21

Neunzehn Uhr. Diane hatte plötzlich großen Hunger, und sie lief zu der kleinen Kantine, wo abends für die Handvoll Bedienstete, die in der Klinik blieben, ein einheitliches Menü bereitgestellt wurde. Im Vorübergehen grüßte sie zwei Wachmänner, die an einem Tisch in der Nähe des Eingangs speisten, und nahm ein Tablett.

Sie verzog das Gesicht, als sie einen Blick durch die Glasscheiben der Theke warf: »Hähnchen mit Pommes«. Sie würde sich etwas überlegen müssen, wenn sie sich ausgewogen ernähren und am Ende ihres Aufenthalts nicht zehn Kilo mehr auf die Waage bringen wollte. Als Nachspeise wählte sie einen Obstsalat. Sie setzte sich an einen Tisch am Fenster, und beim Essen betrachtete sie die nächtliche Landschaft. Kleine Lampen, die rings um das Gebäude verteilt waren, beleuchteten den Schnee dicht über dem Boden unter den Tannen. Sie fühlte sich in eine Märchenwelt versetzt.

Als die beiden Wachleute gegangen waren, war sie allein in dem stillen und menschenleeren Saal – selbst die Angestellte hinter der Theke war verschwunden –, und eine Welle der Traurigkeit und des Zweifels brach über sie herein. Dabei war sie in ihrem Studentenzimmer mehr als einmal allein gewesen, hatte gelernt und sich auf Prüfungen vorbereitet, während die anderen losgezogen waren, um sich in den Genfer Kneipen und Diskotheken zu amüsieren. Aber nie hatte sie sich so fremd gefühlt. So einsam. So verloren. So ging es ihr hier jeden Abend, wenn es dunkel wurde.

Sie schüttelte sich und ärgerte sich über sich selbst. Was war aus ihrem kühlen Kopf, ihrer Menschenkenntnis, ihrer psychologischen Intuition geworden? Könnte sie nicht mit ihrer Selbstbeobachtung etwas weiterkommen, statt sich ihren Gefühlen zu überlassen? War sie hier ganz einfach nicht hinreichend angepasst? Sie kannte die Grundgleichung: mangelnde Anpassung = innerer Konflikt = Angst. Dann fegte sie dieses Argument kurz entschlossen vom Tisch. Sie wusste, was die Ursache ihres tiefen Unbehagens war. Das hatte nichts mit ihr zu tun. Es hing mit dem zusammen, was hier vor sich ging. Sie würde so lange nicht zur Ruhe kommen, bis sie mehr herausgefunden hatte. Sie stand auf und stellte ihr Tablett auf das kleine Laufband. Die Gänge waren genauso menschenleer wie die Kantine selbst.

Sie bog um die Ecke des Gangs, der zu ihrem Büro führte, und blieb abrupt stehen. Sie hatte das Gefühl, dass sie eine Kühlflüssigkeit in den Magen geschüttet bekam. Xavier war auf dem Flur. Er schloss gerade langsam die Tür ihres Büros … Er warf einen raschen Blick nach rechts und nach links, während sie flink hinter die Mauer zurückwich. Zu ihrer großen Erleichterung hörte sie, wie er in die andere Richtung wegging.

 

Hörkassetten …

Dieses Detail zog als Nächstes seine Aufmerksamkeit auf sich. Unter den Papieren, die verstreut auf dem Schreibtisch des Bürgermeisters lagen, befanden sich Hörkassetten, wie sie heutzutage niemand mehr verwendete, die Chaperon jedoch allem Anschein nach aufbewahrt hatte. Er nahm sie in die Hand und betrachtete die Etiketten: Vogelgesang 1, Vogelgesang 2, Vogelgesang 3 … Servaz legte sie wieder hin. In einer Ecke bemerkte er auch eine Mini-Stereoanlage mit einem Kassettenfach.

Bergsteigen, Vögel … Dieser Mann hatte wirklich eine Passion für die Natur.

Und für altes Zeug: alte Fotos, alte Kassetten … Alter Trödel in einem alten Haus – was könnte normaler sein?

Und doch spürte Servaz, wie ihn in einem Winkel seines Gehirns ein Signal alarmierte. Es hatte etwas mit dem zu tun, was sich in diesem Zimmer befand. Genauer gesagt mit diesem Vogelgesang. Was hatte das zu bedeuten? Im Allgemeinen neigte er dazu, seinem Instinkt zu vertrauen, denn der warnte ihn nur selten grundlos.

Er dachte intensiv nach, aber ihm fiel nichts ein. Ziegler rief gerade die Gendarmerie an, damit diese das Haus versiegelte und ein Team von der Spurensicherung vorbeischickte.

»Wir nähern uns der Wahrheit«, sagte sie, als sie aufgelegt hatte.

»Ja«, bestätigte er mit ernster Stimme. »Aber wir sind ganz offensichtlich nicht die Einzigen.«

Die Angst schnürte ihm ein weiteres Mal die Kehle zu. Er bezweifelte jetzt nicht mehr, dass den Kern dieses Falls das Quartett Grimm-Perrault-Chaperon-Mourrenx und ihre vergangenen »Heldentaten« bildeten. Aber der oder die Mörder hatten mindestens zwei Längen Vorsprung. Im Unterschied zu Ziegler und ihm selbst wussten sie alles, was es zu wissen gab – und sie wussten es seit langem … Und was hatten Lombards Pferd und Hirtmann darin zu suchen? Ein weiteres Mal stellte Servaz fest, dass er einen Teil des Problems übersah.

Sie stiegen wieder hinunter und betraten die beleuchtete Außentreppe. Die Nacht war kalt und feucht. Die Bäume wühlten Schatten auf und malten den Garten in Schwarz, und irgendwo in dieser Finsternis quietschte ein Fensterladen. Noch immer auf der Treppe stehend, fragte er sich, wieso ihn der Vogelgesang so beschäftigte. Er nahm die Kassetten aus seiner Tasche und hielt sie Ziegler hin.

»Spiel die jemandem vor. Nicht nur ein paar Sekunden, sondern ganz.«

Sie warf ihm einen überraschten Blick zu.

»Ich will wissen, ob es wirklich Vogelstimmen sind, die man darauf hört. Oder vielleicht etwas anderes …«

Das Handy vibrierte in seiner Tasche. Er nahm es heraus und las auf dem Display den Namen des Anrufers: Antoine Canter, sein Chef.

»Entschuldige mich«, sagte er, die Stufen hinuntergehend. »Servaz«, antwortete er und stapfte durch den Schnee im Garten.

»Martin? Hier Antoine. Vilmer will dich sehen.«

Oberkommissar Vilmer, Chef der Kripo Toulouse. Ein Mann, den Servaz nicht mochte, aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. In Vilmers Augen war Servaz der typische Polizist, der zum alten Eisen zählte: ein innovationsfeindlicher Individualist, der sich auf seinen Instinkt verließ und es mit den Weisungen des Ministeriums nicht so genau nahm. Vilmer träumte von glatten, gleichförmigen, gefügigen und austauschbaren Beamten.

»Ich komme morgen vorbei«, sagte er mit einem Blick auf Ziegler, die ihn vor dem Portal erwartete.

»Nein. Vilmer will dich heute Abend in seinem Büro sehen. Er erwartet dich. Keine faulen Tricks, Martin. Du hast zwei Stunden, um anzutanzen.«

 

Servaz verließ Saint-Martin kurz nach zwanzig Uhr. Eine halbe Stunde später fuhr er von der D 825 ab und auf die A 64. Die Müdigkeit überfiel ihn, als er über die Autobahn raste, geblendet von den Scheinwerfern der entgegenkommenden Autos. Er hielt auf einem Rastplatz, ging in den Shop und holte sich am Getränkeautomaten einen Kaffee. Anschließend nahm er eine Dose Red Bull aus einem großen Kühlschrank, bezahlte sie an der Kasse, machte sie auf und trank sie leer, während er sich die Titelseiten der Illustrierten und Zeitungen auf den Verkaufsständern ansah, dann ging er zurück ins Auto.

Als er Toulouse erreichte, fiel Sprühregen. Er grüßte den Wachtposten, stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz ab und eilte zu den Aufzügen. Es war 21:30 Uhr, als er den Knopf des obersten Stockwerks drückte. Für gewöhnlich mied Servaz diese Etage. Die dortigen Gänge erinnerten ihn ein wenig an die Zeit, die er zu Beginn seiner Laufbahn bei der Generaldirektion der Polizei verbracht hatte – wo vor allem Bürohengste gearbeitet hatten, die sich mehr für den Zeilenabstand in ihren Berichten als für Ermittlungsarbeit interessierten und jede Anfrage von einfachen Beamten so behandelten, als wäre es ein neuer Stamm des Ebola-Virus. Um diese Uhrzeit waren die meisten Mitarbeiter zu Hause, und die Gänge waren menschenleer. Er verglich diese mit Filz ausgelegten Flure mit der chaotischen Atmosphäre permanenter Anspannung, die auf dem Stockwerk herrschte, wo die Mordkommission untergebracht war. Natürlich war Servaz in der Generaldirektion auch schon vielen kompetenten und tüchtigen Menschen begegnet. Die aber drängten nur selten in den Vordergrund. Und noch seltener trugen sie modische Krawatten. Grinsend erinnerte er sich an Espérandieus Theorie: Sein Stellvertreter war der Ansicht, dass man ab einer bestimmten Anzahl von Krawatten-Anzug-Trägern pro Quadratmeter die von ihm so genannte »Kompetenzmangelzone«, »Absurditätszone« oder auch »Ego-Zone« betrat.

Er sah auf seine Uhr und beschloss, Vilmer weitere fünf Minuten warten zu lassen. Nicht alle Tage hatte man die Gelegenheit, einen Typen auf die Folter zu spannen, der seine Zeit mit Nabelschau verbrachte. Er betrat den Raum, in dem sich die Getränkeautomaten befanden, und steckte eine Münze in die Kaffeemaschine. Drei Personen – zwei Männer und eine Frau – standen plaudernd an einem Tisch. Als er hereinkam, sprachen sie augenblicklich einige Dezibel leiser; jemand machte einen Scherz. Sinn für Humor, sagte sich Servaz. Seine Ex-Frau hatte ihm eines Tages gesagt, der fehle ihm. Vielleicht stimmte das. Doch bewies das auch mangelnde Intelligenz? Nicht nach den vielen Dummköpfen zu urteilen, die in diesem Feld glänzten. Aber es verriet mit Sicherheit eine psychologische Schwäche. Er würde Propp danach fragen. Servaz begann, den Psychologen sympathisch zu finden, trotz seiner schulmeisterhaften Art. Nachdem er seinen x-ten Kaffee getrunken hatte, verließ er den Raum, wo die Unterhaltung fortgesetzt wurde. Hinter ihm brach die Frau in lautes Gelächter aus. Ein künstliches Kichern, ohne Anmut, das ihn nervte.

Vilmers Büro war nur ein paar Meter entfernt. Seine Sekretärin empfing Servaz mit einem freundlichen Lächeln.

»Kommen Sie rein. Er erwartet Sie.«

Servaz sagte sich, dass das nichts Gutes verhieß, und fragte sich gleichzeitig, ob Vilmers Sekretärin wohl irgendwann ihre Überstunden abfeierte. Vilmer war ein schlanker Typ mit sorgfältig gestutztem Spitzbart, einem tadellosen Haarschnitt und einem gespielten Lächeln, das wie ein hartnäckiger Herpes auf seinen Lippen klebte. Er trug immer das Nonplusultra an Hemden, Krawatten, Anzügen und Schuhen zur Schau, mit einer Schwäche für Schokoladen-, Kastanien- und Violetttöne. Servaz sah in ihm den lebenden Beweis dafür, dass es ein Dummkopf weit bringen konnte, wenn er andere Dummköpfe über sich hatte.

»Nehmen Sie Platz«, sagte er.

Servaz ließ sich in den schwarzen Ledersessel fallen. Vilmer wirkte ungehalten. Er stützte sein Kinn auf die gefalteten Hände und betrachtete ihn einen Moment lang schweigend mit einem Blick, der sowohl tiefgründig als auch tadelnd sein sollte. Mit dieser schauspielerischen Leistung hätte er in Hollywood keinen Oscar ergattert, und Servaz erwiderte den Blick mit einem leisen Lächeln, was den Oberkommissar in Rage brachte.

»Finden Sie die Situation witzig?«

Wie alle Mitarbeiter der Kriminalpolizeidirektion wusste auch Servaz, dass Vilmer sein ganzes Berufsleben hinter dem Schreibtisch verbracht hatte. Er hatte keinen Schimmer von der praktischen Polizeiarbeit »auf der Straße«, einmal abgesehen von einem kurzen Intermezzo im Sittendezernat zu Beginn seiner Laufbahn. Man munkelte, dass er damals die Zielscheibe des Spotts seiner Kollegen war.

»Nein, Monsieur.«

»Drei Morde innerhalb von acht Tagen!«

»Zwei«, korrigierte ihn Servaz. »Zwei und ein totes Pferd.«

»Wie weit sind Sie mit Ihren Ermittlungen?«

»Wir ermitteln jetzt seit acht Tagen. Und wir hätten den Mörder heute Morgen beinahe geschnappt, aber er konnte entwischen.«

»Sie haben ihn entwischen lassen«, stellte der Direktor klar. »Der Richter, Monsieur Confiant, hat sich über Sie beschwert«, fügte er sogleich hinzu.

Servaz fuhr zusammen.

»Warum das?«

»Er hat sich bei mir und im Justizministerium beschwert. Dort hat man umgehend den zuständigen Referatsleiter im Innenministerium unterrichtet. Und der hat dann mich angerufen.«

Er machte eine kurze Pause.

»Sie bringen mich in eine sehr unangenehme Lage, Commandant.«

Servaz war verdutzt. Confiant hatte einfach an d’Humières vorbei gehandelt! Der kleine Richter hatte keine Zeit verloren!

»Entziehen Sie mir den Fall?«

»Nein, natürlich nicht«, antwortete Vilmer, als wäre ihm das nicht einmal in den Sinn gekommen. »Außerdem hat sich Catherine d’Humières mit einer gewissen Beredsamkeit für Sie eingesetzt. Sie findet, dass Capitaine Ziegler und Sie gute Arbeit machen.«

Vilmer zog die Nase hoch, als würde es ihn eine gewisse Überwindung kosten, solche Dummheiten zu wiederholen.

»Aber ich warne Sie: Dieser Fall wird von ganz oben sehr aufmerksam verfolgt. Wir sind im Auge des Zyklons. Im Moment ist alles ruhig. Aber wenn Sie scheitern, wird das nicht ohne Folgen bleiben.«

Servaz musste lächeln. Dem Anschein zum Trotz machte sich Vilmer in seinem schicken kleinen Anzug ins Hemd. Denn er wusste ganz genau, dass die »Folgen« nicht nur die Ermittler treffen würden.

»Das ist eine sehr heikle Geschichte, vergessen Sie das nicht.«

Wegen eines Pferdes, dachte Servaz. Die interessieren sich für das Pferd. Er unterdrückte seine Wut.

»Ist das alles?«, fragte er.

»Nein. Dieser Typ, das Opfer, Perrault, hat Sie doch telefonisch um Hilfe gebeten?«

»Ja.«

»Warum Sie?«

»Keine Ahnung.«

»Haben Sie nicht versucht, ihn davon abzubringen, auf den Berg zu fahren?«

»Dazu hatte ich keine Zeit.«

»Was ist mit dieser Geschichte von den Selbstmördern? Besteht da überhaupt ein Zusammenhang?«

»Im Moment wissen wir das noch nicht. Aber Hirtmann hat so etwas angedeutet, als wir ihn aufsuchten.«

»Inwiefern?«

»Nun, er hat mir … geraten, mich näher mit den Selbstmördern zu befassen.«

Der Kommissar sah ihn mit unverhohlener Verblüffung an.

»Wollen Sie damit sagen, dass Ihnen dieser Hirtmann sagt, wie Sie die Ermittlungen führen sollen?«

Servaz runzelte die Stirn.

»Das wäre etwas allzu vereinfachend dargestellt.«

»Allzu vereinfachend?« – Vilmer sprach lauter. – »Ich habe den Eindruck, dass Sie sich bei diesen Ermittlungen verzetteln, Commandant! Sie haben doch die DNA von Hirtmann, oder? Was brauchen Sie mehr? Da er das Institut nicht ohne fremde Hilfe verlassen konnte, muss er dort einen Komplizen haben. Finden Sie ihn!«

Wunderbar, wie einfach alles zu sein scheint, wenn man es aus der Distanz betrachtet, die Details weglässt und keine Ahnung von nichts hat, sagte sich Servaz. Aber im Grunde hatte Vilmer recht.

»Was für eine Spur haben Sie?«

»Vor einigen Jahren wurde wegen Erpressung … wegen sexueller Erpressung Anzeige gegen Grimm und Perrault erstattet.«

»Und?«

»Das war bestimmt nicht ihr erster Versuch. Es ist sogar möglich, dass sie bei anderen Frauen weiter gegangen sind. Oder bei Jugendlichen … Das könnte das Motiv sein, nach dem wir suchen.«

Servaz wusste, dass er sich auf unsicheres Terrain begab, denn er hatte kaum etwas Konkretes in der Hand – aber es war ein bisschen zu spät, um den Rückwärtsgang einzulegen.

»Rache?«

»Etwas in der Art.«

Ein Poster hinter Vilmer zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Ein Pissoir. Servaz erkannte es wieder: Marcel Duchamp. Die Dada-Ausstellung im Centre Georges-Pompidou 2006. Ein regelrechter Blickfang. Wie um den Besuchern zu zeigen, dass der Mann, der hier arbeitete, gebildet, kunstsinnig und humorvoll war.

Der Kommissar dachte kurz nach.

»Und wo ist die Verbindung zu Lombards Pferd?«

Servaz zögerte.

»Nun, wenn wir von der Hypothese eines Racheaktes ausgehen, dann steht zu vermuten, dass diese Leute – die Opfer – etwas sehr Übles auf dem Kerbholz haben«, sagte er in den Worten, die Alexandra benutzt hatte. »Und vor allem, dass sie es gemeinsam getan haben. Und bei Lombard haben sich der oder die Mörder sein Pferd vorgeknöpft, weil sie ihn nicht direkt treffen konnten.«

Vilmer war plötzlich erbleicht.

»Sagen Sie mir nicht … Sagen Sie mir nicht … dass Sie Eric Lombard verdächtigen, ebenfalls …«

»Minderjährige sexuell missbraucht zu haben«, half ihm Servaz auf die Sprünge, wobei er sich durchaus bewusst war, dass er etwas zu weit ging – aber die Angst, die er einen Moment lang in den Augen seines Chefs las, wirkte auf ihn wie ein Aphrodisiakum. »Nein, im Augenblick nicht. Aber es gibt zwangsläufig einen Zusammenhang zwischen ihm und den anderen, eine Verbindung, die ihn bei den Opfern einreihte.«

Eines war ihm immerhin gelungen: Er hatte Vilmer das Maul gestopft.

 

Als Servaz aus dem Gebäude der Kripo herauskam, schlenderte er Richtung Altstadt. Er hatte keine Lust, nach Hause zu gehen. Nicht sofort. Er wollte die Anspannung und die Wut loswerden, die Typen wie Vilmer in ihm hervorriefen. Es regnete leicht, und er hatte keinen Schirm, aber er begrüßte diesen Regen wie einen Segen. Es schien ihm, als würde er den Unrat von ihm abwaschen, in dem er seit mehreren Tagen badete.

Unwillkürlich trugen ihn seine Schritte zur Rue du Taur, und er fand sich vor der hellerleuchteten, gläsernen Eingangstür von Charlène’s wieder, der Kunstgalerie, die die Frau seines Stellvertreters leitete. Die schlauchförmige Galerie erstreckte sich über zwei Stockwerke, deren moderne weiße Inneneinrichtung durch die großen Glasfenster sichtbar war und einen Kontrast bildete zu den alten rosa Ziegelfassaden der Nachbarhäuser. Im Innern war ziemlich viel los. Eine Vernissage. Er wollte sich gerade verdrücken, als er im Aufsehen Charlène Espérandieu sah, die ihm von der ersten Etage aus zuwinkte. Widerwillig betrat er den langgestreckten Raum – triefende Kleidung und nasse Haare, durchgeweichte Schuhe, die quietschten und feuchte Spuren auf dem hellen Holzboden zurückließen –, trotzdem zog er weniger Blicke auf sich, als er befürchtet hatte. All diese Gesichter kultivierten Extravaganz, Modernität und geistige Aufgeschlossenheit, zumindest glaubten sie es. An der Oberfläche waren sie offen und modern, aber wie sah es in der Tiefe aus? Ein Konformismus jagt den nächsten, dachte er. Er steuerte auf die eiserne Wendeltreppe im hinteren Teil des Raumes zu, die Augen taten ihm weh von dem allzu hellen Licht der Schienenleuchten und dem grellen Weiß der Räume. Er wollte gerade einen Fuß auf die unterste Stufe setzen, als ihm ein riesiges Gemälde auffiel, das an der hinteren Wand hing.

Eigentlich war das gar kein Gemälde, sondern eine vier Meter hohe Fotografie.

Eine riesige Kreuzigung in kränklichen bläulichen Tönen. Hinter dem Kreuz erahnte man einen Gewitterhimmel, wo Wolken brodelten, die von aschgrauen Blitzen zerschnitten wurden. Am Kreuz hing statt Christus eine schwangere Frau. Den Kopf zur Seite geneigt, vergoss sie blutige Tränen. Tiefrotes Blut tropfte von der Dornenkrone auf ihre bläuliche Stirn. Sie war nicht nur gekreuzigt worden, man hatte ihr auch die Brüste ausgerissen, an ihrer Stelle klafften zwei riesige Wunden in dem gleichen kräftigen Rot, und ihre Augen waren von einem durchscheinenden, milchigen Weiß, als wäre ihre Hornhaut getrübt.

Servaz wich unwillkürlich zurück. Dieses Bild war von einem Realismus und einer rohen Brutalität, die unerträglich waren. Welcher Verrückte war auf diese Idee gekommen?

Woher kam diese Faszination an der Gewalt, fragte er sich. Diese Lawine schockierender Bilder im Fernsehen, im Kino und in Büchern. War das ein Versuch, die Angst zu bannen? Die meisten dieser Künstler kannten Gewalttätigkeit nur indirekt, abstrakt. Anders gesagt, sie kannten sie gar nicht. Würden Polizisten, die an Tatorten mit unerträglichen Bildern von entstellten Toten konfrontiert waren, Feuerwehrleute, die jede Woche Unfallopfer aus ihren Autos herausschnitten, Staatsanwälte, die Tag für Tag Kenntnis von grauenhaften Verbrechen erlangten, anfangen zu malen, zu bildhauern oder zu schreiben, wer weiß, was sie darstellen würden, was dabei herauskäme? Das Gleiche oder etwas ganz anderes?

Die Eisenstufen vibrierten unter seinen Schritten, als er nach oben stieg. Charlène plauderte mit einem eleganten Mann, der einen sehr teuren Anzug trug und seidiges weißes Haar hatte. Sie hielt inne und bedeutete ihm, näher zu treten, dann stellte sie die beiden Männer einander vor. Servaz glaubte zu verstehen, dass der Mann, ein Bankier, einer der besten Kunden der Galerie war.

»Nun, ich werde wieder hinuntergehen, um diese sehr schöne Ausstellung zu bewundern«, sagte er. »Noch einmal meine Komplimente für Ihre vollkommene Geschmackssicherheit, meine Liebe. Ich weiß nicht, wie Sie es anstellen, um jedes Mal so talentierte Künstler aufzutreiben.«

Der Mann entfernte sich. Servaz fragte sich, ob er ihn auch nur eines Blickes gewürdigt hatte, er schien seinen Zustand nicht einmal bemerkt zu haben. Für solche Leute war Servaz nur Luft. Charlène küsste Servaz auf die Wange, und er roch Himbeergeist und Wodka in ihrem Atem. Sie strahlte in ihrem roten Schwangerschaftskleid unter einer kurzen weißen Vinyljacke, und wie ihre Halskette funkelten auch ihre Augen etwas zu sehr.

»Man könnte meinen, es regnet«, sagte sie, während sie ihn liebevoll anlächelte. Sie zeigte auf die Galerie. »Du kommst nur selten. Es freut mich sehr, dass du da bist, Martin. Gefällt es dir?«

»Es ist ein wenig … verunsichernd«, antwortete er.

Sie lachte.

»Der Künstler nennt sich Mentopagus. Das Thema der Ausstellung ist Grausamkeit.«

»Dann ist es jedenfalls absolut gelungen«, scherzte er.

»Du siehst ziemlich mitgenommen aus, Martin.«

»Tut mir leid, ich hätte in diesem Zustand nicht reinkommen sollen.«

Sie wischte seine Entschuldigung mit einer Geste vom Tisch.

»Das beste Mittel, um hier nicht aufzufallen, ist ein drittes Auge mitten auf der Stirn. All diese Leute glauben, dass sie an der Spitze der Avantgarde, der Modernität, des Nonkonformismus stehen – dass sie innerlich schön sind – und besser sind als die anderen …«

Die Bitterkeit, die in ihrer Stimme durchklang, überraschte ihn, und er betrachtete ihr Glas, das mit Eiswürfeln gefüllt war. Vielleicht war es der Alkohol.

»Das Klischee des egozentrischen Künstlers«, sagte er.

»Wenn Klischees zu Klischees werden, dann doch gerade deshalb, weil sie wahr sind«, erwiderte sie. »Tatsächlich glaube ich, dass ich nur zwei Menschen kenne, die wahre innere Schönheit besitzen«, fuhr sie fort, als würde sie mit sich selbst sprechen. »Vincent und du. Zwei Polizisten … Allerdings ist sie bei dir ziemlich gut versteckt …«

Dieses Geständnis überraschte ihn. Er hätte es nicht erwartet.

»Ich hasse Künstler«, entfuhr es ihr plötzlich mit bebender Stimme.

Die folgende Geste überraschte ihn noch mehr. Sie neigte sich vor und drückte ihm einen weiteren Kuss auf die Wange, aber diesmal auf den Mundwinkel. Anschließend strich sie mit den Fingerspitzen flüchtig über Servaz’ Lippen – eine doppeldeutige Geste von erstaunlicher Zurückhaltung und von verblüffender Intimität –, dann ließ sie ihn stehen. Er hörte ihre Absätze auf den Metallstufen klackern, als sie hinunterstieg.

Servaz’ Herz schlug im gleichen Rhythmus. Ihm drehte sich der Kopf. Ein Teil des Bodens war mit einem Haufen Bauschutt, Gips und Pflastersteinen bedeckt – und er fragte sich, ob es sich dabei um ein Kunstwerk oder um eine Baustelle handelte. Ihm gegenüber, an der weißen Wand, hing ein quadratisches Gemälde, auf dem es von kleinen Menschen wimmelte, die eine dichtgedrängte und bunte Menge bildeten. Es waren Hunderte – vielleicht sogar Tausende. Anscheinend hatte die Ausstellung Grausamkeit den ersten Stock verschont.

»Meisterlich, nicht wahr?«, sagte eine Frau neben ihm. »Dieser Anklang an Pop-Art und Comic. Man könnte meinen, Lichtenstein im Kleinen.«

Er wäre beinahe zusammengeschreckt. In seine Gedanken versunken, hatte er sie nicht kommen hören. Sie sprach, als machte sie Stimmübungen – ihre Stimme hob und senkte sich.

»Quos vult perdere Jupiter prius dementat«, sagte er.

Die Frau sah ihn verständnislos an.

»Das ist Lateinisch und heißt: ›Wen Jupiter zugrunde richten will, dem raubt er zuerst den Verstand.‹«

Er verzog sich Richtung Treppe.

 

Zu Hause legte er Das Lied von der Erde in der modernen Fassung von Eiji Oué mit Michelle De Young und Jon Villars auf und sprang direkt zu dem erschütternden letzten Satz, Der Abschied. Er war nicht müde und suchte sich in seiner Bibliothek ein Buch. Die Aithiopika von Heliodor.

»Das Kind ist hier bei mir. Es ist meine Tochter; sie trägt meinen Namen; mein ganzes Leben ruht auf ihr. In jeder Hinsicht vollkommen, stellt sie mich über das Maß meiner Wünsche zufrieden. Wie schnell hat sie sich zu voller Blüte entfaltet, wie ein kraftvoller Schössling von schönem Wuchs! An Schönheit übertrifft sie alle anderen, in einem solchen Maße, dass niemand, sei er Grieche oder Ausländer, umhinkann, sie zu betrachten.«

Vor seinem Bücherregal in einem Sessel sitzend, hielt er in seiner Lektüre inne und dachte an Gaspard Ferrand, den gebrochenen Vater. Anschließend drehten sich seine Gedanken um die Selbstmörder und um Alice, so wie ein Schwarm Krähen über einem Feld kreist. Wie die junge Chariklea bei Heliodor zog Alice sämtliche Blicke auf sich. Er hatte die Zeugenaussagen der Nachbarn noch einmal durchgelesen: Alice Ferrand war das perfekte Kind, hübsch, frühreif, mit hervorragenden schulischen Leistungen – auch im Sport – und immer hilfsbereit. Aber in der letzten Zeit hatte sie sich verändert, nach dem, was ihr Vater sagte. Was hatte sie erlebt? Dann dachte er an das Quartett Grimm-Perrault-Chaperon-Mourrenx. Waren Alice und die anderen Selbstmörder diesem Quartett über den Weg gelaufen? Bei welcher Gelegenheit? In der Ferienkolonie? Aber zwei der sieben Selbstmörder waren nie dort gewesen.

Wieder fröstelte es ihn. Es schien ihm, als wäre die Temperatur in der Wohnung um mehrere Grad gefallen. Er wollte in die Küche gehen, um dort eine kleine Flasche Mineralwasser zu holen, aber plötzlich begann sich das Wohnzimmer zu drehen. Die Bücher auf den Regalen begannen zu wogen, während ihm das Licht der Lampe blendend hell und giftig vorkam. Servaz ließ sich wieder in seinen Sessel fallen.

Er schloss die Augen. Als er sie wieder aufmachte, war das Schwindelgefühl vorbei. Was war nur mit ihm los, verflixt?

Er stand auf und ging ins Bad. Er nahm eine von Xaviers Tabletten heraus. Der Hals brannte ihm, das kühle Wasser verschaffte ihm für eine halbe Sekunde Linderung, dann kehrte der brennende Schmerz zurück. Er massierte sich die Augen und ging wieder ins Wohnzimmer. Er trat hinaus auf den Balkon, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Er warf einen Blick auf die Lichter der Stadt, und er überlegte, dass die modernen Städte mit ihrer unwirklichen Beleuchtung und ihrem ständigen Lärm ihren Bewohnern den Schlaf raubten und sie bei Tagesanbruch in schläfrige Gespenster verwandelten.

Dann musste er wieder an Alice denken. Er sah das Zimmer unter dem Dach vor sich, das orangefarbene und gelbe Mobiliar, die violetten Wände und den weißen Teppichboden. Die Fotos und die Postkarten, die CDs und die Schulsachen, die Kleidung und die Bücher. Ein Tagebuch … Es fehlte ein Tagebuch … Servaz war immer fester davon überzeugt, dass eine Heranwachsende wie Alice ein Tagebuch geführt haben musste.

Irgendwo musste einfach ein Tagebuch sein …

Er dachte wieder an Gaspard Ferrand, den Philologen, Weltenbummler, Yogi … Unwillkürlich verglich er ihn mit seinem eigenen Vater. Er war ebenfalls Philologe: Latein- und Griechischlehrer. Ein brillanter, verschlossener, exzentrischer Mensch – der manchmal auch cholerisch war. Genus irritabile vatum: »das reizbare Geschlecht der Dichter«.

Servaz wusste ganz genau, dass auf diesen Gedanken ein weiterer folgen musste, aber es war bereits zu spät, um den Strom einzudämmen, und er ließ sich von den Erinnerungen überfluten, die ihn mit alptraumhafter Genauigkeit in Beschlag nahmen.

Die Tatsachen. Nichts als die Tatsachen.

Die Tatsachen waren die folgenden: An einem lauen Juliabend spielte der zehnjährige Martin Servaz im Hof des elterlichen Hauses, als sich die Scheinwerfer eines Autos auf der langen, geraden Straße näherten. Das Haus der Servaz war ein abgelegener alter Bauernhof, drei Kilometer von der nächstgelegenen Ortschaft entfernt. Zehn Uhr abends. Die Landschaft war in mildes Halbdunkel getaucht, auf den angrenzenden Feldern würde das Zirpen der Grillen bald dem Quaken der Frösche weichen, ein dumpfes Donnergrollen ertönte von den Bergen am Horizont, und Sterne zeichneten sich immer deutlicher am noch fahlen Himmel ab. In diese abendliche Stille brach das kaum wahrnehmbare Zischen dieses Autos hinein, das sich auf der Straße näherte. Das Zischen war zu einem Motorengeräusch geworden, und der Wagen hatte seine Geschwindigkeit gedrosselt. Er hatte seine Scheinwerfer auf das Haus gerichtet und war langsam den holprigen Weg hinaufgefahren. Seine Reifen hatten auf dem Kies geknirscht, als er durch das große Tor fuhr und im Hof bremste. Die Pappeln hatten in einem Windstoß sanft gerauscht, als die beiden Männer ausstiegen. In der Dunkelheit unter den Bäumen konnte er ihre Gesichter kaum erkennen, aber die Stimme von einem der beiden hatte er ganz deutlich gehört:

»Salut, mein Kleiner, sind deine Eltern da?«

Im gleichen Moment war die Haustür aufgegangen, und im Licht auf der Türschwelle war seine Mutter aufgetaucht. Der Mann, der ihn angesprochen hatte, war daraufhin an seine Mutter herangetreten und entschuldigte sich für die Störung, wobei er sehr schnell sprach, während der zweite Mann freundschaftlich eine Hand auf seine Schulter legte. An dieser Hand war irgendetwas, was dem jungen Servaz sofort missfallen hatte. Wie eine winzige Störung der friedlichen Abendstimmung. Wie eine dumpfe Bedrohung, die nur der kleine Junge bemerkte, obgleich sich der erste Mann sehr freundlich ausdrückte und er seine Mutter lächeln sah. Als er den Kopf hob, hatte er seinen Vater mit gerunzelter Stirn am Fenster seines Arbeitszimmers im ersten Stock stehen sehen, wo er die Klassenarbeiten seiner Schüler korrigierte. Er wollte seiner Mutter zurufen, sie solle aufpassen und sie nicht ins Haus lassen – aber man hatte ihm beigebracht, höflich und still zu sein, wenn sich Erwachsene unterhielten.

Er hatte seine Mutter sagen hören: »Treten Sie ein!«

Dann hatte ihn der Mann hinter ihm sanft vorwärtsgestoßen, seine kräftigen Finger brannten regelrecht durch den dünnen Stoff seines kurzärmeligen Hemds hindurch, und er hatte diese Geste nicht mehr als freundschaftlich, sondern als autoritär erlebt. Noch heute erinnerte er sich, dass jeder ihrer Schritte auf dem Kies wie eine Warnung in seinem Kopf widerhallte. Er erinnerte sich an den starken Geruch nach Eau de Toilette und Schweiß hinter ihm. Er erinnerte sich, dass ihm das Zirpen der Grillen mit einem Mal sehr laut vorgekommen war und wie ein Alarm in seinem Kopf dröhnte. Selbst sein Herz pochte wie eine unheilkündende afrikanische Trommel. Als sie den Treppenabsatz vor der Haustür erreichten, presste der Mann ihm etwas auf Mund und Nase. Irgendeinen feuchten Stofffetzen. Im Nu verbrannte ein Feuerstoß seinen Rachen und seine Lungen, und er hatte weiße Punkte vor den Augen tanzen sehen, ehe er in einem schwarzen Loch versank.

Als er wieder zu sich kam, fand er sich in dem Verschlag unter der Treppe wieder – ihm war übel, und alles drehte sich. Die flehende Stimme seiner Mutter hinter der Tür flößte ihm Angst ein. Als er die donnernden Stimmen der beiden Männer hörte, die sie bald bedrohten, bald beruhigten und bald verhöhnten, wurde seine Angst unkontrollierbar, und er begann zu zittern. Er fragte sich, wo sein Vater war. Instinktiv wusste er, was das für Männer waren: keine richtigen Menschen, Bösewichte wie aus einem Kinofilm, bösartige Geschöpfe, Erzschurken aus einem Spiderman-Comic: der Tinkerer und der Green Goblin … Er ahnte, dass sein Vater irgendwo gefesselt lag, machtlos, wie es die Comichelden oft sind, denn sonst hätte er bereits eingegriffen, um sie zu retten. Viele Jahre später sagte er sich, dass weder Seneca noch Mark Aurel seinem Vater eine große Hilfe gewesen sein dürften, als er die beiden Besucher zur Vernunft zu bringen versuchte. Aber kann man zwei hungrige Wölfe zur Vernunft bringen? Doch der Hunger dieser Wölfe richtete sich auf etwas anderes. Hätte der junge Martin eine Uhr gehabt, dann hätte er feststellen können, dass er um zwanzig Minuten nach Mitternacht wieder zu sich gekommen war und dass noch fast fünf Stunden vergehen sollten, ehe der Schrecken ein Ende hatte – fünf Stunden, in deren Verlauf seine Mutter fast ohne Unterlass geschrien, geschluchzt, geweint, geflucht und gefleht hatte. Und während die mütterlichen Schreie nach und nach zu einem Schluchzen und Seufzen und dann zu einem unverständlichen Gemurmel wurden, während ihm der Rotz in einem zähflüssigen Streifen aus der Nase lief und der Urin sich warm zwischen seinen Schenkeln ausbreitete, während die ersten Geräusche des anbrechenden Tages durch die Tür der Abstellkammer drangen – ein Hahn, der sich verfrüht heiser schrie, ein Hund, der in der Ferne bellte, ein Wagen, der hundert Meter entfernt auf der Straße vorbeifuhr – und ein verschwommener grauer Lichtschimmer unter der Tür durchschien, wurde es im Haus allmählich still – eine vollkommene, endgültige und auf seltsame Weise beruhigende Stille.

Servaz war schon drei Jahre bei der Polizei, als es ihm gelungen war, sich den Obduktionsbericht zu verschaffen – fünfzehn Jahre nach der Tat. Im Nachhinein wusste er, dass ihm eine verhängnisvolle Fehleinschätzung unterlaufen war. Er hatte geglaubt, die Jahre hätten ihm die nötige Kraft gegeben. Er hatte sich geirrt. Mit unsäglichem Entsetzen hatte er im Detail erfahren, was seine Mutter in dieser Nacht durchgemacht hatte. Woraufhin der junge Polizist den Bericht zugeklappt hatte, zur Toilette gestürzt war und sein Frühstück ausgespien hatte.

Die Tatsachen. Nichts als die Tatsachen.

Die Tatsachen waren die folgenden: Sein Vater hatte überlebt – trotzdem hatte er zwei Monate im Krankenhaus gelegen, in denen der junge Martin bei seiner Tante gewohnt hatte. Als sein Vater aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war er in seinen Beruf als Lehrer zurückgekehrt. Aber es hatte sich sehr schnell gezeigt, dass er ihn nicht länger ausüben konnte: Er war mehrmals betrunken, unrasiert und mit zerzaustem Haar vor seine Schüler getreten, die er außerdem noch ausgiebig beschimpft hatte. Die Schulbehörde hatte ihn schließlich unbefristet beurlaubt, und sein Vater hatte sich daraufhin noch tiefer reingeritten. Der junge Martin wurde erneut bei seiner Tante untergebracht … Die Tatsachen, nichts als die Tatsachen … Zwei Wochen nachdem er auf der Universität die Frau kennengelernt hatte, die er sechs Monate später heiraten sollte, wollte Servaz im Frühsommer seinen Vater besuchen. Als er aus dem Wagen stieg, warf er einen kurzen Blick auf das Haus. Die alte Scheune daneben verfiel; das Wohngebäude selbst schien leer zu stehen, mindestens die Hälfte der Fensterläden war geschlossen. Servaz schlug an die Scheibe der Haustür. Keine Antwort. Er öffnete sie. »Papa?« Schweigen. Der Alte musste wieder einmal sturzbetrunken irgendwo herumliegen. Nachdem er seine Jacke und seine Umhängetasche auf ein Möbelstück geworfen und sich in der Küche ein Glas Wasser eingeschenkt hatte, war er die Treppe hinaufgestiegen in der Erwartung, dass sein Vater in seinem Arbeitszimmer einen Rausch ausschlief. Der junge Martin hatte recht – er war tatsächlich in seinem Arbeitszimmer. Durch die geschlossene Tür hörte man gedämpfte Musik, die er sofort erkannte: Gustav Mahler, der Lieblingskomponist seines Vaters.

Aber er hatte sich geirrt: Er schlief keinen Rausch aus. Er las auch nicht einen seiner lateinischen Lieblingsautoren. Er lag reglos in seinem Sessel, die Augen weit aufgerissen und glasig, weißer Schaum vor dem Mund. Gift. Wie Seneca, wie Sokrates. Zwei Monate später legte Servaz die Prüfung zum Polizeibeamten ab.

 

Um 22 Uhr machte Diane das Licht in ihrem Büro aus. Sie nahm eine Arbeit mit, die sie abschließen wollte, ehe sie sich schlafen legte, und stieg hinauf in ihr Zimmer im vierten Stock. Dort war es noch immer genauso kalt, und sie zog ihren Morgenmantel über die Kleider, bevor sie sich ans Kopfende des Bettes setzte und mit der Lektüre begann. Sie überflog ihre Aufzeichnungen und sah noch einmal den ersten Patienten dieses Tages vor sich: einen kleinen Mann von vierundsechzig Jahren, der völlig harmlos aussah und eine schrille, krächzende Stimme hatte, als hätte man ihm die Stimmbänder abgefeilt. Ehemaliger Philosophielehrer. Er hatte sie mit ausgesuchter Höflichkeit begrüßt, als sie den Raum betrat. Sie hatte sich mit ihm in einem Salon unterhalten, dessen Tische und Sessel in den Boden einzementiert waren. Es gab einen Fernseher mit Großbildschirm in einem Gehäuse aus Plexiglas, und alle spitzen Ecken und scharfen Kanten der Möbel waren mit Kunststoff überzogen. Sonst war niemand im Zimmer, aber ein Pflegehelfer stand in der Tür Wache.

»Victor, wie fühlen Sie sich heute?«, hatte sie gefragt.

»Wie ein verdammter Sack Scheiße …«

»Wie meinen Sie das?«

»Wie ein großer Kothaufen, ein Exkrement, eine Kotkugel, eine braune Wurst, ein Kaka, ein …«

»Victor, warum sind Sie so vulgär?«

»Ich fühle mich wie das, was Sie aus Ihrem Hintern abseilen, Doc, wenn Sie aufs …«

»Wollen Sie mir nicht antworten?«

»Ich fühle mich wie …«

Sie hatte sich gesagt, dass sie ihn nie mehr fragen würde, wie er sich fühlte. Victor hatte seine Frau, seinen Schwager und seine Schwägerin mit der Axt erschlagen. Seiner Akte zufolge hatten ihn seine Frau und deren Familie wie den letzten Dreck behandelt und sich ständig über ihn lustig gemacht. In seinem »normalen« Leben war Victor ein hervorragend ausgebildeter und hochkultivierter Mann gewesen. Bei seinem letzten Klinikaufenthalt hatte er sich auf eine Krankenschwester geworfen, die das Pech hatte, vor ihm zu lachen. Zum Glück wog er nur fünfzig Kilo.

Sie versuchte vergeblich, sich auf seinen Fall zu konzentrieren, es gelang ihr nicht. Etwas anderes schlich am Rand ihres Bewusstseins herum. Sie wollte diese Arbeit so schnell wie möglich beenden, um zu dem zurückzukehren, was in der Klinik vor sich ging. Sie wusste nicht, was sie finden würde, aber sie war fest entschlossen, ihre Nachforschungen fortzusetzen. Und mittlerweile wusste sie, wo sie ansetzen musste. Die Idee war ihr gekommen, als sie Xavier beim Verlassen ihres Büros ertappt hatte.

Als sie die nächste Akte aufschlug, sah sie den Patienten sogleich wieder im Geiste vor sich. Ein vierzigjähriger Mann mit fiebrigem Blick, Hohlwangen, die unter einem Bart fast verschwanden, und schmutzigem Haar. Ein ehemaliger Meeresbiologe ungarischer Abstammung, der ein hervorragendes Französisch mit starkem slawischem Akzent sprach. György.

»Wir sind mit den großen Tiefen verbunden«, hatte er ihr gleich beim ersten Treffen gesagt. »Sie wissen es noch nicht, Doktor, aber wir existieren nicht wirklich, wir existieren nur als Gedanken, wir sind geistige Ausgeburten der Geschöpfe der Tiefsee, die in über 2000 Meter Tiefe am Grund der Meere leben. Es ist das Reich der ewigen Finsternis, das Tageslicht erreicht den Meeresboden nicht. Es ist dort ständig dunkel.« Als sie dieses Wort hörte, spürte sie, wie sie der eisige Flügel der Angst streifte. »Und kalt, sehr, sehr kalt. Und da herrscht ein kolossaler Druck. Er steigt alle zehn Meter um eine Atmosphäre. Nur diese Lebewesen können diesem enormen Druck standhalten. Sie gleichen Ungeheuern. Wie wir. Sie haben riesige Augen, Kiefer voller scharfer Zähne und Leuchtorgane, die sich über den gesamten Körper ziehen. Sie sind entweder Aasfresser, die sich von den Kadavern ernähren, die aus den oberen Meeresschichten zu Boden sinken, oder schreckliche Räuber, die in der Lage sind, ihre Opfer in einem Stück hinunterzuschlingen. Dort unten ist alles Finsternis und Grausamkeit. Wie hier. Da gibt es den Viperfisch, Chauliodus sloani, dessen Kopf aussieht wie ein mit messerlangen, glasklaren Zähnen gespickter Schädel und dessen schlangenförmiger Körper von Leuchtpunkten übersät ist. Da hausen auch Linophryne lucifer und Photostomias guernei, die hässlicher und erschreckender aussehen als Piranhas. Es gibt die Pycnogonida, die Spinnen gleichen, und Tiefsee-Beilfische, die wie tote Fische aussehen. Diese Kreaturen sehen nie das Tageslicht, sie steigen nie zur Oberfläche auf. Wie wir, Doktor. Sehen Sie denn nicht die Ähnlichkeit? Eben weil wir nicht wirklich existieren, im Gegensatz zu ihnen. Wir sind Absonderungen des Geistes dieser Geschöpfe. Jedes Mal, wenn in der Tiefe eines davon stirbt, stirbt hier einer von uns.«

Seine Augen hatten sich verschleiert, während er sprach, als wäre er in die Tiefen entschwebt, an den Grund der Meeresfinsternis. Die alptraumhafte Schönheit dieses absurden Vortrags hatte Diane einen eisigen Schauer über den Rücken gejagt. Sie hatte Mühe, die Bilder loszuwerden, die er in ihr hervorgerufen hatte.

Alles im Institut funktionierte nach Gegensätzen, hatte sie sich gesagt. Schönheit/Grausamkeit. Stille/Geschrei. Einsamkeit/enges Zusammenleben. Angst/Neugier. Seit sie hier war, trieben sie gegensätzliche Gefühle um.

Sie schlug die Akte über den Patienten György zu und konzentrierte sich auf etwas anderes. Den ganzen Abend hatte sie noch einmal über die Medikation nachgedacht, die Xavier einigen seiner Patienten auferlegte. Diese pharmazeutische Zwangsjacke. Und an seinen heimlichen Besuch in ihrem Büro. Hatte Dimitri, der Verwalter der Apotheke, Xavier erzählt, dass sie sich etwas zu sehr für seine Behandlungsmethode interessierte? Unwahrscheinlich. Sie hatte aus Dimitris Worten eine heimliche Feindseligkeit gegen den Psychiater herausgehört. Man durfte nicht vergessen, dass er erst seit einigen Monaten da war, als Nachfolger des Mannes, der diese Einrichtung gegründet hatte. Waren seine Beziehungen zu den Mitarbeitern angespannt?

Sie blätterte ihren Notizblock bis zu der Stelle durch, wo sie die Namen der drei geheimnisvollen Produkte fand, die Xavier bestellt hatte. Wie beim ersten Mal kamen ihr diese Namen völlig unbekannt vor.

Sie schaltete ihr Notebook an und startete Google.

Dann gab sie die ersten beiden Stichwörter ihrer Suchanfrage ein …

Diane zuckte zusammen, als sie entdeckte, dass Hypnosal einer der Handelsnamen von Thiopental-Natriumsalz war; dieses Anästhetikum war eine der drei Substanzen, die in den USA bei Hinrichtungen durch die Giftspritze den Todeskandidaten verabreicht wurden, und wurde auch bei der Euthanasie in den Niederlanden angewandt! Eine andere Handelsform trug einen recht bekannten Namen: Pentothal. Es wurde eine Zeitlang zur Narkoanalyse verwendet. Bei der Narkoanalyse wurde ein Anästhetikum verabreicht, um dem analysierten Patienten zu helfen, vermeintlich verdrängte Erinnerungen wieder ins Bewusstsein zu heben. Dieses Verfahren war nach erheblicher Kritik längst aufgegeben worden, da sich die Existenz traumatischer Erlebnisse, die unwillkürlich verdrängt wurden, wissenschaftlich hatte nie beweisen lassen.

Was führte Xavier im Schilde?

Das zweite Suchergebnis machte sie noch perplexer. Auch Xylazin war ein Anästhetikum – allerdings in der Tiermedizin. Diane fragte sich, ob ihr etwas entgangen war, und sie recherchierte weiter unter den verschiedenen Treffern, die die Suchmaschine lieferte, aber sie fand keine weiteren bekannten Anwendungen. Sie hatte das Gefühl, im Dunkeln zu tappen. Was hatte ein Produkt aus der Tiermedizin in der Klinikapotheke verloren?

Schnell tippte sie das dritte Produkt ein. Sie zog die Brauen hoch. Wie die beiden anderen Substanzen war auch Halothan ein Anästhetikum. Doch aufgrund seiner hohen Toxizität für Herz und Leber war es, abgesehen von den Entwicklungsländern, aus den Operationssälen verschwunden. Allerdings war Halothan seit 2005 gar nicht mehr zur Anwendung beim Menschen zugelassen. Wie Xylazin durfte auch Halothan nur noch in der Tiermedizin eingesetzt werden.

Diane lehnte sich gegen die Kopfkissen zurück und dachte nach. Ihres Wissens gab es keine Tiere im Institut – nicht einmal einen Hund oder eine Katze (sie glaubte verstanden zu haben, dass einige Insassen eine panische Angst vor Haustieren hatten). Sie nahm ihr Notebook auf den Schoß und ging noch einmal die Informationen durch, über die sie verfügte. Plötzlich blieb ihr Blick an etwas hängen. Beinahe wäre ihr das Wichtigste entgangen: Die drei Substanzen wurden nur in einem einzigen Fall zusammen verabreicht: zur Betäubung eines Pferdes … Diese Information fand sie auf einer speziellen Website für Tiermediziner. Der Redakteur, der selbst ein Spezialist für Pferdemedizin war, empfahl eine Anästhesievorbereitung mit Xylazin in einer Dosis von 0,8 mg/kg, gefolgt von einer intravenösen Injektion mit Thiopental-Natriumsalz und schließlich Halothan in einer Konzentration von 2,5 Prozent für ein Pferd von etwa 490 Kilogramm.

Ein Pferd …

In ihrem Magen begann sich etwas zu regen, das den von György beschriebenen Kreaturen glich. Xavier … Sie musste wieder an das Gespräch denken, das sie über den Belüftungsschacht belauscht hatte. Er wirkte an diesem Tag so hilflos, so verloren, als dieser Polizist ihm eröffnet hatte, dass irgendjemand aus dem Institut etwas mit dem Tod dieses Pferdes zu tun hatte. Sie konnte sich schlechterdings nicht vorstellen, welchen Grund der Psychiater haben sollte, dieses Tier zu töten und an der Bergstation aufzuhängen. Im Übrigen hatte der Polizist von zwei Personen gesprochen. Für sie zeichnete sich vage eine andere Möglichkeit ab … Wenn tatsächlich Xavier die Medikamente beschafft hatte, mit denen das Pferd vor seiner Tötung betäubt wurde, dann hatte er zweifellos auch Hirtmanns DNA-Proben nach draußen geschafft.

Dieser Gedanke brachte die lebende Kreatur in ihrer Magengrube zum Zappeln. Zu welchem Zweck? Welche Rolle spielte Xavier bei alldem?

Wusste der Psychiater zu diesem Zeitpunkt, dass nach dem Pferd ein Mensch umgebracht werden würde? Welchen Grund hatte er, sich zum Komplizen von Verbrechen zu machen, die in diesen Tälern begangen wurden, er, der erst seit einigen Monaten hier war?

Sie konnte anschließend kein Auge zumachen. Schlaflos wälzte sie sich in ihrem Bett hin und her, bald drehte sie sich auf den Rücken, bald auf den Bauch, und sie betrachtete den schwachen grauen Schimmer auf der anderen Seite des Fensters, gegen das der Wind pfiff. Zu viele unangenehme Fragen, die ihr durch den Kopf gingen, hielten sie wach. Gegen drei Uhr nahm sie eine halbe Schlaftablette.

 

Von seinem Sessel aus hörte Servaz den Kommentar der Flöte im ersten Rezitativ des Abschieds. Jemand hatte ihn einmal mit einer »träumenden Nachtigall« verglichen. Anschließend kamen, wie Flügelschläge, Harfe und Klarinette hinzu. Die Vogelgesänge, erinnerte er sich plötzlich. Warum nur überfiel ihn abermals die Erinnerung an diese Gesänge? Chaperon war Natur- und Bergliebhaber. Und? Was sollte es mit diesen Aufzeichnungen schon auf sich haben?

Servaz dachte vergeblich nach – er kam nicht dahinter. Dabei war er sicher: Da war etwas, im Schatten versteckt, das darauf wartete, wieder ans Licht zu kommen. Und dieses Etwas stand in Zusammenhang mit den Aufnahmen, die er beim Bürgermeister gefunden hatte. Er konnte es kaum erwarten herauszufinden, ob auf den Kassetten tatsächlich Vogelgesang war. Aber nicht nur das machte ihm Sorgen. Da war noch etwas anderes …

Er stand auf und ging zum Balkon. Es hatte aufgehört zu regnen, aber ein leichter Nebel schwebte über den nassen Gehsteigen und umgab die Laternen der Stadt mit einem diesigen Lichthof. Eine kalte Feuchtigkeit stieg von der Straße auf. Er dachte wieder an Charlène Espérandieu. An die erstaunliche Intimität des Kusses, den sie ihm auf die Wange gedrückt hatte, und wieder hatte er das Gefühl, als würden sich seine Gedärme verknoten.

Als er durch die Fenstertür auf den Balkon trat, erkannte er seinen Irrtum: Nicht der Vogelgesang, sondern die Kassetten hatten seine Aufmerksamkeit geweckt. Der Knoten in seinen Eingeweiden wurde hart, als hätte man ihm schnell aushärtenden Beton in die Speiseröhre gegossen. Sein Puls beschleunigte sich. Er blätterte in seinem Notizbuch, bis er die Nummer fand. Er wählte sie.

»Hallo?«, sagte eine Männerstimme.

»Kann ich in ungefähr anderthalb Stunden bei Ihnen vorbeikommen?«

Schweigen.

»Aber das ist ja nach Mitternacht!«

»Ich würde mir das Zimmer von Alice gern noch einmal ansehen.«

»Um diese Uhrzeit? Kann das nicht bis morgen warten?«

Der Mann am anderen Ende war offensichtlich fassungslos. Servaz konnte sich in Gaspard Ferrand hineinversetzen: Seine Tochter war seit fünfzehn Jahren tot. Was konnte plötzlich so dringend sein?

»Ich würde trotzdem gern noch heute Nacht einen Blick ins Zimmer werfen«, ließ er nicht locker.

»Na schön. Ich gehe sowieso nie vor Mitternacht zu Bett. Ich warte bis halb eins. Danach lege ich mich hin.«

 

Gegen 0:25 Uhr erreichte er Saint-Martin, aber er fuhr nicht in die Stadt hinein, sondern über die Umgehungsstraße in das verschlafene Dorf in fünf Kilometer Entfernung.

Gaspard Ferrand öffnete beim ersten Läuten. Er wirkte verdutzt und in höchstem Grade neugierig.

»Gibt es was Neues?«

»Ich würde mir gern das Zimmer von Alice noch einmal ansehen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

Ferrand warf ihm einen fragenden Blick zu. Er trug einen Morgenrock über einem Pullover und einer alten Jeans. Seine bloßen Füße steckten in Pantoffeln. Er zeigte auf die Treppe. Servaz dankte ihm und stieg rasch die Stufen hinauf. Im Zimmer steuerte er geradewegs auf die Ablageplatte über dem orangefarbenen kleinen Schreibtisch zu.

Der Kassettenrekorder.

Dieses Gerät hatte weder ein Radio noch einen CD-Spieler, im Unterschied zur Stereoanlage auf dem Boden; es war ein uralter Kassettenrekorder, den Alice irgendwo aufgetrieben haben musste.

Aber Servaz hatte bei seinem ersten Besuch keine Kassetten gesehen. Er wog ihn mit der Hand ab. Nicht ungewöhnlich schwer – aber das wollte nichts sagen. Wieder zog er sämtliche Schubladen des Schreibtischs und der Nachttische auf, eine nach der anderen. Keine Kassetten. Nirgends. Hatte es vielleicht irgendwann einmal welche gegeben, und hatte Alice sie weggeworfen, als sie zu CDs übergegangen war?

Aber warum hatte sie dann diesen sperrigen Apparat behalten? Alles in Alices Zimmer verwies auf die neunziger Jahre, die Poster, CDs, der Gameboy und die Farben …

Ein einziger Anachronismus: der Rekorder …

Servaz packte ihn an dem Griff, der sich auf der Oberseite befand, und prüfte ihn eingehend. Dann drückte er die Auswurftaste des Kassettenfachs. Leer. Er ging hinunter ins Erdgeschoss. Aus dem Wohnzimmer waren Geräusche eines eingeschalteten Fernsehers zu hören. Eine spätabendliche Kultursendung.

»Ich bräuchte einen kleinen Schraubenzieher mit Kreuzschlitz«, sagte Servaz in der Tür. »Haben Sie so was?«

Ferrand saß auf dem Sofa. Diesmal warf ihm der Philologe einen bohrenden Blick zu.

»Was haben Sie entdeckt?«

Seine Stimme war gebieterisch, ungeduldig. Er wollte es wissen.

»Nichts, absolut nichts«, antwortete Servaz. »Aber wenn ich etwas finde, sage ich es Ihnen.«

Ferrand stand auf und ging aus dem Zimmer. Eine Minute später war er mit einem Schraubenzieher zurück. Servaz stieg wieder hinauf ins Dachgeschoss. Die drei Schrauben ließen sich mühelos herausdrehen. Als wären sie von einer Kinderhand angezogen worden …

Atemlos nahm er die vordere Gehäusewand ab.

Bingo …

Dieses Mädchen war ein Genie. Aus einem Teil des Geräts waren sorgfältig die elektronischen Bauteile entfernt worden. Mit einem breiten Streifen braunem Klebeband waren drei kleine Notizbücher mit blauem Umschlag an dem Kunststoffgehäuse befestigt.

 

Servaz betrachtete sie eine ganze Weile wie gelähmt. Träumte er auch nicht? Alices Tagebuch … All die Jahre war es hier versteckt gewesen, von allen unbemerkt. Was für ein glücklicher Zufall, dass Gaspard Ferrand das Zimmer seiner Tochter all die Jahre unverändert gelassen hatte. Äußerst vorsichtig entfernte er das Klebeband, das ausgetrocknet und schrumpelig geworden war, und nahm die Notizhefte aus dem Gerät.

»Was ist das?«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Servaz wandte sich um. Ferrand starrte die Notizbücher an. Seine Augen blitzten wie die eines Raubvogels. Er platzte förmlich vor Neugier. Der Polizist schlug das erste Heft auf und warf einen Blick hinein. Er las die ersten Wörter. Sein Herz hämmerte: Samstag, 12. August … Ich hatte also recht …

»Sieht nach einem Tagebuch aus.«

»Waren die dadrin?«, sagte Ferrand ungläubig. »Die ganzen Jahre über waren die dadrin?!«

Servaz nickte. Er sah, wie sich die Augen des Lehrers mit Tränen füllten und sein Gesicht sich zu einer Grimasse der Verzweiflung und des Kummers verzog. Servaz fühlte sich plötzlich sehr unwohl.

»Ich muss sie auswerten«, sagte er. »Vielleicht findet sich auf diesen Seiten die Erklärung für ihre Tat, wer weiß. Danach gebe ich sie Ihnen zurück.«

»Sie haben es geschafft«, murmelte Ferrand mit tonloser Stimme. »Ihnen ist gelungen, woran wir alle gescheitert sind … Das ist unglaublich … Wie … wie sind Sie darauf gekommen?«

»Noch nicht«, versuchte Servaz, seinen Überschwang zu zügeln. »Es ist noch zu früh.«