2. Kapitel
James?«
Margaret wartete, bis ihr Mann sich im Bett zu ihr umgedreht hatte. Er sah sie forschend an, dann wanderte sein Blick zu ihrem runden Bauch.
»Was ist?«
»Nichts ist mit unserem Sohn, du kannst also aufhören, so besorgt auf meinen Bauch zu starren.«
James Murray, Herzog von Atholl und Führer des Nordclans, verdrehte die Augen.
»Wirklich, Margaret, manchmal …«
Margaret streichelte seine stoppelige Wange. »Manchmal fragst du dich, wie es kommt, dass du mich so abgöttisch liebst; ich weiß.«
James musste lachen.
»Also, was ist, Schatz?«
»Weißt du, ich mache mir Gedanken um die Zukunft unseres Sohnes und … James, wie soll er je eine Frau finden? Unsere Rasse stirbt aus, wir werden jedes Jahrhundert weniger.«
Als ihr Mann darauf nichts erwiderte, legte sich Margaret zurück und schaute zu den Stuckverzierungen an der Decke. Sie wusste selbst, dass dies Fragen waren, auf die es keine Antwort gab.
»Wo sind die Auserwählten? Wann werden sie kommen? Wir brauchen sie, James. Unser Sohn braucht sie. Ich will nicht, dass er in Schwermut versinkt, wie so viele von uns, dass er seinen Lebenswillen verliert.«
James streichelte seufzend ihren roten Lockenkopf.
»Die Auserwählten sind vielleicht nur eine Legende, Margaret. Aber mach dir keine Sorgen, wir finden schon einen Ausweg; wir haben immer einen gefunden.«
»Es kann nicht bloß eine Legende sein! Ihr Kommen wird in der Chronik prophezeit: Das einzige Menschengeschlecht, das mit Vampiren Kinder zeugen kann … wenn wir sie fänden, dann wäre das ein Sprung in unserer Evolution. Es wäre die Befreiung vom Fluch der Blutgier. James, stell dir nur vor! Stell dir vor, die Kinder unserer Kinder bräuchten kein Blut mehr zu trinken, um zu überleben … es muss einfach wahr sein. Die Chronik lügt nicht, James!«
James schlug die Bettdecke zurück und setzte sich auf; seine Füße berührten den kühlen Boden. Der Clanführer in ihm brauchte ein wenig Distanz zu seiner emotionalen Frau. Er wollte rational bleiben, wie sich das für ein Clanoberhaupt gehörte.
Margaret schaute auf den breiten Rücken des Mannes, den sie liebte. Sie sah, wie er seufzend den Kopf sinken ließ. Dann legte er sich wieder zu ihr und streichelte über ihr Haar.
»Hab keine Angst, mein Schatz, es wird alles gut werden.«
Margaret nickte, das Gesicht an seine Brust geschmiegt.
»Ich bin normalerweise nicht so kindisch«, murmelte sie. »Es ist diese Schwangerschaft, die macht mich ganz kirre.«
James lachte. »Keine Sorge. Ich weiß, wie kriegerisch du sein kannst, mein Herz. Weißt du noch, diese Schlacht damals in Frankreich, als die Soldaten wie die Hasen vor dir davonliefen?«
»Und vor dir.« Margaret schmunzelte.
Eine friedliche Stille senkte sich über die beiden, unterstrichen vom Ticken der Wanduhr.
»Aber was ist mit Sergej?«, sagte Margaret eine gute Weile später.
James’ erster Impuls war, seine Frau von sich zu schieben. Stattdessen nahm er sie noch fester in die Arme.
»Wird das jetzt die Kummerkastenstunde?«
Margaret strich geistesabwesend über seinen Arm. »Er hat im Westterritorium großes Unheil angerichtet. Zehn von uns starben und zweimal so viele Menschen. Er ist ihnen entwischt, und jetzt ist er hier. Wenn Sergej so weitermacht, werden die Menschen früher oder später auf unsere Existenz aufmerksam, und dann bricht ein neues Zeitalter der Vampirjäger an! In den Zeitungen nennen sie ihn den Bluträuber; überleg doch mal, woher wissen wir denn, ob …«
»Psst, sprich nicht weiter.« James wusste, dass sich Margarets düstere Prognosen durchaus bewahrheiten könnten. Genau das wollte Sergej. Er hatte lange gegen die strikten Vampirgesetze rebelliert, hatte jedes Clantreffen dazu benutzt, um Anhänger für seine Sache zu gewinnen. Sergej wollte die Vampire an die Macht bringen, wollte die Menschheit beherrschen. Schließlich war er verbannt worden, und nun, da er vogelfrei war, hatte er die Sache selbst in die Hand genommen. Wenn es ihm gelang, die Menschheit auf die Existenz der Vampire aufmerksam zu machen, würde es wieder Krieg geben.
Ja, Sergej war eine Bedrohung für ihre Rasse, dachte James, aber er wollte nicht, dass Margaret sich deswegen zu viele Sorgen machte; das konnte dem Kind schaden.
»Wir werden ihn kriegen, Liebste. Ich habe heute früh einen Brief von Isabelle bekommen: Sie hat Alexander um Hilfe gebeten.«
Margaret hob den Kopf und schaute James mit hochgezogenen Brauen an.
»Alexander kommt?« Sie hatte ihren alten Freund lange nicht mehr gesehen … zu lange. Seit Helenas Tod lebte er äußerst zurückgezogen, schottete sich vor Freunden und Bekannten ab. Margaret hatte alles versucht, um ihn aus seiner selbstgewählten Isolation, seinem Kokon der Verzweiflung herauszuholen - vergebens. Und nun war er auf dem Weg hierher. Alexander war der Stärkste von allen, er war der geborene Kämpfer.
»Ja, er kommt.«
Mit einem Seufzer kuschelte sich Margaret wieder an James’ Brust und schloss die Augen. Wenn Alexander kam, würde ihnen Sergej schon bald keine Probleme mehr machen.
»Das ist gut. Dann lass uns jetzt schlafen.«
Alexander blickte finster in sein Bierglas, wo der Schaum langsam in sich zusammenfiel, und fluchte leise. Er wollte kein verwässertes Bier. Er wollte Blut.
Die Reise von Moskau hierher war anstrengend gewesen, und zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte er die Rastlosigkeit der Blutgier.
»Der Mann in der Ecke wird uns bald ansprechen, Prinz.«
Alexander blickte sich in dem dreckigen kleinen Pub um. Zerkratzte, klebrige Tische, wackelige Stühle und dazu die passende Kundschaft. Was für ein Dreckloch.
Da saß er nun inmitten von Diebesgesindel - und wie es aussah, auch noch vollkommen umsonst.
Sie waren hergekommen, weil Sergejs letztes Opfer gestern früh in einer Gasse hier um die Ecke gefunden worden war. Aber in den Köpfen dieser Leute fand er keine Gedanken über Vampire; Mord und Vergewaltigung, das ja, aber keine Vampire.
Er verrückte seinen Stuhl, damit er die fette Kanalratte in der Ecke nicht mehr ansehen musste. Seit sie die zwielichtige Kneipe vor mehreren Stunden betreten hatten, spielte der Mann mit dem Gedanken, Alexander die Kehle aufzuschlitzen, und das einfach nur zum Vergnügen.
»Was entdeckt?«, fragte Alexander, ohne auf Kirils vorherige Bemerkung einzugehen.
»Nein, Prinz«, antwortete Kiril. Er ließ den riesigen Schurken keine Sekunde aus den Augen. Der Beschützerinstinkt des jungen Vampirs amüsierte Alexander: Es gab kein menschliches Wesen, das ihm gewachsen wäre, noch nicht einmal jetzt, in seinem relativ geschwächten Zustand.
Alexander trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch und gab der Kellnerin einen Wink. Die Maid zog an ihrem abgenutzten Bustier, damit sie noch mehr von ihren prächtigen Brüsten zu sehen bekamen, und kam hüftschwingend und mit einem einladenden Lächeln an ihren Tisch.
»Was darf es sein, die Herren?« Eine Hand an der Hüfte, beäugte sie erst Alexander, dann Kiril. Ihre ganze Haltung verriet, dass sie nichts dagegen hätte, sich selbst zu servieren.
Alexander verschwendete keinen Blick an sie.
»Noch eins.« Er deutete auf sein Glas. Die Kellnerin nickte enttäuscht und machte sich etwas weniger beschwingt davon.
Kiril räusperte sich und fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die Locken. Beide trugen dem Anlass entsprechend äußerst einfache Kleidung, doch sah man ihnen den Gentleman an der Nasenspitze an.
»Meinst du nicht, ich sollte mich um ihn kümmern, bevor er Unheil anrichtet?«, fragte Kiril zögernd.
Alexander schaute den jungen Mann an. Er war vor vierzig Jahren zu ihm gekommen, weil er ›seine Schuld abtragen‹ wollte, wie er sagte. Es hatte einen Moment gedauert, bis Alexander klar wurde, dass dies der Junge war, dem er zweihundert Jahre zuvor das Leben gerettet hatte. Kirils Haar war nachgedunkelt, und er trug nun einen Bart, aber seine Augen waren die gleichen wie früher.
Seitdem war ihm sein loyaler Diener nicht mehr von der Seite gewichen.
»Nicht nötig, wir gehen sowieso gleich.«
Kiril schaute sich angewidert um und schüttelte den Kopf. Alexander konnte ihn gut verstehen. Die Kundschaft des Pubs bestand bestenfalls aus Dieben, schlimmstenfalls aus Mördern. Dieser hässliche Glatzkopf mit dem dreckverkrusteten Schädel zum Beispiel. Bevor er hergekommen war, hatte er einen alten Mann zusammengeschlagen und ausgeraubt. Das Opfer hatte nur ein paar armselige Münzen bei sich gehabt, aber der Glatzkopf hatte Spaß daran gehabt, ihn blutig zu prügeln.
»Diese Ratte wird bald rüberkommen«, warnte Kiril und meinte den Hünen in der Ecke, der nun begann, mit einem Messer zu spielen. Alexander hatte ebenfalls seine Gedanken gelesen und wusste, dass dieser Mann ein ganz anderes Kaliber war.
Er nahm einen Schluck von Kirils fadem Bier, um den bitteren Geschmack hinunterzuspülen, den ihm die Gedanken dieses Mannes verursacht hatten. Er hatte sie so rasch wie möglich wieder ausgeblendet. Der Mann war ein Kinderschänder und Mörder; er spielte mit dem Gedanken, später bei einem orange gestrichenen Häuschen vorbeizuschauen, in dem er ein fünfjähriges Mädchen mit besonders süßen blonden Locken entdeckt hatte.
»Bitte sehr, der Herr.« Die Kellnerin stellte das Glas auf den wackeligen Tisch und versuchte es noch einmal mit einem einladenden Lächeln.
»Danke.« Alexander nickte und gab ihr so viel Trinkgeld, dass sie ein paar Wochen davon leben konnte.
»Oh … oh, Sir«, stammelte das Mädchen. »Ich … ich dank auch schön, danke der Herr, danke!«
Alexander sah, wie Kiril sich versteifte, und er wusste, die Unannehmlichkeiten der Nacht waren noch nicht vorüber.
»Was haben wir denn da, Molly? Hat dich der Herr beleidigt?« Der Hüne tauchte an ihrem Tisch auf und entriss der Kellnerin das Geld.
»John, bitte!«, protestierte Molly ängstlich.
Alexander verfolgte das Geschehen mit schmalen Augen. John war offenbar ein derart geschätzter Stammgast, dass er sich solche Übergriffe erlauben konnte. Alexander hielt sich zwar gern im Hintergrund, aber nun intervenierte er im Interesse der Kellnerin.
»Gib ihr das Geld zurück und verschwinde.«
John grunzte. »Bestimmt nicht. Du hast unsere Molly beleidigt, und das werd ich dir heimzahlen!«
Kiril machte Anstalten, sich zu erheben, aber Alexander hielt ihn zurück. John verließ sich offenbar ganz auf die einschüchternde Wirkung seiner Statur und seiner Muskeln. Zu schade, dass er neben all seinen anderen Eigenschaften auch noch ein ausgesprochener Dickschädel war. Alexander freute sich nicht wirklich darauf, ihm eine Lektion erteilen zu müssen.
»Ich sag es nicht noch einmal: Gib ihr das Geld zurück und verzieh dich in deine Ecke.«
John lachte höhnisch und nickte einigen seiner Kumpane zu. Diese erhoben sich grinsend und kamen mit wiegenden Schritten, die Hände in den Hosentaschen, näher.
»Bitte, John, lass sie in Ruhe!«, kreischte Molly, doch Alexander hatte sich bereits erhoben. Er schob seinen Stuhl mit einem Krachen zurück, das selbst die Schläfer im ersten Stock wecken musste.
Während er darauf wartete, dass der Angriff endlich erfolgte, fragte er sich, wieso er sich überhaupt die Mühe machte. Was hatte er mit diesem Gesindel zu schaffen? Menschen interessierten ihn wenig, ihre kleinlichen Angelegenheiten noch weniger. Er wusste, wenn er sich jetzt nicht einmischte, würde das kleine Mädchen, das John im Auge hatte, den Tag nicht überleben - und nicht nur sie, viele andere würden in Zukunft noch dran glauben müssen. Aber das war schließlich nicht sein Problem. Er war nur für den Schutz seiner eigenen Leute verantwortlich. Damit hatte er genug am Hals, er musste sich nicht auch noch um jede übervorteilte Kellnerin kümmern.
So viele Unschuldige … er hatte in seinem langen, langen Leben schon so viele Unschuldige sterben sehen: Frauen, Kinder und alte Leute, die er nicht retten konnte.
Aber das kleine Mädchen, das konnte er retten! Zum Teufel mit diesen Halunken.
Die Männer wechselten Blicke, dann musterten sie Alexander hämisch.
Das Clangesetz besagte, dass keinem Menschen ein Leid zugefügt werden durfte, außer in Notwehr. Alexander wartete also darauf, dass die anderen angriffen. Eins, zwei, drei, vier … er zählte die Sekunden. Bei zehn würden sie sich auf ihn stürzen - und er würde ihnen eine Lektion erteilen.
»Bring Molly raus.«
Kiril nickte. Er widersprach Alexander nie, doch war ihm sein Widerstreben deutlich anzusehen. Er ließ seinen Freund und Mentor in dieser kritischen Situation nur ungern allein.
»Na, was haben wir denn da?«
Der hässliche Glatzkopf wagte sich als Erster heran. Sie waren zu dritt, geradezu lächerlich wenige, wie Alexander fand: der Hässliche mit der Glatze, ein Dünner mit einer gebrochenen Nase und der Riese namens John. Er hätte gern etwas mehr zu tun gehabt - dieser erbärmliche Haufen würde ihn nicht mal ins Schwitzen bringen.
»Dann sei mal ein guter Junge und leer deine Taschen.« Der Glatzkopf zog ein rostiges Messer aus dem Gürtel und trat noch einen Schritt näher. Alexander blickte ihm stirnrunzelnd entgegen, rührte sich ansonsten aber nicht. Ihre Erregung, ihr Gestank stießen ihn ab, aber der Geruch ihres Blutes machte ihn hungrig. Auf einmal verlor er jede Freude an diesem ungleichen Kampf. Am besten brachte er die Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich.
»Na los, dann mach schon«, sagte er also schlicht, den Blick finster auf das Messer seines Gegenübers gerichtet. Eine derartige Respektlosigkeit konnte sich der Glatzkopf natürlich nicht gefallen lassen. Er sprang los. Während der Rest der Kundschaft die Beine in die Hand nahm und zum Ausgang drängte, wich Alexander dem Mann mühelos aus. Ein Hieb, und der Glatzkopf flog quer durch den Raum und landete krachend auf ein paar Tischen.
Jetzt versuchte der Krummnasige sein Glück. Mit erhobener Klinge kam er auf Alexander zu. Dieser packte ihn blitzschnell beim Handgelenk. Ein Knirschen von Knochen, und der Mann ließ heulend das Messer fallen. Dann wälzte er sich schreiend am Boden.
Alexander richtete sein Augenmerk nun auf den Dritten im Bunde, dem es mittlerweile zu heiß geworden war. Alexander erwischte ihn kurz vor der Tür, als er gerade abhauen wollte, und packte ihn an seinem schmutzigen Kragen. Der letzte Kunde drückte sich ängstlich an ihnen vorbei. Der Hüne schlug mit seinem Messer um sich, streifte Alexanders Brust und schlitzte sein Hemd auf. Alexander warf ihn knurrend zu Boden und trat so kräftig auf sein Bein, dass der Knochen brach.
»Jetzt können dir selbst kleine Mädchen davonlaufen«, zischte er. Er tastete nach der Schnittwunde, die sich bereits wieder schloss. Aber das Hemd war ruiniert. Nun, das hätte er ohnehin nicht mehr anziehen wollen.
John regte sich nicht, er war ohnmächtig geworden. Alexander verspürte keine Befriedigung über seine brutale Tat, im Gegenteil, ihm war übel.
Er wandte sich ab und verließ das Pub. Kiril lehnte draußen an der Wand, Arme und Fußgelenke verschränkt.
»Hast du dich um die Frau gekümmert?«
Kiril nickte. »Sie braucht nicht mehr zu arbeiten, wenn sie nicht will.«
»Gut.« Alexander wandte sich ohne ein weiteres Wort zum Gehen.
Ein Mensch hätte für den Weg bis zu dem Anwesen in der Park Lane mindestens eine halbe Stunde gebraucht. Die Vampire schafften es in wenigen Minuten.
»Teile dem Oberhaupt des Nordclans unsere Ankunft mit«, befahl er Kiril an der Schwelle zu seinem Studierzimmer. Dann trat er ein und zog die Tür hinter sich zu. Der Raum war düster, nur eine einzelne Kerze brannte auf einem Tisch in der Mitte des Zimmers. Auf den schweren grünen Samtvorhängen hatte sich in dunklen Striemen Staub angesammelt, und die burgunderrote Tapete begann an mehreren Stellen abzublättern.
Er war seit über zehn Jahren nicht mehr hier gewesen.
»Prinz.« Kiril trat ein.
»Ja?«
»Eine Nachricht vom Herzog.«
Alexander nahm den Brief entgegen. »Danke, Kiril, du kannst jetzt zu Bett gehen.«
Kiril nickte und ging, während Alexander die Nachricht las.
Wie es schien, war die Nacht noch längst nicht vorbei.