NEUN
Wie vereinbart gingen wir im neuen Jahr gleich am ersten Arbeitstag – das dürfte um den zehnten Januar gewesen sein – mit Tatjana Wladimirowna zu einer Anwaltskanzlei, um uns die nötige Vollmacht ausstellen zu lassen. Mascha musste an dem Tag ins Geschäft, aber Katja begleitete uns. Sie war unsere Anstandsdame.
Der Beruf des Anwalts ist für Moskau so typisch wie der des Maklers, des georgischen Gastwirts oder dem der Prostituierten. Im Grunde sind sie sinnlose, aus Zarenzeiten übriggebliebene Funktionäre, deren Arbeit vorwiegend darin besteht, solche Dokumente herauszugeben und abzustempeln, wie man sie in Russland für fast jede Kleinigkeit braucht. Das Büro der Anwälte, zu denen wir an jenem Morgen gingen, lag versteckt in einem alten Zirkusgebäude unmittelbar nördlich des Stadtzentrums. Als die Musik zu spielen aufhörte, das Reich des Bösen in sich zusammenfiel und die Russen sich für den Bruchteil einer Sekunde ansahen, um sich dann zu greifen, was sie kriegen konnten, müssen die Anwälte irgendwie zu diesem Zimmer gekommen sein, in dem bestimmt einmal eine Akrobatentruppe oder ein Löwenbändiger gewohnt hatte.
Wir schlitterten über den Gehweg vor dem Zirkus. Tatjana Wladimirowna kam auf dem Eis schneller als ich voran; im Winter war sie in ihrem Element wie ein Pinguin im Wasser. Dann tappten wir über den dunklen Zirkusflur und setzten uns ins Wartezimmer der Kanzlei. An der Wand hing eine große, stolze Karte der Sowjetunion. Ich sagte mir, dass es zum Job der Anwälte gehörte, uns warten zu lassen. Jeder Russe, der Macht über Menschen hat (ob Anwalt, Krankenwagenfahrer oder Kellner), ist verpflichtet, einen warten zu lassen, ehe er hilft, nur damit man weiß, dass er es kann.
Während wir da saßen, erzählte Tatjana Wladimirowna, dass sie vor über vierzig Jahren in ebendiesem Zirkus gewesen sei. Er hatte zwei Elefanten und einen Löwen, sagte sie.
»Einer der Elefanten stand auf den Hinterbeinen«, erinnerte sie sich lächelnd und hob die Hände wie Hamsterpfoten in die Höhe, um anzudeuten, was der Elefant getan hatte, »und als wir den Elefanten sahen, da wussten wir, dass wir wirklich in Moskau angekommen waren, Pjotr Arkadjewitsch und ich. Da wussten wir, Moskau ist tatsächlich die Hauptstadt der Welt. Ein Elefant!«
Ich fragte sie, ob sie Sibirien vermisste oder das Dorf außerhalb von Leningrad, in dem sie aufgewachsen war.
»Natürlich«, erwiderte sie. »Der Wald. Und die Leute. In Sibirien sind die Leute anders. In Moskau habe ich viel Neues kennengelernt, das ich vielleicht lieber nicht kennengelernt hätte. Und nicht immer ging es dabei um Elefanten.«
Katja schrieb eine endlos lange E-Mail und hörte nur kurz damit auf, um Tatjana Wladimirowna zu sagen, sie solle mich nicht langweilen. Ich erwiderte, ich langweile mich nicht, es sei interessant, was sie erzähle. Das gehörte zu meinen guten Seiten in Moskau – dass ich mich interessiert zeigte, mich kümmerte und irgendwie edler gesinnt war als die meisten ausländischen Anwälte, die hier gewöhnlich nur zwei, drei Jahre abrissen, um dann zurückzufahren und achtbareren Gaunern in London oder New York zu dienen, gelegentlich sogar als Partner von Ganove, Halunke und Co., meist mit einem ansehnlichen Bankguthaben sowie ein paar Titten-und-Kalaschnikow-Geschichten über den Wilden Osten, um sich damit die ewigen Pendlerstrecken zu verkürzen.
Ich fragte sie, wie sie das alles überlebt habe, Stalin, den Krieg und den Rest. Eine blöde Frage, ich weiß, aber die wichtigste Frage.
»Es gab drei Regeln«, erklärte Tatjana Wladimirowna. »Hielt man sich dran, würde man überleben, wenn man Glück hatte.« Sie zählte sie an stummeligen, schrumpeligen Fingern einer Hand ab. »Erstens: Glaube nicht, was sie sagen. Zweitens: Hab keine Angst. Und drittens: Nimm nie einen Gefallen von ihnen an.«
»Es sei denn, es geht um eine Wohnung«, sagte ich.
»Es sei denn, es geht um eine Wohnung.«
»Was ist mit der Wohnung?«, fragte Katja und blickte erneut auf.
»Nichts«, erwiderte Tatjana Wladimirowna und lächelte.
Ich fragte sie, was sie vom augenblicklichen Präsidenten hielt, diesem verschlagenen Fuchs (einem Massenmörder, genau wie alle Führer Russlands, jedenfalls in meinen Augen). Sie sagte, er sei ein guter Mann, nur sei er eben der einzige Gute in einer Schar von Schlechten, und er könne schließlich nicht sämtliche Probleme des Landes allein lösen. Sie dämpfte die Stimme und schaute sich verstohlen um, obwohl sie doch nur Freundliches sagte. Ich fragte daraufhin, ob es ihr denn nichts ausmache, dass die Leute an der Macht offenbar die meiste Zeit damit zubrachten, von anderen Leuten etwas zu stehlen. Na ja, erwiderte sie, natürlich mache es ihr etwas aus, doch habe es keinen Zweck, neue Leute in den Kreml zu wählen, da die mit der Gaunerei nur von vorn anfangen würden. Die, die jetzt das Sagen hatten, seien ja schon reich, also konnten sie es sich leisten, auch mal an andere zu denken.
Ich wollte wissen, ob ihr Leben heute denn besser sei als früher. Ja, sagte sie, die Dinge seien schon besser geworden, zumindest für einige Leute. Und auf jeden Fall auch für die jungen Leute, sagte sie, sah Katja an und lächelte.
Wir schwiegen einen Moment. Katjas Telefon piepte. Sie las die Nachricht, runzelte kurz die Stirn und sagte: »Ich muss los«, beugte sich zu mir, bis ich ihren Atem am Ohr spürte und flüsterte auf Englisch: »Bitte, Kolja, sag Mascha nicht, dass ich geh. Ich muss zur Uni.« Dann stand sie auf und sagte, immer noch auf Englisch, so dass Tatjana Wladimirowna sie nicht verstehen konnte, »vergiss nicht, Kolja, sie ist alte Frau und macht manchmal Fehler.«
Dann zog sie ihren Mantel an und verschwand.
Bis auf diese fünfzehn Minuten in jenem seltsamen Zirkuswartezimmer, ehe die Anwälte uns hereinbaten, sollte ich nur noch ein einziges Mal mit Tatjana Wladimirowna allein sein. Heute weiß ich, dass es beim zweiten Mal bereits zu spät war, ich steckte schon zu tief drin, hatte mich von dem, der ich gewesen war, zu weit zu dem entfernt, der ich werden sollte. Doch denke ich, hoffe ich, dass dies für jenen Januarmorgen noch nicht zutraf, jedenfalls nicht so ganz. Die Geschichte – da bin ich mir ziemlich sicher – hätte anders verlaufen können, hätte ich nur ein paar simple Fragen gestellt, statt stumm dazusitzen, zu lächeln und zuzusehen, wie der Schneematsch von unseren Schuhen aufs Parkett tropfte.
Irgendwann fragte ich sie nach Oleg Nikolaewitschs Freund.
»Wenn ich es recht sehe, Tatjana Wladimirowna, sind die Chancen wohl nur sehr gering, aber ich möchte Sie trotzdem etwas fragen: Kennen Sie einen alten Mann namens Konstantin Andrejewitsch? Er wohnt in derselben Gegend wie ich.«
»Einen Moment«, sagte sie, schloss die Augen und presste ihre Finger an die Schläfen. »Konstantin Andrejewitsch … ich weiß nicht genau. Wer ist er?«
»Ein Freund meines Nachbarn Oleg Nikolaewitsch. Wir können ihn nicht finden.«
»Nein«, antwortete sie, »ich glaube nicht. Tut mir leid.«
Wieder schwiegen wir.
»Noch einmal herzlichen Dank für die Kekse und den Tee«, sagte Tatjana Wladimirowna schließlich, um das Schweigen zu brechen. »Es ist schön, Spezialitäten aus England zu besitzen.«
»Vielleicht fahren Sie ja eines Tages selbst mal nach England«, sagte ich, »und sehen Buckingham Palace, den Tower of London.«
»Ja, vielleicht.«
Die Anwälte riefen uns herein. »Der Nächste bitte.«
In einem schmalen Raum saßen zwei Frauen an ihren Tischen. Es gab ein Fenster, erinnere ich mich, und man sah durch rostige Gitterstäbe auf die weißgraue Straße. Es war ein herrlicher Wintertag, der Himmel so strahlend schön und rein wie jenes mediterrane Blau, das du und ich damals bei unserem Urlaub in Italien gesehen haben. Die Frau am rechten Tisch war eher jung, eine Art fehlendes Bindeglied zwischen normalen menschlichen Lebewesen und der Spezies Anwalt. Die ältere Frau, ihre Vorgesetzte – übergewichtig, Brille, haariger Leberfleck – benahm sich so unhöflich, dass man in einem anderen Land hätte glauben können, hier würde mit versteckter Kamera gefilmt.
Sie nahm unsere Pässe und fing an, die gewünschte Vollmacht auszufüllen. Als sie entdeckte, dass mein Name im Pass anders aussah, als ich ihn in ihr Register eingetragen hatte, kreischte sie vor Vergnügen und schwieg geknickt, als ich erklärte, dies läge daran, dass im Pass mein Nachname zuerst stünde. Sobald sie fertig war, stempelte sie die beiden Vertragskopien etwa dreißigmal, schob sie uns ohne aufzublicken über den Tisch zu und sagte, wir hätten ihrer Angestellten vierhundert Rubel zu zahlen. Tatjana Wladimirowna nahm eine Kopie an sich, ich die andere. Somit konnte ich nun den für den Wohnungstausch nötigen Schriftverkehr in ihrem Namen selbst erledigen. Das Wohnungsprojekt war auch mein Projekt geworden.
Wir schlitterten zur Metro zurück, damit Tatjana Wladimirowna nach Hause und ich, verspätet, zur Arbeit fahren konnten. Als wir uns voneinander verabschiedeten, bedankte sie sich und küsste mich auf beide Wangen. Dann watschelte sie zu den Aufzügen.
Aus irgendeinem Grund ist es mir in Erinnerung geblieben – so wie es gelegentlich passiert, ohne dass man es will, sogar vor allem dann, wenn man es eigentlich nicht will –, dass ich unten in der Metro beim Fahrkartenschalter zwei Männer sah, die in einen Streit gerieten, der eine ein großer Russe, der andere ein kahlrasierter, wütender, fast kugelrunder Georgier; und der Russe rief immer und immer wieder sehr laut: ›Gib mir das Messer, Nika, gib mir das Messer.‹
An jenem Abend wartete auf dem Treppenabsatz ein bekümmerter Oleg Nikolaewitsch. Ich sah ihm an, dass er auf mich wartete, da er weder Mantel noch Hut trug, also nicht ausgehen wollte und auch nicht von irgendwoher heimgekehrt war. Er stand vor seiner Wohnungstür und sah wie ein Verwandter aus, der damit rechnete, vom Arzt schlechte Neuigkeiten zu hören. Er versuchte zu lächeln und fragte mich, wie es mir ginge. Gut, erwiderte ich, doch sei ich sehr müde. Er kannte kein Erbarmen.
»Nikolai Iwanowitsch«, fuhr er fort, »ich muss Sie erneut um Ihre Hilfe bitten.«
Ich wusste, es ging um den alten Mann. »Oleg Nikolaewitsch«, sagte ich, »verzeiht, aber was kann ich für Euch tun?«
»Bitte, Nikolai Iwanowitsch. Geht zum Haus meines Freundes. Seht Euch um. Ich glaube, da ist wer in seiner Wohnung. Ich war auf der Treppe und hörte sie runterkommen. Bitte.«
Ich schaute Oleg Nikolaewitsch in die Augen, und er wandte den Blick ab. Ich merkte ihm an, wie peinlich es ihm war, mich um Hilfe zu bitten. Im Nachhinein denke ich, es ging ihm bei alldem eigentlich weniger um seinen Freund als darum, eine drohende Veränderung aufzuhalten, gegen die Zeit anzukämpfen. Ich glaube, er wollte sein Leben einfach möglichst lang so bewahren, wie er es kannte – mit seinem Freund, der Katze, den Büchern, all seinen Eigenheiten. Und ich glaube, deshalb blieb er auch in seiner Stadtwohnung, statt sie zu vermieten und von den Einnahmen zu leben, wie es die meisten alten Russen taten, die eine solche Bleibe ihr Eigen nannten (die übrigen, weniger gesicherten Vermögenswerte waren im Gemetzel der neunziger Jahre vernichtet worden). Oleg Nikolaewitsch wollte die Zeit anhalten.
»Also gut«, sagte ich schließlich. »Wo wohnt Ihr Freund?« Er sagte es mir, und ich weiß es heute noch: Wohnung zweiunddreißig, Kalininskaja Nummer neun (eine kleine Seitenstraße zwischen meinem Gebäude und dem Bulwar, der auf der anderen Seite der Kirche vorbeiführte.)
»Ich gehe also nach draußen und nehme den ersten Abzweig nach links; das ist dann die Kalininskaja, gleich bei der Kirche?«
»In Russland«, erwiderte Oleg Nikolaewitsch, »gibt es keine Straßen, nur Richtungen.«
Ich setzte mir die Mütze wieder auf, zog erneut die Handschuhe an, ging die Treppe hinunter, die Straße hinauf zum Bulwar und bog dann in die Kalininskaja ein. Es war dunkel, und die einzigen Lebewesen, die ich draußen entdeckte, waren eine Schar fetter schwarzer Krähen, die sich um einen Mülleimer scharten. Das Eis unter den Fallrohren glitzerte schwarz im Licht der Straßenlaternen.
Als ich zur Tür von Konstantin Andrejewitschs Haus kam, tat ich, was Obdachlose in Moskau in eisigen Winternächten tun: Ich drückte die Summer zu sämtlichen Wohnungen. Die Obdachlosen hoffen, irgendwer ist achtlos, mitfühlend oder betrunken genug, sie einzulassen, so dass sie im Treppenhaus schlafen können. Jemand antwortete tatsächlich und riet mir, mich zu verpissen, ließ mich aber trotzdem ein, vielleicht unbeabsichtigt, und ich nahm die Treppe, die sich um den Fahrstuhlschacht in die Höhe wand. Die Tür zu Konstantin Andrejewitschs Wohnung war im dritten Stock.
Ich konnte jemanden atmen hören, klingelte, und eine Männerstimme murmelte irgendwas vor sich hin, dann quietschten Schuhe über das unvermeidliche Parkett. Ich hörte den Mann etwa zwanzig Zentimeter vor der Tür stehen bleiben, dann knarrte ein Ledermantel, als er sich vorbeugte, um mich durch den Türspion anzusehen. Seinem Schnaufen merkte ich an, dass er ein schwerer Raucher war. Er war so nah, dass er mir hätte die Hand geben oder meine Kehle aufschlitzen können.
So standen wir da, von der Tür getrennt, einander unsichtbar gegenüber, doch was mir wie hundert Jahre vorkam, waren vermutlich nur dreißig Sekunden. Dann rotzte er und spuckte aus. Es war, als würde wer auch immer es war, sich genötigt fühlen, so zu tun, als sei er nicht da, während er zugleich deutlich machen wollte, dass es ihn nicht kümmerte, ob jemand wie ich wisse, dass er da war. Ich drehte mich um und ging die Treppe wieder hinunter, langsam erst, dann schnell, zwei, drei Stufen auf einmal, so wie man von einem Bären davonrennt und hofft, dass er nicht merkt, wie sehr man sich vor ihm fürchtet.
Im Erdgeschoss traf ich eine alte Frau, die ihre Post aus einem der übel malträtierten Briefkästen holte.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich auf Russisch, »wissen Sie, wer jetzt in Wohnung zweiunddreißig lebt? In Konstantin Andrejewitschs Wohnung?«
»Je weniger man weiß«, antwortete sie, ohne mich anzuschauen, »desto länger lebt man.«
»Bitte!«
Sie drehte sich zu mir um. Sie hatte scharfe Augen und einen weißen Spitzbart.
»Wer sind Sie?«
»Ich heiße Nicholas Platt und bin ein Freund von Konstantin Andrejewitsch.«
»Miii-ster Platt«, sagte sie, »ich glaube, in seiner Wohnung lebt jetzt sein Sohn. Jedenfalls wurde mir das gesagt.«
»Haben Sie ihn gesehen?«
»Vielleicht.«
»Wie sieht er aus?«
»Kann mich nicht erinnern.«
Draußen fegte der Wind durch die von alten Kaufmannshäusern gebildeten Straßenschluchten und trieb mir Schnee ins Gesicht, bis mir die Nase lief und die Augen tränten. Auf dem Rückweg vergaß ich, meine Mütze aufzusetzen. Wäre ich zu lang im Freien geblieben, hätte ich vielleicht ein Ohr verloren. Schnee fiel mir von den Stiefeln, als ich in meinem Haus die Treppe hochging und auf Oleg Nikolaewitschs Summer drückte.
»Oleg Nikolaewitsch«, fragte ich ihn, als er an die Tür kam, »hat Konstantin Andrejewitsch einen Sohn?«
Oleg Nikolaewitsch schüttelte den Kopf.
Und dann, weil wir noch dastanden und weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte, aber etwas sagen wollte und weil mir plötzlich einfiel, dass ich es nicht wusste, fragte ich ihn, wie seine Katze hieß.
»Sie heißt George«, sagte Oleg Nikolaewitsch und wandte sich ab.