11
Sonntagmorgen im Institut Wargnier. Es herrschte eine seltsame Stille. Diane schien es, als wäre die ganze Klinik verwaist. Kein Geräusch. Sie schlug das Federbett zurück, stand auf und suchte den winzigen – und eiskalten – Waschraum auf. Eine schnelle Dusche; sie wusch sich die Haare, trocknete sie und putzte sich wegen der Kälte die Zähne so schnell wie möglich.
Als sie wieder hinausging, warf sie einen Blick durchs Fenster. Nebel. Wie ein riesiges Gespenst, das sich im Schutz der Nacht niedergelassen hatte. Er hing über der dicken Schneedecke, verschluckte die weißen Tannen. Die Klinik verschwand im Nebel; in einer Entfernung von zehn Metern stieß der Blick gegen eine Wand aus weißem Dunst. Sie zog den Morgenrock fest um sich.
Sie wollte nach Saint-Martin hinunterfahren und dort einen Spaziergang machen. Schnell zog sie sich an und verließ ihr Zimmer. Die Cafeteria im Erdgeschoss war bis auf den Servicemitarbeiter leer, sie bestellte einen Cappuccino und ein Croissant und setzte sich an das große Glasfenster. Sie saß kaum zwei Minuten, als ein etwa dreißigjähriger Mann im weißen Kittel den Raum betrat und sich ein Tablett nahm. Sie beobachtete ihn unauffällig dabei, wie er einen großen Milchkaffee, einen Orangensaft und zwei Croissants bestellte, dann sah sie, wie er mit seinem Tablett auf sie zukam.
»Guten Tag, darf ich mich setzen?«
Sie nickte lächelnd.
»Diane Berg«, sagte sie, während sie ihm die Hand reichte, »ich bin …«
»Ich weiß. Alex. Ich bin einer der psychiatrischen Krankenpfleger. Haben Sie sich schon eingewöhnt?«
»Ich hab gerade erst hier angefangen …«
»Gar nicht so einfach, oder? Als ich das erste Mal hier war und das alles gesehen habe, wäre ich um ein Haar wieder in mein Auto gestiegen und davongefahren«, sagte er lachend. »Aber wenigstens schlafe ich nicht hier.«
»Wohnen Sie in Saint-Martin?«
»Nein, ich wohne nicht im Tal.«
Er hatte das gesagt, als hätte er auch nicht die geringste Lust darauf.
»Wissen Sie, ob es im Winter in den Zimmern immer so kalt ist?«, fragte sie.
Er sah sie lächelnd an. Er hatte ein recht angenehmes und offenes Gesicht, warme kastanienbraune Augen und Locken. Er hatte auch ein großes Muttermal mitten auf der Stirn, das wie ein drittes Auge aussah. Einen Moment lang verweilte ihr Blick unangenehm berührt auf diesem Mal, und sie errötete, als sie sah, dass er es bemerkt hatte.
»Ja, ich befürchte es«, sagte er. »Im obersten Stockwerk zieht es ständig, und die Heizung ist ziemlich alt.«
Hinter der großen Scheibe war die wunderschöne nebelverhangene Landschaft aus Schneeflächen und Tannen wie zum Greifen nah. Es war so seltsam, hier einen heißen Kaffee zu trinken und nur durch eine einfache Scheibe von diesem weißen Meer getrennt zu sein, dass Diane den Eindruck hatte, die Kulisse eines Kinofilms zu betrachten.
»Was genau ist Ihre Aufgabe?«, fragte sie, entschlossen, die Gelegenheit zu ergreifen, um mehr in Erfahrung zu bringen.
»Meinen Sie: welche Aufgaben ein Pfleger hier hat?«
»Ja.«
»Nun … als psychiatrischer Pfleger richtet man die Medikamente her und verteilt sie, man stellt sicher, dass die Patienten sie verschreibungsgemäß einnehmen, dass es nach der Einnahme nicht zu unerwünschten Nebenwirkungen kommt … Selbstverständlich werden die Insassen auch überwacht … Aber wir überwachen sie nicht nur einfach: Wir geben ihnen Beschäftigungsmöglichkeiten, sprechen mit ihnen, beobachten sie, wir nehmen uns Zeit für sie, hören ihnen zu … Aber alles in Maßen. Als Pfleger sollte man weder allzu zugewandt noch allzu distanziert sein. Weder Gleichgültigkeit noch systematische Hilfe. Man muss Grenzen setzen. Vor allem hier. Mit diesen …«
»Werden sehr starke Medikamente eingesetzt?«, fragte sie und versuchte, nicht mehr auf das Mal an seiner Stirn zu starren.
Er warf ihr einen leicht argwöhnischen Blick zu.
»Ja … Hier geht es weit über die empfohlenen Dosierungen hinaus. Das ist ein bisschen wie Hiroshima im Bordeaux-Weinglas. Man ist hier nicht zimperlich. Aber vollgepumpt werden sie auch nicht. Sehen Sie sie an: Das sind keine Zombies. Es ist nur so, dass die meisten dieser … Individuen … quasi pharmaresistent sind. Daher jonglieren wir mit Cocktails aus Tranquilizern und Neuroleptika, die einen Stier umhauen würden: vier Einnahmen pro Tag statt drei, und dann gibt es die Elektroschocks, die Zwangsjacke, und wenn nichts anderes funktioniert, greift man auf den Wunderwirkstoff zurück, Clozapin …«
Diane hatte davon gehört: Clozapin war ein atypisches Antipsychotikum, das zur Behandlung von Schizophrenien verwendet wurde, die auf andere Medikamente nicht ansprachen. Wie die meisten Medikamente, die in der Psychiatrie verwendet wurden, hatte auch Clozapin mitunter gravierende Nebenwirkungen: Inkontinenz, vermehrten Speichelfluss, Sehstörungen, Gewichtszunahme, Krämpfe, Thrombosen …
»Man muss sich klarmachen«, fügte er mit einem matten Lächeln hinzu, das ihm im Gesicht gefror, »dass hier immer ein hohes Gewaltrisiko besteht.«
Sie hörte im Geiste die Worte Xaviers: »Die Intelligenz entwickelt sich nur dort, wo es Veränderung und Gefahr gibt.«
»Gleichzeitig ist es hier aber sicherer als in gewissen Großstadtvierteln.«
Er schüttelte den Kopf.
»Unter uns gesagt, liegt das Steinzeitalter der Psychiatrie noch nicht lange zurück. Da wurden die Patienten mit unvorstellbar grausamen Behandlungsmethoden traktiert, die der Folter der Inquisition oder der Naziärzte in nichts nachstanden … Die Dinge haben sich weiterentwickelt, aber es bleibt viel zu tun … Man spricht hier nie von Heilung, sondern von Stabilisierung, Abschwächung der Symptome …«
»Haben Sie hier noch andere Aufgaben?«, fragte sie.
»Ja. Es gibt die ganze administrative Arbeit: den Papierkram, die Formalitäten …«
Sie sah kurz nach draußen.
»Und dann gibt es die Gespräche mit den Pflegern, die Dr. Xavier und die Leiterin des Pflegediensts anordnen.«
»Wie sehen die aus?«
»Die sind streng reglementiert. Wir wenden ausgetüftelte Verfahren an, es handelt sich um strukturierte Gespräche, mehr oder minder Standardfragebögen, aber wir improvisieren auch … Wir müssen eine möglichst neutrale Haltung einnnehmen, dürfen uns nicht allzu invasiv zeigen, um die Angst zu mindern … Wir müssen Phasen des Schweigens respektieren … Pausen machen … Andernfalls kommt es schnell zu heiklen Situationen …«
»Führen Xavier und Ferney ebenfalls solche Therapiegespräche?«
»Ja, natürlich.«
»Unterscheiden sich die Gespräche, die Sie führen, von denen, die Xavier und Ferney führen?«
»Nein, eigentlich nicht. Außer, dass uns gewisse Patienten Dinge anvertrauen, die sie ihnen nicht anvertrauen würden. Weil wir ihnen im Alltag näher sind und versuchen, eine Vertrauensbeziehung zwischen Pflegekräften und Patienten aufzubauen … Im Übrigen entscheiden über die Medikation und sonstige therapeutische Maßnahmen Xavier und Elisabeth …«
Bei diesem letzten Satz hatte seine Stimme seltsam geklungen. Diane blickte hoch.
»Offenbar heißen Sie ihre Entscheidungen nicht immer gut.«
Sein Schweigen verwunderte sie. Es dauerte so lange, bis er antwortete, dass sie eine Braue hochzog.
»Sie sind neu hier, Diane … Sie werden sehen …«
»Was werde ich sehen?«
»…«
Er warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Offenbar hatte er keine Lust, sich auf dieses Terrain zu begeben. Aber sie wartete, ihr Blick ein Fragezeichen.
»Wie soll ich sagen? … Sie wissen ja, dass diese Einrichtung hier ziemlich einmalig ist … Wir behandeln Patienten, vor denen alle anderen Kliniken kapituliert haben … Was hier los ist, hat nichts mit dem zu tun, was sonst wo los ist.«
»Zum Beispiel die Elektroschocks ohne Betäubung, die man den Patienten der Station A verabreicht?«
Im nächsten Moment bereute sie ihre Worte. Sie sah, wie sein Blick um einige Grad kälter wurde.
»Wer hat Ihnen das erzählt?«
»Xavier.«
»Lassen wir das.«
Er fixierte seinen Milchkaffee, seine Stirn lag in Falten. Er schien sich darüber zu ärgern, dass er sich auf dieses Gespräch eingelassen hatte.
»Ich bin mir nicht einmal sicher, ob das legal ist«, hakte sie nach. »Ist das nach französischem Recht erlaubt?«
Er hob den Kopf.
»Nach französischem Recht? Wissen Sie, wie viele psychiatrische Zwangseinweisungen es jedes Jahr in diesem Land gibt? Fünfzigtausend … In den modernen Demokratien sind Zwangseinweisungen ohne Einverständnis des Patienten die Ausnahme. Nicht bei uns … Psychisch Kranke – und selbst diejenigen, die man nur dafür hält – haben weniger Rechte als andere Bürger. Sie wollen einen Verbrecher festnehmen? Da müssen Sie bis sechs Uhr früh warten. Wenn einer aber von seinem Nachbarn für verrückt gehalten wird und wenn dieser Nachbar einen Antrag auf Zwangseinweisung gestellt hat, dann kann die Polizei zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit zugreifen. Die Justiz kommt erst ins Spiel, wenn der Person ihre Freiheit schon entzogen wurde. Und das auch nur, wenn diese Person ihre Rechte kennt und weiß, wie sie sie durchsetzen kann … Das ist die Psychiatrie in diesem Land. Das und die Unterfinanzierung, der Missbrauch von Neuroleptika, unangemessene Therapien … Unsere psychiatrischen Kliniken sind rechtsfreie Zonen. Und das gilt ganz besonders für diese Einrichtung …«
Bitter hatte diese lange Tirade geklungen, und alles Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. Er stand auf und schob seinen Stuhl zurück.
»Sehen Sie sich überall um und bilden Sie sich Ihr eigenes Urteil«, riet er ihr.
»Mein eigenes Urteil worüber?«
»Über das, was hier vorgeht.«
»Weil hier etwas vorgeht?«
»Was soll’s? Sie wollten mehr darüber wissen, oder?«
Sie sah ihm nach, wie er sein Tablett zurückbrachte und den Raum verließ.
Als Erstes ließ Servaz die Jalousie herunter und schaltete die Neonröhren an. Er wollte nicht, dass ein Journalist mit einem Teleobjektiv Bilder von ihnen schoss. Der junge Comicautor war nach Hause gegangen. Im Besprechungszimmer hatten Espérandieu und Ziegler ihre Notebooks herausgeholt und tippten darauf herum. Cathy d’Humières stand in einer Ecke des Zimmers und telefonierte. Dann schaltete sie das Handy aus und setzte sich an den Tisch. Servaz warf den anderen einen kurzen Blick zu und wandte sich dann um.
In einer Ecke beim Fenster stand eine weiße Tafel. Er schob sie ins helle Licht, nahm einen Textmarker und zeichnete zwei Spalten:
Pferd |
Grimm |
zerstückelt |
nackt |
enthauptet |
stranguliert |
Finger abgeschnitten, |
|
Stiefel, Cape |
|
nachts getötet? |
nachts getötet? |
DNA Hirtmann |
DNA Hirtmann? |
»Genügt das, um in Erwägung zu ziehen, dass die beiden Taten von denselben Personen begangen wurden?«, fragte er.
»Es gibt Ähnlichkeiten, und es gibt Unterschiede«, antwortete Ziegler.
»Immerhin handelt es sich um zwei Verbrechen, die im Abstand von vier Tagen in derselben Stadt begangen wurden«, sagte Espérandieu.
»Gut. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass es einen zweiten Verbrecher gibt. Es ist bestimmt ein und dieselbe Person.«
»Oder dieselben Personen«, präzisierte Servaz. »Vergessen Sie nicht unser Gespräch im Hubschrauber.«
»Das vergesse ich nicht. Jedenfalls gibt es da etwas, das uns definitiv erlauben würde, die beiden Verbrechen miteinander zu verbinden …«
»Die DNA von Hirtmann.«
»Die DNA von Hirtmann«, bestätigte sie.
Servaz spreizte die Lamellen der Jalousie. Er warf einen Blick nach draußen und ließ sie unter einem kurzen, dumpfen Rasseln zurückschnellen.
»Glauben Sie wirklich, dass er das Institut unbemerkt verlassen konnte?«, fragte er und drehte sich um.
»Nein, unmöglich. Ich habe die Sicherheitsvorkehrungen selbst überprüft. Er konnte nicht durch die Maschen schlüpfen.«
»Dann ist Hirtmann also nicht der Täter.«
»Jedenfalls nicht dieses Mal.«
»Wenn es Hirtmann dieses Mal nicht war, dann war er es vielleicht auch das vorige Mal nicht«, meinte Espérandieu.
Alle Köpfe wandten sich ihm zu.
»Hirtmann ist nie zur Bergstation der Seilbahn hinaufgefahren. Jemand anderes hat es getan. Jemand, der am Institut in Kontakt mit ihm ist und der, absichtlich oder nicht, ein Haar von ihm mitgenommen hat.«
Ziegler warf Servaz einen fragenden Blick zu. Sie begriff, dass er seinem Stellvertreter nicht alles gesagt hatte.
»Außer dass in der Kabine der Seilbahn weder ein Kopf- noch ein Körperhaar gefunden wurde«, stellte sie klar, »sondern Speichel.«
Espérandieu sah sie an. Dann ließ er seinen Blick zu Servaz schweifen, der den Kopf neigte, wie um sich zu entschuldigen.
»Für mich ist das alles nicht logisch«, sagte er. »Warum sollte jemand zuerst ein Pferd und anschließend einen Menschen töten? Warum sollte jemand dieses Tier an der Bergstation einer Seilbahn aufhängen? Und den Mann unter einer Brücke? Was hat das für einen Sinn?«
»In gewisser Weise wurden die beiden gehängt«, sagte Ziegler.
Servaz beobachtete sie.
»Ganz genau.«
Er näherte sich der Tafel, wischte einige Einträge aus und schrieb:
Pferd |
Grimm |
an der Seilbahn |
an der Eisenbrücke |
aufgehängt |
aufgehängt |
abgelegener Ort |
abgelegener Ort |
zerstückelt |
nackt |
enthauptet |
stranguliert, abgeschnittener Finger, Stiefel, Cape |
nachts umgebracht? |
nachts umgebracht? |
DNA Hirtmann |
DNA Hirtmann? |
»Einverstanden. Weshalb bringt man ein Tier um?«
»Um Eric Lombard zu treffen«, sagte Ziegler noch einmal. »Das Kraftwerk und das Pferd führten zu ihm. Man hat es auf ihn abgesehen.«
»Schön. Nehmen wir an, Lombard war das Ziel. Was hat der Apotheker damit zu tun? Andererseits wurde das Pferd enthauptet und zur Hälfe zerstückelt, der Apotheker war nackt und hatte nur ein Cape an. Welche Verbindung besteht zwischen beiden?«
»Wenn man ein Tier zerstückelt, dann ist das ein bisschen so, wie wenn man es nackt auszieht«, spekulierte Espérandieu.
»Um den Körper des Pferdes waren zwei große abgezogene Hautfetzen aufgespannt«, sagte Ziegler. »Wir dachten zuerst, sie sollten Flügel nachahmen – aber vielleicht sollten sie ja ein Cape imitieren …«
»Möglich«, sagte Servaz ohne Überzeugung. »Aber warum wurde es enthauptet? Und dieses Cape, diese Stiefel – was haben sie zu bedeuten?«
Niemand hatte eine Antwort auf diese Fragen. Er fuhr fort:
»Und wir kommen immer auf dieselbe Frage: Was hat Hirtmann mit alldem zu tun?«
»Er fordert euch heraus!«, rief eine Stimme von der Tür.
Sie drehten sich um. Ein Mann stand in der Tür.
Servaz glaubte zunächst, dass es sich um einen Journalisten handelte, und er wollte ihn schon rausschmeißen. Der Mann war um die vierzig, hatte langes hellbraunes Haar, einen gelockten Bart und eine Brille mit kleinen, runden Gläsern. Er nahm die beschlagene Brille ab, wischte sie trocken, setzte sie wieder auf und blickte sie mit seinen hellen Augen eingehend an. Er trug einen weiten Pulli und eine dicke Samthose. Er sah aus wie ein Sozialwissenschaftler, Gewerkschafter oder Achtundsechziger.
»Wer sind Sie?«, fragte Servaz kalt.
»Leiten Sie die Ermittlungen?«
Der Gast näherte sich mit ausgestreckter Hand.
»Simon Propp, ich bin der Kriminalpsychologe. Ich hätte erst morgen kommen sollen, aber die Gendarmerie hat mich angerufen und mir mitgeteilt, was geschehen ist. Und deshalb bin ich schon heute da.«
Er ging um den Tisch herum und gab jedem die Hand. Dann blieb er stehen und betrachtete die freien Stühle. Er entschied sich für einen links von Servaz. Den hat er aus einem ganz bestimmten Grund ausgewählt, dachte Servaz, und er war leicht verärgert – als würde man ihn manipulieren wollen.
Simon Propp betrachtete die Tafel.
»Interessant«, sagte er.
»Wirklich?« Servaz gab sich unabsichtlich sarkastisch. »Was fällt Ihnen dazu ein?«
»Mir wäre es lieber, wenn Sie so weitermachen würden, als wäre ich nicht da, falls Sie das nicht stört«, antwortete der Psychologe. »Tut mir leid, dass ich Sie unterbrochen habe. Selbstverständlich bin ich nicht hier, um Ihre Arbeitsmethoden zu beurteilen.« Servaz sah, wie er winkte. »Im Übrigen könnte ich das auch gar nicht. Das ist nicht der Grund, weshalb ich hier bin. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, wenn es um die Persönlichkeit von Julian Hirtmann geht oder darum, anhand der Indizien am Tatort ein klinisches Profil des Täters zu erstellen.«
»Sie haben beim Reinkommen gesagt, dass er uns herausfordert«, hakte Servaz nach.
Er sah, wie der Psychologe hinter seiner Brille seine kleinen gelblichen Augen zusammenkniff. Die runden Wangen unter seinem glänzenden Bart waren von der Kälte gerötet, was ihn aussehen ließ wie einen verschlagenen Kobold. Servaz hatte das unangenehme Gefühl, im Geiste seziert zu werden. Dennoch hielt er dem Blick des Neuankömmlings stand.
»Ja!«, sagte dieser. »Ich habe gestern in meinem Ferienhaus meine Hausaufgaben gemacht. Ich habe Hirtmanns Akte gründlich studiert, als ich hörte, dass in der Kabine der Seilbahn seine DNA gefunden wurde. Es ist offensichtlich, dass er ein Manipulator ist, ein hochintelligenter Soziopath. Aber damit nicht genug: Hirtmann ist selbst unter den organisierten Psychopathen ein Sonderfall. Denn die Persönlichkeitsstörungen, an denen sie leiden, beeinträchtigen in der Regel langfristig auf die eine oder andere Weise ihre intellektuellen Fähigkeiten und ihre sozialen Kontakte. Und es ist auch selten, dass ihre Abartigkeit von ihrem Umfeld überhaupt nicht bemerkt wird. Aus diesem Grund brauchen sie oftmals einen Komplizen, meistens eine Ehefrau, die genauso psychopathisch ist wie sie selbst, um ihnen zu helfen, eine gewisse Fassade der Normalität zu wahren. Als Hirtmann noch frei war, gelang es ihm sehr gut, sein normales Gesellschaftsleben von dem Teil in sich abzuspalten, der von Wut und Wahn beherrscht wurde. Er führte die Menschen meisterhaft hinters Licht. Es gibt andere Soziopathen, denen das vor ihm gelungen ist, aber keiner übte einen Beruf aus, der gesellschaftlich so sichtbar war wie seiner.«
Propp stand auf und ging langsam um den Tisch herum. Mit wachsender Verärgerung erriet Servaz, dass das ein weiterer seiner psychologischen Taschenspielertricks war.
»Man verdächtigt ihn, innerhalb von fünfundzwanzig Jahren über vierzig junge Frauen ermordet zu haben. Vierzig Morde und nicht die leiseste Spur, nicht die kleinste Fährte, die sie mit dem Täter in Verbindung bringen würde! Ohne die Presseartikel und die Akten, die er bei sich oder in seinem Banksafe aufbewahrt hatte, wäre man nie auf ihn gekommen.«
Er blieb hinter Servaz stehen, der sich nicht zu ihm umwandte und Irène Ziegler auf der anderen Seite des Tischs betrachtete.
»Und plötzlich hinterlässt er eine deutliche, krasse und banale Spur.«
»Sie vergessen ein Detail«, sagte Ziegler.
Propp setzte sich wieder.
»Damals, als er die meisten seiner Morde beging, gab es noch keine Verfahren der DNA-Analyse, oder zumindest waren sie noch nicht so leistungsfähig wie heute.«
»Das stimmt, aber …«
»Sie sind also der Meinung, dass die aktuellen Vorfälle nicht im Geringsten nach dem Hirtmann aussehen, den wir bislang gekannt haben, verstehe ich Sie richtig?«, sagte Ziegler und sah dem Psychologen tief in die Augen.
Propp blinzelte und nickte zustimmend.
»Also glauben Sie, dass er das Pferd nicht getötet hat, obwohl seine DNA am Tatort gefunden wurde?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Ich verstehe nicht.«
»Vergessen Sie nicht, dass er seit sieben Jahren eingesperrt ist. Er lebt jetzt unter ganz anderen Umständen. Hirtmann ist seit Jahren hinter Gittern, und er stirbt vor Langeweile. Er verzehrt sich auf kleiner Flamme – er, der früher ein so tatkräftiger Mensch war. Er hat Lust zu spielen. Denken Sie mal: Bevor er wegen dieses dummen Eifersuchtsmords aufflog, hatte er ein intensives, anregendes, anspruchsvolles gesellschaftliches Leben. Er war in seinem Beruf hoch angesehen. Er hatte eine sehr schöne Frau, und er organisierte Sexorgien, die von der Creme der guten Genfer Gesellschaft frequentiert wurden. Parallel dazu entführte, folterte, vergewaltigte und tötete er junge Frauen in größter Heimlichkeit. Anders gesagt, für ein Monster wie ihn war das das ideale Leben. Er wollte bestimmt nicht, dass das aufhört. Das ist der Grund, weshalb er die Leichen mit so viel Sorgfalt verschwinden ließ.«
Propp legte unter seinem Bart die Fingerspitzen zusammen.
»Heute hat er gar keinen Grund mehr, sich zu verstecken. Im Gegenteil: Er will, dass man weiß, dass er der Täter ist. Er will, dass man über ihn spricht, er will die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.«
»Er hätte endgültig ausbrechen und seine Umtriebe in Freiheit fortsetzen können«, wandte Servaz ein. »Weshalb sollte er in seine Zelle zurückkehren? Das macht keinen Sinn.«
Propp kratzte sich den Bart.
»Ich gebe zu, dass dies auch die Frage ist, die mich seit gestern umtreibt. Weshalb ist er in die Klinik zurückgekehrt? Denn es bestand ja ganz offenkundig die Gefahr, dass er nicht mehr rauskommen würde, weil die Sicherheitsmaßnahmen verschärft wurden. Warum sollte er ein solches Risiko eingehen? Zu welchem Zweck? Sie haben recht: Das ergibt keinen Sinn.«
»Es sei denn, das Spiel würde ihn mehr reizen als die Freiheit«, sagte Ziegler. »Oder aber er ist sicher, dass er wieder ausbrechen kann …«
»Wie sollte er?«, wunderte sich Espérandieu.
»Ich dachte, Hirtmann hätte den zweiten Mord angesichts des Polizeiaufgebots unmöglich begehen können«, gab Servaz zu bedenken. »Waren wir uns da nicht gerade einig?«
Der Psychologe sah sie nacheinander an, wobei er weiterhin versonnen seinen Bart kraulte. Hinter seiner Brille glichen seine kleinen gelblichen Augen zwei überreifen Weinbeeren.
»Ich glaube, dass Sie diesen Mann gewaltig unterschätzen«, sagte er. »Ich glaube, dass Sie nicht den leisesten Schimmer haben, mit wem Sie es hier zu tun haben.«
»Die Wachleute«, warf Cathy d’Humières ein. »Was haben wir über sie?«
»Nichts«, antwortete Servaz. »Ich halte sie nicht für die Täter. Obwohl sie sich aus dem Staub gemacht haben. Das ist für Leute ihres Schlags zu subtil. Bis jetzt sind sie nur wegen Körperverletzung und banalem Schwarzhandel aufgefallen. Ein Anstreicher wird nicht von heute auf morgen zu Michelangelo. Die Proben, die in der Kabine und an der Bergstation entnommen wurden, werden uns sagen, ob sie am Tatort waren, aber ich glaube nicht. Und trotzdem verbergen sie etwas, das ist unverkennbar.«
»Der Meinung bin ich auch«, sagte Propp. »Ich habe die Vernehmungsprotokolle eingehend gelesen. Sie haben nicht das Profil für eine solche Tat. Aber ich werde trotzdem überprüfen, ob sie keine psychiatrische Vorgeschichte haben. Es ist schon vorgekommen, dass kleine Gauner sich von heute auf morgen in blutrünstige Bestien verwandelt haben. Die menschliche Psyche ist voller Abgründe. Wir sollten nichts ausschließen.«
Servaz nickte.
»Da war auch noch diese Pokerpartie am Vortag. Vielleicht gab es einen Streit. Vielleicht hatte Grimm Schulden …«
»Da ist noch eine Frage, die wir rasch klären müssen«, sagte die Staatsanwältin. »Bis jetzt hatten wir nur ein totes Pferd, wir konnten uns also Zeit lassen. Diesmal wurde ein Mensch ermordet. Und die Presse wird schon bald eine Verbindung zum Institut Wargnier herstellen. Falls durch einen dummen Zufall die Information durchsickert, dass wir die DNA von Hirtmann am Ort des ersten Verbrechens gefunden haben, werden sie über uns herfallen. Haben Sie gesehen, wie viele Journalisten draußen warten? Daher müssen wir folgende Fragen vorrangig beantworten: Sind die Sicherheitsvorkehrungen in der Klinik unzureichend? Sind die Straßensperren, die wir errichtet haben, ausreichend? Je schneller wir diese Fragen beantworten, umso besser. Ich schlage vor, dass wir dem Institut noch heute einen Besuch abstatten.«
»Wenn wir das tun«, gab Ziegler zu bedenken, »laufen wir Gefahr, dass sich die Journalisten, die draußen rumlungern, an unsere Fersen heften. Wir sollten ihre Aufmerksamkeit vielleicht nicht unbedingt dorthin lenken.«
Die Staatsanwältin überlegte kurz.
»Also gut, aber wir müssen diese Fragen schnellstmöglich klären. Ich bin damit einverstanden, den Besuch auf morgen zu verschieben. Ich werde dann gleichzeitig eine Pressekonferenz abhalten, um die Journalisten abzulenken. Martin, wie wollen Sie weiter vorgehen?«
»Capitaine Ziegler, Dr. Propp und ich werden gleich morgen, während Sie die Pressekonferenz abhalten, das Institut aufsuchen. Lieutenant Espérandieu wird bei der Obduktion zugegen sein. In der Zwischenzeit werden wir die Witwe des Apothekers vernehmen.«
»Einverstanden. Aber verlieren wir nicht aus den Augen, dass es zwei Prioritäten gibt: a) Wir müssen herausfinden, ob Hirtmann das Institut verlassen konnte, und b) wir müssen eine Verbindung zwischen den beiden Verbrechen finden.«
»Es gibt einen Gesichtspunkt, den wir nicht in Erwägung gezogen haben«, erklärte Simon Propp, als sie die Sitzung verließen.
»Welchen?«, fragte Servaz.
Sie gingen über den kleinen Parkplatz auf der Rückseite des Gebäudes, fern der Blicke der Journalisten. Servaz hielt seinen Schlüssel mit Fernbedienung in Richtung des Cherokee, den ein Pannendienst hier abgestellt hatte, nachdem vier neue Reifen aufgezogen worden waren. Ein paar Flocken wirbelten in der kalten Luft herum. Im Hintergrund der weiten Ebene ragten die weißen Gipfel auf, aber der Himmel darüber war tiefgrau: Es würde schon bald wieder schneien.
»Hochmut«, antwortete der Psychologe. »Irgendjemand in diesem Tal spielt Gott. Er glaubt, er stünde über den Menschen und den Gesetzen, und er versucht, uns elende Sterbliche zu manipulieren. Dazu bedarf es einer unglaublichen Vermessenheit. Ein solcher Hochmut muss sich auf die eine oder andere Weise manifestieren – es sei denn, der Betreffende versteckt ihn hinter einer Fassade äußerster Bescheidenheit.«
Servaz blieb stehen und sah den Psychologen an.
»Dieses Charakterbild trifft recht gut auf Hirtmann zu«, sagte er. »Mal abgesehen von der Bescheidenheit.«
»Und auf eine Vielzahl anderer Personen«, korrigierte ihn Propp. »Hochmut ist keine Seltenheit, glauben Sie mir, Commandant.«
Das Haus des Apothekers war das letzte in der Straße – eine Straße, die in Wirklichkeit kaum mehr als eine Schotterpiste war. Servaz musste gleich an ein Fleckchen in Schweden oder Finnland denken, an ein skandinavisches Haus: Das Dach war mit hellblauen Schindeln gedeckt, und unter dem Dach nahm eine große Holzterrasse einen Teil des ersten Stocks ein. Ringsherum wuchsen Birken und Buchen.
Servaz und Ziegler stiegen aus dem Wagen. Auf der anderen Seite des Weges bauten eingemummte Kinder einen Schneemann. Servaz schlug seinen Kragen hoch und sah, wie sie die Schneedecke, die auf dem Rasen lag, mit ihren Handschuhen abschabten. Sie hatten ihr Geschöpf mit einer Plastikpistole bewaffnet – man mochte darin ein Zeichen der Zeit sehen. Ungeachtet des kriegerischen Erscheinungsbilds freute sich Servaz einen Moment, dass Kinder noch an so schlichten Vergnügungen Spaß haben konnten, statt sich in ihren Zimmern an ihre Computer und Spielkonsolen zu fesseln.
Dann gefror ihm das Blut in den Adern. Einer der Jungen war zu einer der großen Mülltonnen gegangen, die am Straßenrand standen. Servaz sah, wie er sich auf die Zehenspitzen stellte, um sie zu öffnen. Vor den Augen des verdutzten Polizisten griff er in die Tonne und zog eine tote Katze heraus. Der Junge packte den kleinen Kadaver am Hals, ging über den verschneiten Rasen und legte die Trophäe zwei Meter vor dem Schneemann auf den Boden.
Es war unglaublich, wie lebensecht die Szene wirkte: Man hatte wirklich den Eindruck, dass der Schneemann die Katze mit der Pistole erschossen hatte!
»Mein Gott!« Servaz war versteinert.
»Laut Aussage der Kinderpsychiater«, sagte Irène Ziegler neben ihm, »ist das nicht auf den Einfluss des Fernsehens und der Medien zurückzuführen. Sie können das schon auseinanderhalten.«
»Natürlich«, sagte Servaz, »ich habe als kleiner Junge Tarzan gespielt, aber ich habe keinen Moment geglaubt, dass ich mich wirklich von Liane zu Liane hangeln oder es mit Gorillas aufnehmen könnte.«
»Und dabei werden sie schon in ganz jungen Jahren mit gewalttätigen Spielen, Bildern von Gewalttaten und Gewaltvorstellungen bombardiert.«
»Da kann man nur hoffen, dass die Kinderpsychiater recht haben«, sagte er mit ironischem Unterton.
»Wieso habe ich das Gefühl, sie irren sich?«
»Weil Sie Polizist sind.«
Eine Frau erwartete sie rauchend an der Haustür. Als sie näher kamen, behielt sie die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger und kniff hinter dem Rauchfähnchen die Augen zusammen. Obwohl die Gendarmerie sie vor drei Stunden vom Mord an ihrem Ehemann in Kenntnis gesetzt hatte, wirkte sie nicht besonders mitgenommen.
»Guten Tag, Nadine«, sagte Chaperon, den Capitaine Ziegler gebeten hatte, sie zu begleiten, »ich möchte dir mein aufrichtiges Beileid aussprechen. Du weißt, wie sehr ich Gilles mochte … Es ist furchtbar … was da passiert ist …«
Der Bürgermeister stockte immer wieder, es fiel ihm noch schwer, zu sprechen. Die Frau küsste ihm widerstrebend die Wangen, doch als er sie in die Arme nehmen wollte, hielt sie ihn entschlossen auf Distanz, ehe sie ihre Aufmerksamkeit den anderen zuwandte. Sie war groß und hager, um die fünfzig, ein langes Pferdegesicht, graues Haar. Servaz sprach ihr seinerseits sein Beileid aus. Sie bedankte sich mit einem Händedruck, dessen Kraft ihn überraschte. Sofort spürte er die Feindseligkeit, die in der Luft lag. Was hatte Chaperon gesagt? Sie arbeite für eine Menschenrechtsorganisation.
»Die Polizei würde dir gern ein paar Fragen stellen«, fuhr der Bürgermeister fort. »Sie haben mir versprochen, vorerst nur das Dringendste zu fragen und den Rest für später aufzuheben. Dürfen wir reinkommen?«
Ohne ein Wort drehte sich die Frau um und ging vor ihnen her. Servaz stellte fest, dass das Haus tatsächlich ganz aus Holz gebaut war. Eine winzige Diele mit einer Theke, auf der eine Leuchte mit Lampenschirm stand, daneben ein ausgestopfter Fuchs mit einem Raben im Maul. Servaz dachte an einen Jagdgasthof. Es gab auch eine Garderobe, aber Nadine Grimm bot ihnen nicht an abzulegen. Schon verschwand sie auf der steilen Treppe, die sich direkt hinter der kleinen Theke nach oben wand und zur Terrasse im ersten Stock führte. Ohne den leisesten Ton von sich zu geben, deutete sie auf ein Rattansofa voller zerschlissener Kissen, von dem man auf die Felder und Wäldchen blickte. Sie selbst ließ sich auf einen Schaukelstuhl am Geländer fallen und zog sich eine Decke über die Knie.
»Danke«, sagte Servaz. »Als Erstes würde ich gern wissen …« – er zögerte einen Moment –, »… ob Sie einen konkreten Verdacht gegen irgendjemanden haben?«
Nadine Grimm stieß den Rauch ihrer Zigarette aus, während sie Servaz tief in die Augen blickte. Ihre Nasenflügel zitterten, als witterte sie einen unangenehmen Geruch.
»Nein, mein Mann war Apotheker, kein Gangster.«
»Hat er Drohungen oder merkwürdige Anrufe erhalten?«
»Nein.«
»Hat er Methadon ausgegeben?«
Sie sah ihn mit einer Mischung aus Ungeduld und Gereiztheit an.
»Haben Sie noch viele solche Fragen? Mein Ehemann hatte nichts mit Drogensüchtigen zu tun. Er hatte keine Feinde, er war nicht in irgendwelche zwielichtigen Dinge verwickelt. Er war einfach ein Schwachkopf und Säufer.«
Chaperon wurde bleich. Ziegler und Servaz wechselten einen Blick.
»Was wollen Sie damit sagen?«
Sie sah sie mit wachsendem Widerwillen an.
»Nichts anderes als das, was ich gesagt habe. Diese Tat ist abscheulich. Ich habe keine Ahnung, wer zu so etwas fähig ist und erst recht nicht, aus welchem Motiv. Für mich gibt es nur eine Erklärung: Einem dieser Verrückten, die da oben eingesperrt sind, ist es gelungen, auszubrechen. Damit sollten Sie sich befassen, statt Ihre Zeit hier zu verplempern«, fügte sie bitter hinzu. »Falls Sie eine trauernde Witwe erwartet haben sollten, haben Sie sich vergeblich bemüht. Mein Mann mochte mich nicht besonders, und ich habe ihn auch nicht geliebt. Ich habe ihn sogar zutiefst verachtet. Unsere Ehe war schon lange nur noch eine Art … modus vivendi. Aber deshalb habe ich ihn nicht umgebracht.«
Einen kurzen, verstörenden Moment lang glaubte Servaz, sie stünde im Begriff, den Mord zu gestehen – ehe ihm aufging, dass sie genau das Gegenteil sagte: Sie hatte ihn nicht umgebracht, obwohl sie Gründe dafür gehabt hätte. Selten hatte er in einer Person so viel Kälte und Feindseligkeit erlebt. So viel Arroganz und Gleichgültigkeit brachten ihn aus der Fassung. Einen Moment lang war er unsicher, wie er sich ihr gegenüber weiter verhalten sollte. Offensichtlich gab es Dinge in Grimms Leben, bei denen man nachbohren musste – nur fragte er sich, ob jetzt der richtige Zeitpunkt war.
»Warum haben Sie ihn verachtet?«, fragte er schließlich.
»Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt.«
»Sie haben gesagt, Ihr Mann sei ein Schwachkopf gewesen. Wie kommen Sie zu dieser Aussage?«
»Ich bin nun wirklich die Person, die das am besten beurteilen kann, oder?«
»Drücken Sie sich bitte klarer aus.«
Sie war kurz davor, pampig zu werden. Aber als sie Servaz’ Blick begegnete, besann sie sich. Sie stieß den Rauch ihrer Zigarette aus, starrte ihn in einer Geste der stummen Herausforderung an und antwortete dann:
»Mein Mann hat Pharmazie studiert, weil er für Medizin nicht intelligent genug und zu faul war. Er hat die Apotheke mit dem Geld seiner Eltern gekauft, die ein gutgehendes Geschäft hatten. Erstklassige Lage mitten im Zentrum von Saint-Martin. Aber wegen seiner Faulheit und weil ihm alle erforderlichen Fähigkeiten abgingen, ist es ihm nie gelungen, diese Apotheke rentabel zu führen. Saint-Martin hat sechs Apotheken. Seine war mit Abstand die, die am wenigsten Kunden anlockte. Die Leute kamen nur, wenn sie nicht anders konnten, oder per Zufall: Touristen, die ein Aspirin brauchten. Selbst ich vertraute ihm nicht, wenn ich ein Medikament brauchte.«
»Wieso haben Sie sich dann nicht scheiden lassen?«
Sie lachte höhnisch.
»Glauben Sie vielleicht, ich könnte in meinem Alter noch einmal ganz von vorn anfangen? Dieses Haus ist groß genug für zwei. Jeder von uns hatte sein Revier, und wir haben die Grenzen respektiert. Außerdem bringt es meine Arbeit mit sich, dass ich viel unterwegs bin. Das macht … machte alles einfacher.«
Servaz dachte an eine juristische Redewendung: Consensus non concubitus facit nuptias: »Das Einvernehmen, nicht das Bett macht die Ehe.«
»Jeden Samstagabend hatte er seine Pokerrunde«, sagte er und wandte sich an den Bürgermeister. »Wer hat daran teilgenommen?«
»Ich und ein paar Freunde«, antwortete Chaperon. »Das habe ich doch bereits Ihrer Kollegin gesagt.«
»Wer war gestern Abend da?«
»Serge Perrault, Gilles und ich.«
»Ist das die übliche Runde?«
»Ja.«
»Spielen Sie um Geld?«
»Ja, um kleine Summen. Oder um Essen. Er hat nie einen Schuldschein unterschrieben, falls Sie das denken sollten. Im Übrigen hat Gilles sehr oft gewonnen: Er war ein ausgezeichneter Spieler«, ergänzte er mit einem Lächeln in Richtung der Witwe.
»Ist während der gestrigen Partie irgendetwas Besonderes passiert?«
»Was zum Beispiel?«
»Ich weiß nicht. Ein Streit …«
»Nein.«
»Wo haben Sie sich getroffen?«
»Bei Perrault.«
»Und danach?«
»Gilles und ich sind, wie immer, zusammen nach Hause gegangen. Dann haben wir uns getrennt, und ich bin zu Bett gegangen.«
»Ist Ihnen unterwegs nichts aufgefallen? Ist Ihnen niemand begegnet?«
»Nein, soweit ich mich erinnere.«
»Hat er Ihnen in letzter Zeit von irgendwelchen ungewöhnlichen Vorfällen erzählt?«, fragte Ziegler Nadine Grimm.
»Nein.«
»Wirkte er besorgt, beunruhigt?«
»Nein.«
»Hatte Ihr Mann Umgang mit Eric Lombard?«
Grimms Frau sah sie begriffsstutzig an. Dann funkelte es kurz in ihren Augen. Sie drückte den Stummel am Geländer aus und lächelte.
»Glauben Sie etwa, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Mord an meinem Mann und dieser Sache mit dem Pferd? Das ist doch grotesk!«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
Sie lachte kurz und höhnisch.
»Wieso sollte jemand wie Lombard seine Zeit damit vergeuden, einen Versager wie meinen Mann zu frequentieren? Nein. Soweit ich weiß.«
»Haben Sie vielleicht ein Foto von Ihrem Mann?«
»Wozu?«
Beinahe hätte Servaz seine Beherrschung verloren und vergessen, dass sie erst seit einigen Stunden Witwe war. Aber er nahm sich zusammen.
»Ich brauche ein Foto für die Ermittlungen«, antwortete er. »Mehrere Fotos wären noch besser. So aktuell wie möglich.«
Er begegnete kurz Zieglers Blick, und sie begriff: der abgetrennte Finger. Servaz hoffte, auf einem der Fotos wäre der Siegelring zu sehen.
»Ich habe kein aktuelles Foto von meinem Mann. Und ich weiß nicht, wo er die anderen aufbewahrt hat. Ich werde seine Sachen durchsuchen. Noch etwas?«
»Im Augenblick nicht«, antwortete Servaz und stand auf.
Er war bis auf die Knochen durchgefroren, und er wollte nur noch weg von hier. Er fragte sich, ob die Witwe Grimm sie nicht absichtlich auf die Terrasse geführt hatte: um sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Angst und Kälte schnürten ihm den Magen zusammen. Denn er hatte etwas bemerkt, das ihn wie ein Blitz getroffen hatte, ein Detail, das nur ihm aufgefallen war: Als Nadine Grimm den Arm ausstreckte, um den Stummel am Geländer auszudrücken, war der Ärmel ihres Pullis hochgerutscht … Verblüfft hatte Servaz klar und deutlich die kleinen weißen, wieder zusammengewachsenen Wundränder an ihrem Handgelenk gesehen: Diese Frau hatte versucht, sich umzubringen.
Sobald sie wieder im Auto waren, wandte er sich zum Bürgermeister um. Während er der Witwe zuhörte, hatte sich allmählich ein Gedanke seinen Weg gebahnt.
»Hatte Grimm eine Geliebte?«
»Nein«, antwortete Chaperon, ohne zu zögern.
»Sind Sie sicher?«
Der Bürgermeister warf ihm einen befremdeten Blick zu.
»Man kann nie hundertprozentig sicher sein. Aber was Grimm anbelangt, würde ich die Hand ins Feuer legen. Er hatte nichts zu verbergen.«
Servaz dachte kurz über das nach, was der Bürgermeister gerade gesagt hatte.
»Wenn es etwas gibt, was wir in unserem Beruf lernen«, sagte er, »dann dies: dass die Menschen nur selten das sind, was sie zu sein scheinen. Und dass jeder etwas zu verbergen hat.«
Während er das sagte, blickte er in den Rückspiegel und wurde zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten Zeuge einer unerwarteten Szene: Chaperon war leichenfahl geworden, und einen Moment lang drückte sein Blick das reinste Entsetzen aus.
Diane verließ die Klinik, und der eisige Wind peitschte ihr ins Gesicht. Zum Glück trug sie ihre Daunenjacke, einen Rollkragenpullover und Pelzstiefel. Während sie den großen freien Platz überquerte, um zu ihrem Lancia zu gehen, zog sie ihre Schlüssel heraus. Sie war erleichtert, diesen Ort für einen Moment verlassen zu können. Als sie am Steuer saß, drehte sie den Schlüssel im Zündschloss und hörte das Klacken des Anlassers. Die Kontrolllampen leuchteten auf, aber sie gingen im nächsten Moment wieder aus. Sonst tat sich nichts. Mist! Sie versuchte es erneut. Mit dem gleichen Ergebnis. O nein! Sie versuchte es wieder und wieder, aber vergeblich. Nichts …
Die Batterie, dachte sie. Sie ist leer.
Oder es ist die Kälte.
Sie fragte sich, ob ihr jemand vom Institut helfen könnte, aber eine Welle der Mutlosigkeit brach jäh über sie herein. Regungslos blieb sie hinter dem Lenkrad sitzen und betrachtete durch die Windschutzscheibe die Gebäude. Ihr Herz pochte ohne besonderen Grund. Mit einem Mal fühlte sie sich sehr weit weg von zu Hause.