3. Kapitel

 

Im Ballsaal herrschte großes Gedränge. Rüschen, Taft und Spitze, wohin man blickte, dazu weiße Handschuhe in allen Längen, vom Handgelenk bis zum Ellbogen. Man trug, der derzeitigen Mode entsprechend, tief ausgeschnittene, schulterfreie Seiden- oder Samtkleider mit eng anliegendem Mieder und hoch angesetzter Taille. Angelicas schulterfreies blaues Seidenkleid und ihre Handschuhe waren also perfekt, und das Tüpfelchen auf dem i bildeten die Ohrringe ihrer Großmutter.

Obwohl sie makellos angezogen war, blickte sie auf die Menschenmenge vor sich und schauderte. Der Lärm, das Gedränge und die Hitze wurden immer unerträglicher. Auch war ihr schwindelig von ihrem Tanz mit dem Viscount. Sie hatte ihre Meinung geändert, was eine Heirat mit ihm betraf, nachdem sie ein, zwei sadistische Gedanken ungebeten mitbekommen hatte. Nein, er kam nicht mehr in Frage.

Nervös schaute sie sich nach ihrem Bruder um, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Ihr Unbehagen und ihre Nervosität führten dazu, dass die Gedanken rund um Angelica sie zu überwältigen drohten. Wo steckte er nur?

Wo steckt bloß Henry?

Könnte jetzt wirklich einen Port vertragen.

Hoffentlich regnet es morgen nicht.

Biest! Das zahl ich dir heim.

Ich bin so müde, so hundemüde.

Angelica machte eine Bewegung, wie um sich die Ohren zuzuhalten, aber sie wusste, das wäre zwecklos. Sie konnte die Stimmen nicht zum Schweigen bringen, indem sie sich die Ohren zuhielt. Ihr wurde übel, alles drehte sich um sie. Sie brauchte dringend frische Luft.

»Angelica, meine Liebe, warum stehst du hier allein herum?«, flüsterte ihre Tante, die unversehens neben ihr aufgetaucht war. Angelica war zutiefst dankbar für diesen leisen Verweis; sie musste ihr Gleichgewicht wiederfinden, und Lady Dewberry war eine willkommene Ablenkung.

»Mikhail müsste gleich wieder da sein, Tante«, versicherte sie mit einem Lächeln. Lady Dewberry aber runzelte die Stirn. Sie war eine hochgewachsene Frau mit ausgeprägten Wangenknochen und einer langen, stolzen Nase: eine einschüchternde Erscheinung, aber Angelica ließ sich nicht beirren. Lady Dewberry hatte kaum einmal einen bösen Gedanken, und sie war nach dem Tod ihrer Eltern für sie und ihren Bruder da gewesen. Sicher, sie hatte sie nicht direkt bei sich aufgenommen, aber das nahm ihr Angelica nicht übel. Sie wusste, ihre Tante war eine äußerst reservierte Person, und sie konnte mit Kindern überhaupt nichts anfangen … doch wann immer sie sich sahen - was selten genug vorkam -, war sie besonders bemüht, einen guten Einfluss auf ihre Mündel auszuüben.

»Das spielt keine Rolle, Angelica. Eine junge Dame darf nie so allein herumstehen. Man könnte sie sonst für ein Mauerblümchen halten. Ich weiß zwar, dass du keins bist - du hast in der letzten Stunde immerhin mit fünf verschiedenen Partnern getanzt! -, aber andere könnten es denken!«

Angelica wusste, dass es sich nicht lohnte, ihrer Tante zu widersprechen, das führte nur zu Moralpredigten und Standpauken über damenhaftes Benehmen.

»Du hast recht, Tante. Ich werde versuchen, daran zu denken.«

»Gut, gut. Ja, du warst immer ein gutes Mädchen, meine Liebe.«

Angelica hatte Mühe, sich das Lachen zu verkneifen; zum Glück schaute sich ihre Tante gerade interessiert im Ballsaal um und nicht zu ihr her. Sie wusste nämlich zufällig, dass Tante Dewberry sie für einen absolut hoffnungslosen Fall hielt. Sie hatte ihretwegen schon etliche ›Krisen‹ gehabt, wie sie es nannte. Und schuld daran war ›Angelicas Unfähigkeit, die Gesellschaft so zu lieben, wie die Gesellschaft Angelica liebte‹.

»Ach, da ist ja Lady Elisabeth!«

Angelica blickte der jungen Frau entgegen, die nun zu ihnen trat.

»Prinzessin Belanow, Lady Elisabeth Barrows.«

Angelica hatte es geschafft, die Gedanken der Menge so weit zu verdrängen, dass sie nur mehr wie ein dumpfes Brausen an ihr Ohr drangen. Aber die Gedanken der schönen Lady Elisabeth waren glasklar.

Atemberaubend, von wegen! Sie ist nicht halb so schön, wie alle behaupten. Was für eine komische Stupsnase sie hat, und die Augen, dieses Blau ist viel zu dunkel, überhaupt nicht en vogue! Ohne die herrlichen Ohrringe wäre sie nichts.

»Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen, Prinzessin Belanow - oder sollte ich sagen Lady Shelton?«, fragte Elisabeth mit hochgezogener Braue. Sie konnte ihre Verachtung für Angelica, die sie als Konkurrentin empfand, kaum verhehlen. »Ich finde es so verwirrend, wenn jemand gemischter Abstammung ist.«

Man brauchte keine Gedanken lesen zu können, um zu wissen, dass die Lady eine derartige Mischung als entwürdigend empfand.

»Mein Vater war ein russischer Prinz, meine Mutter eine englische Lady. Ich finde es nicht sonderlich verwirrend, aber wenn es zu kompliziert für Sie ist, Lady Elisabeth, dann nennen Sie mich doch einfach Prinzessin Belanow.« Angelica nickte der Frau huldvoll zu. Diese war gerade im Begriff, einen Hofknicks zu machen, und geriet prompt ins Wanken.

Hat sie mich beleidigt? Dieses russische Flittchen!

Angelica juckte es in den Fingern, aber was konnte sie machen? Die Frau für etwas zur Verantwortung ziehen, das sie gedacht, aber nicht laut gesagt hatte?

Sie schluckte ihren Zorn hinunter, wie so oft in ihrem Leben, und hoffte darauf, dass die Lady so bald wie möglich wieder verschwinden würde.   

Nein, so ging das nicht weiter, sie musste ihre Gefühle unter Kontrolle bekommen, sie durfte nicht nervös sein. Das war der einzige Weg, um sich vor der Gedankenflut zu schützen!

»Angelica?« Sie schaute an Lady Elisabeth vorbei und sah ihren Bruder auf sich zukommen. Seiner Miene nach zu urteilen, schien er sich Sorgen um sie gemacht zu haben.

Lady Elisabeth, deren Adlerauge ebenfalls auf Mikhail gefallen war, war außer sich vor Entzücken, den Prinzen Belanow kennen lernen zu dürfen. Sie grinste idiotisch, ja, sie schien gar nicht mehr damit aufhören zu können. Aber das war nichts Neues für Angelica: Die meisten Frauen reagierten so auf Mikhail. Angelica gab ihrem Bruder mit einem Blick zu verstehen, dass die Ursache ihrer Kopfschmerzen vor ihm stand.

Mikhail begriff sofort. Die meisten hätten den Blick, mit dem er die junge Frau bedachte, als durchaus freundlich empfunden, aber Angelica kannte ihn besser: Seine angespannte Haltung, der zusammengepresste Mund waren eindeutige Zeichen von Verärgerung.

An Lady Dewberry gewandt, bat er: »Tante, würdest du uns bitte vorstellen?«

Lady Dewberry runzelte zwar die Stirn über seine Forschheit, tat ihm aber den Gefallen. »Prinz Belanow, dies ist Lady Elisabeth Barrows. Lady Barrows, Prinz Mikhail Belanow.«

Mikhail machte eine elegante Verbeugung, und Lady Elisabeths Gedanken schossen ab wie Feuerwerksraketen.

Mein Gott, das ist der aufregendste Mann im ganzen Saal. Diese verbotenen blauen Augen, das kantige Kinn … oh, und dieser Körper! Ich wette, alle Frauen sind hinter ihm her. Den muss ich haben, egal wie!

Angelica wusste nicht genau, was sie von einer derart aggressiven Einstellung halten sollte, hielt es aber für angebracht, ihren Bruder sicherheitshalber zu warnen. Sie wollte nicht, dass ihn diese kapriziöse Lady in eine kompromittierende Situation brachte.

»Meide besser dunkle Ecken und leere Zimmer, Mikhail«, sagte Angelica auf russisch, was ihr einen feindseligen Blick von Lady Elisabeth einbrachte.

Ihr Bruder nickte. Dann nahm er Elisabeth am Arm und führte sie ohne weiteres auf die Tanzfläche.

»Ich sage es ja nur ungern, meine Liebe, aber man unterhält sich nicht vor anderen Leuten in einer fremden Sprache. Das ist unhöflich«, schalt Lady Dewberry sanft.

»Ach, das tut mir leid, Tante. Ich habe es einfach vergessen. Ich wollte nicht unhöflich sein.«

»Ist schon gut, Liebes.« Die robuste Lady tätschelte begütigend Angelicas behandschuhte Hand. »Ach, da ist ja eine gute Bekannte von mir! Aber ich fürchte, es wäre nicht korrekt, dich allein hier stehen zu lassen. Die Männer umkreisen dich ja bereits wie die Wölfe! Sie warten nur auf eine Gelegenheit, sich dir zu nähern und deine Bekanntschaft zu machen.« Lady Dewberry lachte. Es freute sie, dass ihr Protegé so begehrt war.

Angelica, die sich nach ein paar Minuten der Ruhe und Einsamkeit sehnte, ergriff die Gelegenheit beim Schopfe.

»Mach dir um mich keine Sorgen, Tante. Ich wollte dich sowieso gerade fragen, ob du mich zum Nasepudern begleitest. Geh ruhig zu deiner Bekannten, während ich das erledige. Ich bin gleich wieder zurück, in Ordnung?«

Ihre Tante zögerte einen Moment, dann nickte sie. »Nun gut, meine Liebe, aber bleib nicht zu lange fort. Eine junge Dame sollte immer eine Anstandsdame dabei haben, selbst wenn sie sich die Nase pudert!«

»Keine Sorge, Tante, es dauert nicht lange.«

Kaum hatte Lady Dewberry ihr den Rücken zugekehrt, visierte Angelica eine riesige Topfpflanze an, die sie schon seit einiger Zeit mit begehrlichen Blicken gemustert hatte. Was für ein herrliches Versteck! Es war zwar reichlich albern, sich während eines Balls hinter einer Topfpflanze zu verstecken, aber das war Angelica im Moment egal.

So schnell es möglich war, ohne Aufsehen zu erregen - was nicht sehr schnell war -, drängte sie sich durch den Ballsaal auf die Palme zu.

Die Gesichter um sie herum verschwammen, Gespräche und Gedanken wurden zu einem lauten Summen, sie hatte das Gefühl, als müsste ihr gleich der Schädel platzen. Sie versuchte sich auf etwas zu konzentrieren, egal was, um die Stimmen zu verdrängen, aber sie war einfach zu müde.

Bewundernden Blicken ausweichend, näherte sie sich ihrer Zuflucht. Plötzlich sah sie einen Mann, der unweit von ihrer Pflanze stand. Sie hätte über die Tatsache gelacht, dass sie diese Pflanze bereits im Geiste als die ihrige bezeichnete, wenn sie nicht viel zu sehr damit beschäftigt gewesen wäre, den Mann anzustarren.

Er war atemberaubend, mindestens einen Kopf größer als die anderen Anwesenden. Hoch aufgerichtet und stolz stand er da, in Schlips und schwarzem Smoking. Angelica war wie gebannt. Das Stimmengewirr trat in den Hintergrund, aber sie merkte es nicht. Sie sah nur ihn.

Angelica fiel auf, dass auch andere Frauen ihm Blicke zuwarfen, die einen begehrliche, die anderen ängstliche. Sie verstand die Letzteren, denn er war eine respekteinflößende, wenn nicht gefährliche Erscheinung; sie konnte seine Ausstrahlung selbst aus dieser Entfernung spüren. Er gehörte nicht in diesen glitzernden Ballsaal, in dem sich Pärchen in zahmen Tänzen drehten und sich die Damen der feinen Gesellschaft den neuesten Klatsch erzählten.

Wer war er?

Dunkelgraue Augen, kantige, ausdrucksvolle Gesichtszüge, die Haare schwarz wie die Nacht. Ja, er wirkte gefährlich, ein düsterer Racheengel.

Wie kam sie bloß auf diesen Gedanken?

Plötzlich bemerkte sie, dass sie sich dem Objekt ihrer Begierde fast bis auf Reichweite genähert hatte. Wie hatte sie sich nur so mitreißen lassen können? Sie war froh, dass er sie noch nicht bemerkt hatte. Oder vielleicht auch nicht: Es war ein ganz neues und ausgesprochen unangenehmes Gefühl für Angelica, feststellen zu müssen, dass sie sich beinahe wünschte, er würde sie bemerken.

Sie hatte schon viele gutaussehende Männer kennen gelernt, aber noch keiner hatte sie derart aus der Fassung gebracht. Es musste ihr schlechter gehen, als sie vermutete, wenn sie sich derart von einem Mann verwirren ließ.

Angelica gab sich einen Ruck und schlüpfte rasch hinter die Pflanze. Dort holte sie erst mal tief Luft, einmal, zweimal, noch einmal. Puls- und Herzschlag normalisierten sich. Und nachdem sie etwa fünf Minuten lang die grünen Blätter angestarrt hatte, merkte sie, dass sie sich beruhigt hatte.

»Ein guter Platz. Ich hätte eigentlich selbst darauf kommen sollen.« Die tiefe, belustigte Stimme neben ihr ließ Angelica bis zu den Haarwurzeln erröten.

»Ich gestehe, ich hätte nichts dagegen, wenn Sie sich in Luft auflösen würden. Dann könnte ich einfach so tun, als hätte ich keinen Grund, mich ins nächste Mauseloch zu wünschen.«

Der Fremde lachte leise.

»Man preist Ihre Vorzüge in sämtlichen Salons, aber dass Sie auch Sinn für Humor haben, davon hat mir keiner erzählt.«

Angelica, die in ihrer Verlegenheit die Augen zugemacht hatte, riss diese jetzt auf und drehte sich zu dem Mann um, der sie in ihrem Versteck aufgestöbert hatte. Ein seltsames Gefühl überkam sie, als sie nun in seine Augen schaute. Es waren sanfte, braune Augen, und sie blickten sie mit einem humorvollen Funkeln an. Keine stahlgrauen Augen, und Angelica bemerkte mit einiger Beunruhigung, dass sie leicht enttäuscht darüber war.

»Bitte entschuldigen Sie mein schlechtes Benehmen. Ich bin Lord Nicholas Adler, zu Ihren Diensten.«

Groß, kantiges Kinn, freundliche Augen und schöne Hände: Lord Nicholas Adler war der attraktivste Mann, den sie je gesehen hatte … wäre da nicht ihr mysteriöser Fremder.

Ihr mysteriöser Fremder! Was war bloß los mit ihr? Verärgert mehr über sich selbst als über den Mann an ihrer Seite, konzentrierte sie sich nun entschlossen auf ihr Gegenüber. »Ja, Lord Adler, ich habe durchaus Sinn für Humor, aber ich gestehe, dass ich es überhaupt nicht amüsant finde, wenn man in sämtlichen Salons über mich redet. Im Übrigen verstehe ich nicht, wie Sie diese Gespräche mit meiner Person in Verbindung bringen können, wo ich Ihnen doch noch nicht einmal meinen Namen verraten habe.«

»Intelligent und humorvoll - da sollte ich besser auf der Hut sein!« Als Lord Adler Angelicas hochgezogene Braue sah, musste er lachen. »Haben Sie das vor dem Spiegel geübt? Das müssen Sie mir beibringen. Nicht viele schaffen das, so ohne eine Miene zu verziehen.«

Angelica gab sich geschlagen und lächelte. Seine gute Laune war ansteckend.

»Das ist doch gleich viel besser, nicht?«

»Ja, ist es. Ich lächle gern - wenn ich nicht muss.«

»Und bei so langweiligen Anlässen wie diesen muss man meist, obwohl man nicht will, stimmt’s?« Er wies mit einem Nicken auf das Getümmel jenseits der Topfpflanze.

Angelica merkte, dass hier offenbar ein Geistesverwandter vor ihr stand, und sie erwärmte sich zusehends für ihn. »Und was machen Sie dann hier, Lord Adler?«

»Ach, bitte nennen Sie mich Nicholas. Ich möchte schließlich Angelica zu Ihnen sagen.«

Angelica lachte laut und schlug dann die Hand vor den Mund. Sie wollte schließlich nicht entdeckt werden; nicht noch mal zumindest.

»Was tun Sie hier, Nicholas, und woher wissen Sie, wer ich bin?«

Nicholas zuckte mit den Schultern. »Sie haben mich ja nicht gefragt, was man sich in den Salons über Sie erzählt. Blauschwarzes Haar, seelenvolle dunkelblaue Augen, und im ganzen Saal gibt es nur eine einzige Frau, bei deren Anblick es mir den Atem verschlagen hat. Alle drei Charakteristika zusammengenommen, kamen nur Sie in Frage; es gab also keinerlei Zweifel bezüglich Ihrer Identität.«

»Sie sind ein Schlitzohr!«

»Wohl kaum. Leider muss ich diesen sicheren Hafen nun verlassen, sonst entdeckt uns mein Onkel noch, und dann lässt er mir keine Ruhe, bis ich Sie geheiratet habe.«

Angelica lachte. Sie hatte nichts dagegen, dass er ihre Hand nahm. »Dann gehen Sie jetzt wohl besser. Sonst stößt nämlich auch noch meine Tante dazu, und dann gibt es überhaupt keine Rettung mehr für Sie.«

Er drehte ihre Hand um und drückte einen Kuss auf ihre Handfläche. Dabei wurde er plötzlich ernst, und er wirkte wie ein ganz anderer Mensch.

»Ich glaube nicht, dass ich gerettet werden möchte. Auf bald, Angelica.«

Angelica zog ihre Hand zurück und blickte ihm nach. Mit einem Schlag war ihr Misstrauen erwacht. Er war einfach zu gut, um wahr zu sein: charmant, amüsant, ein wenig unorthodox, aber sehr sympathisch. Einfach perfekt.

Aber sie wusste selbst, wie oft der Anschein trog.

Sie holte tief Luft und schalt sich für ihr Misstrauen. Da hatte sie eben einen potenziellen Heiratskandidaten getroffen; jetzt musste sie nur noch herausfinden, ob er reich war, was seine makellose Erscheinung vermuten ließ. Dann käme er eindeutig in Frage. Gott, wie kalt und berechnend solche Überlegungen waren! Aber was blieb ihr anderes übrig? In fünf Monaten musste sie verheiratet sein.

Dieser Gedanke machte sie sogleich wieder nervös, und bevor sie wusste, wie ihr geschah, drang der Gedankenlärm der Ballgäste wieder auf sie ein. Beruhige dich, du musst dich beruhigen, ermahnte sie sich.

»Ich muss hier weg«, murmelte sie und kam hinter ihrer Pflanze hervor. Ihre Tante würde sich wahrscheinlich noch immer mit ihrer Bekannten unterhalten, aber Mikhail suchte sie vielleicht schon und machte sich Sorgen um sie.

Sie schaute sich um. Da war er wieder! Gefährlich!, schien ihr Instinkt ihr zuzurufen. Geh vorbei, schau nicht in seine Richtung.

Wieder nichts! Verdammt, wir müssen ihn finden, bevor er noch mehr Leute umbringt.

Sie blieb erschrocken stehen. Bevor er noch mehr Leute umbringt? Wer denkt denn so etwas?

Wer bist du?

Angelica zuckte zusammen. Die zornige Stimme schnitt wie ein Messer in ihre Gedanken. Ein kalter Schauder überlief sie, und langsam drehte sie sich um.

Er schaute sie direkt an, seine harten Augen wanderten langsam über ihr gerötetes Gesicht und musterten sie, Zoll für Zoll. Die Macht, die er ausstrahlte, war so stark, dass man meinte, sie mit Händen berühren zu können.

Sie stand vollkommen reglos, unfähig, auch nur einen Schritt zu machen. Das konnte nicht sein. Er konnte nicht gerade mit ihr gesprochen haben. In Gedanken. Ganz bewusst.

Einen Moment noch blickten sie sich in die Augen, dann wandte er sich ab und sah sich wieder im Raum um.

In diesem Moment fühlte sie sich einsamer als je zuvor in ihrem Leben. Als wäre er, für einen Augenblick nur, Teil ihrer Welt gewesen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich als Ganzes gefühlt, und nun … war dieses Gefühl wieder verschwunden.

Sie hatte sich das nur eingebildet. Er hatte nicht mit ihr geredet. Sie hatte sich verhört, das kam öfter vor. Es war verrückt, so etwas überhaupt für möglich zu halten. Und was den bizarren Gedanken betraf, den er geäußert hatte: Sie musste ihn missverstanden haben.

Angelica ging weiter, lächelte einer Bekannten zu. Sie musste an einen Satz von Shakespeare denken: »Zweifel sind Verräter. Sie rauben uns, was wir gewinnen können, wenn wir nur einen Versuch wagen.« Sie flüsterte die Worte vor sich hin.

Was, wenn Shakespeare nun recht hatte? Wenn es tatsächlich noch jemanden wie sie gab? Wenn sie sich nun nicht geirrt hatte?

Nein, es konnte nicht sein. Sie war einfach durcheinander, dieses Gedränge, der Lärm, das alles machte sie schwindelig und nervös. Sie musste weg.

Die Quadrille war zu Ende, und nun spielte das Orchester zu einem Walzer auf, dem ersten an diesem Abend. Rasch füllte sich die Tanzfläche mit elegant gekleideten Paaren, deren Konversation erstarb, während sie sich im Takt zur Musik drehten. Eine Frau mit leuchtend roten Haaren ging an ihr vorbei, gefolgt von einem eitlen jungen Dandy. Bevor sie es verhindern konnte, hörte sie, was sie dachten:

Folgt mir der Wicht etwa?

Himmel! Sie hat die kleinsten Füße, die ich je gesehen habe!

Angelica konnte nicht anders, sie prustete hinter vorgehaltener Hand los. Ihre Anspannung ließ nach. Gott, das war wirklich mal was Neues! Die meisten Männer, die sie kannte, schauten einer Frau auf den Busen, auf die Fußgelenke oder die Taille, aber doch nicht auf die Füße!

Man hat dich wohl sehr behütet, wenn du noch nie etwas von einem Fußfetischisten gehört hast.

Angelica stockte der Atem. Da war sie wieder, diese Stimme. Diese tiefe, heisere Stimme, die ihr solche Angst einjagte. Es gab also doch jemanden, der in Gedanken mit ihr sprechen konnte!

Ihre Finger wurden eiskalt. Panisch blickte sie sich um.

Wer bist du?, dachte sie erregt. Bitte sag mir, wer du bist!