33. Kapitel
Angelica stand ganz reglos. Eine Hand hatte sie auf ihren runden Bauch gelegt, die andere hielt Alexander fest und warm umschlossen. Die letzten Wochen waren sowohl schwierig als auch wunderbar gewesen. Nachdem sie dem Tod nur knapp entronnen war, wollte sie nach Polchester Hall zurückkehren, und Alexander hatte sie nicht enttäuscht und war mit ihr gekommen.
Ihr Bruder auch.
Mit der Tatsache fertig zu werden, dass ihre Tante ihren Vater getötet und auch versucht hatte, sie selbst umzubringen, war nicht leicht gewesen. Noch schwerer war es, zu akzeptieren, dass sie ›die Auserwählte‹ sein sollte. Tatsächlich hatte sie sich anfangs geweigert, so etwas auch nur in Betracht zu ziehen; doch Margaret hatte sie davon überzeugt, dass dies die einzig plausible Erklärung dafür war, wie Alexanders Baby in ihrem Bauch heranwachsen konnte.
Geht es dir gut?
Alexanders Stimme riss sie in die Gegenwart zurück. Sie hatte sich noch immer nicht ganz daran gewöhnt, telepathisch mit ihm kommunizieren zu können. Egal wo sie war, sie konnte ihn erreichen: Er war ihr wahrer Lebensgefährte, ihr Seelenpartner.
Ihre Liebe zu Alexander machte alles wett; dennoch war sie nervös. Ihr Blick schweifte über das Meer von unbekannten Gesichtern. Sie waren ihretwegen gekommen, waren gekommen, um zu sehen, wie sich die Prophezeiung erfüllte. Schon komisch, eine lebende Prophezeiung zu sein. Komisch, hier auf dieser Plattform zu stehen, umringt von Hunderten von Vampiren. Beängstigend.
Du brauchst keine Angst zu haben.
Angelica nickte. Der Wind fuhr ihr ins Haar und ließ es wie eine schwarzseidene Fahne über ihren Schulterblättern flattern. Ihr schwarzer Umhang legte sich wie eine zweite Haut über ihren deutlich vorgewölbten Bauch.
»Angelica?«
James hatte seine - wie immer recht weitschweifige - Rede beendet und wandte sich zu ihr um. Nun sollte sie also vortreten, damit alle sie sehen konnten. Angelica schaute die beiden anderen Clanführer an, die ihn flankierten. Isabelle lächelte ihr aufmunternd zu, und Ismail betrachtete sie mit einem beinahe ehrfürchtigen Ausdruck.
Sollen wir, Liebling?
Alexander wollte also mit ihr zusammen vortreten, er würde sie nicht allein lassen.
Wenn Alexander bei ihr war, konnte sie alles.
Sie trat an den Rand des flachen Felsens, der an dieser Stelle eine natürliche Plattform bildete.
Jegliches Getuschel unter den Vampiren verstummte, und tiefes Schweigen breitete sich aus.
Da waren auch Kiril und Joanna. Ihre Freundin war wegen ihrer Liaison mit Sergej vor Gericht gestellt worden, doch da sie am Ende bei seiner Festnahme entscheidend mitgeholfen hatte, war die Strafe relativ milde ausgefallen, ›offene Haft‹, wie Alexander es ausdrückte. Sie musste in ein Anwesen in Rumänien übersiedeln und fünfzig Jahre lang dort bleiben. Joanna hatte das Urteil entgegengenommen, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie lächelte nun zu ihr auf, aber Angelica war viel zu nervös, um das Lächeln erwidern zu können. Es schien ihr, als würde man von ihr erwarten, dass sie etwas sagte, etwas tat.
Was soll ich tun?, funkte sie panisch an Alexander.
Das liegt ganz bei dir.
Was soll das heißen? Alexander, bitte! Hilf mir, ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Doch er schwieg.
Angelica verstand und ließ seine Hand los: Nein, sie brauchte wirklich keine Angst zu haben. Dies hier waren ihre Leute. Ihr Vater war einer von ihnen gewesen. Und ihr Kind … ihr Kind würde zu diesem Volk gehören.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie schloss die Lider, legte die Hände auf ihren Bauch. Ja, ihr Baby würde dazugehören.
»Die Auserwählte!«, rief jemand aus der Menge.
Angelica schlug langsam die Augen auf.
Ein Vampir nach dem anderen ging vor ihr in die Knie, beugte sein Haupt.
Ein Meer von gebeugten Köpfen.
Aus Angst, einen Fehler gemacht zu haben, suchte Angelica ängstlich Alexanders Blick.
Auch er war auf ein Knie gesunken, ebenso die anderen Clanführer.
Mit vor Stolz leuchtenden Augen blickte er zu ihr auf.
Du bist ihre Hoffnung, mein Liebling, und unser Kind ist die Rettung für unser Volk.
»Die Auserwählte!«, klang es rundum, echote es in den Wäldern. »Die Auserwählte!«
Angelica formte das Wort mit den Lippen. Sie hob das Gesicht zur Sonne, und langsam breitete sich ein Lächeln auf ihren Zügen aus. Sie schloss die Augen.
Soll das heißen, dass du mich jetzt doch heiraten willst?
Alexander versuchte vergebens, sein Lachen zu unterdrücken.
Du kannst doch meine Gedanken lesen - also, was meinst du?
Ende - Unsterblich wie die Nacht - Band 01