirowna in ihrer schwarzweißen Jugend das, was ich am liebsten verlöre, der Besitz, dem ich nur zu gern entkäme, doch will es mir irgendwie nicht gelingen.