18
Der Schnee fiel immer dichter, und er begann liegen zu bleiben, als Servaz vor der Gendarmerie parkte. Der Wachhabende am Empfang döste vor sich hin. Das Eisengitter war heruntergelassen worden, und er musste es für Servaz hochziehen. Den schweren Karton in den Armen, steuerte der Polizist auf das Besprechungszimmer zu. Die Gänge waren verwaist und still. Es war kurz vor Mitternacht.
»Hier lang«, sagte eine Stimme, als er an einer offenen Tür vorbeiging.
Er blieb unvermittelt stehen und warf einen Blick durch die offene Tür. Irène Ziegler hatte sich in einem kleinen Büro niedergelassen, das in Dämmerlicht gehüllt war. Nur eine einzige Lampe brannte. Durch die Jalousien sah er Flocken, die im Licht einer Straßenlaterne umherwirbelten. Ziegler gähnte und streckte sich. Er ahnte, dass sie eingenickt war, während sie auf ihn wartete. Sie betrachtete den Karton. Dann lächelte sie ihn an. Zu dieser vorgerückten Stunde fand er ihr Lächeln mit einem Mal bezaubernd.
»Was ist das?«
»Ein Karton.«
»Das sehe ich. Und was ist drin?«
»Alles über die Selbstmörder.«
Ihre grünen Augen funkelten kurz vor Erstaunen und Interesse.
»Haben Sie das von Saint-Cyr?«
»Kaffee?«, fragte er, während er den schweren Karton auf den nächsten Schreibtisch stellte.
»Ohne Milch, mit Zucker. Danke.«
Er verließ das Zimmer und ging bis zu dem Automaten am Ende des Gangs, dann kehrte er mit zwei Styroporbechern zurück.
»Für dich!«, sagte er.
Sie sah ihn überrascht an.
»Vielleicht wäre es an der Zeit, dass wir uns duzen, was meinst du?«, entschuldigte er sich und dachte daran, wie unbefangen ihn der Richter sofort geduzt hatte. Wieso, verdammt noch mal, brachte er das nicht hin? War es die späte Stunde oder ihr überraschendes Lächeln, das ihn dazu bewogen hatte, sich unverwandt ein Herz zu fassen?
Er sah Ziegler abermals lächeln.
»Einverstanden. Also dieses Abendessen scheint ja aufschlussreich gewesen zu sein.«
»Du zuerst.«
»Nein, du.«
Er setzte sich knapp auf die Kante des Schreibtischs und sah auf dem Bildschirm ein Solitär-Spiel. Dann legte er los. Ziegler hörte ihm aufmerksam zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen.
»Das ist ja unglaublich!«, sagte sie, als er fertig war.
»Was mich wundert, ist, dass du nichts davon gehört hast.«
Sie runzelte die Stirn und blinzelte.
»Vage sagt mir das schon etwas. Vielleicht von ein paar Zeitungsartikeln. Oder von Gesprächen bei Tisch zwischen meinen Eltern. Schließlich war ich damals noch nicht bei der Gendarmerie. Denk mal, ich war damals ungefähr so alt wie diese Jugendlichen.«
Ihm wurde auf einmal klar, dass er nichts über sie wusste. Nicht einmal, wo sie wohnte. Und dass sie nichts über ihn wusste. Seit einer Woche drehten sich all ihre Gespräche nur um die Ermittlungsarbeit.
»Dabei hast du doch ganz in der Nähe gewohnt«, hakte er nach.
»Meine Eltern haben etwa fünfzehn Kilometer von Saint-Martin entfernt in einem anderen Tal gewohnt. Ich bin hier nicht zur Schule gegangen. Wenn du als Jugendlicher aus einem anderen Tal kamst, war das so, als würdest du aus einer anderen Welt stammen. Für ein Kind sind fünfzehn Kilometer wie tausend für einen Erwachsenen: Jeder Heranwachsende hat sein Revier. Zu dieser Zeit nahm ich den Schulbus zwanzig Kilometer weiter westlich, und ich ging aufs Gymnasium in Lannemezan, vierzig Kilometer von hier. Anschließend habe ich in Pau Jura studiert. Jetzt, wo du es sagst, erinnere ich mich, dass auf dem Schulhof über diese Selbstmorde gesprochen wurde. Ich muss es wohl verdrängt haben.«
Er spürte, dass sie nur widerstrebend über ihre Jugend sprach, und er fragte sich, wieso.
»Es wäre interessant, Propp nach seiner Meinung zu fragen«, sagte er.
»Seine Meinung worüber?«
»Wieso du dich nicht an diese Ereignisse erinnern kannst.«
Sie warf ihm einen zweideutigen Blick zu.
»Gibt es denn eine Verbindung zwischen dieser Geschichte von den jugendlichen Selbstmördern und dem Mord an Grimm?«
»Vielleicht nicht.«
»Weshalb interessierst du dich dann dafür?«
»Der Mord an Grimm scheint ein Racheakt zu sein, und irgendetwas oder irgendjemand hat die Jugendlichen dazu bewogen, sich das Leben zu nehmen. Und dann ist da die Anzeige wegen dieser sexuellen Erpressungsgeschichte, die vor einigen Jahren gegen Grimm, Perrault und Chaperon erstattet wurde … Wenn man diese Puzzleteile zusammenfügt, welches Bild ergibt sich dann?«
Servaz spürte plötzlich, wie ihn ein elektrischer Schlag durchzuckte: Sie hatten etwas. Es war da, in Reichweite. Der finstre Kern der Geschichte, die kritische Masse – von der alles ausging. Irgendwo, versteckt in einem toten Winkel … Er spürte, wie das Adrenalin durch seine Venen schoss.
»Ich schlage vor, wir schauen uns erst mal an, was in diesem Karton ist«, sagte er mit leicht zitternder Stimme.
»Legen wir los?«, fragte sie – aber eigentlich war es gar keine richtige Frage.
Er las in ihrem Gesicht die gleiche Hoffnung und die gleiche Aufregung. Servaz sah auf die Uhr, es war fast ein Uhr morgens. Hinter den Jalousien schneite es noch immer.
»Okay. Das Blut …«, fragte er in einem plötzlichen Themawechsel. »Wo genau wurde es gefunden?«
Sie warf ihm einen bestürzten Blick zu.
»Auf der Brücke, in der Nähe der Stelle, wo der Apotheker aufgehängt wurde.«
Eine Weile sagte keiner von ihnen ein Wort.
»Blut«, wiederholte er. »Das kann nicht sein!«
»Das Labor ist sich ganz sicher.«
»Blut … Als ob …«
»Als ob sich Hirtmann verletzt hätte, als er den Körper von Grimm aufhängte …«
Jetzt nahm Irène Ziegler die Dinge in die Hand. Sie stöberte in dem Karton voller Aktenmappen, Ordner, Stenoblocks und administrativer Briefe herum, bis sie eine Aktenmappe mit der Aufschrift »Zusammenfassung« ausgrub. Ganz offenbar hatte Saint-Cyr sie selbst verfasst; der Richter hatte eine klare, feine und schwungvolle Handschrift – das genaue Gegenteil einer krakeligen Arztklaue. Servaz stellte fest, dass er die verschiedenen Phasen des Ermittlungsverfahrens mit einer bemerkenswerten Klarheit und Prägnanz resümiert hatte. Anschließend benutzte Ziegler diese Zusammenfassung, um sich in dem Durcheinander des Kartons zurechtzufinden. Sie begann damit, die einzelnen Bestandteile der Akte herauszunehmen und sie zu kleinen Haufen zu schichten: die Obduktionsberichte, die Vernehmungsprotokolle, die Befragungen der Eltern, die Liste der Beweisstücke, die Briefe, die bei den Jugendlichen zu Hause gefunden wurden … Saint-Cyr hatte für seinen persönlichen Gebrauch Fotokopien von sämtlichen Unterlagen in der Ermittlungsakte angefertigt. Neben den Fotokopien fanden sich:
Zeitungsausschnitte,
Haftnotizen,
lose Blätter,
Landkarten, auf denen mit einem Kreuz die Stelle, an der sich jeder Jugendliche umgebracht hatte, markiert war; außerdem waren rätselhafte Routen aus Pfeilen und roten Kreisen eingezeichnet,
Schulzeugnisse,
Klassenfotos,
beschriebene Notizzettel,
Mauttickets …
Servaz war sprachlos. Der alte Richter hatte diese Geschichte offensichtlich zu seiner persönlichen Angelegenheit gemacht. Wie anderen Ermittlern zuvor hatte auch ihm diese rätselhafte Serie von Selbsttötungen keine Ruhe gelassen. Hatte er wirklich gehofft, er könnte den wahren Sachverhalt der Geschichte nach seiner Pensionierung aufklären, wenn er seine ganze Zeit darauf verwenden könnte? Dann fanden sie ein noch bedrückenderes Dokument: die Liste der sieben Opfer mit ihren Fotos und den Daten ihres Selbstmords.
2. Mai 1993: Alice Ferrand, 16 Jahre
7. Juni 1993: Michaël Lehmann, 17 Jahre
29. Juni 1993: Ludovic Asselin, 16 Jahre
5. September 1993: Marion Dutilleul, 15 Jahre
24. Dezember 1993: Séverine Guérin, 18 Jahre
16. April 1994: Damien Llaume, 16 Jahre
9. Juli 1994: Florian Vanloot, 17 Jahre
»Mein Gott!«
Seine Hand zitterte, als er sie auf dem Schreibtisch im Schein der Lampe ausbreitete: sieben Fotos, angeheftet an sieben kleine Karteikarten, die ihm Ziegler hinhielt. Sieben lächelnde Gesichter. Die einen sahen ins Objektiv; die anderen wandten den Blick ab. Er betrachtete seine Kollegin. Sie stand neben ihm wie vom Blitz getroffen. Dann richteten sich Servaz’ Augen wieder auf die Gesichter. Vor Erschütterung schnürte sich ihm die Kehle zu.
Ziegler hielt ihm die eine Hälfte der Obduktionsberichte hin und vertiefte sich in die andere Hälfte. Eine Zeitlang lasen sie schweigend. Die Berichte gelangten zu dem wenig überraschenden Ergebnis, der Tod sei stets durch Erhängen erfolgt, bis auf ein Opfer, das sich von einem Berg hinuntergestürzt habe, und den unbeaufsichtigten Jungen, der sich in seiner Badewanne einen tödlichen Stromschlag beibrachte. Die Rechtsmediziner hatten nichts Ungewöhnliches oder Erklärungsbedürftiges festgestellt: Die »Tatorte« waren klar; alles sprach dafür, dass die Jugendlichen allein an den Ort ihres Todes gekommen waren und dass ihnen niemand geholfen hatte. Vier der Obduktionen waren von Delmas und einem anderen Rechtsmediziner, den Servaz kannte und der genauso kompetent war, durchgeführt worden. Nach den Leichenschauen war im Umfeld der Opfer ermittelt worden. Persönlichkeitsprofile waren erstellt worden, und zwar unabhängig von den Aussagen ihrer Eltern. Wie immer gab es in dem ganzen Tratsch einige niederträchtige oder gehässige Gerüchte, aber insgesamt vermittelten die Aussagen das Bild von gewöhnlichen Jugendlichen, abgesehen von einem auffälligen Jungen, Ludovic Asselin, der für seine Aggressivität gegen Kameraden und sein aufsässiges Verhalten gegenüber Autoritätspersonen bekannt war. Die ergreifendsten Aussagen bezogen sich auf Alice Ferrand, das erste Opfer, das bei allen beliebt war und einmütig als ein überaus sympathisches Mädchen geschildert wurde. Servaz betrachtete das Foto: Sie hatte strohblondes lockiges Haar und porzellanweiße Haut und starrte mit ihren schönen, ernsten Augen in die Kamera. Ein sehr hübsches Gesicht, bei dem man den Eindruck hatte, dass jedes Detail von einem Miniaturmaler präzise gestaltet worden war. Das Gesicht war das eines schönen jungen Mädchens von sechzehn Jahren – aber der Blick war der einer sehr viel Älteren. Es lag Intelligenz darin. Aber noch etwas anderes … Oder bildete er sich das nur ein?
Gegen drei Uhr früh waren sie ziemlich erschöpft. Servaz beschloss, sich ein wenig Ruhe zu gönnen. Er ging zur Toilette, wo er sein Gesicht unter kaltes Wasser hielt. Dann richtete er sich wieder auf und betrachtete sich im Spiegel; eine der Neonröhren blinkte knisternd und warf ein unheimliches Licht auf die Reihe der Türen hinter ihm. Servaz hatte bei Saint-Cyr zu viel gegessen und getrunken, er war erschlagen, und das sah man ihm an. Er ging sich erleichtern, wusch sich die Hände und trocknete sie unter dem Gebläse. Auf dem Rückweg blieb er vor dem Getränkeautomaten stehen.
»Kaffee?«, rief er in den menschenleeren Gang hinein.
Seine Stimme hallte in der Stille wider. Durch die offene Tür am anderen Ende des Gangs kam die Antwort:
»Ohne Milch! Mit Zucker! Danke!«
Er fragte sich, ob sich außer ihnen und dem Wachhabenden am Eingang sonst noch jemand in dem Gebäude aufhielt. Er wusste, dass die Gendarmen in einem anderen Flügel wohnten. Den Becher in der Hand, schlängelte er sich in der ins Dunkel getauchten Cafeteria zwischen den gelben, roten und blauen runden Tischen hindurch. Hinter dem großen Glasfenster, das durch ein Metallrollo geschützt wurde, fiel der Schnee still auf einen kleinen Garten. Ordentlich geschnittene Hecken, ein Sandkasten und eine Plastikrutsche für die Kinder der Gendarmen, die hier wohnten. Dahinter erstreckten sich die weiße Ebene und dann, im Hintergrund, die Berge, die sich vor dem schwarzen Himmel abhoben. Abermals dachte er an die Klinik und ihre Insassen. Und an Hirtmann … Sein Blut auf der Brücke. Was bedeutete das? »Es gibt immer ein unpassendes Detail«, hatte Saint-Cyr gesagt. Manchmal war es wichtig, manchmal nicht …
Es war halb sechs, als Servaz sich in seinem Stuhl zurücklehnte und erklärte, nun sei es genug. Ziegler wirkte erschöpft. Ihr stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Nichts. Die Akte enthielt absolut nichts, was die These des sexuellen Missbrauchs erhärtet hätte. Nicht den kleinsten Hinweis. In seinem letzten Bericht war Saint-Cyr zum gleichen Schluss gelangt. An den Rand hatte er mit Bleistift geschrieben: »Sexueller Missbrauch? Kein Beweis.« Trotzdem hatte er die Frage doppelt unterstrichen. Einmal hatte Servaz mit Ziegler über die Ferienkolonie sprechen wollen, aber dann ließ er es. Er war zu müde und zu ausgepowert.
Ziegler sah auf die Uhr.
»Ich glaube, wir werden heute Nacht nichts mehr herausfinden. Wir sollten uns ein bisschen aufs Ohr legen.«
»Soll mir recht sein. Ich fahr ins Hotel zurück. Wir treffen uns um zehn im Besprechungszimmer. Wo schläfst du?«
»Hier. In der Wohnung eines Gendarmen, der gerade in Urlaub ist. Das kommt den Staat billiger.«
Servaz nickte zustimmend.
»Heutzutage zählt jeder Pfennig, den man sparen kann, was?«
»Ein solcher Fall ist mir noch nicht untergekommen«, sagte Ziegler im Aufstehen. »Zuerst ein totes Pferd, dann ein Apotheker, der unter einer Brücke hängt. Und eine einzige Gemeinsamkeit zwischen beiden: die DNA eines Serienmörders … und jetzt Jugendliche, die sich serienweise umbringen. Das ist wie in einem Alptraum. Keine Logik, kein roter Faden. Vielleicht wache ich gleich auf und merke, dass es das alles nie gegeben hat.«
»Es wird ein Erwachen geben«, sagte Servaz mit fester Stimme. »Aber nicht für uns: für den oder die Täter. Und zwar schon bald.«
Er verließ den Raum und entfernte sich mit flotten Schritten.
In dieser Nacht träumte er von seinem Vater. In seinem Traum war Servaz ein Junge von zehn Jahren. Alles war in eine warme, lauschige Sommernacht gehüllt, und sein Vater war nur eine Silhouette, genauso wie die beiden Gestalten, mit denen er vor dem Haus diskutierte. Als er näher kam, erkannte der junge Servaz, dass es sich um zwei hochbetagte Männer handelte, die große weiße Togen trugen. Alle beide hatten einen Vollbart. Servaz schlich sich zwischen sie und hob den Kopf, doch die drei Männer beachteten ihn nicht. Als er die Ohren spitzte, bemerkte der Junge, dass sie lateinisch sprachen. Eine sehr lebhafte, aber friedliche Diskussion. Einmal lachte sein Vater, dann wurde er wieder ernst. Aus dem Haus drang Musik – eine vertraute Musik, die Servaz allerdings nicht sofort wiedererkannte.
Dann erhob sich in der Ferne auf der Straße ein Motorengeräusch in der Nacht, und augenblicklich verstummten die drei Männer.
»Sie kommen«, sagte endlich einer der alten Männer.
Er sprach mit düsterer Stimme. Im Traum begann Servaz zu zittern.
Servaz traf mit zehnminütiger Verspätung in der Gendarmeriekaserne ein. Er hatte eine große Schale schwarzen Kaffee, zwei Zigaretten und eine heiße Dusche gebraucht, um die Müdigkeit zu verjagen, die ihn zu überwältigen drohte. Und er hatte noch immer Halsweh. Irène Ziegler war schon da, sie trug wieder ihre Leder-Titan-Kombi, die etwas von einer modernen Ritterrüstung hatte, und er erinnerte sich, vor der Gendarmeriekaserne ihr Motorrad gesehen zu haben. Sie einigten sich darauf, die Eltern der Jugendlichen, die sich umgebracht hatten, zu besuchen, und teilten die Adressen unter sich auf. Drei für Servaz, vier für Ziegler. Servaz beschloss, mit dem Mädchen zu beginnen, das ganz oben auf der Liste stand: Alice Ferrand. Die Adresse war nicht in Saint-Martin, sondern in einem Nachbarort. Er rechnete damit, eine Familie in bescheidenen Verhältnissen anzutreffen – betagte, gramgebeugte Eltern. Wie groß war seine Verblüffung, als er einem hochgewachsenen Mann gegenüberstand, der noch in den besten Jahren war und ihn lächelnd begrüßte – gekleidet nur in eine Hose aus Naturleinen, die von einer Schnur um die Hüfte gehalten wurde!
Servaz war vor Verblüffung so verdattert, dass er stotterte, als er sich vorstellte und den Anlass seines Besuchs darlegte.
Der Vater von Alice schien sofort misstrauisch zu werden.
»Haben Sie einen Dienstausweis?«
»Bitte sehr.«
Der Mann musterte den Ausweis aufmerksam. Dann entspannte er sich und gab ihm den Ausweis zurück.
»Ich wollte mich vergewissern, dass Sie nicht einer dieser Schreiberlinge sind, die in regelmäßigen Abständen diese Geschichte wieder herauskramen, wenn ihre Auflage gerade mal wieder zu wünschen übriglässt«, entschuldigte er sich. »Treten Sie ein.«
Gaspard Ferrand trat zur Seite, um Servaz durchzulassen. Er war groß und schlank. Dem Polizisten fiel der braungebrannte Oberkörper auf, an dem kein Gramm Fett war, nur ein paar graue Haare sprossen auf der Brust, und die Haut über dem Brustkorb war gegerbt und gespannt wie eine Zeltbahn; nur die braunen Brustwarzen waren die eines alten Mannes. Ferrand bemerkte seinen Blick.
»Entschuldigen Sie bitte meine Aufmachung: Ich war gerade dabei, ein bisschen Yoga zu machen. Nach dem Tod von Alice hat mir Yoga – und auch der Buddhismus – sehr geholfen.«
Servaz war zunächst verblüfft, dann fiel ihm ein, dass der Vater von Alice nicht, wie die anderen Eltern, Angestellter oder Arbeiter gewesen war, sondern Französischlehrer. Er stellte sich sogleich einen Mann vor, der eine Menge Ferien hatte und sie an exotischen Urlaubszielen verbrachte: Bali, Phuket, die Karibik, Rio de Janeiro und die Malediven …
»Es wundert mich, dass sich die Polizei noch immer für diese Geschichte interessiert.«
»Eigentlich ermittle ich im Mordfall des Apothekers Grimm.«
Ferrand drehte sich um. Servaz las die Verwunderung in seinem Blick.
»Und Sie glauben, dass ein Zusammenhang zwischen Grimms Tod und dem Selbstmord meiner Tochter oder der anderen unglücklichen jungen Leute besteht?«
»Das versuche ich herauszufinden.«
Gaspard Ferrand musterte ihn eingehend.
»Ich kann da keinen Zusammenhang erkennen. Wie kommen Sie auf diese Idee?«
Er lässt sich nicht für dumm verkaufen. Servaz zögerte mit der Antwort. Gaspard Ferrand bemerkte seine Verlegenheit – und wurde sich auch der Tatsache bewusst, dass sie sich in einem engen Flur Auge in Auge gegenüberstanden, er mit nacktem Oberkörper, sein Besucher winterlich eingemummt. Er deutete auf die offene Tür zum Wohnzimmer.
»Tee, Kaffee?«
»Kaffee, wenn es Ihnen keine Mühe macht.«
»Überhaupt nicht. Ich werde mir einen Tee bereiten. Nehmen Sie doch bitte Platz. Ich bin gleich wieder zurück!«, rief er und verschwand schon in der Küche, auf der anderen Seite des Flurs. »Machen Sie es sich bequem!«
Servaz hatte nicht mit einem so herzlichen Empfang gerechnet. Offenbar empfing der Vater von Alice gern Gäste – und selbst einen Polizisten, der ihm Fragen über seine Tochter stellen wollte, die sich vor fünfzehn Jahren das Leben genommen hatte. Servaz ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Im Wohnzimmer herrschte große Unordnung. Wie in der Wohnung von Servaz lagen fast überall kleine Stapel von Büchern und Zeitschriften herum: auf dem Couchtisch, auf den Sesseln, auf den Möbeln. Und Staub … Ein alleinstehender Mann? War Gaspard Ferrand verwitwet oder geschieden? Das hätte erklärt, wieso er einen unangemeldeten Besucher so bereitwillig empfing. Ein Brief von der »Hungerhilfe« lag auf einem Möbel; Servaz erkannte das blaue Logo und das graue Recyclingpapier: Er selbst war Mitglied und Spender dieser Nichtregierungsorganisation. In einem Bilderrahmen waren mehrere Fotos von Alices Vater zu sehen, die ihn in Gesellschaft von Leuten zeigten, die aussahen wie südamerikanische und asiatische Bauern, aufgenommen vor einer Kulisse aus Dschungeln oder Reisfeldern. Servaz ahnte, dass die Reisen von Gaspard Ferrand nicht allein dem Zweck dienten, sich am Strand einer Antilleninsel in die Sonne zu legen, zu tauchen und Daiquiris zu trinken.
Er ließ sich auf das Sofa fallen. Gleich neben ihm waren auf einem hübschen Elefantenfußhocker aus dunklem Holz weitere Bücher aufgestapelt. Servaz erinnerte sich an den afrikanischen Namen dieses Stuhls: esono dwa …
Kaffeeduft strömte aus dem Flur herein. Ferrand tauchte mit einem Tablett mit zwei dampfenden Bechern, einer Zuckerdose, einer Zuckerzange sowie einem Fotoalbum wieder auf. Nachdem er das Tablett auf den Couchtisch gestellt hatte, reichte er Servaz das Album.
»Da, für Sie!«
Servaz schlug es auf. Wie erwartet, enthielt es Fotos von Alice: die vierjährige Alice in einem Tretauto; Alice beim Blumengießen mit einer Kanne, die fast so groß war wie sie; Alice mit ihrer Mutter, einer schlanken, versonnenen Frau mit einer großen Nase à la Virginia Woolf; die zehnjährige Alice, die in kurzen Hosen mit gleichaltrigen Jungs Fußball spielte und mit dem Ball am Fuß unbeirrbar und entschlossen auf das gegnerische Tor zustürmte … An ihr war wirklich ein Junge verlorengegangen. Aber zugleich war sie ein bezauberndes, strahlendes Mädchen. Gaspard Ferrand setzte sich neben ihn aufs Sofa. Er hatte ein zur Hose passendes Hemd mit Mao-Kragen übergestreift.
»Alice war ein wunderbares Kind. Sehr gut zu haben, immer heiter, immer hilfsbereit. Sie war unser Sonnenschein.«
Ferrand lachte noch immer, als wäre die Erinnerung an Alice für ihn angenehm und nicht schmerzlich.
»Sie war auch ein sehr intelligentes Kind und vielseitig begabt: für Zeichnen, Musik, Sprachen, Sport, Schreiben … Sie verschlang förmlich Bücher. Schon mit zwölf Jahren wusste sie, was sie später einmal werden wollte: Milliardärin, um anschließend ihr Geld an die zu verteilen, die es am dringendsten brauchten.«
Gaspard Ferrand brach in ein bizarres, künstliches Lachen aus.
»Wir haben nie verstanden, weshalb sie das getan hat.«
Dieses Mal spürte man den Knacks, den er davongetragen hatte. Aber Ferrand fing sich wieder.
»Warum nimmt man uns das Beste und Teuerste, das wir haben, und lässt uns dann mit diesem Verlust leben? Ich habe mir diese Frage fünfzehn Jahre lang gestellt; heute habe ich die Antwort gefunden.«
Ferrand warf ihm einen so seltsamen Blick zu, dass sich Servaz einen Moment lang fragte, ob der Vater von Alice nicht den Verstand verloren hatte.
»Aber das ist eine Antwort, die jeder in sich selbst finden muss. Damit will ich sagen, dass niemand sie Ihnen beibringen und niemand für Sie abgeben kann.«
Gaspard Ferrand warf Servaz einen durchdringenden Blick zu, um herauszufinden, ob er verstanden hatte. Servaz fühlte sich äußerst unwohl.
»Aber ich bringe Sie in Verlegenheit«, stellte sein Gastgeber fest. »Verzeihen Sie mir. Das kommt davon, wenn man allein lebt. Meine Frau ist zwei Jahre nach dem Tod von Alice an einer rasant verlaufenden Krebserkrankung gestorben. Sie interessieren sich also für diese Suizidwelle vor fünfzehn Jahren, obwohl Sie doch gerade mit Ermittlungen über den Mord an dem Apotheker beschäftigt sind. Warum?«
»Hat keiner der Jugendlichen einen Abschiedsbrief hinterlassen?«, fragte Servaz, ohne zu antworten.
»Keiner. Aber das heißt nicht, dass es keine gab. Keine Erklärung, meine ich. All diese Selbstmorde haben ein Motiv, diese Jugendlichen haben ihrem Leben aus einem ganz bestimmten Grund ein Ende gesetzt. Nicht einfach nur, weil sie der Ansicht waren, das Leben sei nicht lebenswert.«
Ferrand starrte seinen Gast unverwandt an. Servaz fragte sich, ob er von den Gerüchten wusste, die über Grimm, Perrault, Chaperon und Mourrenx kursierten.
»Hatte sich Alice vor ihrem Selbstmord irgendwie verändert?«
Ferrand nickte.
»Ja. Wir haben das nicht sofort bemerkt. Nach und nach haben wir Veränderungen festgestellt: Alice lachte nicht mehr wie früher, sie wurde öfter und schneller wütend, sie verbrachte mehr Zeit in ihrem Zimmer … Solche Kleinigkeiten … Eines Tages wollte sie aufhören, Klavier zu spielen. Sie sprach nicht mehr wie früher mit uns über ihre Pläne.«
Servaz spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Er erinnerte sich an Alexandras Anruf in seinem Hotel. Auch den blauen Fleck an Margots Wange sah er wieder vor sich.
»Und Sie wissen nicht, wann genau das angefangen hat?«
Ferrand zögerte. Servaz hatte das merkwürdige Gefühl, dass der Vater von Alice eine genaue Vorstellung davon hatte, wann diese Veränderung begonnen hatte, dass es ihm aber widerstrebte, darüber zu reden.
»Mehrere Monate vor ihrem Selbstmord, würde ich sagen. Meine Frau hat diese Veränderungen auf ihre Pubertät geschoben.«
»Und Sie? Waren Sie auch der Meinung, dass es sich um altersbedingte Veränderungen handelte?«
Ferrand warf ihm wieder einen merkwürdigen Blick zu.
»Nein«, antwortete er nachdrücklich nach einer Pause.
»Was ist ihr zugestoßen, Ihrer Meinung nach?«
Alices Vater schwieg so lange, dass Servaz ihn beinahe am Arm geschüttelt hätte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er, ohne Servaz aus den Augen zu lassen, »aber ich bin mir sicher, dass irgendetwas passiert ist. Jemand in diesem Tal weiß, warum sich unsere Kinder umgebracht haben.«
In der Antwort und in dem Tonfall, in dem sie vorgebracht wurde, schwang etwas Anspielungsreiches mit, das Servaz sofort hellhörig machte. Er wollte gerade um genauere Ausführungen bitten, als das Handy in seiner Tasche vibrierte.
»Entschuldigen Sie mich«, sagte Servaz im Aufstehen.
Es war Maillard. Der Gendarmerie-Offizier klang angespannt.
»Wir haben gerade einen sehr seltsamen Anruf erhalten. Ein Typ, der seine Stimme verstellte. Er hat gesagt, es sei dringend, er habe Informationen über den Mord an Grimm. Aber er wollte nur mit Ihnen reden. Wir haben natürlich schon öfter Anrufe dieser Art bekommen, aber … ich weiß nicht … dieser da schien ernst zu sein. Dieser Typ schien Angst zu haben.«
Servaz fuhr zusammen.
»Angst? Wieso ›Angst‹? Sind Sie sicher?«
»Ja, ich würde die Hand dafür ins Feuer legen.«
»Haben Sie ihm meine Nummer gegeben?«
»Ja. War das ein Fehler?«
»Nein, es war richtig. Haben Sie seine Nummer?«
»Es war ein Handy. Er hat sofort aufgelegt, als er Ihre Nummer hatte. Wir haben versucht, ihn zurückzurufen, aber jedes Mal ging nur der Anrufbeantworter dran.«
»Konnten Sie ihn identifizieren?«
»Nein, noch nicht. Wir müssen uns an den Betreiber wenden.«
»Rufen Sie sofort Confiant und Capitaine Ziegler an! Ich kann mich jetzt nicht darum kümmern! Schildern Sie ihnen die Situation; wir müssen so schnell wie möglich die Identität des Anrufers ermitteln!«
»Okay. Er wird Sie bestimmt anrufen«, bemerkte der Gendarm.
»Wann hat er Sie denn angerufen?«
»Vor weniger als fünf Minuten.«
»Nun, dann wird er mich bestimmt in den nächsten Minuten anrufen. Verständigen Sie Confiant. Und Ziegler! Vielleicht will mir der Typ nicht sagen, wer er ist. Vielleicht ist es ein getürkter Anruf. Aber wir brauchen seine Identität!«
Servaz legte auf, gespannt wie ein Flitzbogen. Was ging da vor? Wer versuchte, ihn zu kontaktieren? Chaperon? Jemand anders? Jemand, der Angst hatte …
Jemand, der auch befürchtete, dass ihn die Gendarmen von Saint-Martin möglicherweise wiedererkannten, und der deshalb seine Stimme verstellte …
»Gibt’s Ärger?«
»Eher Fragen«, antwortete er zerstreut. »Und vielleicht Antworten.«
»Sie haben einen nicht gerade leichten Beruf.«
Servaz musste lächeln.
»Sie sind der erste Lehrer, von dem ich das höre.«
»Ich habe nicht gesagt, dass es ein ehrbarer Beruf ist.«
Servaz empfand die Anspielung als kränkend.
»Wieso sollte er es nicht sein?«
»Sie stehen im Dienst der Macht.«
Servaz spürte, wie er wieder wütend wurde.
»Es gibt Tausende von Männern und Frauen, die mit der Macht, wie Sie es nennen, nichts anfangen können und die ihr Familienleben, ihre Wochenenden, ihren Schlaf opfern, um sich als letztes Bollwerk, als letzter Damm gegen …«
»… die Barbarei zu stellen?«, schnitt er ihm unwirsch das Wort ab.
»Ja. Sie können sie hassen, kritisieren oder verachten, aber Sie kommen nicht ohne sie aus.«
»Ebenso wenig, wie man ohne die Lehrer auskommt, die auch kritisiert, gehasst oder verachtet werden«, sagte Ferrand lächelnd. Die Botschaft war angekommen.
»Ich würde mir gern Alices Zimmer ansehen.«
Ferrand richtete seinen hochgewachsenen, braungebrannten Körper in den hellen Leinenkleidern auf.
»Kommen Sie.«
Servaz bemerkte die Staubflocken auf der Treppe und das Geländer, das schon lange nicht mehr gewachst worden war. Ein alleinstehender Mann. Wie er. Wie Gabriel Saint-Cyr. Wie Chaperon. Wie Perrault … Das Zimmer von Alice befand sich nicht im ersten Stock, sondern ganz oben, unter dem Dach.
»Da ist es«, sagte Ferrand und zeigte auf eine weiße Tür mit Kupfergriff.
»Haben Sie … haben Sie inzwischen die Sachen Ihrer Tochter weggeworfen oder das Zimmer renoviert?«
Diesmal verschwand das Lächeln aus dem Gesicht von Gaspard Ferrand und wich einer fast verzweifelten Grimasse.
»Wir haben nichts angerührt.«
Er wandte ihm den Rücken zu und stieg wieder hinunter. Servaz blieb einen Moment auf dem kleinen Treppenabsatz im zweiten Stock stehen. Unten aus der Küche hörte er das Klirren von Geschirr. Ein Dachfenster über seinem Kopf erhellte den Treppenabsatz. Als Servaz aufblickte, sah er, dass ein dünner Film aus durchscheinendem Schnee an der Scheibe klebte. Er atmete tief ein. Dann betrat er das Zimmer.
Das Erste, was ihm auffiel, war die Stille.
Wahrscheinlich wurde sie durch den Schnee, der draußen fiel und alle Geräusche dämpfte, noch verstärkt. Aber dies war eine besondere Stille. Als Zweites fiel ihm die Kälte auf. Das Zimmer wurde nicht geheizt. Unwillkürlich ließ ihn dieses Zimmer, das still und kalt wie ein Grab war, erschauern. Denn es war unübersehbar, dass hier jemand gelebt hatte. Ein junges Mädchen, das war wirklich unverkennbar …
Fotos an den Wänden. Ein Schreibtisch, Regale, ein Kleiderschrank. Eine Kommode, darüber ein großer Spiegel. Ein Bett mit zwei Nachttischen. Das Mobiliar schien aus Trödelläden zusammengekauft und anschließend in kräftigen Farben neu gestrichen worden zu sein – Orange und Gelb dominierten, von dem Violett der Wände und dem Weiß des Teppichbodens hob es sich kräftig ab.
Die Schirme der kleinen Lampen und die Nachttische waren orange, Bett und Schreibtisch ebenfalls; die Kommode und der Spiegelrahmen waren gelb. An einer der Wände hing ein großes Poster eines blonden Sängers mit dem Namen KURT in Großbuchstaben. Ein Schal, Stiefel, Zeitschriften und CDs lagen verstreut auf dem weißen Teppichboden herum. Eine geraume Weile tat er nichts anderes, als dieses Chaos auf sich einwirken zu lassen. Woher kam dieser Eindruck, dass die Luft ganz dünn war? Wahrscheinlich hing es damit zusammen, dass alles unangetastet geblieben war, wie eingefroren. Sah man einmal vom Staub ab. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, auch nur ein bisschen aufzuräumen – als hätten ihre Eltern die Zeit anhalten und aus diesem Zimmer ein Museum, ein Mausoleum machen wollen. Auch nach all diesen Jahren wirkte dieses Zimmer noch immer so, als würde Alice im nächsten Moment auftauchen und Servaz fragen, was er hier zu suchen hatte. Wie oft war der Vater von Alice während all dieser Jahre in dieses Zimmer gekommen und hatte das Gleiche empfunden wie er? Servaz sagte sich, dass er an seiner Stelle wohl verrückt geworden wäre, mit diesem Zimmer direkt über ihm, das unverändert geblieben war, und mit der täglichen Versuchung, die Stufen hinaufzusteigen und die Tür noch einmal – ein letztes Mal – zu öffnen … Er trat ans Fenster und sah nach draußen. Die Straße wurde zusehends weißer. Dann atmete er ein weiteres Mal tief ein, drehte sich um und begann mit der Durchsuchung.
Auf dem Schreibtisch, auf einem Haufen: Schulbücher, Haargummis, eine Schere, mehrere Stiftebecher, Papiertaschentücher, Bonbontüten, eine rosa Haftnotiz, auf der Servaz die folgende Nachricht las: Biblio, 12:30 Uhr, die Tinte war mit der Zeit verblichen. Ein Terminkalender, mit einem Gummi umwickelt, ein Taschenrechner, eine Lampe. Er schlug den Kalender auf. Am 25. April, eine Woche vor ihrem Tod, hatte Alice geschrieben: Emma Buch zurückgeben. Am 29. der Eintrag: Charlotte. Am 30., drei Tage bevor sie sich erhängte, Mathe-Arbeit. Eine runde, klare Handschrift. Ihre Hand hatte nicht gezittert … Servaz blätterte die Seiten um. Am 11. August der Eintrag: Geburtstag Emma. Zu diesem Zeitpunkt war Alice seit über drei Monaten tot. Ein Datum, das weit im Voraus notiert worden war … Wo war Emma heute? Was war aus ihr geworden? Sie musste inzwischen um die dreißig sein. Auch nach all diesen Jahren würde sie gewiss hin und wieder an dieses schreckliche Jahr 1993 denken. All diese Toten … Über dem Schreibtisch, mit Reißzwecken an die Wand geheftet, ein Stundenplan und ein Kalender. Die Schulferien waren mit einem gelben Marker unterstrichen. Servaz’ Blick verweilte auf dem schicksalhaften Datum: 2. Mai. Nichts, was diesen Tag von den anderen Tagen unterscheiden würde … Darüber ein Regalbrett aus Holz mit Büchern und Judopokalen, die zeigten, dass sie in dieser Disziplin hervorragend gewesen war, und ein Kassettenrekorder.
Er wandte sich den Nachttischen zu. Darauf neben den beiden Lampen mit orangefarbenen Lampenschirmen ein Wecker, zwei Taschentücher, eine kleine Spielkonsole der Marke Gameboy, eine Haarklammer, Nagellack, ein Roman in Taschenbuchausgabe mit einem Lesezeichen. Er zog die Schubladen auf. Papier mit Zierbuchstaben, eine kleine Truhe mit unechtem Schmuck, ein Päckchen Kaugummi, ein Fläschchen Parfüm, ein Deostift, Batterien.
Er tastete die Unterseite der Schubladen ab.
Nichts.
Im Innern des Schreibtischs befanden sich Ordner, Hefte und Schulbücher, Unmengen von Kugelschreibern, Filzstiften und Büroklammern. Ein Spiralheft voller Skizzen in der mittleren Schublade. Servaz schlug es auf: Alice war sichtlich begabt. Ihre Blei- und Filzstiftzeichnungen zeugten von einer sicheren Hand und einem scharfen Auge – auch wenn die meisten noch etwas zu akademisch ausfielen. In der unteren Schublade waren wieder Haargummis und eine Bürste, an der einige blonde Haare hängen geblieben waren, ein Nagelschneider, mehrere Lippenstifte, aber auch Röhrchen Aspirin, Mentholzigaretten, ein durchsichtiges Plastikfeuerzeug … Er öffnete die Ordner und die Hefte in der ersten Schublade: Hausaufgaben, Erörterungen, Konzepte … Er legte sie zur Seite und trat an die kleine Stereoanlage, die in einer Ecke auf dem Teppichboden stand. Ein CD-Spieler und ein Radio. Auch sie war von einer dicken Staubschicht überzogen. Servaz blies eine graue Staubwolke auf, dann öffnete er nacheinander die Fächer. Nichts. Dann trat er an den großen Spiegel und die Fotowand. Einige Aufnahmen waren aus so kurzer Distanz gemacht worden, dass die darauf abgebildeten Personen förmlich mit der Nase am Objektiv klebten. Bei anderen waren im Hintergrund Landschaften zu sehen: Berge, ein Strand oder auch die Säulen des Parthenons. Mädchen, die zum größten Teil in Alices Alter waren. Immer dieselben Gesichter. Manchmal mischten sich ein oder zwei Jungen unter die Gruppe. Aber der Fotograf schien niemanden vorzuziehen. Klassenfahrten? Servaz musterte diese Fotos eine ganze Weile. Alle waren mit der Zeit vergilbt und schrumpelig geworden.
Was suchte er eigentlich? Plötzlich hielt er bei einem der Fotos inne. Etwa zehn junge Leute, darunter Alice, standen neben einem verrosteten Schild. Colonie des Isards … Alice gehörte zu denen, die sich in der Kolonie aufgehalten hatten … Ihm fiel auch auf, dass Alice auf den Fotos, auf denen sie zu sehen war, immer der Mittelpunkt war. Die Schönste, die Strahlendste – der Blickfang.
Der Spiegel.
Er hatte einen Sprung.
Jemand hatte einen Gegenstand dagegen geschleudert; das Geschoss hatte dort, wo es aufgeschlagen war, sternförmige Risse und einen langen diagonalen Spalt zurückgelassen. Alice? Oder ihr Vater in einem Moment der Verzweiflung?
Postkarten, eingeklemmt zwischen Rahmen und Spiegel. Auch sie vergilbt. Verschickt von Orten wie der Île de Ré, Venedig, Griechenland oder Barcelona. Im Laufe der Zeit waren einige schließlich auf die Kommode und den Teppichboden gefallen. Eine davon erweckte seine Aufmerksamkeit. Mistwetter, du fehlst mir. Unterzeichnet mit Emma. Ein Palästinenserschal auf der Kommode, ein paar Kinkerlitzchen, Watte zum Abschminken und ein blauer Schuhkarton. Servaz öffnete ihn. Briefe … Ein kleines Zittern durchlief ihn, als er an die Briefe der Selbstmörder dachte – die, die sich in dem Karton von Saint-Cyr befanden. Er sichtete sie nacheinander. Naive oder lustige Briefe, geschrieben mit blasslila oder violetter Tinte. Immer die gleichen Unterschriften. Er fand nicht die leiseste Anspielung auf das, was bevorstand. Er müsste die Handschriften mit denen der Briefe im Karton vergleichen, dann sagte er sich, dass das bestimmt bereits getan worden war … Die Kommodenschubladen … Er hob die Stapel von T-Shirts, Unterwäsche, Bettlaken und Decken an. Dann kniete er sich auf den Teppichboden und sah unter dem Bett nach. Riesige Staubflocken, mit denen man eine Daunendecke hätte stopfen können, und eine Gitarrentasche.
Er zog sie ans Licht und öffnete sie. Kratzer im Lack des Instruments, die h-Saite war gerissen. Servaz warf einen Blick ins Innere des Resonanzkörpers: nichts. Ein Federbett mit Rautenmuster auf dem Bett. Er sah sich genauer die CDs an, die verstreut darauf lagen: Guns N’Roses, Nirvana, U2 … Nur englische Titel. Dieses Zimmer war ein wahres Museum der neunziger Jahre. Kein Internet, kein Computer, kein Handy: Die Welt verändert sich heute so schnell, dass ein Menschenleben dafür nicht mehr ausreicht, sagte er sich. Er drehte Kissen, Leintücher und Federbett um, fuhr mit der Hand unter der Matratze durch. Das Bett verströmte keinen besonderen Duft, keinen besonderen Geruch – der Staub, der darauf lag, wirbelte bis zur Decke empor.
Ein kleiner Armsessel mit hoher Lehne neben dem Bett. Jemand (Alice?) hatte auch ihn orange angestrichen. Eine alte Militärjacke war über die Rückenlehne geworfen. Er klopfte auf den Sitz, aber er wirbelte damit lediglich eine neue Staubwolke auf; dann setzte er sich und sah sich um, versuchte, seine Gedanken schweifen zu lassen.
Was sah er hier?
Das Zimmer eines jungen Mädchens, das ein Kind seiner Zeit, aber auch sehr weit für sein Alter war.
Servaz hatte unter den Büchern Der eindimensionale Mensch von Marcuse, Die Dämonen und Schuld und Sühne entdeckt. Wer hatte ihr diese Lektüre empfohlen? Bestimmt nicht ihre kleinen Kameradinnen mit den Puppengesichtern. Dann erinnerte er sich, dass ihr Vater Philologe war. Noch einmal ließ er seinen Blick durch das Zimmer schweifen.
Das beherrschende Element in diesem Zimmer, sagte er sich, sind Texte, Wörter. Die der Bücher, der Postkarten, der Briefe … Alle von anderen aufgeschrieben. Wo waren die Wörter von Alice? War es möglich, dass ein Mädchen, das Bücher verschlang und das seine Gefühle an der Gitarre und beim Zeichnen zum Ausdruck brachte, nie das Bedürfnis verspürt haben sollte, das auch mit Wörtern zu tun? Das Leben von Alice hatte am 2. Mai aufgehört, die letzten Tage ihres Lebens hatten nirgends die geringste Spur hinterlassen. Unmöglich, sagte er sich. Kein Tagebuch, nichts: Irgendetwas stimmte nicht. Ein Mädchen in diesem Alter, das intelligent und neugierig war, wahrscheinlich über einen unerschöpflichen Vorrat an existenziellen Fragen verfügte und vor allem so verzweifelt war, dass es sich umbrachte, sollte keinerlei Tagebuch geführt haben? Nicht einmal ein paar seiner Gemütszustände einem Notizbuch oder losen Blättern anvertraut haben? Heute hatten Jugendliche Blogs, elektronische Briefkästen, persönliche Profile in sozialen Netzwerken – aber früher konnten nur Papier und Tinte ihre Fragen, ihre Zweifel und ihre Geheimnisse aufnehmen.
Er stand wieder auf und sah nacheinander sämtliche Hefte und Schubladen von Alices Schreibtisch durch. Nichts als Schulsachen. Er warf einen Blick auf die Erörterungen. Die Beurteilungen waren genauso hervorragend wie die Noten … Aber noch immer keine persönlichen Aufzeichnungen.
Hatte Alices Vater hier aufgeräumt?
Er hatte Servaz spontan empfangen, und er hatte ihm gesagt, er sei überzeugt davon, dass die Jugendlichen sich aus einem bestimmten Grund umgebracht hätten. Weshalb sollte er Dinge beiseiteschaffen, die bei der Wahrheitsfindung hilfreich sein könnten? In den amtlichen Berichten hatte Servaz keinen Hinweis auf ein Tagebuch gefunden. Nichts deutete darauf hin, dass Alice eines geführt hatte. Trotz allem war der Eindruck stärker denn je: In diesem Zimmer fehlte etwas.
Ein Versteck … Hatten das nicht alle Mädchen? Wo war das von Alice?
Servaz stand auf und öffnete den Kleiderschrank. Mäntel, Kleider, Blousons, Jeans und ein weißer Kimono mit einem braunen Gürtel, alles auf Bügeln. Er schob sie zur Seite, durchsuchte die Taschen. Vor der Rückwand des Schranks eine Reihe von Schuhen und Stiefeln. Im Lichtschein seiner kleinen Taschenlampe nahm Servaz das Innere genauer unter die Lupe. Über den Bügeln befand sich ein Regal mit mehreren Koffern und einem Rucksack darauf. Er nahm sie heraus, legte sie auf den Teppichboden – eine große Staubwolke wirbelte hoch – und durchsuchte sie systematisch.
Nichts … Er überlegte …
Das Zimmer war mit Sicherheit von erfahrenen Ermittlern – und von Alices Eltern selbst – eingehend untersucht worden. War es möglich, dass sie das Versteck nicht gefunden hatten, wenn es eines gab? Hatten sie überhaupt danach gesucht? Alle hatten gesagt, Alice sei hochintelligent gewesen. Hatte sie ein über jeden Zweifel erhabenes Versteck gefunden? Oder war er auf dem Holzweg?
Was wusste er schon von den Gedanken und Träumen einer Sechzehnjährigen? Seine eigene Tochter war vor ein paar Monaten siebzehn geworden, und er hätte nicht zu sagen vermocht, wie ihr Zimmer aussah. Aus dem einfachen Grund, dass er es nie betreten hatte. Bei diesem Gedanken fühlte er sich schlecht. Am Rande seines Bewusstseins spürte er so etwas wie einen Juckreiz. Er hatte beim Durchsuchen des Zimmers etwas übersehen. Oder vielmehr hätte sich etwas hier befinden müssen, was nicht da war. Denk nach! Es war da, zum Greifen nah, er spürte es. Sein Instinkt sagte ihm, dass etwas fehlte. Was? WAS? Noch einmal ließ er seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Er ging alle Möglichkeiten durch. Er hatte alles genau untersucht, selbst die Fußleisten und die Parkettstäbe unter dem weißen Teppichboden. Da war nichts gewesen. Und doch hatte sein Unterbewusstsein etwas registriert, da war er sich ganz sicher – selbst wenn es ihm nicht gelang, den Finger daraufzulegen.
Er nieste wegen des ganzen Staubs, der in der Luft schwebte, und zog ein Taschentuch heraus.
Plötzlich fiel Servaz das Telefon wieder ein.
Kein Anruf! Eine Stunde vergangen und kein Anruf! Er spürte, wie sich sein Magen zusammenschnürte. Verdammt, was war mit ihm los? Warum rief er nicht an?
Servaz nahm sein Handy aus der Tasche und warf einen Blick darauf. Er unterdrückte eine Anwandlung von Panik: Es war ausgeschaltet! Er versuchte, es wieder anzuschalten: Entladen! Verdammt!
Er stürzte aus dem Zimmer und rannte die Treppe hinunter. Gaspard Ferrand steckte den Kopf aus der Küchentür, als er im Flur daran vorbeilief.
»Ich komme sofort wieder!«, rief er und riss die Eingangstür auf.
Draußen wütete der Sturm. Der Wind wehte stärker. Die Fahrbahn war weiß, und Schneeflocken wirbelten umher.
Hektisch entriegelte er den auf der anderen Straßenseite abgestellten Jeep, durchwühlte das Handschuhfach nach dem Ladegerät. Dann eilte er im Laufschritt zum Haus zurück.
»Nichts passiert!«, beruhigte er den verdutzten Ferrand.
Er sah sich nach einer Steckdose um, entdeckte eine im Flur und schloss das Ladegerät an.
Er wartete fünf Sekunden und schaltete dann das Handy an. Vier SMS!
Er wollte gerade die erste lesen, als das Handy klingelte.
»Servaz!«, rief er.
»WO HABEN SIE DENN GESTECKT, VERFLUCHT?«
Eine völlig panische Stimme; Servaz war kaum weniger panisch. Seine Ohren brummten wegen des Blutes, das in seinen Schläfen pochte. Der Mann verstellte seine Stimme nicht – aber er kannte sie nicht.
»Wer sind Sie?«
»Ich heiße Serge Perrault, ich bin ein Freund von …«
Perrault!
»Ich weiß, wer Sie sind!«, fiel er ihm ins Wort.
Kurzes Schweigen.
»Ich muss mit Ihnen reden, sofort!«, entfuhr es Perrault.
Seine Stimme klang hysterisch.
»Wo?«, schrie Servaz. »Wo?«
»Oben auf den Eiern, in einer Viertelstunde. Beeilen Sie sich!«
Servaz spürte, wie ihn die Panik überkam.
»Wo?«
»Oben an der Seilbahn, verdammt! Da oben in Saint-Martin 2000, bei den Schleppliften! Ich werde dort sein. Halten Sie sich ran, verflucht! Verstehen Sie denn nicht: Ich bin an der Reihe! Kommen Sie allein!«