Byron Bighorn

In der ersten Zeit war Wakiya-knaskiya wie ein neugeborenes Kind, das nicht nachdenkt oder träumt, sondern schaut, horcht und aufnimmt. Er sprach kaum ein Wort, aber er hörte alles.

Einen herbstlichen Tag hindurch - es war ein Sonntag - saß er mit im Zelt bei dem Alten, dem Ahnen von Inya-he-yukans Mutter, der aus dem Reiche des Nordwinds zurückgekommen war und sein Tipi mitgebracht hatte. Wakiya betrachtete ihn ohne Neugier, mit Ehrfurcht. Inya-he-yukan war ein Häuptlingsname. Der Alte hatte ihn als erster gewonnen in jenen Tagen des Hungerns, Durstens und Nachdenkens, in denen er die Weihe der Mannbarkeit erhielt. Er hatte diesen Namen mit Ehren getragen. Alle späteren, die seinen Namen erhielten, mußten sich dessen würdig erweisen. Der Alte war wie ein Häuptling gekleidet, mit einem reichgestickten Rock, dessen Blutflecke eine eigene Geschichte bezeugten, mit den Leggings, deren Nähte mit Skalphaaren dicht besetzt waren, mit einem Gürtel, dessen Wampumsprache Wakiya noch nicht verstand. Der Alte trug die Krone und Schleppe aus Adlerfedern; er trug sie mit noch immer aufrechtem Haupt und aufrechten Schultern. Auf dem Boden lagen ein Bärenfell, ein riesiges Fell, Beute seines Vaters Mattotaupa, und das dunkle Fell des Büffelstiers, den er selbst mit dem Messer erlegt hatte. Das alles wußte auch Wakiya. Er sah das Messer, von dem Inya-he-yukan der Jüngere gesprochen hatte. Der Griff war kunstvoll als Adlerkopf geschnitzt. Die Form der ledernen Scheide verriet die Form der Klinge. Es war ein besonderes Messer, zweischneidig, spitz, lang. Das konnte eine starke Faust wohl einem Büffel in den Nacken stoßen.

Andere Waffen hatte der Alte nicht bei sich.

Er hatte einhundertundzwölf Winter und Sommer gesehen. Aber nun wollte er heimgehen zu seinen Vätern; er wollte sich auf den langen Weg machen, den ihm seine Väter vorangegangen waren.

Es war der letzte Tag seines Lebens. Das hatte er allen gesagt, die mit in dem Zelte saßen, das sich der alte Häuptling neben dem Holzhaus der Jüngeren aufgebaut hatte. Auch Wakiya hatte gehört, daß Inya-he-yukan der Alte sich an diesem Tage noch aufmachen wollte, um den langen Weg zu seinen Vätern heimzugehen.

In dem Antlitz des Alten war nichts Weiches mehr. Leiden und Anstrengungen hatten es ausgefressen wie wühlende Wasser den Stein, bis nur geblieben war, was allem hatte widerstehen können.

Aber in den Augen lag noch immer der Glanz, der ein Lächeln schön macht; die Stirn verriet Gedanken, die auch in der Finsternis der Niederlage nicht ruhten, und um den Mund hatte der Wille seinen Zug geprägt.

Wakiya hatte die Größe und Kraft seiner Ahnen noch einmal lebendig vor sich.

Die Weihe des ruhigen Abschieds lag über dem Alten, der allen Verlust bewältigt und alles hergegeben hatte, auch seine Heimat am breiten Plattestrom und zu Füßen der Black Hills. Nur seine Freiheit hatte er nicht aufgegeben und war um ihretwillen weit hinauf über den Minisose nach Norden gewandert, und die Hoffnung auf einen Sohn, der seines Namens würdig sein konnte, hatte er festgehalten, und um ihretwillen war er zu dem Tal der weißen Felsen zurückgekehrt.

Er hatte den Sohn gefunden, den er gesucht hatte. Inya-he-yukan der Jüngere saß an seiner Seite, gleich hoch gewachsen, gleich hoch die Stirn über dem schmalen, schon ausgemergelten Gesicht, gleich dunkel die Augen wie die Nacht, in die geheimnisvolles Licht einstrahlt, gleich hart der Mund, der nur noch selten lächelte. Auch Inya-he-yukan der Jüngere trug an diesem Tage alte Häuptlingskleidung, die vom Großvater auf den Vater und vom Vater auf ihn gekommen war. Um Hals und Brust lag die Kette aus Krallen und Zähnen des Grizzlybären, die ihm Inya-he-yukan der Alte    nach   dem    Sonnentanz    geschenkt   hatte.    Aber   die Adlerfederkrone seiner Väter hatte Inya-he-yukan der Jüngere nicht aufs Haupt genommen, denn sie gebührte ihm noch nicht.

In der Scheide steckte das Stilett.

Wakiya saß bei seinem neuen Vater Inya-he-yukan dem Jüngeren auf dem Bärenfell. Er schaute auf den Wampumgürtel des Alten.

Der Alte erkannte die Frage und antwortete auf seine Weise, indem er den Gürtel löste und ihn seinem Wahlsohn Inya-he-yukan dem Jüngeren gab, der das stumme Vermächtnis annahm.

Es wurde an diesem Tage kein Wort gesprochen, nichts gegessen und auch nichts getrunken.

Nur die unwissenden Zwillinge, Inya-he-yukans und Tashinas leibliche Kinder, sättigten sich an der Mutterbrust.

Tashina saß ihrem Manne gegenüber, still, mit einer leuchtenden Blässe und Schönheit wie der Mond und für Wakiya noch rätselhaft wie dieser. Sie hatte Untschida zur Seite, Mutter ihres Vaters, eine Frau mit grauem dünnem Haar. Ihre Züge waren streng, ihre Augen gütig.

Wakiya war an einem feierlichen Tag in einer neuen Welt. Als der Abend kam, verließen Inya-he-yukan und Tashina mit dem alten Häuptling das Zelt. Auch Wakiya ging hinaus. Er blieb bei dem Tipi stehen und schaute den drei Menschen nach, die langsam hinaufschritten zu der Höhe und von dort lange hinüberschauten zu den weißen Felsen, dem Grabmal über einem unbekannten Grabe.

Dann ließ sich der alte Häuptling auf der Höhe nieder. Sein Körper sank langsam zurück in die Arme Inya-he-yukans und Tashinas.

Er hatte die Stunde seines Todes gewußt und gewollt.

Wakiya hielt die Hand vor den Mund und betete zu dem Großen Geheimnis. Er konnte nicht denken oder sagen, warum. Er fühlte diesen Abschied nur als Weihe und wollte nicht vergessen.

In der Nacht wurde der Tote in seinem Tipi aufgebahrt. Alle sahen ihn noch einmal. Er lag auf dem Fell des Bären, bedeckt mit einer alten, abgebrauchten büffelledernen Decke, auf der die Taten seines Vaters in Bildern verzeichnet waren. Aus seinem Antlitz war die Spannung gewichen. Die Hoheit des Besiegten und doch nicht Besiegten erfüllte es ganz.

Inya-he-yukan der Jüngere blieb im Tipi bei dem Toten. Die beiden Frauen und die Kinder schliefen in dem Blockhaus.

Am nächsten Morgen schon griff das Leben nach Wakiya, bunt, fordernd, rücksichtslos und selbstbewußt. Tashina brachte ihn mit dem Wagen bis zu der Stelle, wo der Schulbus ihn aufnehmen konnte.

Wakiya saß zwischen Buben und Mädchen, sprang mit ihnen auf dem großen freien Platz vor der Schule aus dem Bus hinaus, lief durch die große Tür und nahm in der vierten Klasse seinen Platz in der hintersten Reihe ein. Mit heißem Kopf merkte er auf, was Lehrer und Lehrerinnen Stunde um Stunde vortrugen und fragten. Es war schwer für ihn mitzukommen. Doch überwand er sich selbst und blieb aufmerksam. Er wollte lernen, was die Geister konnten, um ihnen gewachsen zu sein. Das war die ernsteste Ehre, die er einem großen Toten erweisen konnte. So hatte Inya-he-yukan gesagt.

Nachmittags holte dieser den Bub am Bus ab. Inya-he-yukan ritt den Schecken ohne Sattel und nahm Wakiya vor sich. Der Bub hatte bis zu diesem Tage erst wenige Male auf einem Pferd gesessen; zum Schulbus war er bisher mit Untschida auf einer sanften gesattelten Stute geritten. Jetzt mußte er sich bald an der Mähne, bald an dem großen Reiter festhalten. Es ging Wakiya in diesen Tagen aber gesundheitlich besser, als jemand hätte vermuten können, und er freute sich bei aller Anstrengung, daß er auf dem Rodeopferd ritt in leichtem, schwingendem Galopp.

»Du wirst noch einen Preis in Bronc sattellos gewinnen, Wakiya-knaskiya, wenn du so weitermachst.«

Inya-he-yukan sagte es, als Wakiya auf dem glatten Pferderücken wieder einmal erheblich zur Seite gerutscht war.

Der Bub gewann wieder das Gleichgewicht, und zum erstenmal tat er recht den Mund auf.

»Hast du auf diesem Mustang in Calgary gesiegt, Inya-he-yukan?«

»Nein, mein Sohn, in Calgary mußte ich von diesem Mustang abgleiten, weil sie die Verschlagtür für den gescheckten Teufel nicht schnell genug geöffnet hatten. Er ging zu Boden und quetschte mich dabei gegen die Bretter. Es war nicht nur unschön, es war eine Schande.«

»Aber wie hast du dann gesiegt?«

Inya-he-yukan nahm eine Hand vom Zügel und hielt Wakiya fest, denn das Gelände wurde stark wellig, und der Pferderücken wand sich allzu geschmeidig auf und ab.

»Gesiegt habe ich auf einem anderen Pferd. Es war ein Wunder, daß die Preisrichter es mir überhaupt gaben. Aber der alte Donald ist gerecht und ein Freund unserer Verwandten in Canada, die Bucking Horses züchten.«

Der Ritt ging weiter.

»Meinst du, Inya-he-yukan, daß ich diesen Schecken einmal reiten lerne?«

»Nein, mein Sohn, das lernst du nie. Untersteh dich auch nicht, mit diesem Tier herumzuspielen. Inya-he-yukan, unser Ahne, hatte einst einen solchen Mustang wie diesen, ein Falbe war es, und der Mustang tötete seinen Sohn, als er ihn heimlich zu reiten versuchte.«

Wakiya sagte nichts mehr.

Als die beiden zu Hause ankamen, kehrte Tashina eben mit dem Wagen zurück.

In ihrer Miene malte sich leichter Schrecken.

»Joe! Das Kind auf diesem Pferd!?« Joe musterte den verstaubten Wagen. »Warst du bei Elk, Queenie?«

Die junge Frau schlug die Augen nieder. »Ja. Er soll es sein, der den Segen Wakantankas morgen über dem Grab unseres Ahnen spricht. Ich will da keinen weißen Mann sehen und hören.«

»Aber doch einen Priester.«

Queenie ging ins Haus, um für die Abendmahlzeit zu sorgen. Untschida wachte im Tipi.

Um das Zelt spielte die Abendsonne. Eine Drossel sang hoch oben auf einer alten Kiefer, und die Grillen zirpten rings im Grase.

An dem Morgen, an dem der Tote zu Grabe getragen werden sollte, ging Inya-he-yukan schon in der Frühe mit Wakiya zu dem kleinen Friedhof, der nicht weit vom Hause am Hang lag. Die welkenden wilden Gräser spielten mit dem Wind und den ersten Sonnenstrahlen.

Kleine Holzkreuze standen schief und krumm dazwischen. Das Wetter und die stille Arbeit des Bodens setzten ihnen zu. Ein Grab war ohne Namen und ohne Kreuz. Da ruhte die Mutter Tashunka-witkos den Felsen gegenüber, in denen sie ihren ermordeten Sohn verborgen hatte. Auf einem anderen Grab war statt eines Kreuzes der Stab mit der krumm gebogenen Spitze eingerammt, aber auch dieses Grab war namenlos geblieben. Es war die letzte Herberge des Großvaters, den Inya-he-yukans Mutter in ihrer Not erschlagen hatte. Daneben hatte Inya-he-yukans Vater seinen Platz in der Erde gefunden. Als trunkene Männer bei seiner Blockhütte aufeinander einschlugen, hatte sich eine Kugel aus seinem ungesicherten Jagdgewehr gelöst und ihn getötet.

Das alles sagte Inya-he-yukan dem Kinde Wakiya, und es war gut, daß er es ihm sagte, denn Wakiya hatte es schon von der Mutter gehört, und nun wußte er, daß Inya-he-yukan ihm nicht weniger vertraute. Aber über das Grab des Harold Booth, den Queenie erschossen hatte, sprach Inya-he-yukan nicht. Auf diesem Grabe stand ein festes Kreuz.

Queenie und eine für Wakiya fremde Frau kamen auf den Friedhof nach.

Queenie brachte allen den Gräbern, von denen Joe gesprochen hatte, Blumen, und sie legte auch auf das Grab des Harold Booth einen Strauß. Die Frau, die Wakiya noch nicht kannte, stand dabei, und Wakiya erfuhr nun, daß dies Mary Booth sei, Harolds Schwester, die drunten jenseits der Straße bei den Büffelweiden ihr ansehnliches Haus hatte.

Wakiya spürte, daß es hier viel Schweres gab und auch manches, was noch vor ihm verschwiegen blieb. Daheim war es einsamer und einfacher gewesen.

Zu dem Friedhof kamen weitere Trauergäste, geladene und nicht geladene: der junge Priester Elk aus den Slums von New City und Margret, Joes Schwester, die mit ihren vielen Kindern ebenfalls in den Slums wohnte, Bob Thunderstorm und Alex Goodman, die beiden indianischen Cowboys, die drüben bei Mary Booth untergebracht waren und mit Büffeln umzugehen verstanden, die Eltern Whirlwind mit Susanne, der Hospitalarzt Eivie und Kate Carson, Ed und Margot Adlergeheimnis mit David, Frau Holland, die Rektorin von. Wakiyas Schule, endlich auch Frank Morning Star, Ratsmann für Kultur und Stellvertreter des indianischen President der Reservation.

Wakiya war verwirrt und wollte sich doch jedes Gesicht einprägen.

Er mußte aber alle diese Gesichter der Menschen und der Geister vor sich verschwinden lassen. Denn nun wurde der Tote gebracht, dessen Antlitz nicht mehr zu sehen war. Er war ganz in die alte, abgebrauchte büffellederne Decke, in das Bärenfell und das große Büffelfell eingehüllt. Seine heilige Pfeife und sein Messer, mit dem er nicht  nur  den  Büffelstier,  sondern  auch  den  größten  und verruchtesten seiner Feinde getötet hatte, und sein Adlerfederschmuck gingen mit ihm.

Elk, der braunhäutige, schwarzhaarige Mensch, jung, mager und groß, im schwarzen Gewand des Priesters, sprach den Segen Wakantankas.

In Queenies Augen hingen Tränen. Inya-he-yukan stand etwas abseits und schaute über das Grab nach den weißen Felsen.

Ein Stab mit gebogener Spitze wurde in die Erde eingerammt, die den Häuptling nach einem langen Leben deckte. Er ruhte in dem Boden der Prärie, über die er einst auf seinem Falben dahingejagt war und über die er die kleine Gruppe seiner Zelte geführt hatte, weit hinauf nach dem Norden.

Die Sonne, die milde leuchtete, da für sie selbst der Winter bevorstand, und der Mond, der über den weißen Felsen aufsteigen würde, mußten das alles noch wissen; sie waren alt genug.

Wakiya entrann den Geistern, er entrann auch David und Susanne. Er wagte es nicht, zu Inya-he-yukan zu gehen, der noch immer allein stand, als ob sein unausgesprochener Schmerz einen nicht überschreitbaren Bannkreis um ihn lege.

Wakiya ging jedoch zu dem großen, jungen schwarzhaarigen und braunhäutigen Menschen im Priestergewand, der über das Grab des großen Toten den Segen Wakantankas hatte sprechen dürfen. Auch Elk hatte sich von den Geistern abgesondert und betete noch für sich allein. Als aber das Kind zu ihm kam, wandte er sich ihm zu.

Er legte Wakiya-knaskiya die Hand auf die Schulter, und so wußte Wakiya, daß er sprechen dürfe.

Er sprach sehr leise.

»Elk, wenn ich einmal eine Frage an den großen Häuptling, Inya-he-yukan den Alten, habe, was soll ich tun?«

»Dann kommst du an sein Grab hier zurück, Wakiya-knaskiya. Du wirst die Sonne sehen oder den Mond, das Gras oder den Schnee und die weißen Felsen. Du wirst deine Augen nach innen wenden und bei dir selbst sein, und Inya-he-yukan der Alte wird dir Antwort geben.«

»Elk - sage mir die Wahrheit. Ist Inya-he-yukan der Alte ein Christ gewesen?«

»Nein, das war er nicht.«

»Ist es wahr, daß alle Menschen, die in ihrem Leben keine Christen waren, von den Geistern auf ihrem langen Todesweg gequält werden dürfen?«

»Es ist nicht wahr.«

»Gewiß nicht?«

»Gewiß nicht.«

»Wenn sie aber in ihrem Leben Geister und Menschen getötet haben?«

»Auch dann nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil Jesus Christus auch für sie gestorben ist.«

»Für die Menschen?«

»Für die Menschen.«

»Warum beten die Geister ihn an?«

»Weil sie von ihren Sünden erlöst werden möchten.«

»Warum tun sie soviel Böses, und die ganze Welt wird ihnen dafür geschenkt?«

»Noch ist der Lauf der Welt nicht an seinem Ende.«

»Du sagst, die Geister beten Jesus Christus an, und das sagen sie uns in der Schule auch. Aber in Wahrheit haben sie ihn getötet. Und sie machen sich viele Bilder davon, wie sie ihn am Baume gemartert haben. Sie haben ihn besiegt, und das wünschen sie immer zu sehen. Warum haben sie gegen ihn gekämpft?«

»Er predigte Frieden und Liebe.«

»Er ist ein Mensch gewesen.«

»Er war ein Mensch.«

»Wollte er sich an dem Baume opfern?«

»Er wollte es nicht. Aber er war dazu bereit.«

»Für uns?«

»Auch für uns.«

»Inya-he-yukan, mein Wahlvater, hat sich von dem Baume losgerissen. Warum starb Jesus Christus an dem Baum?«

»Ein Mensch kann für einen anderen sein Leben geben. Das weißt du.«

»Hau.«

»Er war der Sohn Wakantankas.« »Wir sind die Söhne der Bärin.« »Er wurde unser Bruder.« »Kam er aus dem Volke Israel?«

»Ja.«

»Ich möchte noch viel mehr hören von dem Volk Israel, das immer verfolgt worden und doch nicht gestorben ist. Darf ich einmal zu dir nach New City kommen?«

»Wenn deine Wahleltern zu mir nach New City kommen, so komm einmal mit zu mir.«

Damit war das Gespräch zu einem guten Ende gelangt. Wakiya-knaskiya blieb noch bei Elk stehen, und die beiden schauten ebenso wie Inya-he-yukan der Jüngere hinüber zu den weißen Felsen, über denen die Sonne leuchtete.

Sie sahen aber auch die Schatten der Geister, die um die Gräber umherhuschten. Der eine von ihnen war Mr. Whirlwind. Er hielt sich bei dem Grabe des Harold Booth auf, flüsterte mit seiner Frau und konnte in seiner Miene nicht verbergen, daß seine Gedanken Wege gingen, die nicht zu Inya-he-yukan dem Alten führten.

»Ich mag diesen Mann heute nicht sehen, Elk. Er ist Susannes Vater, und dennoch mag ich ihn nicht sehen. Schau, wie es um seinen Mund zuckt. Er hat etwas Böses in Gedanken.«

»Laß uns nicht ausweichen, Wakiya-knaskiya. Einen großen Toten ehrst du nicht in der Stille. Einen großen Toten ehrst du nur im Kampf. Auch noch an seinem Grabe.«

Inya-he-yukan der Jüngere schien die Worte gehört zu haben. Seine Ohren waren scharf, auch dann, wenn er ganz in sich selbst versunken wirkte. Er kam langsam zu Elk und Wakiya-knaskiya herbei.

»Du sprichst gute Worte, Elk. Ich begrüße dich am Grabe meines Ahnen.«

Das war eine Abbitte und Wiedergutmachung. Inya-he-yukan hatte Elk nicht begrüßt gehabt, obgleich er ihn sehr wohl kannte und mit ihm freund war.

Die Geister verabschiedeten sich.

Wakiya, Susanne und David hatten am Vormittag Schulurlaub gehabt. Nun nahm die Rektorin die drei Kinder in ihrem Wagen mit zum Nachmittagsunterricht. Geister rechneten immer mit der Zeit wie mit einer Zahl. Wakiya gab der Geisterzeit den Namen Teacock. Die Söhne der Prärie, die Jäger, Hirten und Rancher, gleich, ob sie eine braune oder helle Haut hatten, lebten mit dem, was zu tun war.

Am Abend ging Wakiya noch einmal ganz allein auf den Friedhof. Er war traurig, weil seine Mutter nicht gekommen war, und erzählte dem Wind, der ihn streichelte und der über die weißen Felsen wehen konnte, daß er die Mutter grüßen solle.

Nach dem nicht zu vergessenden Eindruck dieses Abschieds von einem großen Menschen blieb es zunächst Alltag im Hause King. Die Herbstluft wurde kühler, die Winde wehten stürmischer; wieder tanzten die vertrockneten, ausgerissenen Krautstengel mit dem Staub über die Prärie.

Das Zelt stand noch, die dicke Büffelhaut schützte gegen Wind, Staub und Kälte, und oft saßen Inya-he-yukan, Tashina, Untschida und Wakiya des Abends im Zelte an der kreisrunden Feuerstelle beisammen, während die wohlgenährten Zwillinge im Arm der Frauen schliefen.

In diesen Abendstunden horchte Wakiya auf Untschida, die noch mehr alte Mythen und Märchen wußte als die Mutter, und Tashina freute sich, das wieder zu hören, worauf sie als Kind selbst begierig gelauscht hatte. Auch Inya-he-yukan sprach dann zuweilen leise, kurz; und Wakiya durfte seine Fragen vorbringen.

Sobald er damit begann, sprachen Joe und Queenie englisch mit ihm, obgleich Untschida das nicht verstand, und sie nannten sich untereinander mit ihren englischen Namen.

»Können Geister Menschen werden?«

Joe überlegte.

»Eivie vielleicht. Aber es gibt noch ein Stück rauhen Weges für ihn vor dem Ziel.«

»Wenn aber Menschen Geister geworden sind - können sie je wieder zurück?«

»Ed Crazy Eagle - vielleicht.«

Wakiya trug noch einen großen Gedanken mit sich herum. Warum war Inya-he-yukan an jenem Tage zur Mutter gegangen und hatte Wakiya dann zu sich geholt? Diese Frage wagte er nicht zu stellen, und doch konnte er sie sich selbst beantworten. Die Augen hatten ihn gefunden wie er sie.

Ein Tag nach dem andern verging mit Arbeit. Wakiya holte in der Schule auf, langsam, aber stetig. Queenie beriet ihn geduldig, und Wakiya schaute gespannt zu, wenn sie Muster für die Töpferei entwarf oder Skizzen zu Bildern, mit denen sie in diesen Monaten jedoch selbst stets unzufrieden war. Hatte sie eine Skizze zerrissen, so war es besser, sie nicht anzusprechen; dann mußte sie selbst mit sich fertig werden. Joe hatte genug zu tun auf zwei Ranches, auf seiner eigenen und auf der Nachbarranch, wo Mary Booth bei Büffeln, schwarzen Rindern und Bucking Horses Joes Hilfe brauchte.

Eines Tages aber drang etwas Fremdes auf der King-Ranch ein. Wakiya-knaskiya spürte sofort den giftigen Atem, wie ein Tier den Geruch des Feindes, und er machte sich darauf gefaßt, daß es einen neuen Kampf mit den Geistern geben werde. Diesen Kampf würde Wakiya nicht aus der Ferne in Gedanken miterleben, er würde an der Seite Inya-he-yukans stehen, körperlich, ein Mensch neben dem andern. Das war neu für ihn, und er mußte erst erproben, wie es ihm gelingen konnte. Seine Augen und Ohren sollten wach sein, er befahl es ihnen. Der giftige Atem, dessen Heranwehen Wakiya spürte, tarnte sich zuerst harmlos in der Gestalt eines Mannes, der Joe kaum bis zur Schulter reichte und mit einer knappen, fast ängstlichen Stimme sprach. Aber unter seiner ängstlichen Art und Weise floß der Klebstoff der Zähigkeit, und man durfte diesem nicht zu nahe kommen, ohne festzukleben und zugrunde zu gehen wie eine gefangene Fliege.

Das waren Wakiyas Gedanken und sein Fühlen, als er Mr. Haverman, den Dezernenten für Ökonomie, neben Joe King stehen sah und die beiden miteinander sprechen hörte. Ein Streitgespräch zwischen Erwachsenen war für Wakiya-knaskiya eine bis dahin völlig unbekannte Welt gewesen; ein Geheimnis tat sich auf, furchterregend und anziehend.

Es war der Tag vor Weihnachten.

Mr. Haverman war unerwartet erschienen. Vorsichtig hatte er seinen Ford den Feldweg hinaufgesteuert. Joe hatte ihn am Wagen erwartet und nicht in das Blockhaus hereingebeten. Das Zelt war für die Winterszeit abgeschlagen, und selbst wenn es noch gestanden hätte, würde Joe seinen Besucher nicht in das altehrwürdige Tipi geführt haben, noch viel weniger als in das Blockhaus. Wakiya hatte schon Ferien. Er stand dabei, und Joes Miene hieß ihn eher bleiben als gehen. So blieb er.

Der Wind wehte schneidend. Haverman blickte noch einmal sehnsüchtig nach dem schützenden Haus, aber Joe war zu keiner Einladung bereit. Haverman mußte sich mit dem ungastlichen Empfang abfinden.

Er begann im Sachton des Dezernenten, wie ihn Wakiya schon von seinem Besuch bei Eve Bilkins her kannte.

»Sehe schon, Mister King, daß Sie eine ausgezeichnete Ranch aufbauen. Sie vergessen die Kleintierzucht nicht. Das ist wichtig, ungemein wichtig, vor allem als Vorbild. Habe ich Ihnen nicht damals gleich den guten Rat gegeben, Kaninchen zu züchten?«

Joe King ging in Gefechtsstellung; er nahm unwillkürlich die rechte Schulter vor, die linke, die Herzseite, zurück.

»Sie sind überhaupt das Muster eines Beraters, Mr. Haverman. Ich überlege schon, wie viele Kaninchen ich für einen Büffel eintauschen könnte.«

Mr. Haverman begriff nicht, was Ironie war. Er sprach wohlmeinend und ernsthaft weiter.

»Büffel?! Nein, das wäre unratsam, Mister King. Dazu könnte ich mein Einverständnis doch nicht geben.«

»Wirklich nicht?«

»Nein. Wirklich nicht. Funktionieren denn nun Ihr Brunnen und die Wasserleitung?«

»Ja. Wir sind stets sauber gewaschen.«

Mr. Haverman fühlte sich unangenehm berührt.

»Ich meine, für die Pferdezucht?«

»Brunnen sind Sache des Gesundheitsdienstes, Mr. Haverman, nicht der Ökonomie.«

»Ich denke, Sie haben den Brunnen privat bezahlt.« »Ja, auch das noch.«

»Auf einmal haben Sie Glück mit Ihrer Pferdezucht. In der vergangenen Zeit hatten Sie stets Mißerfolg. Welchen Umständen schreiben Sie das zu? Nur dem Brunnen und der Bewässerung? Oder haben Sie mehr Zuchterfahrung gesammelt?«

»Es hat sich einiges geändert. Harold Booth ist nicht mehr da.«

Haverman zog die Augenbrauen hoch. »Ich dachte, er ist auf eine sehr unglückliche Weise ums Leben gekommen.« »Und kann nun keine Pferde mehr stehlen, ja.« »Wollen wir die alten Geschichten nicht lieber ruhen lassen?« »Mit den Mißerfolgen zusammen, Mr. Haverman.«

»Ja, lassen wir das. Bei Mary Booth sind noch zwei junge Cowboys angestellt?«

»Sie sind bei mir angestellt und wohnen bei Miss Booth. Weil in deren Haus mehr Platz ist.«

»Ja, ja, sehe ich. Aber, Mister King, sind das nicht zuviel Leute? Das Vieh, das Sie haben, und die Pferde, das schaffen im Grunde zwei Personen, Sie und Miss Booth. Sie müssen an die Rentabilität denken!«

»Gebe zu, daß ich zuviel an die Menschen denke. Bob Thunderstorm war arbeitslos, und Alex Goodman geriet schon ans Trinken. Jetzt sind sie in fester Arbeit und fester Hand. Übrigens sind wir noch nicht einmal dazu gekommen, Hecken zu pflanzen, das alte Gras zu roden und neues zu säen. An Arbeit fehlt es nicht.«

»Ihr Grundsatz zu helfen, ist typisch indianisch, Mister King. Aber er ist ökonomisch verderblich. Ich rate Ihnen doch zu reduzieren. Warten Sie auch mit Hecken und neuer Grasaussaat lieber auf das Gutachten der Forstwirtschaftssachverständigen!«

»Ich könnte den Viehbestand vergrößern, statt die Zahl der Menschen zu verringern. Wäre das eine Methode in Ihrem Sinne, Mr. Haverman? Kann ich Kredit bekommen?«

»Im Moment kaum. Aber wie denken Sie über einen neuen Nachbarn? Kapitalkräftigen Nachbarn? Der Wasser- und Elektrizitätslieferung gut bezahlen würde? Wäre Ihnen damit geholfen?«

»Haben Sie den neuen Nachbarn für mich in der Tasche, Mr. Haverman?«

»So ungefähr. Es liegt der Antrag eines weißen Ranchers vor, hier Land zu pachten.«

»Aber nicht mit Anschluß an meine Wasserleitung.«

»Warum nicht? Die Installationsfirma sagte mir, daß die Motorpumpe mehr Wasser und Elektrizität schafft, als für Ihre Ranch allein erforderlich ist.«

»Der Stammesrat wird Ihnen Vorschläge machen, wie dieses Mehr am besten verwendet werden kann.«

»Glauben Sie, daß der Rat und President White Horse Überblick genug haben? Die zusätzlichen Pachtgelder wären sehr nützlich für die Reservation. Es gibt hier nicht genug Fonds.«

»Pachtgelder werden genug bezahlt. Warum werden nicht Reserven daraus gebildet? Wir bieten den jungen Menschen nach der Schule noch nicht genug Chancen, eine nützliche Arbeit zu lernen. Auf dem Gelände neben meiner Ranch wird eine Schulranch eingerichtet.«

»Wird.? Aber davon weiß ich ja überhaupt noch nichts, Mister King. Darüber müßte ich doch zuerst informiert sein.«

»Wer ist denn nun für eine Schulranch zuständig? Ökonomie, Mr. Haverman, oder Schulwesen, Miss Bilkins?«

»Im Ernstfalle - ja, im Ernstfalle wohl die Ökonomie, obwohl es um Berufsschulung geht. Wir haben die Berufsausbildung außerhalb der Reservation, natürlich, aber hier? Wo bringen Sie überhaupt solche Ideen her?«

»Aus Canada.«

»Da gibt es dergleichen?«

»Ja. Mindestens auf einer erfolgreichen Reservation, auf der ich Verwandte habe.«

»Oh! So, so. Verwandte. Waren Sie denn in Canada?«

»Hallo, Byron Bighorn! In welchem Lande liegt die Rodeostadt Calgary?«

»In Canada.« Wakiya war stolz.

»Ich konnte also nicht vermeiden... Mr. Haverman...«

»Aber es ist mir ganz neu, daß Sie sich da auch mit Reservationen und Ökonomie beschäftigt haben. Sie waren dort als Rodeoreiter. Sie haben mir keinen Bericht gegeben.«

»Den hat der Stammesrat erhalten.«

»So, so. Gut. ja, gut. Ich werde mich um diese Sache kümmern. Aber ich weiß durchaus nicht, wo das Geld für die Einrichtung einer Schulranch herkommen sollte. Viehbestand, Wohnraum, Entschädigung für die Mitbenutzung Ihres Brunnens bzw. Ihrer Elektrizität - Verpflegungs- und Taschengeld für die Schüler, Gehälter für Hausvater, Hausmutter, Lehrkräfte - es sind also keine Fonds da. Vielleicht sollte man doch erst verpachten und die neuen Pachtgelder für den Zweck aufsparen. Das wäre eine Lösung.«

»Eine Geisterlösung, Mr. Haverman, keine menschliche.«

»Sie sehen Gespenster, Mister King!«

Auf diese Bemerkung hin erhielt Mr. Haverman keine Antwort mehr. Es wurde ihm wieder bewußt, daß er fror, und er verabschiedete sich.

Als Familie King beim Abendessen in der Blockhütte am Tisch versammelt saß und die Teller schon abgegessen waren, brach Queenie das Schweigen, das sich aus Joes finsterer Stimmung heraus über alle verbreitet hatte.

»Verspottest du Haverman nicht mehr, als recht ist, Joe? Er meint es doch gut auf seine Weise.«

»Es wird einen harten Kampf geben, Queenie. Aber ein weißer Rancher bekommt von mir keinen Tropfen Wasser. Eher sprenge ich selbst unseren Brunnen.«

»Joe! Ich bitte dich! Wir haben doch schon viele weiße Rancher auf der Reservation, und es ist mit ihnen als Nachbarn noch immer gut gegangen. Meinst du nicht?«

»Sie haben unser bestes Land! Die Hälfte unseres Reservationslandes wenigstens haben sie seit über einem halben Jahrhundert in ihren Pachtkrallen. Und was wird aus unseren Söhnen? Nicht einmal auf der Reservation sind wir sicher.«

Queenie widersprach nicht mehr. Joe blieb noch am Tisch sitzen.

Auf einmal richteten sich seine Augen auf Wakiya.

»Hast du verstanden, was wir gesprochen haben?«

»Nicht alles. Was ist Pacht?«

»Pacht mußt du bezahlen, wenn du dein Vieh auf Land grasen läßt, das nicht dir gehört.«

»Wem gehört denn das Land?«

»Uns allen zusammen, dem ganzen Stamm. Einiges Land davon bekommst du frei für dein Vieh. Wenn du aber mehr haben willst, mußt du bezahlen, damit auch der ganze Stamm einen Nutzen davon hat.«

»Das habe ich verstanden. Was ist Kredit?«

»Wenn dir jemand Geld auf Treu und Glauben gibt und es eines Tages wieder von dir zurückhaben will.«

»Aber, Inya-he-yukan, wenn du jetzt das Geld nicht hast, warum hättest du es später, um es zurückzuzahlen?«

»Weil die Kühe Kälber bekommen. Ich kann sie verkaufen und das Geld zurückgeben. Verstehst du?«

»Ja. Was sind Fonds?«

»Du hast gut aufgemerkt. Fonds und Reserven, das sind Haufen von Geld. Wenn ein Mann einen Haufen Geld oder einen Haufen Munition hat, so kann er etwas damit anfangen. Muß er sparen, so steht es schlecht um ihn. Die Weißen haben das Gold unserer Berge geraubt. Wir sind arm. - Was denkst du sonst?«

»Der Geist ist so töricht und so mächtig. Er will dein Lehrer sein, aber er versteht gar nicht, was du zu ihm sagst.«

»Ja, er denkt, ich sei sein Schüler, und wenn ich nicht gehorche, hetzen sie wieder alle Hunde auf mich. Bob und Alex hinauswerfen und das Wasser einem Weißen liefern! Ich tue es nicht. Gleich morgen muß ich in Erfahrung bringen, wer das ist, der pachten will.«

Queenies Augen wurden ein einziges Bitten; Wakiya dachte, daß er zu solchen Augen immer ja sagen müßte.

»Morgen ist Heiligabend, Joe.«

»Friede auf Erden - aber ich muß wissen, wer das Land hier pachten will.«

»Kann nicht der Stammesrat.?«

Queenie verstummte unter Joes Blick. Er stand auf und ging hinaus. Gleich darauf hörten alle den Motor anspringen.

Die Frauen und Kinder blieben allein.

Es gab in der Blockhütte zwei Schlafstätten, breite Brettergestelle mit Wolldecken und einiger neuer Bettwäsche. Sie standen übereck zueinander. Ein Tisch, eine elektrische Kochplatte, ein in Gang befindlicher Kühlschrank und ein eiserner Ofen vervollständigten das Mobiliar. Die Kleider hingen an Wandhaken. In der Ecke standen zwei Jagdgewehre, und dabei befand sich ein festes verschlossenes Kästchen. - Wer Wasser haben wollte, brauchte nur den Hahn aufzudrehen; wer Licht haben wollte, drehte nur am Schalter. Das nahm Wakiya am meisten wunder.

Da Joe nicht zurückkam, legte sich Queenie mit den Zwillingen zusammen schlafen. Wakiya lag bei der Großmutter. Er hatte sich noch nie bei jemandem körperlich so geborgen gefühlt wie bei ihr, nicht einmal bei der Mutter. Untschida fürchtete sich nicht vor Wakiyas Krankheit, und ihre Ruhe ging auf ihn über wie Wärme von einem Menschen auf den anderen. Wenn es begann, ihn zu schütteln, verkroch er sich bei ihr.

Am folgenden Morgen holte Queenie eine kleine Fichte herein, die schon vor dem Hause bereitgelegen hatte, machte sie in einem Holzkreuz fest und stellte sie auf den Tisch. Wakiya durfte Kerzen an den Baum stecken. Es war ihm feierlich zumute, nicht nur des heiligen Baumes wegen, der ihn an den Tag des Sonnentanzes erinnerte. Er dachte wieder daran, daß Inya-he-yukan sich jetzt in einen schweren Kampf wagte. Wakiyas Lebenskreis wurde weiter; der Kreis seiner Gedanken wirklicher, obgleich er den Zusammenhang mit den Träumen nicht verlor. Über bereiftes Gras, in Nebel und leisem Wind ging er mit Queenie und Untschida zu den Gräbern, um die Toten zu grüßen und zu ehren. Am Grabe des alten Häuptlings blieb Wakiya lange stehen.

Der Abend dämmerte früh, und es wurde bitter kalt. Alle gingen zurück ins Haus.

Gäste fanden sich dort zur gemeinsamen Feier ein. Mary Booth, die entschlossene Rancherin, kam als erste. Sie ist gar nicht schön, dachte Wakiya, aber ich würde ihr trauen. Gleich danach tauchte Bob Thunderstorm auf. Sein runder Kopf und sein freundliches Gesicht paßten zu der Stimmung des Kerzenscheins, der jetzt vielfältig am Baum aufleuchtete. Alex Goodman war nicht zu überreden gewesen, vom Vieh wegzugehen; als guter Cowboy feierte er sein Weihnachten mit Büffeln und Rindern zusammen.

Die Gäste und die Familie ließen sich auf den Bettgestellen um den Tisch nieder. Andere Sitzgelegenheiten gab es nicht. Auf einmal horchte Wakiya auf, denn an der Tür hatte sich etwas gerührt, als ob unerwarteter Besuch davor stehe. Queenie öffnete. Eliza Bighorn kam mit Wakiyas kleiner Schwester herein. Eliza war verlegen, aber alle freuten sich, und Wakiya strahlte. So nahm sie ohne weiteres Platz.

Wakiya wußte, warum auf Queenies sanftem Mondgesicht inmitten der froh gestimmten Runde noch die Trauer wie ein Nebelschleier lag. Vielleicht hätte sie lieber geweint als gelächelt, aber sie wollte wohl ihre Gäste nicht betrüben, und so blieb sie freundlich zu jedem einzelnen und nach außen hin heiter.

Es gab aber jemandem im Kreise, der nicht verbarg, was er dachte, und das war Mary Booth. Wakiya erlebte sie zum erstenmal mit Staunen.

»Wo steckt denn Joe? Gestern abend fährt er weg und ist noch immer nicht zurück!«

Von dem Hause und den Wiesen der Booths aus konnte man ohne Mühe alles beobachten, was sich beim Hause und auf den Wiesen der Kings ereignete.

»Joe möchte sich informieren, wer die Nachbarwiesen pachten will.«

»Ich denke, das soll eine Schulranch werden. Hat Haverman wieder einmal andere Träume?«

»Er träumt von einem weißen Pächter.«

»Das Unschuldslamm. Er kennt wohl unseren Joe immer noch nicht.«

Mary horchte auf und mit ihr alle anderen. Draußen klappte eine Autotür zu.

»Wenn man vom Teufel spricht, dann kommt er.« Während Mary das sagte, trat Joe ein.

Er hängte den schwarzen Cowboyhut an den Wandhaken und setzte sich zu der Runde.

»Tische auf, Queenie. Ich habe schon herausgebracht, wer die Finger nach den Wiesen hier ausstreckt.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Ein Freund von Wirbelwinds. Die Wirbelwinds sind mit den weißen Ranchern verschwistert und verschwägert.«

Mary lächelte. »So hast du deinen neuen Wirbel, Joe, wie du ihn brauchst. Oder willst du sie kommen und dein Wasser und deine Elektrizität teuer bezahlen lassen? Wir könnten das Geld brauchen!«

Joe runzelte die Stirn, aber nur einen Augenblick, dann war das Thema beiseite geschoben, und Queenie brachte den Braten, auf den sich die Tischgenossen freuten. Es gab auch hier nur an Feiertagen Fleisch.

Nach dem Essen wurden Lieder gesungen, alte und neue. Joe schlug mit den Knöcheln den Takt auf den Tisch; alle waren den Trommelschlag so gewohnt, daß sie ohne den Taktschlag nicht singen mochten.

Mary fing an, aus dem Zusammenleben von Büffeln, Rindern, Schweinen, Kaninchen, Bienen und Menschen lustige Geschichten zu erzählen, die Joe ergänzte. Da Untschida und Eliza Bighorn Englisch so gut wie überhaupt nicht verstanden, sprachen alle die Stammessprache. Auch Eliza Bighorn wurde munter, nachdem sie eine Flasche Coca-Cola geleert hatte.

»Inya-he-yukan, ich muß mich immer noch über dich wundern. Eines Morgens erscheinst du bei mir wie ein noch nie gesehener Elch im Sumpf, redest mir den Wakiya aus dem Hause und mich in die Angelhakenfabrik hinein. Was für ein Traum hat dich denn getrieben?«

Joe warf Byron einen Blick stillen Einverständnisses zu. Die beiden wollten nichts ausplaudern.

»Ein seltsamer Traum, Eliza. Ich habe Byron Bighorn als einen Mann gesehen, der Bäume pflanzt und Lieder dichtet, und dich im Laden, wie du für 200 Dollar einkaufst.«

»Ja, du bist ein Geheimnismann, Joe. Ich habe einen Mond lang gearbeitet und 200 Dollar erhalten. Was machte ich damit? Ich habe Wakiya ein gelbes Halstuch gekauft, damit er aussieht wie ein Rodeosieger.«

Sie packte aus.

»Du hast recht getan. Alles übrige hat er schon.«

Wakiya saß in blauen langen Niethosen und einem blauen Hemd am Tisch; die Kleidung paßte ihm genau. Joe band ihm das gelbe Halstuch um.

»In welcher Art von Wettkampf immer, Wakiya, in irgendeinem sollst du bestehen!«

Wakiya fing an, mit seiner kleinen Schwester zu spielen. Queenie gab den Kindern Pastellkreide und Papier. Beide machten sich eifrig an die Arbeit.

Joe schaute über den Tisch in die Malerwerkstatt der Kinder. »Was soll das werden, Wakiya?« »Eine Schulranch.«

»Wen hast du denn da rechts oben in die Ecke gemalt?« »Mister Haverman.« »Was tut er dabei?«

»Er ist mit seinem Ford gekommen und sagt: >Sehe schon, Mister King, daß Sie eine ausgezeichnete Schulranch aufbauen. Habe ich Ihnen das nicht schon damals geraten?< - Mit einem Mund so rund wie ein Schlauch sagt er das.«

Wakiya hatte die Gabe, Stimmen und Menschen zu imitieren. Er hatte Mr. Havermans Tonfall gut getroffen, und alle lachten.

»Und was antworte ich ihm, Wakiya-knaskiya?«

»Sie waren immer ein guter Ratsmann, Mister Haverman. Ich habe mir schon überlegt, ob wir nicht die ganze Agentur gegen eine Schulranch eintauschen.«

Die Erwachsenen schauten sich verblüfft an.

»Wie kommst du darauf, Wakiya?«

»Ich habe mir das überlegt. In der Agentur gibt es genug schwarze Schlangen mit gelben Mäulern, die Wasser speien, grünen Rasen, Bäume und schattige Plätze und Häuser. Wir brauchen nur einzuziehen. Das geht auch ohne einen Haufen Geld.«

Mary Booth griff ein.

»Wakiya, hüte deine Zunge, sonst bist du eines Tages auch da, wo es deinem Wahlvater Joe einmal gar nicht gefallen hat.«

Wakiya betrachtete Mary nachdenklich. Ihre Worte klangen ähnlich wie die der Mutter, als Wakiya zu den schwarzen Schlangen hatte gehen wollen, um seinen Durst zu löschen.

Wie merkwürdig war es um die Welten der >Geister< und der >Menschen< bestellt.

Es wurde spät. Die letzten Kerzen waren heruntergebrannt. Die Gäste brachen auf. Mary nahm Eliza Bighorn und das kleine Mädchen mit in ihr geräumigeres Haus zum Übernachten, und nach kurzem Überlegen schloß Wakiya sich der Mutter an.

Er war neugierig darauf, wie Mary Booth und die Cowboys, Bob Thunderstorm und Alex Goodman, hausten. Als er mit Mutter und Schwester auf der Schlafstatt lag und Mary auf der Couch schnarchen hörte, war ihm auf einmal alles wie ein Traum, die Mutter, die Schwester, Inya-he-yukan, Queenie, Untschida, und er wußte nicht mehr, was endlich das Wirkliche für ihn werden würde. Aber am innigsten dachte er in der Stunde vor dem Einschlafen an seinen Bruder, der zu Weihnachten nicht hatte nach Hause kommen können. Die Reise war weit, der Bruder durfte sie, wenn überhaupt, nur einmal im Jahre machen. Wakiya hatte die Augen geschlossen und sich an die Seite der Mutter gekuschelt, und im halben Schlaf war er noch bei dem Jüngeren, der jetzt in einem Bett für sich allein lag, in einem großen Saal, in dem viele kleine Jungen mit Heimweh einschliefen.

Am nächsten Morgen sah sich Wakiya mit Bob Thunderstorm zusammen auf der Ranch der Booths um, bei den Bienen, den weißen Angorakaninchen, den Schweinen und den schwarzfelligen Kühen. Als er alles gesehen hatte, auch den Kartoffelacker und ein Getreidefeld, die jetzt brach lagen, begann er bei Bob zu forschen.

»Hat Mary Booth keinen Vater und keine Mutter mehr und keinen Bruder und keine Schwester und keinen Sohn und keine Tochter?«

»Ihr Vater und ihre Mutter sind zu Besuch bei Marys Geschwistern; die leben weit weg von der Reservation.«

»Weit weg?«

»Ja, weit weg.«

Wakiya hatte noch von keinem Indianer gewußt, der weit fort außerhalb der Reservation lebte. Die Vorstellung beunruhigte ihn.

»Aber Mary wollte hier bleiben?«

»Das wollte sie.«

»Queenie hat Marys Bruder Harold erschossen. Ist das wahr?« »Es ist wahr.«

»Aber Queenie hat Blumen auf Harolds Grab gelegt.« »Hat sie?«

»Ja. Aber Mary nicht.«

»Unsere Mary ist wie ihr Vater Isaac. Ein Kaktus ist sie. Aber Queenie ist wie die weiße Rose, so zart. Sie wollte sicher Harold versöhnen, nachdem er sterben mußte.«

»Unsere Väter wollten auch die Geister der Feinde versöhnen, die sie besiegt und getötet hatten.«

»Um Harold lohnt sich das aber nicht. Wenn ich etwas zu sagen hätte, so würde er in der Hölle der Geister schmoren, denn er war ein Lügner und ein Dieb geworden. Joes Pferde hatte er gestohlen. Er war ganz und gar anders als unsere Mary.«

Bob und Wakiya hatten das Haus wieder erreicht. Wakiya verabschiedete sich von der Mutter, die mit der kleinen Schwester nach Hause wandern wollte. Es kam Wakiya nicht in den Sinn mitzugehen. Er blieb bei Inya-he-yukan. Lange schaute er der Mutter und der Schwester nach. Schüchtern, verdeckt von der frühen Einsicht in Wirklichkeiten rührte sich in ihm der Wunsch, daß Mutter und Geschwister bei ihm im Tal der weißen Felsen bleiben könnten. Er verschloß solche Hoffnung ganz in sich und lief hinüber auf die andere Talseite, wieder hinauf zu der Hütte der Kings. Untschida lächelte ihm entgegen.

Einige Tage später, noch vor Neujahr, kam wieder Besuch. Am hellgrauen Vormittag steuerte ein dunkelgraues Cabriolet den Feldweg herauf.

Wakiya beobachtete es vom Friedhof aus. Er saß beim Grab des alten Häuptlings Inya-he-yukan. Lange saß er dort schon; es war sein neuer Lieblingsplatz geworden. Platz des Träumens und Nachdenkens. Platz, an dem ihn keiner aufstörte, Platz, von dem er weit über das Tal und die weißen Felsen, über Prärie und Straße schauen, Büffel und Wagen beobachten konnte. Es war ein Platz, an dem den Buben vieles anfocht, aber auch ein Platz, an dem Wakiya nur die Augen zu senken und nach innen zu horchen brauchte, und schon war er fern vom Lauten und Fremden und ganz bei dem Alten, den er schlicht und voll Würde hatte Abschied nehmen sehen.

Wakiya kannte seinen neuen Platz und sich selbst an diesem neuen Platz noch nicht ganz; er hatte eben erst angefangen, sein neues Selbst hier kennenzulernen, und er wartete, was alles an ihn herantreten würde, um von ihm fortgejagt oder ergriffen und einverleibt zu werden.

An dem Vormittag, an dem nun das dunkelgraue Cabriolet heraufbalancierte, hatte Wakiya seine pelzgefütterte Jacke angezogen, die ihn bis über die Hüften wärmte, und seine neuen Stulpenstiefel, in denen seine Füße Platz hatten. Es war wiederum bitter kalt, aber der Schnee, den das Land brauchte, war noch kaum gefallen. Zwischen hartgefrorener Erde und frostigem Rauhreif quälte sich das welke Gras. Die Pferde im Korral mußten gefüttert und gerührt werden. Die schwarzen Rinder und die Büffel gingen über weite Strecken, um halbwegs satt zu werden; jedes einzelne Tier hatte ein Areal zur Verfügung, das in fruchtbareren Gegenden für eine kleine Farm gereicht hätte. Was Büffel und Rinder in ihrem Unterstand an Futter fanden, war nur eine Beihilfe. Die meisten der Kaninchen waren schon als Festtagsbraten geschlachtet worden; ihre Angorafelle trockneten für den Aufkäufer in New City. Nur die Zuchttiere hockten noch im Stall.

Am Himmel ballten sich Wolken; Wakiya roch den Schneewind. Vielleicht würde es bald stürmen und schneien. Er machte sich auf, um zum Haus zu gehen. Joe hatte Dieseltreibstoff geholt und war oben bei Brunnen und Pumpe. Queenie fütterte die Pferde. Untschida reinigte das Toilettenhäuschen; sie hatte eben den Schmutzkübel fortgebracht.

Alle beeilten sich bei der Arbeit, nicht wegen des herankommenden Besuchs, aber wegen des zu erwartenden Schnees. Wakiya wurde sich in diesem Augenblick bewußt, daß er Queenie oder Untschida hätte helfen können. Daheim war nie viel zu tun gewesen; hier gab es Arbeit. Wakiya wollte sich an die Arbeit gewöhnen, doch war ihm das stundenlange Träumen noch zu vertraut, als daß er es schnell hätte ablegen können. Es hatte noch niemand ein Wort darum zu ihm gesagt. Alle wußten, daß er ganz von selbst darauf kommen würde. Aber für heute hatte er wohl zu spät daran gedacht. Denn es begann zu stürmen, wenn es auch noch nicht schneien wollte.

Joe blieb noch oben bei Brunnen und Pumpe, aber Queenie war mit den Pferden fertig und Untschida mit ihrer von üblen Düften umgebenen Arbeit.

Queenie und Wakiya kamen miteinander beim Haus an, als die Gäste den Wagen verließen.

Mr. Whirlwind steckte den Startschlüssel ein, musterte seine Umgebung und wartete. Er hatte breite Schultern; sein Kopf war rund, die Lippen waren eingezogen. Um Augen und Mundwinkel hatten sich viele kleine Falten eingeprägt. Er trug eine pelzgefütterte Jacke wie Wakiya und einen hellen Cowboyhut, Frau und Tochter wirkten als Gegensatz zu ihm noch zierlicher und lebhafter, als sie an sich waren. Mr. Whirlwind war ein Felsbrocken. Der Name Wirbelwind, den er von einem berühmten Vorfahren übernommen hatte, paßte wenig zu ihm. Queenie hatte Mrs. Whirlwind, die eher unruhiger Luft glich, schon begrüßt, ganz in den Formen einer Weißen. Wakiya gab Susanne zu verstehen, daß ihm ihr Erscheinen nicht eben unangenehm sei, obgleich die Tatsache für ihn völlig unerheblich bliebe. Er machte keinerlei Anstalten, ein Gespräch zu eröffnen, sondern blieb in vier Schritt Entfernung von ihr stehen, eine Hand in der Tasche, wie er das bei den Männern gesehen hatte.

Susanne war auch in Hose und Jackett und hatte eine Pelzmütze auf dem schwarzen Haar wie die Mutter. Sie hatte vor Queenie artig geknickst. Wakiya war für sie zunächst Luft, aber doch eine Art von Luft, die man prüfend atmet.

Von der Anhöhe kam Joe herab. Er beeilte sich nicht, war aber auch nicht so ungezogen zu schlendern. Er hielt in seinem Tempo eben die höfliche Mitte zwischen Zuvorkommenheit und Ablehnung. Auch er war Vollblutindianer, ebenso wie William Whirlwind. Dennoch waren die beiden Männer schon im Körperbau verschieden, Langschädel gegen Rundschädel und die schmalhüftige und geschmeidige Gestalt gegen den breiten, stabilen Knochenbau und die mehr ausladenden Fleischpolster. William Whirlwind war um mehr als ein Jahrzehnt älter als der vierundzwanzigjährige Joe.

Als die beiden Männer sich kurz gegrüßt hatten, blieb ihnen nicht viel anderes übrig, als gemeinsam in das Haus einzutreten. So unhöflich wie einen Mr. Haverman konnte Joe einen Mr. Wirbelwind nicht behandeln. Missis Whirlwind richtete es jedoch ein, daß sie mit Queenie zusammen trotz Frost und Sturm noch außerhalb blieb. Wakiya fand sich verpflichtet, Susanne wenigstens stumm Gesellschaft zu leisten. Er wollte auch das Gespräch der beiden Frauen auf diese Weise belauschen. Er mußte genau aufmerken, denn sie sprachen englisch miteinander.

Die Frauen gingen langsam über die Wiesen; Wakiya und Susanne folgten.

»Ihre Wiesen sehen besser aus, Missis King, seitdem Sie im Sommer bewässert haben. Was für ein Unterschied gegen früher! Der neue Brunnen lohnt sich.«

Die Frauen waren schon wieder stehengeblieben.

»Sie sind so tüchtig und vielseitig, Missis King. Die ganze Reservation bewundert Sie.«

Wie merkwürdig sie redet, dachte Wakiya, listige Worte.

Der giftige Atem hatte einen neuen Boten gesandt; einen beweglicheren und geschickteren Boten, als Mr. Haverman es gewesen war; Queenie sollte nun angehaucht werden.

Der Sturm pfiff. Die Frauen drehten ihm den Rücken zu, um ungehindert atmen zu können.

»Ich denke, Missis Whirlwind, Sie sind sehr viel tüchtiger als ich.«

»Sie müssen sich einmal unsere Ranch ansehen. Ich hoffe ja überhaupt, daß wir uns nun öfter treffen, nachdem unsere Freunde Ihre Nachbarn werden.«

Queenie neigte den Kopf zur Seite, sprach aber in einem Oberflächenton. »Ist das schon gewiß?«

»Mister Haverman hat zugestimmt, auch Dave De Corby, der Ökonom im Stammesrat, ist einverstanden. Soweit hat mein Mann das schon geregelt. Für zwei Ranches rentieren sich Motorpumpe und Brunnen natürlich ganz anders als für eine einzelne.«

»Elektrizität geben wir schon an die Booth-Ranch ab.«

»Von dort bekommen Sie kein bares Geld. Der alte Isaac holt zuviel aus der Ranch heraus. Ich glaube, seine Frau steckt dahinter. Sie möchte zu ihren Kindern außerhalb der Reservation ziehen.«

»Sie ist eine Weiße und bleibt es.«

Mrs. Whirlwind zuckte auf.

»Sehen Sie es von dieser Seite? Ich glaube, zwischen Weiß und Rot ist menschlich gar kein Unterschied. Eben diese Einsicht verlangen wir ja auch von den Weißen. Das neue Angebot sieht jedenfalls für Sie und Ihren Mann sehr günstig aus. Mac Leans knausern nicht -obgleich sie >Weiße< sind.«

In Mrs. Whirlwinds Worten war die Spitze deutlich geworden. Queenie wich aus.

»Sie kennen den Vorschlag Mac Leans?«

»Wir sind mit der Familie sehr befreundet.«

»Haben Mac Leans nicht schon eine große Ranch?«

Mrs. Whirlwind hüllte sich wieder in die Schlangenhaut der Liebenswürdigkeit.

»George, der zweite Sohn, hat geheiratet und möchte sich selbständig machen. Er hat eine reizende, junge Frau, ganz reizend, und sie freut sich schon darauf, Ihre Nachbarin zu werden. Sie kommt aus der Stadt und würde sich ohne einen gebildeten Menschen in der Nähe verzweifelt einsam fühlen. Ich habe ihr von Ihnen erzählt.«

Mrs. Whirlwind, die keine Antwort erhielt, machte eine Pause und wartete nun offenbar darauf, daß ihr eigener Mann wieder aus dem Hause herauskäme, um die Fahrt fortzusetzen. Als er sich nicht sehen ließ, wurde sie in der schneidenden Kälte unruhig.

Nebel zogen heran, und Flocken begannen zu tanzen. Queenie war verlegen. Auch sie wußte nicht, ob es angebracht sein konnte, das Gespräch der Männer im Hause zu stören.

Die Frauen beschlossen in stillem Einvernehmen, weiter in der Kälte draußen auszuharren. Wakiya stand noch immer ungerührt und wortlos neben der hübsch gekleideten, zierlichen Susanne. Einmal hatte er gedacht, daß er sie nie würde heiraten können. Das schien ihm lange her. Jetzt dachte er, daß er Susanne nie würde heiraten wollen. Mochte David Freundschaft mit einer Familie suchen, die Inya-he-yukans Pläne störte. Für Wakiya-knaskiya war eine solche Familie der Feind. Er steckte auch noch die andere Hand in die Hosentasche.

Ob Queenie nun etwas von der Schulranch sagen würde? Nein. Mrs. Whirlwind setzte das Gespräch fort.

»Der junge Mac Lean, wissen Sie, ist einfach versessen darauf, endlich eine eigene Ranch zu bewirtschaften. Das Tal hier ist ihm vertraut. Die Mac Leans haben ja früher mit Booth verkehrt.«

Jetzt zuckte Queenie sichtlich zusammen und schaute zu der Booth-Ranch hinüber.

Mrs. Whirlwind lenkte rasch ab.

»Übrigens ist es eine Schande, daß die Verwaltung Ihnen noch kein neues Haus bewilligt hat. Ihre ganze Familie in einem einzigen Raum, das ist doch barbarisch und einfach schrecklich! Sie haben auch noch immer kein Atelier.«

»Wir stehen auf der Warteliste. Zur Zeit leben wir noch wie Ihre Vorfahren, die Pioniere. Waren das nicht in Ihren Augen bewundernswerte Menschen mit bewundernswert einfacher Lebensweise?«

Mrs. Whirlwind schien verwirrt und, von Natur lebhaft, ließ sie ihre Worte immer schneller kullern. »Natürlich, natürlich. Das sagt auch mein Mann immer. - Mein Mann hat aber beim Superintendent für Sie vorgesprochen. Mein Mann hat großen Einfluß. Es wird nun alles schneller gehen. Persönliche Freundschaft ist sehr viel wert.«

Der erwartete Schneewirbel setzte ein. Susanne verzog das Gesicht. Die Frauen entschlossen sich, mit den Kindern zusammen ins Haus zu gehen.

Der Bub und das Mädchen liefen voran. Wakiya öffnete die Tür. Eine schwere Luft des Schweigens schlug ihm in der Hütte entgegen. Mr. Whirlwind und Joe King saßen auf den deckenbelegten Bettgestellen übereck einander gegenüber. Sie sprachen nicht. Sie rauchten nicht. Sie schauten sich nicht an. Sie rührten sich überhaupt nicht. Sie nahmen auch keine Notiz von den Eintretenden, die daher nicht wagten, sich zu setzen, sondern im Raume - unschlüssig und ebenso stumm wie die beiden Männer -stehenblieben.

Endlich begannen die eingezogenen Lippen des älteren Ranchers noch einmal zu arbeiten, und es kam etwas hervor.

»Dein letztes Wort, Joe King?«

»Ich bin nicht verantwortlich dafür, daß der jüngere Sohn von Mac Lean eine eigene Ranch findet. Amerika ist groß, und für Weiße gibt es Platz genug. Ich bin Mitglied unseres Stammes und mit euch allen zusammen verantwortlich dafür, daß unsere jungen Leute lernen und Arbeit finden und daß das letzte Stück Boden, das uns von unserem Kontinent geblieben ist, von uns und für uns entwickelt wird.«

»Unsere jungen Leute sollen als amerikanische Bürger lernen und arbeiten. Je früher sie aus der Stickluft der Reservation hinausgedrängt werden, desto besser. Wir brauchen weiße Nachbarn, die uns anerkennen und durch die wir schneller in das gesamte Volk und in die amerikanische Lebensweise hineinwachsen.«

»Wir sind die ersten Amerikaner, und wir haben zu der amerikanischen Lebensweise unseren eigenen Beitrag zu geben. Dafür brauchen wir einen Standplatz. Wir müssen zu uns selbst kommen, dann können auch wir den anderen etwas nützen.«

»Unsere Väter waren Barbaren, edel, aber unwissend. Wir haben nur zu nehmen und zu lernen.«

»Es gibt Leute, die wissend sind, aber unedel. Wir haben auch zu lehren und zu geben.«

»Mister King, ich werde dafür eintreten, daß George Mac Lean Ihr Nachbar wird. Ich habe gesprochen. Was sagen Sie?«

»Nein. Auf diesen Wiesen wird eine Schulranch eingerichtet. Ich habe gesprochen, hau.«

William Wirbelwind und Joe King erhoben sich zur gleichen Zeit.

Wirbelwind grüßte zum Abschied noch kürzer als beim Kommen; Joe erwiderte knapp.

Die Gäste verließen das Haus. Queenie geleitete sie noch durch den Flockenwirbel bis zum Wagen. Mit bedauernder Miene, leicht seufzend, stieg Mrs. Whirlwind ein. Sie richtete einen letzten fragenden Blick auf Queenie - konnte diese junge Künstlerin mit den Anschauungen ihres Mannes einverstanden sein?

Queenie blieb undurchschaubar, aber unter dem Eindruck der Feindschaft, die aus den letzten Worten der beiden Männer gesprochen hatte, war sie fahl geworden.

Als der Wagen gewendet hatte und Queenie sich anschickte, im Schneegestöber zum Haus zurückzukehren, fühlte sie eine kleine Hand und nahm sie fest in die ihre. Wakiya hatte bei ihr gestanden.

Wirbelwinds waren in der Winterszeit die letzten Besucher gewesen, die zu dem Hause King gefunden hatten.

Das ganze Tal hüllte sich in Schnee.

Auf der Straße unten im Tal räumte ein Schneepflug. Den Feldweg bis zum Haus mußte die Familie selbst frei schaufeln. Alle halfen, des Abends auch Wakiya, Bob und Alex.

Jeden Tag wurde Wakiya auf irgendeine Weise und von irgend jemandem bis zum Schulbus gebracht und wieder abgeholt. Aber eines Morgens schien es wahrhaftig unmöglich, durch die herangewehten Schneemassen noch durchzukommen. Auch die Straße war für Wagen unpassierbar geworden, und es stürmte unentwegt.

»Heute bleibe ich daheim, Inya-he-yukan.«

»Das ist ein trügerischer Traum, Wakiya-knaskiya. Mach dich für die Schule fertig!«

Wakiya gehorchte.

Joe schnallte die Skier an, steckte Wakiya in einen Fellsack mit Riemen, nahm ihn auf den Rücken und fuhr los.

Das Gleiten fühlte sich wie Fliegen an. Wakiya war übermütig und lachte, während seine Nase und seine Ohren frostkalt waren.

Als die beiden in der Schule ankamen, fanden sie niemanden vor als die Küchenfrauen, die Internatsbetreuerinnen und die wenigen Schüler, die in der Schule wohnten.

Der Schulbus war nicht mehr durch den Schnee durchgekommen. Joe und Byron erhielten ein ausgezeichnetes Essen und gelangten auf die gleiche Weise, auf die sie gekommen waren, wieder zurück.

»Heute bleibe ich doch zu Hause, Inya-he-yukan!«

»Du bist ein schwerer Brocken geworden, Wakiya-knaskiya.«

Joe war verschwitzt und durstig. Er hatte trotz der Last auf dem Rücken ein schnelles Tempo durchgehalten.

Die Stunden dieser Skifahrt zur Schule und zurück blieben für Wakiya und seinen Wahlvater auf lange Zeit das letzte Aufleuchten der Fröhlichkeit.

Nach einigen Tagen besserten sich zwar die Schneeverhältnisse. Aber der Winter blieb beharrlich im Lande und wollte nicht weichen. Rinder und Pferde standen in ihrer Schutzhütte. Die Futtervorräte mußten ergänzt werden. Das Geld wurde knapper. Joe war schwer anzusprechen. Wakiya spürte die Sorgen; Queenie versuchte sich an neuen Skizzen, aber sie vermochte nicht bei einem Thema zu bleiben; ihre unruhige Stimmung setzte sich in eine unfruchtbare Unruhe in der Arbeit um. Die Zwillinge brüllten, wenn die Muttermilch nicht mehr für sie ausreichte. Wakiya bekam seine Krankheit wieder zu spüren. Noch begriffen die Zwillinge nichts davon. Aber er dachte mit Schrecken daran, daß sie eines Tages vor ihm davonlaufen würden wie vor einem bösen Geist.

Es kam ein Tag, der alle Sinne hätte erfreuen können. Die Luft war eine reine Flut in den nicht endenden Himmel; Kristallschnee spielte in seinem Glitzern mit vielen Farben; über alles Land breitete sich die Stille der Erde, in deren Geborgenheit die Gräser, die Blumen, die Bäume auf ihr neues Leben warteten.

Joe nahm plötzlich wieder die Bretter an die Füße und lief fort. Er hätte den Wagen benutzen können. Vielleicht wollte er Benzin sparen. Vielleicht... Spät abends kam er zurück.

Die Nacht darauf gönnte den Bewohnern der Blockhütte wenig Schlaf. Die Zwillinge schrien und machten sich schmutzig. Untschida stand auf. Tashina glitt aus Inya-he-yukans Arm, um nach den Kindern zu sehen. Sie zahnten und hatten Fieber. Trotz Unruhe und Sorge und trotz der Schmerzen, die die Mutter nun oft schon beim Stillen erleiden mußte, sah sie jeden kleinen weißen Zahn, der sich aus dem hellen Fleisch herausarbeitete, wie ein Wunder, das sie auch Joe zeigen und miterleben lassen wollte. Aber Joe hätte sich viel mehr gewundert, wenn seine Kinder keine Zähne bekommen hätten.

Wakiya lag mit offenen Augen auf der Bettstelle. Nur jetzt keinen Anfall - nur jetzt nicht auch noch lästig werden! Der Ofen glühte zu heiß. Als das Feuer ausging, wurde es sehr kalt in der Hütte.

Endlich dämmerte es. Queenie machte sich wiederum von Joe los, sanft, aber mit ihrem fühlbaren tiefen Widerstreben. Wakiyas Herz und alle seine Nerven wollten zerreißen. Er war alt genug, um zu ahnen, was vorging. Queenie fragte mit abgewandtem Gesicht, was denn nun werden würde - da Dave und Haverman doch schon zugestimmt hätten - und ob Joe nicht lieber Frieden schließen wolle als einen' neuen Krieg zu führen... Es gebe so viele Pläne, die noch offengeblieben seien, die Hecken, die Grasaussaat, das Atelier... soviel friedliche Arbeit - Nütze die dem Stamm nicht auch? Müsse durchaus um die Schulranch gekämpft werden? Auch Freundschaften seien etwas Gutes.

Joe drehte sich stillschweigend zur Wand.

Wakiya-knaskiya und Untschida standen nach dieser Nacht besonders früh auf und trafen sich am Grabe des alten Inya-he-yukan.

Aufrecht stand noch immer der Stab mit der gekrümmten Spitze; leise bewegte sich das Adlerfederbündel.

Untschida und Wakiya saßen auf einer Felldecke beisammen im Schnee. Sie hatten sich ohne Worte zueinander gefunden, denn das Kind und die Alte waren nicht nur müde von der vorhergegangenen Nacht, sie fürchteten überhaupt die neuartige Unruhe des Hauses, in dem sie wohnten. Sie erschraken vor Tashinas hastigen und verfahrenen Versuchen zu schaffen; sie fürchteten Inya-he-yukans Brüten, aus dem er zu plötzlichem Entschlusse auffuhr. Die Unruhe der Zwillinge, die von der Mutter auf die Kinder übergegangen war, quälte sie; ihnen beiden war angst um die Kleinen. Viele Kinder starben an Darmkrankheiten, sobald die Muttermilch nicht mehr ausreichte. Das wußte auch Wakiya, der zwei Brüder verloren hatte.

Zum erstenmal dachte Wakiya: Wäre der alte Häuptling noch am Leben! Wie sollen wir ohne ihn sein? Wäre er noch da, so könnte ich des Nachts bei ihm im Zelt schlafen auf Bärenfell und Büffelfell und in das glühende Reisig in der Feuerstelle schauen und träumen und schlafen... und Inya-he-yukan, der Alte und der Junge, würden leise miteinander sprechen und nicht unruhig sein. Aber nun war Inya-he-yukan der Alte zu seinen Ahnen gegangen, und in das verfluchte Haus waren wieder böse Geister eingedrungen. und ein Wirbelwind war hereingekommen, verwirrend, richtungslos. Wakiya erschrak vor seinen eigenen Gedanken.

Hatte auch der Sonnentanz das Blut nicht abgewaschen? Mußte immer wieder Streit sein?

Wakiya zog die Knie hoch und stützte die Arme darauf, er legte den Kopf in die Hände und dachte nach. Das Grab des Häuptlings war sein Standplatz, und er mußte wieder zu sich selbst kommen.

Er trug schwere Fragen mit sich herum. Vielleicht konnte er sie jetzt Untschida vorlegen. Zaghaft sah er von der Seite an ihr hinauf. Sie brauchte seinen Blick nicht zu spüren, wenn sie nicht wollte.

Doch wollte sie fühlen, was aus Wakiyas Augen sprach. Sie legte den Arm um die Schultern des Jungen und zog ihn zu sich heran, wie sie immer getan hatte, wenn seine Anfälle ihn schüttelten. Jetzt schüttelten ihn die Zweifel.

»Untschida! Wenn Häuptling Inya-he-yukan der Alte heute noch unter uns weilte, was würde er uns sagen?«

»Er spricht zu uns, Wakiya-knaskiya.«

»Hast du seine Worte gehört?«

»Die Zeichen seiner Worte stehen auf dem Gürtel, den er deinem Wahlvater Inya-he-yukan dem Jüngeren vor seinem Tode gegeben hat. Die Muscheln sind seine Sprache.«

»Was sagen sie? Darf ich es wissen? Oder bin ich nur ein Kind?«

»Du sollst es wissen. Mehr als ein Kind bist du schon, Wakiya-knaskiya. Auf dem Gürtel stehen die Zeichen: Nicht Seminolen oder Tscheroki, nicht Hopi oder Navajo, nicht Dakota oder Siksikau, die Menschen alle sollen Brüder sein.«

»O Untschida, ich höre es und bin doch traurig. Denn nicht einmal Männer aus dem gleichen Stamm wie Inya-he-yukan und Wirbelwind sind Brüder, und auch Inya-he-yukan und Tashina sind verschiedenen Sinnes geworden. Wie sollten die Männer und Frauen von so vielen verschiedenen Stämmen einig sein?«

»Wenn sie es wären, Wakiya, brauchten wir den Gürtel nicht.«

»Ist es ein Geheimnisgürtel?«

»Das Geheimnis kam aus den Hütten der Seminolen, aus der Hütte des verratenen Häuptlings Oscola. Eine Frau gab es Inya-he-yukan dem Alten, als er noch jung war. Die Geister hatten sie verstümmelt, und sie trauerte um ihren Stamm. Inya-he-yukan der Alte aber diente in jenem Sommer den Geistern und tötete Menschen. Es hat lange gewährt, bis er zu uns zurückkehrte. Aber er kam...«

»Es ist gut, daß auch Inya-he-yukan, mein Vater, zu uns zurückgekommen ist und nun den heiligen Gürtel besitzt.«

Wakiya versenkte sich wieder in Schweigen und Denken. Die Wellen in ihm schwangen aus. Seine Träume wollten ihm nicht mehr davonlaufen. Sie hüllten ihn ein, und er sah die Bilder so lange an, bis ihre Umrisse sich klarer zeigten. Queenie hatte Angst. Wakiya schaute sie zwischen zerrissenen Skizzen und schreienden kranken Kindern und einem kampfentschlossenen Mann. Joe ließ Queenie mit ihrer Angst allein. Vielleicht war er nicht gewohnt, daß Queenie Angst hatte, und Angst war ihm überhaupt widerwärtig wie eine schleimige Schnecke. Joe war ein Stein mit Hörnern, und er hatte einen gerechten Kampf aufgenommen.

Wakiya hätte Queenies blasses Gesicht gern gestreichelt und ihre Mondaugen getröstet, aber das wagte er nicht. Er hätte gern Ski angeschnallt und wäre mit Joe über den Schnee zu der Agentur geflogen, um bei ihm zu sein, wenn er um seine Sache kämpfte und denen, die noch jünger waren als er, helfen wollte. Aber Joe hatte gesagt, daß Wakiya Bighorn niemals Ski fahren dürfe, weil das bei seiner Krankheit zu gefährlich sei.

Wakiya konnte nichts tun. Er konnte nur gute Gedanken hegen, aber was halfen sie?

Er vertraute sich Untschida an.

»Gute Gedanken haben Kraft, Wakiya-knaskiya. Gute Gedanken sind wie gute Luft. Wir brauchen sie, weil wir darin leben. Böse Gedanken sind Gift und machen uns krank.«

Untschida erhob sich. Da Queenie noch schlief, wollte sie den Pferden das Futter bringen. Wakiya half ihr. Der Schecke war Wakiya sehr zugetan, der Bub hatte keine Scheu vor ihm.

Der Winter wich nur Schritt um Schritt, und sein Gegner, der Frühling, mußte noch um jeden Tag, jede Nacht, jedes Grasbüschel und jeden Baum kämpfen. Frost brach immer noch herein und tötete. Zuletzt aber siegten die Sonne und das grüne Gras.

In Sachen der Nachbarwiesen war noch nichts entschieden. Sie lagen unbenutzt. Wasser und Elektrizität warteten darauf, was die Menschen mit ihnen beginnen würden.

Queenie grub mit Untschida zusammen ein Stück Land um und säte wieder Gemüse für die Kinder. Joe war mit Bob und Alex dabei, Hecken zu pflanzen. Das kostete Geld und Arbeit, und das Geld war im Winter knapp geworden. Vielleicht mußte Vieh verkauft werden, obgleich die Tiere jetzt mager waren und die Preise ungünstig.

Im Hause King und im Hause Booth wurde mit jedem Cent gespart.

Joe und Mary Booth saßen an vielen Abenden zusammen und rechneten.

An einem solchen Abend, als Mary nach einer unbefriedigenden Bilanz ihre Karten und Bücher endlich wieder zusammengelegt hatte, griff sie das heiße Eisen an.

»Was wird denn nun?«

Jedermann im Hause wußte, was mit der Frage gemeint war, Queenie, Untschida, Wakiya. Nur die Zwillinge, die ein Jahr alt geworden waren und schon laufen konnten, blieben unschuldig und spielten mit Bauklötzen.

Queenie hatte seit jener Nacht nie mehr gewagt, an die Sache zu rühren; sie kniete jetzt neben den beiden Kindern am Boden, spielte mit ihnen und schaute nicht auf, obgleich ihre Ohren sicher ganz wach waren. Joe gab so nüchtern Auskunft, wie die Frage gestellt war.

»Unentschieden steht es.«

»Was bringen sie gegen die Schulranch vor?«

»Kein Geld. Natürlich kein Geld. Sie brauchten nur die eingehenden Pachtzahlungen zu sparen, und schon wäre das Geld da. Aber die Pachtgelder sind bisher immer in guter alter Manier verteilt, verspendiert worden, und davon wollen sie nicht lassen, denn die Wahlen stehen bevor, und Jimmy White Horse braucht die Stimmen der Traditionalisten und der Trinker, und die Trinker brauchen das Geld für ihren Whisky.«

»Wer hält denn überhaupt zu dir?«

Joe behandelte Mary als eine gleichwertige Partnerin in Fragen der Ranch und der Reservationspolitik. Er gab ausführlich Auskunft, und auf diese Weise erfuhr auch seine Familie, was vorgegangen war und was gespielt wurde.

»Chief President Jimmy White Horse hält es teils - teils. Er säuft und ist natürlich gegen den abstinenten Whirlwind. Aber solche Verbündete wie Jimmy wünsche ich nicht zu haben. Jimmy will die Pachtgelder weiterhin verteilen und außerdem eine Schulranch aufmachen, aber das geht nicht. Das ist ein totgeborenes Kind. Dave de Corby, Ökonomie, ist schlapp geworden. Kein Wunder. Wenn er je etwas entscheiden darf, und das ist selten, so hat er sich noch immer an Whirlwind gehalten. Also hält er sich auch jetzt an ihn.

Bleibt im Stammesrat für mich nur Frank Morning Star. Er denkt wie ich, und mit ihm kann ich arbeiten. Aber er ist Ratsmann für Kultur und kann in der Ökonomie nur als stellvertretender Häuptling ein Wort sagen; das ist nicht viel, obwohl er an Ansehen sehr gewonnen hat, seitdem es mit unserem Schwimmbad in der Agentur vorangeht und unser Rodeogelände eines Tages fertig eingerichtet sein wird, alles mit freiwilliger Arbeit und den geringsten Materialkosten. Unsere Hockeymannschaft hat über die Auswahl von New City einen Sieg davongetragen.«

»Bei dem allem hast du mitgeholfen, Joe!«

»Weil es mir Spaß gemacht hat.«

»Wie denken Haverman und Hawley heute?«

»Der Superintendent, sein Stellvertreter und sein Dezernent für Ökonomie sind ebenso wütend auf mich wie Whirlwind und Mac Lean. Sie glauben, daß ich nur aus einem verbohrten Haß gegen die Weißen handle und ein professioneller Prärie-Indianer< bin, wie sie so hübsch sagen, oder auch nach wie vor ein Gangster. Wirbelwind, Mac Lean und Konsorten haben den Antrag gestellt, daß die Stammespolizei abgeschafft wird und wir der weißen Polizei unterstellt werden.«

»Kommen sie damit durch?«

»Auch dafür haben sie vorläufig kein Geld, denn das geht aus verschiedenen Etats. Außerdem müßte abgestimmt werden, und es gibt neuen Trubel. Vielleicht riskieren sie ihn. Sie hoffen auf eine Mehrheit bei uns. Aber da werden sie sich täuschen.«

»Wer soll denn Chief President werden bei der nächsten Wahl?«

»Ich trete für Frank Morning Star ein. Den Säufer Jimmy können wir nicht länger brauchen.«

»Und wen willst du für Frank gewinnen? Ein einsichtiger Mann hat nicht immer die meisten Stimmen.«

»Wir werden ja sehen. Bis zum Herbst ist noch Zeit.«

»Können sie dir nicht die Auflage erteilen, dein überschüssiges Brunnenwasser und deine überschüssige Elektrizität gegen Bezahlung für einen Nachbarn zur Verfügung zu stellen - wie sie das vor einem Jahr mit unserem Brunnen auch gemacht haben? Sogar ohne Bezahlung?«

»Euer Brunnen ist mit den Geldern des Gesundheitsdienstes ausgebaut worden, den meinen habe ich privat bezahlt. Das ist ein Unterschied. Aber wenn ich ihnen bis zum Sommer nicht den Willen tue, können sie mich wirtschaftlich schikanieren. Der Stammesrat braucht mir nur mein Pachtland aufzukündigen, dann bleiben mir die 160 acres, auf die ich als Stammesmitglied Anspruch habe - Land für eine und eine halbe Kuh. So, wie sie es unseren Vorfahren vor achtzig oder neunzig Jahren gemacht haben - worauf unsere Väter sich zum Pijotikult und zum Geistertanz zusammenfanden und zusammengeschossen wurden. Aber mich werden sie nicht zusammenschießen. Wenn es ums Schießen ginge, wäre ich ihnen noch immer gewachsen. Sie haben jetzt andere Methoden. Sie wollen irgend etwas ausgraben oder mir irgend etwas anhängen, um mich zu erpressen oder einfach auszuschalten. Sie wissen noch nicht, wie und was, aber das wird ihnen noch einfallen.«

Mary seufzte.

Die Zwillinge, Bruder und Schwester, hatten mit Queenies Hilfe einen bunten Turm gebaut und warfen ihn jetzt ohne Queenies Hilfe um; das Poltern machte ihnen mehr Spaß als der lautlose Aufbau; sie krähten vergnügt aus vollem Halse. Joe holte sich die beiden und nahm sie auf die Knie; sie mußten allmählich darauf vorbereitet werden, reiten zu lernen. Das gefiel ihnen auch, und sie jauchzten. Queenie lächelte wieder einmal, aber ihr Lächeln war nur ein Silberschimmer an einem trüben Tag. Ihre Augenlider zuckten, ohne daß sie es wollte; Wakiya sah es und kannte die angstvollen Träume, die hinter ihrer Stirn wohnten: Andere Methoden... Wenn es ums Schießen ginge.

In der Ecke standen die beiden Jagdgewehre, daneben der verschlossene Kasten mit Munition. Hoch an einem Haken hing ein leerer Kniehalfter, daneben der Achselhalfter mit zwei Pistolen. Das Stilett trug Joe heute an seinem Platz im Stiefelschaft.

»Wir werden jetzt kein Vieh verkaufen«, sagte Mary. »Wir müssen bis zum Herbst durchhalten. Sieh zu, Joe, daß du wieder einen Rodeopreis gewinnst.«

»Das überlasse ich diesen Sommer Alex Goodman.«

»Oder du hast Glück, und es geht wieder mal einer verloren, den du für eine hohe Belohnung wiederfindest.«

»Für Glück gibt es kein Repetiergewehr.«

»Oder Queenie malt endlich noch einmal ein Bild, das sich so teuer verkaufen läßt wie >Tanz in der Nacht< und >Die verschleierten Hände<.«

Queenie senkte die Augen schuldbewußt und ablehnend zugleich.

»Bist du gekränkt, Queenie, weil dir keiner das Atelier gebaut hat?«

»Es liegt doch nicht daran.«

Queenie stand auf und verließ das Haus.

Mary verabschiedete sich.

Joe spielte weiter mit den Zwillingen.

Untschida bestickte ein Stirnband mit Stachelschweinsborsten. Wakiya trollte sich auf die Wiesen. Es war spät, aber auch er konnte schlafen gehen, wann er wollte. Der Schnee war geschmolzen. Der Boden, die Kiefern, der Korral, die Pferde waren stumpf schwarz. Hoch leuchteten die Sterne.

Wakiya sah Queenie auf dem Friedhof stehen. Er lief nicht hinter ihr her noch einfach zu ihr hin. Aber nachdem er über Wiesen und durch Gehölz gestreunt war, ergab es sich, daß er vom Brunnen zum Friedhof herunterkam.  Queenie stand noch immer dort zwischen den Gräbern und den leise sich neigenden wenigen Halmen, die den Winter überdauert hatten.

Sie schien sich nicht zu wundern, es schien sie auch nicht zu stören, daß Wakiya bei ihr stehenblieb. Die Frühlingsnacht war kühl und würzig.

Queenie legte Wakiya die Hand auf die Schulter, was sie bis dahin noch nie getan hatte. Durch Wakiya lief eine große Erwartung.

Leise, mit ihrer sanften Stimme begann Queenie Tashina, die junge Königin, zu sprechen. Sie war in Not.

Wakiya schaute sie nicht an. Er schaute mit ihr zusammen über das schwarze Tal, über dem der Mond in dieser Nacht nicht aufging.

»Hier sitzt du immer, wenn die Träume zu dir kommen, Wakiya-knaskiya. Ich wollte, sie kämen auch zu mir, aber ich habe sie verloren. Ja, du kannst träumen, Wakiya. Du hast die Augen Inya-he-yukans. Ich dachte schon, du hast sie ihm gestohlen.«

Wakiya erschrak.

»Das habe ich nicht getan, Mutter Tashina.«

»Ich weiß. Du hast sie nur abgespiegelt wie ein kleiner, tiefer, dunkler Teich. Nun sind sie doppelt da. Aber ich habe mir gewünscht zu wissen, wie du träumst. Ich habe dich oft hier sitzen sehen. Du bist noch reich, Wakiya, und ich bin arm geworden.«

»Eine Schale muß man leeren, ehe sie neu gefüllt werden kann. Das hat mein Vater gesagt.«

»Dein Vater war ein weiser Mann. Ich bin ausgeleert, eine trockene Schale, aber was soll ich neu aufnehmen?«

»Du hast Bilder der großen Geheimnisse und der Menschen gemalt, Mutter Tashina.«

»Weil es so einfach war, ganz einfach. Es ging um das Leben, und es ging um den Tod. Es ging um Inya-he-yukan. Ich habe stark geträumt - von den Händen, die geben, Großes und Kleines - von dem schwarzen Stier, der den Menschen verschleppt - von unserem alten Leben und wie es zerbrach - von dem Licht, das aus der Nacht bricht, wenn die Tänzer aus ihrem Geheimnis heraus tanzen. Aber womit soll sich meine Schale neu füllen? Deine Ohren sind immer offen, Wakiya, und deine Augen wissen mehr, als sie sehen. Wovon kannst du noch träumen? Es ist Unruhe um uns, Unnützes und Unruhe, Dinge, die sein können und auch nicht sein können, und wenn einer dafür stirbt, so schreit es vor lauter Unsinn, und wenn einer dafür lebt, so schlingt sich das Geschwätz darum und saugt die Kraft heraus. Du hast Frau Wirbelwind sprechen hören; es war ein stinkender, wirbliger Wind, der oben über die Dinge dahinfuhr, und doch hat sich diese Luft in meine Lungen eingenistet; ich huste, wenn ich daran denke, aber ich kann sie nicht ausspucken. Wovon träumst du noch, Wakiya?«

»Von Pferden, die schnauben und steigen wie die alten Mustangs der Prärie, von jungen Männern auf ihrem Rücken, braunhäutigen, schwarzhaarigen, vom Brüllen der Büffel. aber die Geister sagen: Schulranch. Sie wissen gar nichts. Laß sie doch Schulranch sagen. Aber ich träume Tag und Nacht davon, und so träumt auch Inya-he-yukan. Wir träumen miteinander, denn es mag wahr sein, was du sagst, Mutter Tashina, daß wir die gleichen Augen haben. Aber die seinen sind noch stärker. Er wird sein Leben geben für seinen Traum. Hau.«

»Ich aber stehe daneben, Wakiya, leer und arm, und euer Traum macht mir nur Angst, und alle Worte darum sind für mich nur wie Schlinggewächse, vor denen ich mich fürchte. Ich habe Inya-he-yukan für mich gewonnen, als er verloren schien, und ich will ihn behalten.«

»Die Hände, die halten, verlieren. Das sagte mein Vater. Er riet mir, die Hände nicht zu schließen. Ich war noch sehr klein damals. Aber er zeigte mir, daß ich keine Faust machen sollte, sondern die Hand offenhalten.«

»Ich habe aber Angst, Wakiya, und wenn ich Inya-he-yukan nicht in meinen Frieden hereinziehen kann, so möchte ich am liebsten fliehen und nichts mehr hören und nichts mehr sehen. Wenn ich heute Hände malen würde, so wären es keine offenen Hände mehr, die geben. Es wären Hände, die Augen und Ohren bedecken und sich selbst schließen. Aber das will ich nicht malen, weil es eine Wirbel- und Staubgeburt ist. Ich möchte fliehen und habe auch davor Angst.«

»Gehe nur weg, Mutter Tashina, du kommst wieder.«

»Glaubst du das?«

»Du kommst wieder.«

»Du bist wie ein Kind und ein Greis in einem, Wakiya. Du bist ein Geheimnis. Bist du weise geworden durch deine Krankheit, die nicht eine Krankheit wie andere ist?«

»Darauf kann ich keine Antwort geben, Mutter Tashina.«

Die beiden gingen miteinander zum Haus zurück.

Joe hatte die Zwillinge schon in den Schlaf gesungen; er hatte sich zu den Kindern gelegt und summte noch leise. Wakiya schlüpfte dazu, behutsam, damit er die Kleinen nicht weckte, und legte den Kopf an Inya-he-yukans Schulter.

Tashina schlief neben Untschida auf der zweiten Bettstatt.

Als die weiße Rose blühte und die Wasser stiegen, weil der Schnee in den Bergen schmolz, war noch immer keine Entscheidung gefallen. Es kam aber nach Mr. Haverman und Mr. Whirlwind ein dritter Besuch.

Ein Buick parkte an der Straße im Tal; ein weißer Mann und eine weiße Frau kamen zu Fuß den Feldweg herauf. Es war früh am Morgen, und Wakiya sah die beiden, als er mit Untschida auf der Stute den Ritt zum Schulbus begann. Queenie war zu Hause. Joe war auf seinem Schecken zu den Büffeln und zu den Rindern geritten. Er hatte mit dem Lasso die Kälber einzufangen, denen das Besitzzeichen eingebrannt werden sollte. Eivie war drüben bei Mary Booth, um beim Kälberbrennen zu helfen; er war schon vor Sonnenaufgang gekommen, als Joe losritt. Wakiya hatte den Arzt kommen sehen und gleich erkannt. Sein Wagen stand bei dem Booth-Haus.

Aber den Mann, der mit dem Buick gekommen war, kannte Wakiya nicht. Er mußte einer der mächtigen Geister sein; er war sehr gut angezogen. Wenn Wakiya ihn nicht kannte, so kannte er doch die Frau, die mit ihm kam, um so besser, obgleich er sie nur ein einziges Mal gesehen hatte. Das war Eve Bilkins, der Geist der >Grundsätze<. Sie hatte Wakiyas Bruder in das ferne Schulinternat geschickt. Also mußte ihr Begleiter wohl auch etwas mit Schulen zu tun haben, und die beiden Gestalten konnten nur neue Boten der giftigen Luft sein.

Wakiya langte voll innerer Unruhe in der Klasse an. Es fiel ihm überhaupt seit Monaten wieder schwer, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Doch behauptete er sich mit mittleren Leistungen, nachdem er das Fehlende aufgeholt hatte, und besaß das unverminderte Wohlwollen von Mr. Ball, dem Klassenlehrer.

Beim Mittagessen im großen Saal sah er seine kleine Schwester, die jetzt auch in die Schule ging, und er freute sich, wenn sie ihm zulachte. Er sah auch stets David Adlergeheimnis und Susanne Wirbelwind, die mit ihrer Klasse an einem anderen der langen Tische saßen. Er pflegte keinerlei Zeichen zu geben, daß er sie beachte, und die beiden verhielten sich ebenso. Aber heute kam Susanne nach dem Essen, als noch etwas Zeit zum Spielen und Unterhalten blieb, zu Wakiya herbei und begrüßte ihn freundlich. Wakiya fragte sich, was dies zu bedeuten habe. Er wartete ab, ohne sich etwas von Spannung anmerken zu lassen.

»Hast du schon gehört, Byron? Deine Pflegemutter, Missis King, darf weiter studieren - „

»Miss Bilkins ist heute bei uns.«

»Mit einem Lehrer der Kunstschule, einem großen Maler!« »Er kann sich einen Buick leisten.«

»Er ist ja auch nicht von der Reservation. Er ist berühmt. Deine Pflegemutter wird auch berühmt werden.«

»Vielleicht sogar auf der Reservation.«

»Was du denkst! Berühmt wird man nur draußen.«

»Und wer wieder heimkommt? Muß er seinen Ruhm draußen lassen?«

»Du fragst immer so komisch, Byron. Aber was ist nun mit deinem Pflegevater? Hat er die beiden umgebracht?«

Wakiya war zumute, als ob ihn ein übler Lufthauch berühre, ein Pesthauch. Er fühlte das Zucken in den Gliedern, das er kannte, und er meinte zu wissen, was nun kommen würde. Aber er hatte es nicht gewußt. Das Zucken wich plötzlich aus seinem Körper, und er konnte wieder atmen, ohne von der Pest angeblasen zu werden.

Susanne konnte von dem allem nichts ahnen, als Wakiya ihr antwortete.

»Du fragst immer so komisch, Susanne.«

»Seit der Geschichte mit dem Pferdediebstahl werden sie vermißt, Brandy Lex und Black and. White aus New City. Harold Booth soll noch etwas von den beiden gesagt haben, ehe deine Pflegemutter ihn erschoß.« Susanne war stolz, angefüllt mit Überlegenheit. »Byron! Wenn dein Pflegevater es getan hat, kommt er auf den elektrischen Stuhl oder er wird mit Gas erstickt oder er kommt wieder ins Gefängnis. Weißt du, daß er schon oft im Gefängnis gesessen hat?«

»Ist das eine Schande?«

»Es ist eine Schande.«

»Er war unschuldig.«

»Er war ein Gangster.«

»Er war ein unschuldiger Gangster.«

»Das gibt es nicht! Byron, weißt du überhaupt, was ein Gangster ist?«

»Ich weiß, was ein Stein mit Hörnern ist. Das aber weißt du nicht.«

»Nun, du kannst ja wieder zu deiner Mutter heimgehen. Sie arbeitet jeden Tag fleißig in der Angelhakenfabrik, und die ist hier ganz in der Nähe.«

David war nun auch herbeigekommen.

»Ja, es ist wahr, Joe King soll die beiden erschossen haben, damals bei dieser Sache mit dem Pferdediebstahl. Aber die Toten sind nie gefunden worden.«

Die Pause war zu Ende. Die Kinder gingen gruppenweise in ihre Klassen. Wakiya wünschte das Ende des Schultages herbei und fürchtete sich doch vor dem Heimkommen. Wer würde ihn heute am Schulbus abholen? Sicher nicht Inya-he-yukan, der bei den Herden war.

Als der Schulbus hielt, damit Wakiya aussteigen konnte, wartete Untschida auf ihn. Sie ritt wie immer die sanfteste der Stuten.

Wakiya wollte mit ihr sprechen, aber er saß hinter ihr auf dem Pferd und hätte alles laut sagen müssen, was leise zu sagen und zu fragen er sich kaum getraute. So schwieg er und klammerte sich nur fester an, als er es nötig hatte, um auf dem Pferd zu bleiben. Es fiel ihm nicht mehr so schwer, das Gleichgewicht zu halten wie damals, als er zuerst auf einem Pferderücken gesessen hatte.

Daheim hantierte Queenie. Sie fütterte die Zwillinge vom bunten Teller und stellte die neue elektrische Kochplatte an, um für Wakiya ein Stück Kalbfleisch zu braten. Das war seine Lieblingsspeise, es war zugleich eine Festtagsmahlzeit, und Wakiya erhielt ein ungewöhnlich großes Stück. Er genoß den Duft, der aus der Pfanne aufstieg, und verstand, daß er sich an irgendetwas besonders mitfreuen sollte. Obwohl aber seine Freude wohlig war, war sie doch nicht rein. Sie war wie von gefährlichem Dunst umzogen. Das Gespräch mit Susanne schlich ihm noch nach.

Queenie trug das türkisfarbene Kleid, in dem Wakiya sie zum erstenmal gesehen hatte. Zu Hause pflegte sie es sonst nicht anzuziehen; es war ein Feiertagskleid. Ihre schwarzen Augen hatten Glanz, den Glanz des Mondschimmers, ihre Haut war glatt und durchblutet. Die Vollkommenheit ihres Körpers lag in der Harmonie aller Maße, nicht im Außergewöhnlichen, und eben diese Harmonie erfüllte jetzt alle ihre bescheidenen Bewegungen. Wakiya konnte nicht genug ihren Händen zusehen.

Joe war noch nicht zu Hause.

Queenie schaute mit einem unsicheren, aber doch zutrauenden Lächeln auf Untschida.

»Ich möchte es dir und Wakiya schon sagen. Ich kann doch nichts anderes mehr denken. Ich darf weiter studieren, das zwölfte Jahr im Kunstunterricht machen, das ich damals versäumte - an der Kunstschule als Meisterschülerin von James Clark. Professor Clark hat sich bereitgefunden, ein oder zwei Jahre an unserer Indianerschule zu unterrichten. Ich kann über die Ferien schon in seinem Atelier arbeiten, um nachzuholen, was ich seit der elften Klasse versäumt habe. - Untschida! Ich werde wieder lernen und über das Lernen wieder mich selbst finden! Es ist alles geregelt! Die Verwaltung gibt mir das Stipendium auf ein Jahr! Die Reise wird mir vergütet.«

Queenie konnte nicht anders. Sie ließ alles stehen und liegen, umarmte Untschida und lachte und weinte.

»Ella hat das für mich getan - Ella, das Hopimädchen, mit der ich auf der Kunstschule gewesen bin - sie kennt Clark, und er hat meine Bilder auf der Ausstellung in Washington gesehen. Untschida! Bleibst du bei meinen Kindern! Das eine Jahr, das ich noch auf die Kunstschule gehen werde?«

»Ich bin alt, Tashina, mehr als neunzig Winter und Sommer, und noch ein Sommer und Winter sind für mich eine lange Zeit. Wir werden sehen.«

Über Queenies Züge glitt ein Schatten. Er kam und schwand. »Wakiya! Ich träume wieder.« »Was träumst du, Mutter Tashina?«

»Das weite Land - die bunte Wüste - die heiße Sonne - feuchte Gärten - kleine dämmrige Häuser. und die Träume unserer Vorfahren dort. Arbeit! Wie haben wir uns auf der Schule um unsere Arbeit gestritten, wir Mädchen und Burschen, wir braunhäutigen - so muß sie getan werden - nein, so - aber nun werde ich mich auch mit den Geistern zu streiten haben, mit einem großen Geist wie Clark! Ich träume schon davon, was ich ihm sagen kann. Es wird aber lange dauern, bis ich es wirklich ausspreche.«

»Ein Wirbelwind ist in dir, und er wirbelt dir viele Worte zu, Mutter Tashina. Denkst du sie auch alle?«

Queenie fuhr zurück, als ob ihr plötzlich jemand begegne, den sie vorher nicht gesehen hatte.

Draußen war leiser, dumpfer Hufschlag auf dem Wiesenboden zu hören. Er kam nahe und hörte auf. Ein Reiter sprang ab. Man hörte, wie die Stangen am Korral gerückt wurden. Dann ging die Tür auf. Joes lange Gestalt kam herein. Er trug seine leichten Cowboystiefel, die dunkle Hose, das dunkle Hemd, offen, und er nahm jetzt den Cowboyhut vom Kopf und hängte ihn an den Wandnagel neben die Pistolen. Seine Miene war undurchsichtig, weder froh noch finster. Er ließ sich auf der Bettstatt nieder und aß.

Queenie war bei seinem Eintreten verlegen geworden. Sie suchte länger herum als nötig und reichte ihrem Mann endlich ein Schreiben, das auf sehr weißem Papier ausgefertigt war. Am Kopf des Bogens stand einiges gedruckt.

Joe las und gab das Papier an Queenie zurück.

»Wann fährst du?«

»Wärest du denn einverstanden, Joe? Im Sommer habt ihr hier sehr viel Arbeit. und unsere Kinder. Ein ganzes Jahr ist eine lange Zeit für eine Frau und eine Mutter und eine Rancherin.«

»Ich habe gefragt, wann du fährst!«

Queenie schluckte. »In vierzehn Tagen, wenn es dir recht ist.«

»Ich habe dich noch nie festgehalten. Du kannst morgen fahren.«

Joe warf sich auf das Bettgestell in Kleidern und Stiefeln, wie er war, und rauchte eine Zigarette.

Queenie blieb stumm. Untschida versorgte die Zwillinge, Wakiya zog die Schuhe aus und hockte sich zu Joe.

»Joe, bitte, willst du mich nicht wenigstens recht anhören?«

»Ich habe gesprochen.«

Joe rauchte weiter.

Queenie stand unschlüssig im Raum. Die Zwillinge krabbelten zu Joe, der die Knie leicht anzog, um sie reiten zu lassen.

»Joe - wärest du einverstanden, wenn ich unsere Kinder für das eine Jahr mit Untschida zu meinen Eltern gebe?«

»Reise nur. Alles andere werde ich regeln.«

Queenie kämpfte mit sich. Über ihre Züge lief es wie wirre Winde.

»Hast du großen Ärger gehabt, Joe?«

Der Mann nahm die Zigarette aus dem Mund und lachte kurz. Dann rauchte er weiter. Sein Lachen war auf Entschluß bestellt gewesen; es hatte keine Heiterkeit darin gelegen, nur Spott. Die Zwillinge klapsten ihre Pferde, weil sie sie nicht mehr wippen wollten. Joes Knie warf die beiden ab. Die Kinder wußten nicht recht, ob das Spaß oder Ernst war, zogen sich zurück und bekrabbelten Wakiya.

»Wakiya-knaskiya hat ja seine Mutter, die nun jeden Tag zur Angelhakenfabrik   geht   und   das   Schwesterchen   zur   Schule mitnimmt. Er brauchte den langen Weg nicht mehr allein zu machen.«

»Fang an zu packen.«

»Aber Joe, ich werde erst in vierzehn Tagen erwartet.«

»Du bist unpraktisch. Hättest du gleich gepackt und wärest mit dem Buick mitgefahren, dann war deine Reise bequemer, und du spartest dir den Ärger mit deinem Mann.«

»Joe, ich habe diese Worte nicht gehört. Aber ich kann ja die vierzehn Tage bei Margot Adlergeheimnis verbringen.«

»Gut, gut. Und gleich gegen deinen Mann aussagen. Du bist dort im richtigen Haus.«

»Joe, was ist.?«

»Sie haben endlich gefunden, was sie brauchen, um mich auszuschalten. Sie wollen mir vorwerfen, Brandy Lex und Black and White, die Rauschgiftschmuggler und Hehler aus New City, auf irgendeine gesetzwidrige Art aus der Welt geschafft zu haben. In der Nacht des Pferdediebstahls im vergangenen Jahr. Hier - auch ich habe einen Brief erhalten, einen Drohbrief; die Agenturpost hat ihn Eivie mitgegeben, ohne natürlich zu wissen, was er enthält. Ich könnte noch fliehen, ehe sie mich mit ihrem Gas oder ihrer Elektrizität wegen Doppelmordes auslöschen. Aber ich bleibe. Ich erspare es ihnen nicht. Ohne Justizmord werden sie mich nicht los. Sie sollen noch ihren Ärger haben.«

Joe gab das Schreiben Queenie, ohne sie dabei anzusehen. Es stammte von Esmeralda Horwood. Queenies Knie gaben nach, knickten ein; sie suchte Halt auf dem nächsten Bettgestell und saß so bei Joe, ohne es zu wollen.

»Fährst du also morgen, Queenie?«

»Ja. ja. Aber die Kinder - o Joe.«

»O Joe.! Hättest du nie eine Schulranch gründen wollen - dann hätten wir unsere Ruhe - so etwa soll es heißen, nicht?«

»Spare dir den Spott, mein lieber Mann. Damit änderst du nichts.« »Nicht einmal dich, Tashina!« »Auch dich selbst nicht.« »Habe ich es nötig?«

»Joe, ich liebe dich, aber ich denke auch an die Kinder.«

»Deshalb willst du zu Clark auf die Kunstschule gehen, ich verstehe.«

»Joe, was kann ich dafür, daß es mich treibt, zu träumen, zu schauen und zu malen - ich habe es mir doch nicht selbst gegeben, es hat mich gepackt, und nun packt es mich wieder! Ich bin unschuldig.«

»Ich auch.«

»Und unsere Kinder.«

». für die kannst du so wenig wie für das Malen. Es hat dich gepackt.«

»Joe!«

Queenie riß sich das grüne Kleid vom Leibe und zog einen älteren lumpigen Stoff über ihren jungen Körper. Sie war noch nicht zwanzig Jahre alt. Was sie auch umnehmen mochte, sie war schön.

»Ich bleibe bei dir, Stonehorn.«

Der Mann brachte die nächste Zigarette zum Brennen, ohne zu antworten.

»Wie kommen sie denn nur darauf. Joe?«

»Harold Booth, der in seinem blumengeschmückten Grabe ruht, wird wohl vor seinem unrühmlichen Ende bei Freunden und Verwandten ein wenig geplaudert, aufgeschnitten und stark gelogen haben. Was daran brauchbar erscheint, kann man hervorholen. Gegen einen >Gangster<, der eine Schulranch gründen will, wenn ein Mac Lean Land für seinen Sohn braucht.«

»Kommt das nie zur Ruhe, Joe! Es ist schwer genug, daß wir Indianer sind. Muß immer noch eine Last mehr auf uns liegen?«

»Schüttle sie ab, schüttle mich ab, meine Liebe, und gehe auf die Kunstschule.«

»Joe, es ist doch an dir, die Last abzuwerfen. Hättest du nur damals gleich offenbart, was in jener Nacht geschehen war - du hattest in Notwehr gehandelt. Sie hätten dich freigesprochen, wie sie mich freigesprochen haben, als ich Harold Booth in meiner Not töten mußte.«

»Wo ist der Beweis für die Notwehr? Ich habe vor Gericht nicht dein unschuldig-schönes Gesicht! Ich bin Joe King, das reicht für jeden Verdacht. Wenn du aber vor aller Ohren auspacken willst, so tue es! Dann bist du mich los und auch die Schulranch.«

Wakiya lauschte und wurde blaß. Denn auch seine Ohren gehörten zu >aller Ohren<, die hörten und doch nicht hätten hören dürfen. Tashina verriet ein Geheimnis!

Untschida ging; sie brachte die Zwillinge aus dem Hause. Tashina achtete in ihrer Erregung kaum darauf.

»Joe, vielleicht hätte es eine harte Verhandlung gegeben, aber du kannst einwandfrei beweisen, daß Booth der Dieb war - sie hätten dich freigesprochen, und es wäre ein Ende gewesen!«

»Jetzt aber ist hier ein Ende.«

Joe stellte den kleinen Koffer auf den Tisch.

»Ich fahre dich heute noch zu Crazy Eagle. Du telefonierst von dort mit der Kunstschule und mit deinem Professor Clark. Vielleicht können sie dich schon ein paar Tage eher gebrauchen, leichter als ich dich hier noch ein paar Tage länger.«

Queenies Gesicht bedeckte sich mit einer Maske. Sie packte ihre paar Sachen zusammen und ging.

Sie hatte Wakiya nicht Lebewohl gesagt, und sie sah sich draußen nicht nach Untschida und nicht nach den Kindern um. Vielleicht wäre es ihr dann zu schwer geworden.

Joe folgte ihr. Er schloß die Tür leise, aber fest, wie es immer seine Art war. Wakiya blieb im Hause, scheu, entsetzt. Er hörte, wie draußen der Motor ansprang.

Untschida kam mit den Zwillingen wieder zu ihm herein. Sie sagte nichts, und auch Wakiya blieb still. Keiner der beiden hoffte, daß zwischen Joe und Queenie auf der Fahrt noch ein Wort gewechselt würde. Untschida wusch die Zwillinge und brachte sie zu Bett.

Nach einigem Zögern legte auch sie sich schlafen. Wakiya blieb auf dem Bettgestell hocken, das dem Hausherrn gehörte.

Sein Herz klopfte.

Um Mitternacht kam Joe zurück. Er zog nun doch Stiefel und Socken aus, legte sich in der übrigen Kleidung auf die Decken und schaltete die letzte Birne aus, die noch gebrannt hatte. Durch das kleine Fenster drang etwas vom Schimmer der Nacht in die Finsternis des Hauses.

Wakiya hatte sich noch nicht ausgestreckt, und Inya-he-yukan wandte ihm das Gesicht zu. Der Nachtschimmer ließ seine Augen im Dunkeln leuchten.

»Morgen bringe ich Untschida und die Zwillinge zu Queenies Eltern.« Joe sagte es so, daß Untschida die Worte mit hören mußte. »Und dich, Wakiya-knaskiya, bringe ich zu deiner Mutter.«

»Das tust du nicht, Inya-he-yukan.«

»Ich werde hier allein sein wie in alten Zeiten - nur daß mir der saufende Vater und die Prügel fehlen. Du kannst nicht bei mir bleiben, Wakiya.«

»Ich bleibe.« Wakiya sprach nicht wie ein Kind. Er sprach, als ob es aus ihm spreche.

»Und wenn du krank wirst - allein? Ich kann dich nicht alle Tage zum Schulbus fahren.«

»Dann laufe ich bis dorthin. Der Weg von hier ist nicht so weit wie der von meiner Mutter Haus.«

»Und wenn du auf dem Wege krank wirst?«

»Ich werde nicht mehr krank.«

»Woher weißt du das?«

»Heute wollte es kommen, aber es ist an mir vorübergegangen. Es kann nicht mehr in mich hinein. Es bläst mich an, aber ich atme es nicht mehr.«

Joe schwieg einige Zeit, hielt aber die Augen offen, und Wakiya-knaskiya schaute hinein.

»Woher ist dir auf einmal die Kraft gekommen, Wakiya?«

»Ich mußte Susanne Wirbelwind widerstehen.«

»Was hat sie dir angetan?«

»Worte hat sie gesagt. Du seiest im Gefängnis gewesen.«

»Das ist wahr, Wakiya. Mehr als einmal. Unschuldig und schuldig.«

»Ich weiß. Ich weiß es von der Mutter.« »Was hast du Susanne geantwortet?« »Ob das eine Schande sei, habe ich sie gefragt.« »Und sie?«

»Ja, es sei eine Schande.« »Und du?«

»Du seiest unschuldig.« »Und sie?«

»Du seiest ein Gangster - gewesen.« »Und du?«

»Ein unschuldiger Gangster.«

Joe lachte plötzlich, aber ohne Kruste und Krampf, er lachte herzlich über das nicht verlegene Kind.

»Und sie, Wakiya?«

»Ob ich wisse, was ein Gangster sei!«

»Und du?«

»Ich wisse, wer Inya-he-yukan sei; sie aber wisse das nicht.« »Und?«

»Das war mein letztes Wort; ich hatte gesprochen. So ist es, und so bleibt es.«

»Und du bleibst bei mir, Wakiya. Vielleicht schadet es dann auch mir nicht mehr, wenn sie mich mit ihrem stinkenden Atem anblasen. Hau.«

Wahlvater und Wahlsohn schliefen den Rest der Nacht ruhig in Kleidern auf den Wolldecken, ohne das neue Bettzeug. Wakiya träumte, wie Queenie einmal wiederkommen würde.

Am folgenden Abend kamen Ed und Margot Adlergeheimnis und Runzelmann, von dem Wakiya vorläufig nichts sagen konnte, als daß er seinen Beinamen verdiente. Margot hatte gesteuert und führte ihren blinden Mann nun in das Haus der Kings. Wakiya lief zur Booth-Ranch hinüber und holte Joe, der von der Halkettschen Ranch bereits zurück war und mit Mary für die nächsten Monate alles besprochen hatte. Man setzte sich um den Tisch; das Haus gab jetzt Raum genug. Ed nahm das Wort.

»Mister King, es ist Anzeige gegen Sie erstattet worden, daß Sie im vergangenen Jahr Brandy Lex und Black and White erschossen hätten, Anzeige von seiten des unehelichen Sohnes von Black and White, Charles O'Connor, auch genannt Black and White junior, wohnhaft in New City.«

Da Crazy Eagle eine Pause machte, konnte Joe eine Zwischenfrage stellen. »Esmeralda Horwood hat sich nicht an der Klage beteiligt?«

»Nein. Warum fragen Sie?«

»Weil sie mir einen drohenden Brief geschrieben hat.«

»Sie ist Black and Whites Kind. Aber ihr Name steht nicht unter der Anzeige. Die Klage ist bei Richter Elgin eingegangen, da der Kläger und die angeblich Ermordeten außerhalb der Reservation lebende Bürger sind. Elgin hat die Sache an mich weitergeleitet, denn Sie, Mister King, unterstehen als Reservationsangehöriger unserer Gerichtsbarkeit. Der Streit um die Zuständigkeit des Stammesgerichts ist ganz allgemein im Gange. Elgin ist uns dessen ungeachtet oder vielleicht gerade darum in einer begrüßenswerten Weise entgegengekommen.«

Joe nickte, aber sein Nicken war nichts als Abwehr und Spott.

»Sie haben sich neuerdings einen sehr scharfen jungen Ankläger eingestellt, Crazy Eagle. An mir kann er leicht beweisen, wie tüchtig er ist, und er wird von allen Seiten Beifall ernten, wenn er mich zur Verurteilung bringt, durch das Stammesgericht, weil damit bewiesen wird, wie hart man gegen Stammesangehörige vorzugehen bereit ist.«

»Gerecht, Mister King.«

».  und von seiten der Weißen, die mich hassen.«

»Das Mißtrauen ist zu tief in Ihnen verwurzelt, King.«

»Vielleicht noch nicht tief genug und nicht wach genug. Ich lerne von Fall zu Fall dazu.«

»Mister King, ich muß schnell handeln und die Untersuchung, wahrscheinlich auch schon das Verfahren gegen Sie eröffnen, sonst werden sich andere Instanzen einschalten und uns das Recht abstreiten, diesen Prozeß zu führen.«

»Also fragen Sie. Dazu sind Sie doch hergekommen. Meine Frau wird Sie vorbereitet haben. Aber ich sage Ihnen vorweg, ich bin eine harte Nuß, und ich bin unschuldig. Wenn Sie ein Fehlurteil über mich sprechen, so können Sie mich vielleicht damit vernichten, aber Ruhe werden Sie auch dann nicht haben.«

Die Fragen und Antworten folgten sich schnell.

»Mister King! Haben Sie die beiden erschossen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Haben Sie sie verletzt?«

»Das weiß ich nicht.«

»Es ist aber möglich?«

»Ja.«

»Wieso ist es möglich?«

»Weil ich zwei unbekannte bewaffnete Pferdediebe nach Anruf in Notwehr erschossen habe.«

Schweigen trennte diese Antwort von den nächsten Worten des Richters, die ihm selbst nicht leichtzufallen schienen.

»Mister King, verabschieden Sie sich von Ihren Angehörigen. Ich bin gezwungen, Sie zu verhaften. Sie bleiben im Stammes-Polizeigefängnis und Sie können damit rechnen, daß der Termin sehr bald anberaumt wird. Mit welcher Waffe haben Sie geschossen?«

Joe holte sein Jagdgewehr aus der Ecke, in der es sich stets zu befinden pflegte, und reichte es Runzelmann.

Wakiya brach der Schweiß aus, aber seine Glieder zuckten nicht. Stonehorn legte ihm nur schweigend die Hand auf die Schulter. Der Bub aber sprach.

»Inya-he-yukan - ich möchte dabei sein, wenn sie über dich richten. Als du durch den Sonnentanz gegangen bist, durfte ich nicht mitkommen, aber ich habe ihn mit dir geträumt.«

Joe faßte unwillkürlich unter das offene Hemd und fühlte seine Narben. Er versicherte sich mit einem kaum merkbaren Blick, daß Crazy Eagle ihm noch Zeit geben würde zu antworten.

»Den Sonnentanz kannst du träumen, Wakiya, aber nicht das Gericht. Vor Gericht geht es Schlag auf Schlag, und die Worte schießen gegeneinander. Da mußt du wach sein und ganz hell im Kopf, denn es ist ein Kampf der Männer. Vom Baume kann ich mich allein losreißen, nur mit meiner eigenen Kraft. Vor Gericht aber kämpfe ich nicht frei; ich bin immer den Gerichtsmännern untertan. Ich bin der Angeklagte, und darum bin ich schon eingekreist, wenn der Kampf beginnt. Ich versuche, den Ring zu sprengen, aber ich weiß nicht, ob es mir gelingt. Wirst du es mit ansehen und mit anhören können und ganz ruhig bleiben? Dein Name ist Geheimnisdonner, und es zuckt, blitzt, denkt, fürchtet, hofft in dir stark und jäh. Auch wenn du nun gesund bist, wirst du mehr leiden als andere Menschen.«

»Nicht mehr als du, Inya-he-yukan, und doch hältst du stand. Ich möchte mitkommen.«

»Nun, meinethalben. Mary ist Zeuge für den Diebstahl damals. Mit ihr kannst du zum Gericht fahren. Dann weiß ich wenigstens, daß da einer mehr ist, der mit mir denkt und nicht gegen mich.«

Das Gespräch war zu Ende, die Zeit war um. Joe steckte sein Stilett in das Paar Stiefel, das zurückblieb, zog seine Sommerjacke an und zweigte sich bereit, mit dem Richter zusammen das Haus zu verlassen.

Wakiya drängte sich zu Margot Crazy Eagle, und sie verstand seine stumme Frage. »Deine Pflegemutter, Wakiya, hat mit der Kunstschule telefoniert und ist dorthin abgereist. Ich habe sie zu dem Überlandbus nach New City gebracht.«

»Hau, Missis Crazy Eagle.«

»Wo wohnst du, Wakiya, wenn wir dir eine Nachricht zukommen lassen wollen? Bei deiner Mutter?«

»Nein, Missis Crazy Eagle, bei Mary Booth. Ich muß mich um den Scheckhengst kümmern. Er ist ein bucking horse, aber mir frißt er aus der Hand. Ich reite ihn nicht, weil Inya-he-yukan es nicht will. Aber ich spreche alle Tage mit ihm. Hau.«

»Schreibst du deiner Pflegemutter Queenie?«

Wakiya zögerte, und Stonehorn sagte ein letztes Wort, schroff und endgültig: »Du schreibst nicht. Es würde sie nur stören. Sie malt.«

Die Tür ging auf, und als sie wieder geschlossen wurde, blieb Wakiya allein. Er betete zu Wakantanka, dem Gott der Indianer, sah nach den Pferden und legte sich schlafen.

Am nächsten Mittag erst lief er zu Mary Booth und berichtete.

Das Verfahren wurde so schnell eröffnet, wie der Richter angekündigt hatte. Schon am siebenten Tag nach Joes Verhaftung fuhr Wakiya an einem regnerischen Morgen mit Mary zu der Gerichtsverhandlung. Das Stammesgericht befand sich in der Agentursiedlung. Es war in einem unansehnlichen Holzgebäude untergebracht und enthielt außer den wenigen Dienstzimmern einen größeren Raum. Eine Barriere teilte ihn, jenseits stand der lange Tisch für Richter und Geschworene und die Bank für den Angeklagten, diesseits befanden sich die einfachen Stühle der Zuhörer und der Zeugen. Die Decke war niedrig; es gab nur ein Fenster. Wakiya gehörte zu den ersten, die eintrafen, und nahm in der ersten Stuhlreihe Platz.

Mit Mary Booth zugleich kamen ihr alt gewordener Vater Isaac Booth, ein Bruder Marys und eine Schwester, die Besitzungen außerhalb der Reservation hatten; außerdem erschienen Vater Halkett, Kate Carson sowie drei Mac Leans, der Vater und zwei Söhne. Sie hatten alle in der ersten und zweiten Reihe Platz genommen. Für sich allein saß Charles O'Connor, der uneheliche Sohn des verschwundenen Black and White. Wer in die Familienverhältnisse eingeweiht war, wunderte sich, daß seine Schwester Esmeralda, verehelichte Horwood, nicht mitgekommen war, auch die Klage nicht mit unterzeichnet hatte.

Eliza Bighorn erschien und setzte sich auf einen freien Stuhl neben Wakiya. Mac Lean senior äußerte ihr gegenüber sein Mißfallen.

»Missis Bighorn! Hier in der ersten Reihe sind die Zeugenplätze.«

Eliza hatte zwar inzwischen in der Angelhakenfabrik zwanzig weitere Worte Englisch gelernt, aber nicht jene, die Mr. Mac Lean senior soeben zu ihr gesagt hatte. Sie hob den Kopf daher nicht und antwortete nicht. Mac Lean senior, der selbst nicht als Zeuge geladen war, sagte nichts weiter. Wakiya atmete auf.

Allmählich wunden alle Plätze besetzt. Wenn es sich um Joe King handelte, kamen stets Neugierige. Wakiya erkannte unter ihnen den Haarschneider, der für die Angehörigen der Reservation die Rolle eines Amateurreporters spielte.

»Mit den Kings gibt es niemals Ruhe.« Wakiya hatte die Worte gehört, aber er wußte nicht, wer sie gesagt hatte.

Der alte Gerichtspräsident und Ed Crazy Eagle erschienen in ihren Roben, die sie für Wakiya seltsam fern und fremd machten. Auch die Geschworenen kamen, unter ihnen Mr. Whirlwind. Joe King hatte seinen Platz als Angeklagter diesseits der Barriere, im Raum des Gerichts, auf der lehnenlosen kurzen Bank.

Der alte Präsident eröffnete. Ed Crazy Eagle, der die Verhandlung führte, begann in einer ruhigen und höflichen Weise mit der Vernehmung, und Joe berichtete genau und ohne Zeichen der Erregung. Das Jagdgewehr, mit dem er damals geschossen hatte, lag auf dem Gerichtstisch.

Der Ankläger begann zu fragen.

»Angeklagter Joe King. Sie sind mehrfach vorbestraft?«

Der Ankläger war ein noch sehr junger Mann, und Wakiya fühlte aus der Sprechweise und Haltung heraus, daß dieser Mann sich vorbereitet hatte wie ein ehrgeiziger Lehrer für einen unbequemen Schüler. Der Mann hatte auch ein Papier in der Hand, auf dem einiges aufgeschrieben war wie auf einem Vorsagezettel.

»Angeklagter, Sie sind mehrfach vorbestraft?«

»Ja.« Die eine Silbe wurde kurz und verhalten gesagt.

»Ist es wahr, daß der Schecke einmal den Zaun des Korrals mit Ihrer Frau als Reiterin übersprungen hat?«

»Halb überklettert, halb übersprungen wie ein wilder Mustang. Er ist nicht als Springpferd abgerichtet.«

»Es ist also möglich, daß er diesen großartigen Sprung ohne Reiter auch ein zweites Mal ausführte?«

»Das Pferd ist einmal über den Zaun gekommen, als Harold Booth in betrunkenem Zustand meine Frau bedrängt hatte und der Hengst Harold Booth verfolgen wollte.«

»Zeuge?«

»Meine Frau.«

»Es ist also jedenfalls - zunächst gleich, unter welchen Umständen - für dieses Pferd möglich gewesen, den damaligen Zaun zu überspringen. Die Tiere waren in der fraglichen Nacht ohne Aufsicht?«

»Einige Stunden, ja.«

»Es ist also prinzipiell möglich, das sich der Schecke selbst befreite.«

»Prinzipiell ja. Aber...«

»Beantworten Sie meine Fragen. Alles Weitere können Sie später vorbringen. Harold Booth hat vor seinem Tode sowohl seinen Verwandten als auch anderen Personen, zum Beispiel dem Stellvertreter des Superintendent und der Rektorin der Tagesschule, angedeutet, daß der Schecke sich vermutlich selbst befreit und den angepflockten dunkelbraunen Hengst überfallen habe, so daß dieser den Pflock aus der Erde riß und flüchtete, und daß der Schecke dann offenbar auch die Stuten nachgezogen habe. Wann erhielten Sie Mitteilung?«

»Als alle Pferde schon frei herumliefen.«

»Sie haben also von den Vorgängen selbst nichts wahrgenommen?« »Erst nachträglich durch die Spuren.«

»Von den Vorgängen selbst unmittelbar nichts wahrgenommen. Es gibt dafür, soweit ich sehe, überhaupt keinen uns bekannten Augenzeugen. Die Pferde waren jedenfalls schon frei, als Sie überhaupt aufmerksam wurden?«

»Ja.«

»Sie fingen zunächst eine Stute wieder ein und den verletzten dunkelbraunen Hengst?«

»Den verletzten Hengst und danach die Stute. Mit Hilfe von Miss Booth und ihrem Neffen.«

»Miss Mary Booth! Sie haben die geschilderten Vorgänge tatsächlich miterlebt?«

»Ja.«

»Würden Sie das auf Ihren Eid nehmen?«

»Ich brauche nicht zu schwören.«

»Nein, denn Sie sind die Schwester von Harold Booth.«

»Ich meine nur, weil es unnütz ist. Was Joe King gesagt hat, stimmt.«

»Sie schwören also nicht?«

»Wie Sie wollen. Wenn es verdächtig macht, daß ich nicht schwöre, so schwöre ich eben.«

Der Ankläger rief Mary zur Vereidigung; er sprach die Formel vor, sie sprach sie nach.

»Nun wiederholen oder verändern oder verbessern Sie, was Sie bereits ausgesagt haben.«

»Joe King hat alles richtig beschrieben.«

»Mehr wissen Sie nicht?«

»Was er gesagt hat, habe ich miterlebt.«

»Danke.«

Mary konnte sich wiederum setzen. Ihr Gesicht hatte einen mürrischen, steinharten Ausdruck angenommen.

»Und dann«, wandte sich der Ankläger wieder an Joe King.

»Nahm ich allein die Verfolgung auf in der Richtung, in die die Fährte des Schecken deutete. Das Tier hatte den Dieben offenbar Schwierigkeiten gemacht; daher konnte ich die Spuren bis zur Straße auch am Abend noch erkennen.«

»Lassen wir die Bezeichnung >Diebe< zunächst beiseite. Der Schecke hat denjenigen.  Unbekannten?.«

»Unbekannten.«

». denjenigen Unbekannten, die sich mit ihm beschäftigten, Schwierigkeiten gemacht.«

»Nach den Spuren zu urteilen, ja, und zwar schon von der Koppel an!«

»Ich gebe nun die Schilderung von Harold Booth wieder, soweit sie sich nach den Berichten seiner Verwandten noch rekonstruieren läßt. Harold Booth kam des Abends zu Pferd zurück, sah Ihren Schecken frei umherlaufen und wollte sich des Tieres bemächtigen, um es Ihnen zurückzubringen. Es ist für einen Reiter allein fast unmöglich, ein lediges, derart junges, schnelles Pferd wie den Schecken zu fangen. Harold Booth traf zufällig zwei andere Reiter, erklärte diesen die Situation und versicherte, daß Sie einen >Finderlohn< geben würden. Darauf machten die beiden bei der Pferdejagd mit, die sich bis in die Bad Lands hineinzog. Als die drei den Schecken und eine Stute, die sie ebenfalls fanden, geschickt umzingelt und eben festgemacht hatten, erschienen Sie zu Pferd auf der Höhe, und mit den Worten >Stirb, Harold, du Hund!< schossen Sie sofort. Bei Ihrer bekannten Zielsicherheit haben Sie wahrscheinlich getroffen, was Sie treffen wollten, und es hat sicherheitshalber gleich zwei Tote gegeben. Aber in der Dunkelheit hatten Sie Harold Booth mit seinen Begleitern verwechselt. Da sich Harold Booth durch Ihre Drohung und Ihre Schüsse in Notwehr befand, war er berechtigt zu schießen. Er zielte auf Ihr Pferd, und Sie stürzten.«

»Ich stürzte mit meinem Pferd. Das ist das einzige wahre Wort an der ganzen Erzählung. Harold Booth hat.«

»Bitte nachher. Harold Booth hat später noch die verstümmelten und unkenntlich gemachten beiden Leichen entdeckt, die inzwischen ebenso wie der Pferdekadaver vollständig verschwunden sind. Da Harold Booth sie, solange er lebte, noch gesehen hat, muß ein anderer ein Interesse daran gehabt haben, sie verschwinden zu lassen.«

Joe meldete sich beim Präsidenten zu Wort und erhielt es.

»Ich habe einige Fragen an die Wiedererzähler der story von Harold Booth zu richten.«

Der Gerichtspräsident genehmigte.

In Wakiya leuchtete es hell auf von Freude und Zuversicht, als er nun den Angriff Inya-he-yukans miterlebte.

»Wieso brauchte Harold Booth die Leichen erst später zu entdecken, wenn er miterlebt hat, daß seine beiden Begleiter erschossen wurden?«

»Die Zeugin Dorothy Miller geborene Booth!«

Die gut gekleidete Frau, Marys verheiratete Schwester, stand auf. »Er hat nicht die Leichen entdeckt, sondern daß sie unkenntlich gemacht worden waren. So sagte er mir.«

»Wer sind diese Männer gewesen?«

»Das wußte Harold nicht. Er hatte sie zufällig getroffen.«

Joe verzog die Lippen spöttisch. »Wenn Harold Booth wirklich nicht wußte, wer diese Männer waren - und ich selbst weiß es bis heute nicht -, wie kam Charles O'Connor darauf, in einem der Toten seinen Vater zu vermuten?«

»Der Kläger O'Connor!«

»Mein Vater und Brandy Lex sind seit jener Zeit vermißt. Ich wußte aber, daß sie an jenem Tag durch die Bad Lands reiten wollten. Daher vermute ich, daß mein Vater mit Lex zusammen Joe King zum Opfer gefallen ist.«

Der Angeklagte fragte weiter.

»Wann haben Sie von der story des Harold Booth erfahren, Mister O'Connor?«

»Vor ein paar Wochen. Den Tag kann ich nicht mehr genau sagen.«

»Durch wen haben Sie davon erfahren?« »Durch Mister Mac Lean senior.«

»Pflegt Mister Mac Lean senior in Ihrer Kneipe zu verkehren?«

Einige Zuhörer lachten, verstummten aber unter dem Blick des Gerichtspräsidenten.

»Nein... nein. Verkehrt nicht regelmäßig. Er kam eben deswegen.«

»Um Ihnen die story zu erzählen! Mister Mac Lean, wann und durch wen sind Sie zur Kenntnis dieser Erzählung gekommen? Und warum vermuteten Sie in einem der Toten den alten O'Connor Black and White?«

»Weil - ja, warum eigentlich? - Weil ich von dem Verschwinden des Besagten wußte - das hatte sich herumgesprochen - und als ich durch Missis Dorothy Miller den Bericht des Harold Booth erfuhr, kombinierte ich sogleich.«

»Warum hat Harold Booth damals in New City nicht sofort Anzeige erstattet?«

»Die Zeugin Dorothy Miller geborene Booth!«

»Weil er Sie, Mister King, um Ihrer Frau willen schonen wollte. Es ist jedem bekannt, daß mein Bruder Harold Queenie schon als junges Mädchen verehrt hat.«

Unter den Zuhörern entstand merkliche Unruhe. Der Gerichtspräsident klopfte auf den Tisch.

»Um meine Frau zu schonen, hat Harold Booth dann meine Unterschrift gefälscht und den Schecken sowie die Stute widerrechtlich verkauft? Diese Vorgänge sind damals polizeilich festgestellt worden.«

»Das war seine Rache.«

»Merkwürdige Rache.«

»So ist mein Bruder eben gewesen.«

Nach der Haltung der Zuhörer zu urteilen, war ihre Meinung dazu geteilt.

Der Ankläger nahm die Waffe der Frage wieder in seine Hand.

»Angeklagter, trifft es zu, daß Ihre Frau noch immer Blumen auf das Grab des Harold Booth gelegt hat?«

»Ja.«

Ein gezwungenes >Ja<, Joe konnte das nicht ganz verbergen.

Wakiya merkte, wie die Gedanken im Saale bei diesem >Ja< umschlugen und sich wieder gegen Inya-he-yukan richteten; eine dunkle Wolke legte sich vor die helle. Wäre nur Queenie dagewesen! Sie hätte diesem Mann geantwortet, der aus ihren Blumensträußen einen Strick für Inya-he-yukan flocht.

Der junge und eifrige Ankläger warf sich in die Brust.

»Auf Grund der Berichte des Harold Booth, die er seinen Verwandten kurz vor seinem Tode gegeben hat, halte ich den Angeklagten des Mordes für schuldig. Er hat vorsätzlich gehandelt. Harold Booth und der Angeklagte waren von Kind an erbitterte Feinde, auch Rivalen um Queenie Halkett, wie schon aus einem früheren Prozeß hervorging. Joe King wollte den Augenblick nützen, um sich an Harold Booth zu rächen, und wollte ihn vorsätzlich töten. Aus Versehen wurden zwei andere Menschen sein Opfer. Er hat an seinem ersten Opfer einen Mord begangen; darauf steht die Todesstrafe; an seinem zweiten Opfer zumindest einen Totschlag, wofür ich acht Jahre Kerker für angemessen halte.«

Joe King konnte entgegnen.

»Harold Booth hat auf mich geschossen und hat, als er mich tot glauben mußte, den Schecken und die Stute in New City verkauft; er hat die Pferde mehrfach angeboten und schließlich einen Auftrag von mir samt meiner Unterschrift gefälscht. Das wurde damals festgestellt und ist Beweis genug, daß er nicht die Absicht gehabt haben kann, mir die Pferde zurückzubringen. Er hat nachgewiesenermaßen als Dieb gehandelt, einen Mord verursacht und eine Fälschung begangen. Er hat nicht daran gedacht, in New City den Schußwechsel und die beiden Toten beziehungsweise seinen Schuß auf mich und meinen lebensgefährlichen Sturz zu melden. Offenbar hat er selbst die Toten angebrannt und verstümmelt, um zu vermeiden, daß durch ihre Identifizierung und seine bekannten Verbindungen mit Brandy Lex und Black and White sich der Verdacht auf ihn richtete. Seine gesamte Erzählung ist unwahr und strotzt von Widersprüchen.«

Die Stimmungswelle im Saal wogte auf die Seite Joes. Wakiya fühlte sich von ihr getragen.

Aber der Ankläger gab nicht auf.

»Warum haben denn Sie, Angeklagter, nicht sofort Anzeige erstattet, nachdem Ihr Pferd erschossen worden war und Sie die Leichen gefunden hatten?«

»Auf diese Frage verweigere ich die Aussage.«

Auf den Gesichtern der Geschworenen erschien die Mißbilligung unverhüllt.

»Ah, Ihre alte wohlbekannte Taktik, wenn Sie auf einen Freispruch aus Mangel an Beweisen zusteuern!«

Die Stimmung gefror im Nu.

Der Gerichtspräsident mischte sich ein.

»Angeklagter, ich empfehle Ihnen in Ihrem eigenen Interesse, dem Gericht Aufschluß zu geben, warum Sie keine Anzeige erstattet haben, obgleich Sie selbst schweren Schaden erlitten hatten, wie Sie uns nun erzählen wollen.«

»Ich verweigere die Aussage.«

Auf der Stirn des alten Präsidenten schwoll die Ader drohend. »Der Ankläger!«

»Angeklagter! Auf welche Weise ist es zu dem Erdrutsch gekommen, der die gesamte Örtlichkeit verändert und offenbar auch die Leichen verschüttet hat?«

»Ich habe ihn weder veranlaßt noch verursacht, noch war ich Zeuge. Ich kann darüber keine Aussagen machen.«

Der Anklagevertreter nickte mehrfach vielsagend.

»Wie wollen Sie Ihre eigene Darstellung beweisen?«

»Alle genannten Gründe sprechen für mich. Die protokollierte Aussage des Lastkraftwagenfahrers, der mich als Fußgänger in meinem angeschlagenen Zustand auflas und nach New City mitfahren ließ, liegt dem Gericht vor.«

»Wie wollen Sie beweisen, daß Sie bedroht waren, als Sie zuerst schossen?«

»Ich bin bereit, diese Aussage unter Eid zu machen.«

»Sie sind angeklagt, und Sie sind glücklicherweise nicht unser einziger Zeuge für den Vorgang. Ich schlage dem Gericht vor, daß Missis Dorothy Miller in bezug auf die Aussagen ihres verstorbenen Bruders Harold vereidigt wird.«

Das geschah.

Die Zuhörer saßen regungslos da, wie vereist. Auch Wakiya fröstelte von innen heraus. Er hatte Angst um Joe.

Mary Booth wurde noch als Zeugin vernommen; es kam dabei nichts Neues zutage.

»Was haben Sie noch zu sagen, Angeklagter?«

»Ich stelle Antrag, mich freizusprechen. Ich habe in berechtigtem Interesse gehandelt, als ich die Pferdediebe anhielt, und in Notwehr, als ich schoß, denn sie legten trotz meiner Warnung schon auf mich an, und der dritte brachte mich mit seinem Schuß tatsächlich nahezu ums Leben. Die Erzählung des Harold Booth, der meine Unterschrift gefälscht und zwei Pferde widerrechtlich verkauft hat, ist so ungereimt, daß man ihr keinerlei Glauben schenken kann.«

Der Ankläger beantragte, den Angeklagten zu fesseln. Die Verdachtsmomente seien auf Grund der Aussageverweigerung und des Verhaltens von Mr. King eindeutig, und der Stand der Verhandlung lasse befürchten, daß Joe King als einstiger Gangster, in allen Gewaltakten geschult, an Flucht aus dem Verhandlungsraum denken werde.

Der Gerichtspräsident gab dem Antrag statt. Der kleinere der beiden Polizisten legte Joe King Handschellen an.

Der Angeklagte hielt die Hände widerstandslos bereit. Das leise Knacken, mit dem das Schloß zuschnappte, traf Wakiya wie ein Stich ins Herz.

Ein Angeklagter mit gebundenen Händen, das war für viele der Zuhörer und vielleicht auch für Geschworene schon ein schuldiger Angeklagter.

Wakiya fürchtete, daß mit den Fesseln das Urteil gesprochen sei. Es ging wie ein Wehen durch den Saal. Zornig blickte Wakiya auf den Gerichtspräsidenten, der die Anordnung gegeben hatte. Ed Crazy Eagle war nicht anzusehen, was er dachte; seine toten Augen sprachen nicht mehr.

Die Geschworenen zogen sich zur Beratung zurück.

Joe wurde abgeführt. Die Gerichtspersonen verließen den Raum.

Der Zuhörerraum aber leerte sich nicht.

Alle warteten geduldig und mußten verstehen, daß das Urteil noch offen war. Eine Stunde, zwei Stunden vergingen. Wakiya saß auf seinem Stuhl und blickte vor sich hin. Er hatte seine Hand in die der Mutter gelegt, und er schaute, wie die Luft dick angefüllt war mit bösen Gedanken und Lügen, kleinen und großen, Stechmücken und Schlangen. Die guten Gedanken wurden fast erdrückt und erstickt. Wakiya gab immer wieder von seiner Kraft für sie her. Er war ganz bei Inya-he-yukan, der jetzt in dem kleinen Gerichtsgefängnis nebenan hinter einem vergitterten Fenster auf einem Hocker saß und mit niemandem sprechen konnte.

Sie wollten ihn töten. Töten!

Wakiya blieb wach und aufrecht, die erste, die zweite und auch die dritte Stunde. Nur einmal wagte er der Mutter etwas zuzuflüstern.

»Wer ist der Mann, der immer gefragt hat und gar nicht versteht, wie es wirklich gewesen ist?«

»Sidney Bighorn ist das. Dein Urgroßvater und sein Urgroßvater sind Brüder gewesen. Sidney hat auf einem College gelernt. Da werden sie so.«

»Was ist das, ein College?«

»Das weiß ich nicht, aber da werden sie so gemacht.«

Wakiya war nach dieser Antwort in ein Nachdenken versunken, das tief war und ausweglos wie ein Sumpfsee. Ein Mann, der den Namen Bighorn trug, wollte Inya-he-yukan töten!

Die Geschworenen rangen noch immer um das >Schuldig< oder >Nichtschuldig<.

Endlich kamen sie und auch die Richter wieder, selbst erschöpft und alle mit den mürrischen und finsteren Gesichtern von Menschen, die sich gestritten haben und in Gedanken noch weiter streiten.

Joe wurde von den beiden Polizisten hereingebracht. Als er sah, daß Wakiya ausgehalten hatte, schaute er freundlich auf ihn, freundlich und sehr ernst. Wakiyas Augen hingen nur an seinem Wahlvater, während Wakiyas Ohren das Urteil aufnehmen mußten.

Die Geschworenen hatten auf >Schuldig< erkannt für eingestandene Tötung in zwei Fällen, gewertet als Totschlag gegen Unbekannt. Die Leichen waren nicht aufgefunden, die Zeugenaussagen genügten nicht zur Identifizierung. Unter Zubilligung mildernder Umstände hatten die Richter eine Kerkerstrafe von vier Jahren und weitere zwei Jahre Polizeiaufsicht über Joe King verhängt.

Es war still im Saal, als ob nur Totengeister versammelt seien.

»Angeklagter, nehmen Sie das Urteil an?«

»Ich behalte mir vor, Berufung einzulegen.«

Wakiya trank die Stimme und jedes Wort. Es war auf lange hinaus das letztemal, daß er die Stimme Inya-he-yukans hören und die wiedergefundenen Augen sehen konnte.

Der Angeklagte wurde wieder abgeführt. Niemand konnte ihm seine Stimmung anmerken. Er befand sich unter Feinden. Richter und Geschworene entfernten sich. Der Saal wurde leer.

Eliza Bighorn und Mary Booth standen bei Wakiya-knaskiya. Vorsichtig tat er einen Schritt an die Seite von Mary.

»Nun, wie du willst«, sagte die Mutter.

In dem uralten Wagen fuhr Wakiya mit Mary nach Hause.

An der Abzweigung des Feldwegs, der zu dem Kingschen Hause hinaufführte, hielt Mary an.

»Tante Mary, kann ich mit Bob in unserer Hütte auf der King­Ranch schlafen?«

»Wäre nicht schlecht, Wakiya. Ihr müßt euch dort um die Pferde kümmern. Jetzt haben wir wieder zwei weniger zum Arbeiten. Queenie fährt auf die Kunstschule, und Joe geht ins Gefängnis. Schöne Rancher! Hätte er nur den Mund gehalten! Was braucht er auf einmal zu gestehen, daß er die Schufte abgeschossen hat, die Rauschgiftschmuggler und Diebe und Hehler, die Nichtsnutze. Wir alle sind froh, daß es die beiden nicht mehr gibt. Sie hatten auch Brandy auf die Reservation geschmuggelt, nichts als Pferdescheiße und teuer. Meinen Bruder Harold haben sie damit vergiftet. Das Gericht hätte Joe nichts beweisen können, gar nichts, und er wäre auf seiner Ranch statt wieder hinter den Mauern. Wer weiß, als was er nach vier Jahren wiederkommt! Einmal macht der Haß jeden Menschen fertig. Aber er hat sich von Queenie beschwatzen lassen -sie hat keine Ahnung von der Welt und bringt ihren Mann noch auf den elektrischen Stuhl oder in die Gaskammer. Wenn es so weit ist, heult sie.«

Mary hielt noch immer an der Abzweigung. »Schreibt Vater Halkett an Tashina?«

»Der wirft dir eher einen Stier um, als daß er einen Brief schreibt. Und Joe schweigt gegen seine Queenie und ihre Blumensträuße. Dagegen kann auch das Gericht nichts machen.«

»Mac Lean?«

»Wäre imstande. Wenn er über Wasser und Elektrizität abschließen will. Warten wir ab.«

Abends saßen Wakiya und Bob in der Hütte. In der Ecke stand noch das Jagdgewehr, daß Joe von seinem Vater geerbt hatte; an dem Wandhaken hingen der Kniehalfter, leer, und der Achselhalfter mit den beiden Pistolen. Die Winterjacke hing noch da, und in der Ecke standen die Stulpenstiefel mit dem Stilett. Es war wie nach einem Begräbnis.

Bob hatte gekocht und aß mit Wakiya zusammen.

Bob war nicht weniger aufgebracht als Mary, aber seine Gedanken gingen in eine andere Richtung. »Es muß irgend etwas gefunden werden. Sonst geht die Berufung auch noch schief, und sie geben ihm eine höhere Strafe als vorher. Joe war im Recht. Er ist unschuldig. Aber nun sind sie ihn erst einmal los. Wirbelwind und Mac Lean, die haben diese Pferde zusammen angeschirrt. Und jetzt wird Mac Lean junior pachten. Wirst du sehen.«

»Wer gibt ihm Wasser?«

»Queenie kriegen sie doch klein, spätestens bis zum Herbst. Mit der Schulranch ist es aus. Es wären fünf Mann und zwei Mädchen da, die jetzt das Baccalaureat gemacht haben und Rancher werden wollen. Sie finden auf der Reservation keine Stelle, wo sie etwas lernen können. Aber George Mac Lean, der muß die Wiesen haben!«

»Was, Bob, können wir für Inya-he-yukan noch herausfinden?«

»In den Bad Lands nichts. Ich habe mir das schon lange einmal angesehen. Es gibt nur noch eines und eine, die helfen kann. Mary soll sagen, was sie weiß.«

»Was weiß Mary Booth?«

»Harold war ja schließlich ihr Bruder, und gesoffen hat er auch, mit Brandy Lex und Black and White zusammen. Sie muß es wissen. Ich meine, Harold Booth hat geschickt gelogen, aber gesoffen hat er auch, und lange konnte er den Mund nie halten.«

»Warum hat Mary nichts gesagt?«

»Was weiß ich. Aber sie soll reden. Das ist das einzige, was noch helfen kann.«

»Bob! Das ist ein Kampf der Männer, und die Worte schießen gegeneinander. Sollen wir beide uns auf eine Frau verlassen? Wir müssen selbst hell wach bleiben und für Inya-he-yukan etwas tun.«

»Reden kannst du wie ein alter Krieger. Wo du solche Worte nur wieder her hast! Ich will sehen, was ich tun kann. Wenn ich etwas ausgekundschaftet habe, sage ich es dir.«

Die Angst um das weitere Geschick seines Wahlvaters, die den Jungen bis zu körperlichen Schmerzen quälte, setzte sich in die versprochene Fürsorge für Joes Lieblingspferd um. Täglich war Wakiya bei dem Scheckhengst, der den Kopf hängen ließ und nicht fressen mochte, und Wakiya wußte, daß auch Inya-he-yukan selbst todtraurig war. Niemand brauchte es ihm zu sagen.

Joe fehlte überall, und sein Name wurde fortwährend genannt, nur nicht von Wakiya. Joe wollte das so haben. Joe hat immer gesagt. Joe hätte das anders gemacht.

Von Queenie kam eine Karte mit der Mitteilung, daß sie angekommen sei und zu arbeiten beginne. Alex hatte sie von der Post mitgebracht. Wakiya betrachtete das Bild der südlichen Stadt mit den alten spanischen Häusern und wunderte sich sehr. Er wollte die Karte über Joes Bett an die Wand nageln, aber Mary nahm sie ihm ab und gab sie wieder zur Post mit der Adresse des Untersuchungsgefängnisses von New City.

Da von früh bis spät zu tun war, eilten die Sommertage samt ihrer Sorgenlast dahin wie schnelle Pferde. Bob und Alex, die jungen Cowboys, wurden immer grimmiger.

Bob fauchte und machte Pläne. »Die Frist für die Berufung läuft ab, und Joe hat keine Gründe gegen das Urteil vorzubringen. Es ist eine Schande. Morgen kommt der alte Isaac Booth. Der hatte seinen Sohn so gut durchschaut wie Mary und hat ihm nicht einmal mehr guten Tag gesagt. Komm morgen abend herüber, Wakiya. Du mit deiner unbeschwerten Zunge kannst vielleicht noch etwas ausrichten.«

Wakiya half bis zum Abend auf dem Kartoffelacker und bei Queenies Kaninchen, die Mary in Pflege hatte; dann ging er mit in das geräumige Haus der Booths zum Abendessen. Vater Isaac, grauer und müder, als seinem Alter zukam, und seine von Kummer und Arbeit verhutzelte kleine Frau waren seit Harolds Tod zu ihren Kindern außerhalb der Reservation gezogen und kamen zum erstenmal zu Mary zu Besuch. Sie hatten bis dahin immer die bedrückenden Erinnerungen gescheut. Man saß nun zu sechst um den Tisch, an dem die alten Booths früher immer mit Mary und Harold gesessen und gegessen hatten, und das Gespenst dessen, der nicht mehr dabei war, hockte in der Ecke.

Während des Essens wurde nicht geredet. Wakiya und Bob räumten ab. Es blieb noch lange still; Engel und Teufel konnten durch das Zimmer fliegen.

Der alte Isaac nickte vor sich hin und tat endlich den Mund auf.

»Was ist nun mit dem Heiraten, Mary?«

»Nichts.«

»Ohne Mann schaffst du es auf die Dauer nicht. Die jungen Burschen sind nicht genug.«

»Wenn ihr so denkt, hättet ihr mir Joe King nicht wegzunehmen brauchen. Was hat euch denn gestochen, den Mac Leans den Handlanger zu machen?«

Isaac stopfte sich eine Pfeife.

»Ich versteh' dich nicht, Mary. Was heißt, Mac Lean den Handlanger machen?«

»Eben den Handlanger machen. Ohne uns Booths hätten die das nie geschafft. War es aber nötig, Harolds alte Lügen wieder aus der Kiste zu holen? Unserm Harold ist es nicht zu Ehren, denn es kommt ja doch heraus.«

Der alte Isaac tat ein paar Züge, betrachtete seine Pfeife, war unzufrieden damit, rauchte aber weiter. »Was kommt heraus?«

»Was wahr ist.«

»Ich verstehe Joe nicht, Mary. Er ist ein tüchtiger Cowboy und ein guter Rancher geworden. Ich bin der letzte, der das nicht laut sagen würde. Aber warum hat er der Polizei sein erschossenes Pferd und die Toten nicht gemeldet? Das bricht ihm noch den Hals. Wenn es zur Berufung kommt, erkennen sie auf Mord. Ich habe das schon gehört.«

»Joe ist nicht mehr der alte. Entweder er traut der Polizei nicht über den Weg, selbst wenn er zehnmal im Recht ist, und meldet nie und nimmer etwas. Oder er will reden, dann soll er es gleich tun. So hat er eine Riesendummheit gemacht, das ist schon wahr. Aber wenn jedermann jede Dummheit mit dem Kopf bezahlen sollte, hätten wir bald Platz auf der Welt.«

»Es ist nicht unsere Sache, Mary.«

»Nur die eure ist's! Warum haben Ben und Dorothy Harolds verdammte Lügen vorgebracht? Jetzt auf einmal?«

»Beschimpfe nicht deinen toten Bruder, Mary. Das mag ich nicht hören. Er mag gewesen sein, wie er will, und du weißt, daß ich kein Wort mehr mit ihm gesprochen habe. Für mich war er schon lange tot. Aber nun liegt er im Grab, und es soll Ruhe sein.«

»Ist aber keine, weil seine Lügen weiter umgehen und Joe auch noch unter die Erde ziehen wollen.«

Isaac klopfte die halb abgerauchte Pfeife aus. Die alte Mutter Booth setzte ein paarmal zum Sprechen an, und da die Pause lange genug währte, fand sie den Mut, etwas zu sagen.

»Mary, wie willst du sagen, daß es Lügen waren?«

Mary sprang auf.

»Verdammt, Vater und Mutter, ihr wißt selbst, wie Bruder Harold an seinem letzten Sonntag schön besoffen war, als er heimgekommen ist - wie er mit seinem Wagen über die Straße herangeschlingert ist und wie er dann noch im Schweinestall gesessen und gesoffen und geheult hat - die Schweine waren uns bei dem großen Feuer verbrannt, und der Stall war leer und ist immer Harolds Unterschlupf gewesen, wenn er soff und von Euch, Vater Isaac, nicht gesehen werden wollte - und wie er hergekrochen ist und geflennt und gefleht hat, weil es doch nun offenbar geworden war mit seiner Fälschung und seinem Pferdediebstahl, und der Prozeß stand am nächsten Tag bevor - und wie er geheult hat wie ein Kind - das konnte er, wahrhaftig - und wie er euch alles gebeichtet hat. Und ihr habt ihm versprochen zu schweigen, denn wenn es herauskam, daß er mit Brandy Lex und Black and White bei dem Diebstahl unter einer Decke gesteckt und ihre Leichen verstümmelt hat, damit keine Spur mehr in seine Richtung führt ­wenn das herauskam, stand es noch viel schlimmer um ihn. Du hast ihn aber getröstet, Mutter, und hast gesagt, daß er trotz allem euer Sohn sei - und du, Vater, warst Stein, aber du hast geschwiegen -dann wurde er wieder zuversichtlich, unser Harold, und hat auf einmal anders geredet und ist besoffen noch hinübergegangen zu Queenie, die allein war... und sie hat ihn erschossen. So war's, und ihr wißt, daß es Lügen sind, was er Ben und Dorothy erzählt hat. Sie haben's auch selbst nie geglaubt und nie was gesagt, bis Mac Lean sie jetzt aufgestachelt hat. Dick und George Mac Lean und Harold, die paßten immer zusammen. Eine Schande ist es und eine Sünde.«

»Mary, du darfst deine Familie nicht so schändlich beschmutzen.«

»Ich habe bis heute den Mund gehalten, auch vor Gericht, und habe zugesehen, wie sie Joe unschuldig verurteilt haben. Aber einmal muß es heraus. Ich will keine Blutschuld auf mich laden. Weil ihr gesagt habt, sie werden vielleicht doch noch auf Mord erkennen und der Richter wird das Todesurteil aussprechen.«

»Es muß ja nicht sein, und Joe ist selbst schuld. Er hat die Leichen auch nicht gemeldet, so wenig wie Harold.«

»Weil er der Polizei nie über den Weg traut. Wie soll er denn auch! Er ist abgestempelt, und wenn es überhaupt etwas gibt, was sie ihm anhängen können, tun sie's.«

»Er hat wohl mehr als genug auf dem Gewissen, um ein Todesurteil zu verdienen. Er war ein Gangster.«

»Wer hat ihn dazu gemacht? Teacock und das Gericht und unsere Gefängnisse! Aber herausgebissen hat er sich dann allein. Kein solches Wort über Joe! Ich duld' es nicht in meinem Hause hier. Es ist genug, daß ich um euretwillen zugesehen habe, wie er unschuldig verurteilt worden ist.«

Mary atmete schwer, dann setzte sie sich langsam wieder an den Tisch. Es schien ihr jetzt erst zum Bewußtsein zu kommen, daß sie auch vor Alex, Bob und Wakiya gesprochen hatte.

»Geht jetzt schlafen, ihr jungen Burschen.« Des alten Isaac Stimme klang rauh.

Die drei gehorchten und erhoben sich.

Wakiya und Bob machten sich zusammen auf den Weg zu dem Hause der Kings. Jeder der beiden legte sich auf seine Bettstatt. Etwas vom Leuchten der Sommernacht drang in die Hütte, denn Bob hatte die Tür offengelassen. Da er und Wakiya übereck lagen, konnten sie sich beim Sprechen ansehen. Beide hatten die Arme hinter dem Kopf verschränkt.

»Nun weißt du es also, Wakiya-knaskiya. Und der alte Booth drüben wird jetzt seine Tochter Mary ducken, damit sie weiter den Mund hält .«

»Sie hat gesprochen.«

»Zum Vater und zur Mutter. Nicht zu uns.«

»Sie will Inya-he-yukan nicht sterben lassen.«

»Das will sie nicht. Mary hat Joe geliebt, mußt du wissen, er aber hat sich Queenie genommen. So war das.«

»Ihr sollt Inya-he-yukan nicht verraten.«

»Wir können auch Mary nicht verraten. Als sie sprach, sind unsere Ohren keine Ohren gewesen.«

»Aber doch sitzen ihre Worte auch in eurem Kopf, und sie werden darin wühlen wie eine Maus in der Erde.«

»Hab' Angst, daß du recht haben könntest, Wakiya.«

Am nächsten Morgen - es war ein Sonnabend - schien Bob müde und unlustig zu sein. Er lief mit Wakiya zusammen hinüber auf die Booth-Ranch. Vater und Mutter Booth hatten übernachtet; nun starteten sie mit ihrem alten Studebaker zur Heimreise. Mary stand an der Straße und schaute dem Wagen noch nach. Sie bemerkte Bob und Wakiya zu spät. Der Junge hatte ihr Gesicht gesehen, das zerstört war wie das Land nach einem Unwetter. Sie suchte aber zu verwischen, was in ihr vorging, als sie sich Bob und Wakiya zuwandte.

Wakiya meldete sich zu Wort.

»Heute, Tante Mary, reite ich zu meiner Mutter, denn mein Bruder ist heimgekommen, und ich will ihn besuchen. Morgen oder übermorgen komme ich zurück.«

»Gut. Nimm die sanfte Stute.« Mary sprach wie mit einer fremden Stimme.

Die Stute schnaubte und freute sich an einem Galopp unter ihrer leichten Last.

Als Wakiya nach einem langen Ritt bei der hellblauen Hütte ankam, schaute die Mutter vom Holzmachen auf. Der Bruder stand an der Tür. Die kleine Schwester mußte Wasser holen gegangen sein, denn der Eimer befand sich nicht an seinem Platz. Wakiya glitt vom Pferderücken herunter, fast so mühelos wie ein Cowboy, und machte seine Stute fest. Dann lief er zu seinem Bruder und wollte mit ihm lachen. Aber der Bruder lachte nicht und sagte nichts, und Wakiya erschrak, denn sein Bruder war nicht der alte. Zu lange hatte er Heimweh gehabt und in seinem Herzen gegen die anderen gelebt, mit denen er doch zusammenleben mußte. Wakiya wollte Mutter und Bruder nur besuchen und dann weiterreiten, denn er hatte noch viel vor. Er wollte den Bruder mitnehmen, aber der Bub, der Cowboy werden wollte, konnte sich noch auf keinem Pferderücken halten. Wakiya wurde sehr verlegen. Die Freude daran, daß er selbst reiten gelernt hatte, war ihm verdorben. »Besuch mich, Hanska, dann lehrt Bob dich, auf einem Pferd oben zu bleiben.«

Da blitzten die Augen des Jüngeren zum erstenmal auf. Die Mutter war herbeigekommen.

»Hanska hat ein schlechtes Zeugnis, Wakiya, und du solltest dableiben und mit ihm lernen, damit er nicht sitzenbleibt.«

Der Jüngere tat den Mund auf. »Ich lerne nicht, Wakiya-knaskiya. Wenn ich ein ganz schlechter Schüler werde, darf ich vielleicht wieder nach Hause. Ich muß nur aushalten, bis sie es nicht mehr mit mir aushalten. Fast jede Nacht muß ich eine Stunde stehen, ehe ich mich ins Bett legen darf. Aber ich halte aus, Wakiya. Dann komme ich heim und lerne reiten bei Joe King.« - Wakiya zuckte bei dem Namen zusammen.

Die Mutter erklärte. »Der reitet jetzt auch nicht, Hanska, der ist eingesperrt, und da, wo er ist, kann er stehen oder sitzen, aber reiten kann er nicht.«

Hanska erschrak. »Wo ist Joe King?«

»Im Gefängnis in New City. Er kann die Sonne nicht sehen und nicht den Mond. Er hat auch keine Ferien und muß den Geistern immerzu gehorchen. Also tröste dich, Hanska. Wenn Joe King das Gefängnis aushält, wirst du auch deine Schule aushalten.«

Wakiya kaute an seinen Lippen. Noch einmal sagte er:

»Besuch mich, Bruder Hanska, dann lehrt dich Bob, wie man auf einem Pferd oben bleibt.«

»Hau, ich komme! Wann bist du wieder daheim, Wakiya-knaskiya?«

»Am dritten Abend sicher.«

Wakiya machte seine Stute los, kletterte hinauf und ritt weiter. Sein Ziel war die Schule.

Es war Sonnabend nachmittag, und er konnte nur in dem kleinen Wohnheim der Schule jemanden antreffen. Dort hatte er auch wieder nichts zu tun als zu fragen, wo Mr. Ball wohnte und ob er in den Ferien da oder etwa verreist sei.

Mr. Ball wohnte in der Siedlung bei der Schule und war auch in den Ferien zu Hause.

Wakiya merkte, daß ihm ein Stein auf dem Herzen gelegen hatte, der durch diese Auskunft weggewälzt worden war.

Sein Pferd, das er am Zügel führte, machte er fest und ging durch die Siedlung bis zu dem kleinen rosafarbenen Holzhaus, in dem sich Lehrer Ball, der Junggeselle, eingenistet hatte. Dreimal hob Wakiya die Hand, bis er endlich wagte zu klingeln. Ball erschien an der Tür. »Byron Bighorn! Komm herein!«

Byron Bighorn saß seinem Lehrer am Tisch gegenüber. Es war ihm unmöglich, den Sprung in die Sache ohne Anlauf zu machen. Er blieb still und wartete auf die Fragen des Lehrers, der seine Indianerschüler kannte.

»Erzähl mir, Byron.«

»Ich muß einen Schriftsatz machen.«

»Was mußt du machen?«

»Einen Schriftsatz.«

»Für deine Mutter?«

»Nein.«

»Für deinen Bruder?« »Nein.«

»Ja, dann erzähle einmal. Wir haben Zeit, wir beide; es sind Ferien, und Feiertag ist noch dazu. Also du mußt einen Schriftsatz machen!«

»Ja. Der soll sehr sauber und schön aussehen.«

»Du schreibst recht sauber und schön, Byron.«

»Wenn ich ganz langsam schreibe. Manchmal mache ich doch noch einen Fehler, weil ihr Geheimnisse habt mit eurer Schrift und alles anders schreibt, als ihr es aussprecht.«

»Das ist wahr. Ich kann aber nachsehen, ob du alle Wörter richtig geschrieben hast. Weißt du denn alle Wörter, die du schreiben willst?«

»Alle, aber von manchen weiß ich noch nicht, wie sie geschrieben werden.«

»Wollen wir anfangen?«

»Ja.«

Lehrer Ball holte Papier und Kugelschreiber herbei. »Nun schreibe ich alles auf, wie du es heben willst. Recht so? An wen schreibe ich?«

»Das müssen wir beraten. Erst muß es einmal aufgeschrieben sein. Ich sage Ihnen jetzt, was Sie schreiben sollen.«

»Gut.«

»Am Freitag, dem 2. August, saßen Isaac Booth, Mary Booth, Alex Goodman, Bob Thunderstorm und Byron Bighorn um den Tisch im Hause von Mary Booth.«

»Um was für einen Tisch?«

»In dem Hause gibt es nur einen Tisch. Einen einzigen Tisch. Einen großen Tisch.«

»Gut. Weiter.«

»Ich sage Ihnen alles, Mister Ball, was Mary gesagt hat. So sprach sie!« Und Byron vermochte aus dem Gedächtnis zu wiederholen, was er vernommen hatte.

»Byron! So hat Mary Booth zu ihren Eltern gesprochen? Hast du sie noch einmal gesehen?«

»Ja. Heute morgen. Vater und Mutter Booth fuhren gerade weg. Sie hatten Mary geduckt, damit sie wieder schweigt und nichts mehr gegen ihren Bruder sagt. Wie ein Krautgerippe im Herbst sah sie aus. Sie hat Inya-he-yukan lieb!«

Ball hob erstaunt den Blick. Verstand sein Schüler, was er sagte? Der Lehrer brütete vor sich hin. »Die verdammte Sippenwirtschaft! Byron, ich suche dir jemand, der dein Pferd versorgt, und nehme meinen Wagen. Wir fahren zu Ed Crazy Eagle.«

Auch die Familie Adlergeheimnis war am Abend des ersten Wochenendtages zu Hause.

Der Lehrer und der Richter setzten sich einander gegenüber. Ball las dem Blinden vor, was er aufgeschrieben hatte, und Wakiya hörte mit zu.

»Die Sippe, ja, Mister Ball. Die Zusammengehörigkeit ist für unsere Menschen eine praktische Stütze, auch ein unentbehrlicher ethischer Halt. Aber der Clan steht im Rechtswesen der Wahrheitsfindung entgegen ebenso wie die Familie in der allgemeinen Gesetzgebung, nur noch viel zäher und unverbrüchlicher. Mary hat unter Eid ausgesagt. Nun, sie könnte sich darauf berufen, daß sie nur nach den Vorgängen in der Nacht des Diebstahls befragt war und nach nichts anderem. Wenn sie aber ihren Bruder bloßstellen soll, kann sie die Vereidigung ablehnen und die Aussage verweigern. Wen sollte man überhaupt vereidigen.«

»Bob Thunderstorm und Alex Goodman.«

»Das Verfahren ist abgeschlossen. Die Frist für die Berufung läuft kommenden Mittwoch ab. Bis dahin ist King noch im Untersuchungsgefängnis von New City, aber dann kommt er in den Strafvollzug, und das ist mir in seinem Falle in mehr als einer Beziehung unheimlich. Er hat als >Rückfälliger< und Indianer die Verwaltung gegen sich; und als einer, der sich aus einer Gang gelöst hat, hat er die gesamten Verbrecher zum Feind, das heißt, er ist im Kerker ein verlorener Mann.«

»Was ist zu tun?«

»Joe King selbst könnte auf Grund dieses Schriftstücks hier mit neuen Beweisgründen die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen. Aber dann muß er ohne Verzug davon unterrichtet werden.«

»Sie übernehmen das, Mister Crazy Eagle?«

»Ich werde sofort versuchen, eine Verlängerung der Untersuchungshaft zu bewirken, da die Wiederaufnahme in kurzem möglich erscheint.« Crazy Eagle griff nach dem Telefon. Er konnte jedoch am Wochenend-Abend niemanden erreichen, der zuständig war, und legte den Hörer zurück. »Ich spreche mit unserem Gerichtspräsidenten und fahre am Montag nach New City.«

Der Blinde machte sich mit Lehrer Ball zusammen sogleich auf den Weg zu dem alten Präsidenten, der außerhalb der Agentursiedlung wohnte. Wakiya blieb zurück und unterhielt sich mit David, dem Sohn des Richters, der mit Wakiya im gleichen Alter stand, in der Schule aber eine Klasse übersprungen hatte. Die beiden sprachen nicht über die Sache, die sie beschäftigte, sondern über vieles andere, was im Augenblick unwichtig erschien. - Als Crazy Eagle und Ball zurückkehrten, brachten sie keine guten Nachrichten. Der alte Gerichtspräsident war an einem Wiederaufnahmeverfahren nicht interessiert und wollte Wakiyas Bericht nicht trauen, solange Mary Booth ihn nicht selbst unterschrieben und bestätigt hatte.

Da es nun schon spät geworden war, bat der Richter Lehrer Ball, mit Wakiya zusammen bei ihm zu übernachten. Ball dankte und nahm an. Wakiya lag gut gebettet auf der Küchenbank, schaute durch das verhängte Fenster hinaus über die Prärie in den Sternenhimmel hinein und träumte mit offenen Augen von Inya-he-yukan.

Er wachte die Nacht durch und in den Morgen hinein. Nebenan hörte er Geräusche. David wälzte sich in seinem Bett, und Mr. Ball schnarchte ein wenig auf der Couch. Draußen sang schon ein Vogel, in den Wipfeln der Bäume rauschte der Frühwind. Die unzähligen Sterne verblaßten, aber der eine heilige Stern des Indianers, der Morgenstern, scharfzackig, fünfzackig, ging auf. Es wurde wieder hell. Wakiya war matt und doch ganz wach. Sein neuer Plan war fertig. Er schlüpfte von der Bank und wusch sich am Ausguß in der Küche.

Als alle gefrühstückt hatten, bat Wakiya seinen Lehrer, mit ihm zum Supermarket zu fahren. »Ich habe nachgedacht«, sagte er dabei.

»Byron Bighorn - auch ich, dein Lehrer, habe nachgedacht. Du kennst Mary, Bob und Alex besser als ich. Wie kommen wir an die drei heran? Wir brauchen ihre wahrhaftigen Aussagen. Wir brauchen sie schnell.«

Wakiyas Gesicht zog sich zusammen. »Nicht mit dem Wagen kommen wir an die drei heran, mein großer Bruder Ball. Ich schlafe mit Bob zusammen im Hause King. Ich werde Alex heute abend zu uns beiden einladen. Ich werde Alex und Mary einladen. Mary kommt nicht. Sie ist allzu tief geduckt. Ich glaube nicht, daß sie kommt. Aber Alex kommt, wenn ich einen großen Rinderbraten für uns vier habe.«

»Also gut. Zum Supermarket.«

Wakiya hieß seinen großen Freund Ball Coca-Cola und vier Kilo Rinderfilet einkaufen.

»Vier Kilo?«

»Eines für Sie, Mister Ball.«

Der Lehrer erfüllte Wakiyas Wunsch, lächelte und bezahlte. Darauf hatte Wakiya offenbar vertraut. Ball war ein Gast, aber auch ein Freund. Man konnte auf indianische Weise mit ihm zusammenarbeiten. Er brachte den Bub dann mit dem Wagen zur Schule, wo dieser sich seine Stute holte.

»Um neun Uhr heute abend kommen Sie zu mir, Mister Ball?«

»Ich komme.  bye.«

Wakiya ritt heim. Er ließ sich zuerst bei der Booth-Ranch sehen und begrüßte Mary, die ihm halb abwesend zunickte.

»Tante Mary, ich will heute abend ein Fleischessen bei uns oben geben.«

»Dir hat wohl ein Spaßgeist den Verstand verwirrt. Was hast du vor?«

»Ich bin ein Reiter und ein Häuptling geworden, und heute abend lade ich Gäste in mein Tipi. Bob ist da. Ich lade dich und Alex dazu. Ich spendiere Fleisch.«

»Deine Mutter sollte ihre paar Dollar, die sie mit Angelhakenbiegen verdient, lieber anders anlegen. Sie braucht uns nichts zu spendieren. Du arbeitest hier für dein Essen.«

»Tante Mary, ich habe dich und Alex und Bob für heute abend zu einem Fleischessen in mein Tipi eingeladen.«

»Kindskopf. Alex und Bob können von mir aus in dein Tipi kommen und Fleisch schmausen, soviel da ist. Aber ein Weib wie ich ißt nicht mit am Zeltfeuer im Häuptlingstipi. Verstehst du?«

»Du bist so allein, Tante Mary.«

»Was soll das nun wieder! Ich war mein Lebtag allein in dieser ganzen Booth-Familie und werd's auch bleiben. Also laßt es euch schmecken. Und laß nichts verschmoren.«

»Sagst du Alex Bescheid, Tante Mary?«

»Ich schicke ihn um acht Uhr zu euch hinüber. Verlaß dich darauf. Bis dahin ist er noch bei den Büffeln; wir müssen sie ein Stück weiter treiben.«

Wakiya ritt heim, lud den Sack Coca-Cola-Flaschen und das Fleischpaket vom Pferd ab, versorgte das Tier und schaffte die Einkäufe in die Blockhütte der Kings. Er brachte den Ofen in Gang, der ihm doch noch sicherer erschien als die elektrische Platte, holte sich den großen Familienkoch- und -brattopf, an dem er Queenies Hände noch zu spüren glaubte, ließ das Fett brutzeln und legte die Fleischstücke hinein. Dann fiel ihm ein, daß auch noch Salz dazu gehörte. Der Duft stieg ihm in die Nase. Er war selbst hungrig. Punkt acht Uhr abends erschienen Bob und Alex. Bob fühlte sich hier zu Hause. Alex Goodman war fremd in dieser Blockhütte. Aber auch er hatte seine Erinnerungen, von denen er nur die angenehmen erzählte. »Das ist ein Fest gewesen, Wakiya, als die Büffel kamen!«

»Was machen die Büffel heute?«

»Tollheiten. Einer allein ist zu wenig beim Treiben, wenn es auch vorläufig nur sieben Stück sind - in ein paar Wochen sind es wiederum zwei mehr. Aber der Stier, das ist ein Wildteufel. Ich muß Joe wieder dabei haben oder es geschieht noch ein Unglück.«

Die beiden Burschen rauchten. Wakiya setzte Coca-Cola vor und verbarg, wie glücklich ihn die letzten Worte Alex Goodmans gemacht hatten. Ein Motor summte den Feldweg herauf. Bob ging ans Fenster und spähte. »Ball!«

Ball war auch Bobs und Alex Goodmans Lehrer gewesen. Er wurde mit Hallo empfangen; Wakiya setzte ihm den Rest des Fleisches vor. Die Männer unterhielten sich über Schulerinnerungen und schmunzelten, da für Bob und Alex längst alles überstanden war. Die Rede kam auf Joe King, den berüchtigsten unter den damaligen Schülern, und auf Queenie, die berühmteste unter den ehemaligen Schülerinnen. Bob rückte mit seinen Sorgen heraus: »Kann man denn nichts für Joe tun? Wir brauchen ihn dringend hier, Mister Ball.«

Ball knüpfte unbefangen an; vielleicht hatte er Wakiya zublinzeln wollen, aber es war gut, daß er es nicht tat.

»Für Joe kann man etwas tun. Das haben wir gleich. Mary hat das Entscheidende schon gesagt; Byron und ich haben es aufgeschrieben und ihr unterschreibt. Dann geht es weiter; Ed Crazy Eagle nimmt die Sache in die Hand.«

Ball las die von ihm selbst gefertigte Niederschrift vor. Er schaute dabei über das Blatt weg auf die Gesichter. Wakiya starrte bald Bob, bald Alex an. Die beiden hatten die Lippen leicht geöffnet und die Augen aufgerissen. Ball legte Bob das Blatt vor. »Unterschreibe Bob. Du bist ein Mann, der bei der Wahrheit bleibt.«

Bob nahm den Kugelschreiber und übte ein paarmal in der Luft. »Für Joe tue ich es. Wenn Sie uns das hier bringen, Mister Ball, kann es ja nicht unrecht sein. Aber es ist genau so, wie Mary es gesagt hat. Aber ganz genau ist es doch nicht.«

»Sag uns, Bob, wie es heißen müßte.«

»Daß der Schweinestall immer Harolds Versteck war, wenn er vom Vater nicht gesehen werden wollte. Das fehlt.« »Also schreiben wir einen Zusatz.« Ball schrieb.

»Noch etwas, Mister Ball.« »Alex?«

»Lesen Sie bitte noch einmal das vom Vater vor.« Ball wiederholte.

»Sie hat aber gesagt: >Du hast ihn getröstet, Mutter, und gesagt, daß er trotz allem euer Sohn sei - und du, Vater, warst Stein, aber du hast geschwiegen.< - So müssen die Worte stehen.«

»Das schreiben wir ebenfalls dazu.«

»Ja und außerdem hat sie gesagt - denn sie kennt Joe gut.« »Ja, was?«

»Wenn er die Leichen nicht gemeldet hat, so hatte er wohl Angst vor der Polizei - oder so ähnlich - aber nur, weil sie ihm immer alles falsch auslegen.«

»Kann sein, Alex, daß das der Grund war. Ich habe Joe als Schüler gehabt, und ein bißchen kenne ich ihn auch. Es war aber nicht richtig, wie er sich verhalten hat. Das hätte ihn jetzt das Leben kosten können.«

Alex und Bob setzten ihre Namen unter das Schriftstück. Sie hatten sich nun schon an den Gedanken gewöhnt, das zu tun. Auch Wakiya unterschrieb. Er hatte einen heißen Kopf.

»So. Dieses Schriftstück mit den Ergänzungen bringe ich also morgen früh auch noch zu Crazy Eagle, und dann werden wir weitersehen.« Ball atmete hörbar auf.

Bob aber wurde unruhig. »Mary Booth muß das wissen.« »Ja, Bob. Wie machen wir das am besten?«

»Wir gehen alle zusammen zu ihr. Sie hat geschwiegen, und dennoch hat sie nicht verdient, daß wir sie betrügen.«

Die vier liefen hinüber zu der Booth-Ranch; sie setzten sich an den Tisch, an den einzigen, den großen Tisch im Hause Booth. Mary beugte sich über das Schriftstück, immer tiefer, um ihr Gesicht zu verbergen. »Macht, was ihr wollt«, sagte sie endlich. »Ihr macht ja doch, was ihr wollt.«

»Miss Booth, es ist die Wahrheit, was hier steht. Bitte unterschreiben auch Sie.«

»Ich? Wozu? Es kommt ja nun doch noch einmal vor Gericht.«

»Ihre Unterschrift unter diesen Schriftsatz ist vielleicht entscheidend dafür, ob die Sache tatsächlich noch einmal aufgenommen wird - oder ob Joe vier Jahre unschuldig im Kerker sitzt.«

»Ich habe die zwei nicht erschossen, und als sie erschossen waren, bin nicht ich es gewesen, der darüber geredet hat.«

»Miss Booth, sehen Sie nicht schweigend zu, wie ein Unschuldiger unter einem ungerechten Urteil leidet. Das können Sie nicht verantworten.«

»Das verstehen Sie nicht, Mister Ball. Gehen Sie doch hin und fragen Sie meine Eltern. Isaac Booth und seine Frau sollen ja gehört haben, was ich sagte, und müssen alles bestens wissen.«

»Miss Booth... bitte!«

»Nein. Ich habe gesprochen.«

Ball erhob und verabschiedete sich. »Ich lasse Ihnen Zeit, Miss Booth.« Er ging.

Die anderen blieben bei Mary. Ihr Gesicht war noch mehr zusammengefallen. Keiner wußte etwas zu sagen. Schließlich brach sie selbst das Schweigen. »Mit dem Vater, das war mir schon genug.

Daß ihr euch auch noch alle gegen mich verschworen habt, ist zuviel.«

»Wirfst du uns jetzt raus, Mary?«

»Ihr seid bei Joe King angestellt, nicht bei mir.«

Vier Tage später wußten alle, die es anging, daß Joe King das Wiederaufnahmeverfahren mit neuen Beweisgründen beantragen würde. Crazy Eagle hatte aber nicht verhindern können, daß Joe zum Strafvollzug in den Kerker und dort in Gemeinschaftshaft gebracht worden war. »Seine ärgsten Feinde sind die Verbrecher. Richter Crazy Eagle weiß das«, sagte Wakiya zu Bob, und er zitterte jede Stunde, daß eine schlimme Nachricht über das Ergehen Inya-he-yukans eintreffen könne. Morgen für Morgen, lange ehe er sich auf den Schulweg machte, trieb er Bob an, zur Agentur zu reiten und zu fragen, wann das Wiederaufnahmeverfahren in Gang kommen werde. Der alte Gerichtspräsident widersetzte sich dem Antrag, der inzwischen eingegangen war; er hatte gehört, daß Mary den Bericht Wakiyas nicht unterschreiben wollte.

Es wurde unterdessen unruhig auf der Reservation, da drei Abstimmungen bevorstanden: die Wahl der Ratsmänner, die Wahl des Chief President, die unabhängig davon vor sich ging, und der Entscheid über die Abschaffung oder Beibehaltung der Stammespolizei. Alle diese Stammesangelegenheiten erschienen wichtiger als das Schicksal Joe Kings, und Crazy Eagle hatte für sein Drängen keine Verbündeten. Wakiya war jetzt Schüler der fünften Klasse. Hin und wieder erfuhr er von den Vorbereitungen für die Wahlen. Die Liste der Ratsmänner, die zur Wahl standen und sich bereit erklärt hatten, das Amt zu übernehmen, das sehr wenig Geld, aber viel Arbeit einbrachte, sollte bereits bekannt sein. Wakiya befragte seinen Klassenlehrer Ball nach dem Mittagessen.

»Eine Sensation ist dabei, Byron. Zum erstenmal steht auch eine Frau zur Wahl.«

»Wer, Mister Ball?«

»Mary Booth - weil sie so tüchtig wirtschaftet. Sie hatten Joe King aufstellen wollen, denn er hat die Büffel wiedergebracht. Aber Joe -das geht ja nun nicht. Seine Feinde haben schon gewußt, warum und wann sie ihn anzeigen.«

»Mary ist auch für die Schulranch.«

Ball lächelte. »Ich zweifle gar nicht daran. Eine neue Verhandlung in Sachen King ist übrigens noch immer nicht angeordnet.«

»Ich habe Angst um Inya-he-yukan, Mister Ball. Jede Nacht ruft mich seine Stimme.«

»Ich habe auch Angst, Byron. Irgend etwas muß schon passiert sein. Crazy Eagle hat es angedeutet. Joe hat eine Schädelverletzung. Disziplinarstrafen sind über ihn verhängt. Seine Feinde hier nützen das aus.«

»Wer arbeitet gegen uns, Mister Ball?«

Der Lehrer nahm die Frage des Kindes ernst. Er hatte sich schnell daran gewöhnt, mit dem zwölfjährigen Wakiya wie mit einem nachdenkenden jungen Menschen zu sprechen, dessen Erfahrungen bereits tief einschnitten. »Vor allem arbeitet Sidney Bighorn gegen uns, der ehrgeizige Ankläger. Er hetzt nach Kräften, und der alte Gerichtspräsident hört auf... nein, nicht auf Sidney, der ist ihm zu jung, aber auf Jimmy White Horse, euren Chief-President. Sidney ist mit Jimmies Frau verwandt und über Jimmy gelangt er an das Ohr des alten Gerichtspräsidenten. Sidney hat den Prozeß gegen Joe gewonnen, und er will auf den Ruhm, den ihm das bei Mister Shaw und höheren Verwaltungsstellen eingebracht hat, nicht verzichten.«

»Warum hat Sidney gewonnen? Ich habe es nicht verstanden und verstehe es nicht. Stonehorn ist klüger als Sidney, und er ist unschuldig.«

»Aber Joe King handelt auch nach persönlichen Empfindungen, nicht nur nach seinem kalten Verstand. Er will zur Zeit von Queenie nichts wissen, ihren Beistand nicht haben, und er mißtraut den Geschworenen. Sidney aber ist nichts als eisige Berechnung, scheint mir. Und er hat die Machthaber für sich.«

»Wie kann ein Indianer so werden?«

»Sidney ist der älteste von neun Geschwistern, der Vater ist Kriegsinvalide und säuft. Sidney hat auf Schule, College und am Gericht eine glatte Laufbahn gehabt; er will aus dem Elend des Elternhauses endgültig heraus und weiter vorankommen, auch auf Kosten seiner Mitmenschen. Auf einem solchen Weg...« Ball brach ab. Aber Wakiya sprach aus, was er dachte: »... ist er zum Kojot geworden.«

»Vielleicht sogar ein reißender Wolf, Wakiya, gefährlich für einen Gefesselten, wie Joe es nun ist. Ich bin sehr unruhig. Es kommt noch auf die Wahlergebnisse an. Wenn Morning Star über Jimmy siegt, hat Joe bessere Chancen.«

Ende des Monats wurden die Wahlergebnisse bekannt.

Jimmy White Horse, der häufig betrunkene Chief President, war dank der Anstrengungen der Partei der Trinker und Traditionalisten wieder gewählt worden, jedoch nur mit einer sehr knappen Mehrheit. Im Ratsausschuß blieb Frank Morning Star Ratsmann für Kultur und stellvertretender Häuptling, Mary Booth wurde Ausschußmitglied für Ökonomie. Bill Temple war aus dem Schulwesen ausgeschieden und durch einen neuen jungen Mann ersetzt. Für die Beibehaltung der Stammespolizei hatten mehr als neunzig Prozent der Wahlberechtigten gestimmt.

An einem milden Herbstabend saß Wakiya wieder am Grabe des alten Häuptlings Inya-he-yukan. Die Gräser schaukelten im Wind wie seit Jahrtausenden; hinter den weißen Felsen sank die Sonne. Wakiya hatte zwei Briefe erhalten. Der eine fühlte sich dick an; sicher war es ein sehr langer Brief. Der andere war dünn, er enthielt sicher nur ein einziges Blatt. Beide waren an Wakiya-knaskiya Byron Bighorn gerichtet. Bob war wieder auf der Agentur gewesen und hatte auf dem Postamt in der general delivery nach Briefen gefragt. Zu seinem großen Erstaunen waren ihm zwei Briefe an Wakiya ausgehändigt worden.

Mit diesen Briefen hatte sich Wakiya an das Grab gesetzt. Er nahm das Taschenmesser zur Hand, das Alex ihm geschenkt hatte, und öffnete den dicken Brief. Der dünne Brief war ihm wichtiger, daher wollte er ihn erst an zweiter Stelle lesen. Ein Indianer erledigt erst das Unwichtige, um sich dann dem Wichtigen ganz widmen zu können.

Der dicke Brief kam von Queenie. Sie schrieb von den Mitschülern, von den strengen Ansprüchen, die an alle gestellt wurden.

Doch schrieb sie nicht von ihren Träumen und nicht von ihrer Sehnsucht und nicht, daß sie krank vor Heimweh war und nicht, wie die Gedanken sie schüttelten und daß sie noch immer nicht die gültige neue Gestalt dafür finden konnte. >Mir ist zumute wie im Fieber. Ich habe keine Ruhe. Aber ich werde nicht aufgeben.< Das war der letzte Satz. Wakiya wollte viel mehr über Tashina erfahren. Aber was Wakiya zu wissen wünschte, das konnte ihm nur Joe sagen, und Joe sprach nicht.

Wakiya öffnete den zweiten Brief mit ängstlicher Sorgfalt; er fürchtete ihn zu beschädigen, da er so dünn war. Dieser Brief kam aus einem fremden Reich, aus dem Reich der Mauern, der Gitter, der Wächter, der Befehle und des Gehorsams, aus dem Reich ohne Sonne. Er kam aus dem Reich der Gefangenen, das kein anderer betreten durfte. Joe King schrieb aus dem Kerker von New City an Wakiya-knaskiya.

>Byron Bighorn! Bitte Richter Crazy Eagle, die Besuchserlaubnis für dich zu beantragen. Ich habe Strafverschärfung und darf keine privaten Briefe schreiben, auch keine privaten Besuche erhalten. Aber ich muß dich als Zeugen für die Wiederaufnahme sprechen. Habe keinen Rechtsanwalt. Vertrete mein Recht selbst.

Joe King.< Wakiya drückte den Briefbogen, den Inya-he-yukan in der Hand gehabt hatte, an seine Wange und setzte sich in den Kerker, von dem er ausgeschlossen und doch nicht ausgeschlossen blieb. Seine Gedanken gingen durch Mauern hindurch und öffneten verschlossene Türen. Er saß bei Inya-he-yukan. Er fühlte mit ihm, wie der Blick, der über Himmel und Erde gehen wollte, an den Zellenwänden hinauf und hinunter irrte, wie die Ohren nicht die Stille des großen Landes in sich aufnahmen, sondern nur die Lautlosigkeit des Kerkers, nicht den Schrei eines Adlers oder das Wiehern eines Pferdes, sondern die Schritte der Wächter, das Zuschlagen der Tür, das Knacken der Schlösser und der Schlüssel. Er war dennoch nicht mehr verzagt, die ziellos treibende Angst fiel von ihm ab. Er hatte noch Furcht um Inya-he-yukan; das war ein reineres und ruhigeres Gefühl, das hinaufging bis zu der Ehrfurcht vor dem Mann, der nach Wakiyas Vorstellung um sein Leben kämpfte wie ein Büffel oder ein Bär, der verwundet in eine Wolfsmeute geraten ist.

Der Gefangene wollte Wakiya sehen. Es gab keine Zeit zu verlieren. Der Junge lief zu Bob und dieser gab ihm ein Pferd, so daß Wakiya sofort in die Agentursiedlung zu Richter Crazy Eagle reiten konnte. Der Blinde ließ sich den Brief vorlesen und das Briefformular sowie den amtlichen Stempel genau beschreiben; er befühlte das Papier und erkannte endlich alles als echt und gesetzlich an. Die charakteristische Schrift des Linkshänders King kannte Frau Margot. Der Blinde ließ sich noch einmal vorlesen und hatte dann seinen Entschluß gefaßt. Er machte sich mit seinem Wagen, den Runzelmann steuerte, mit dem Gefängniswagen und den beiden Polizisten noch am gleichen Abend auf den Weg nach New City.

Wakiya blieb zur Nacht wieder im Hause des Richters, und er dachte an die letzten Worte Crazy Eagles, den er in seiner Sprache Wambeli wakan nannte: >Wenn Joe einen solchen Brief schreiben darf, ist wahrscheinlich sein Leben unmittelbar in Gefahr, und der Gefängnisdirektor will nicht mit der Verweigerung eines Rechtsanspruchs die Verantwortung für den Tod eines Gefangenen auf sich nehmen, der eigentlich uns gehört und den er nur in Obhut hat.< Wakiya schlief wieder auf der Küchenbank und schaute durch das unverhängte Fenster hinaus auf die Prärie. Nebenan war es still. Frau Margot und David schlummerten ruhig. Wakiya aber wachte, nahm die Hand vor den Mund und betete zu Wakan-tanka, dem großen Geheimnis. Die Nacht lief dahin. Draußen verblaßten die Sterne wie an jedem Morgen, und die Amsel sang dem neuen Licht entgegen. Als Wakiya hörte, wie sich Frau Margot und David rührten, huschte er aus dem Hause hinaus, atmete die Herbstluft und wollte die Straße in Richtung New City hinunterschauen. Aber das Herz zog sich ihm zusammen vor Angst, daß von dort ein leerer Polizeiwagen zurückkehren würde und er seinen Wahlvater Inya-he-yukan nie mehr sehen und sprechen könnte.

Der Bub scheute sich zu spähen und blickte in der umgekehrten Richtung, aber seinen Ohren konnte er nicht verbieten zu horchen, und seinem Herzen konnte er nicht verbieten, rasch zu schlagen. David kam und wollte ihn zum Frühstück holen; Wakiya schüttelte nur den Kopf, und David ließ von ihm ab und lief in das Haus zurück. Frau Margot startete ihren Ford und fuhr zum Krankenhaus, und David mußte zum Schulbus eilen.

Wakiya blieb allein. Es ging schon gegen Mittag, und es wurde Nachmittag, als Wakiya noch immer stand und wartete.

Auf der Straße aus Richtung New City kamen die Geräusche zweier Wagen; Wakiya brauchte sich nicht danach umzusehen, er wußte, welche Wagen kamen. Sie hielten vor dem Gefängnis. Der Bub drehte sich nun doch um. Er erkannte Crazy Eagle, der ausstieg. Von dem Führersitz des Polizeiwagens sprang der große Polizist herab und lief nach hinten. Wakiya trat einen Schritt zurück, um besser beobachten zu können, ohne aufzufallen.

Er sah den großen, dann auch den kleinen Polizisten, und für einen Augenblick sah er etwas von seinem Wahlvater, der in das Gefängnis neben dem Gerichtshaus gebracht wurde. Die Hände waren ihm mit Handschellen auf den Rücken geschlossen.

Wakiya kehrte in das Haus zurück. David, der schon von der Schule zurückgekommen war, hatte zwei Tassen Milch bereit gestellt, auch Wakiya trank die seine aus, obgleich ihm Milch nicht schmeckte. Seine Gedanken waren nicht im Hause Crazy Eagles anwesend. Es überkam ihn die Gewißheit, daß er Inya-he-yukan werde sprechen dürfen. Wakiyas Nerven schwangen, und es wollten sich ihm alle Sinne versagen, als er wirklich gerufen wurde. Richter Crazy Eagle selbst holte den Bub.

»Nimm dich zusammen, sage das Wichtige und in allem die Wahrheit«, ermahnte er Wakiya, während die beiden zu dem kleinen Haus mit dem vergitterten Fenster gingen. »Du hast eine halbe Stunde Zeit, um mit Joe King zu sprechen. Euch die Sprecherlaubnis hier und für so kurze Zeit zu verschaffen, war alles, was ich erreichen konnte.«

Wakiya atmete einmal tief, als er den Gefängnisraum betrat. In dem kahlen Raum stand Joe King, an die Wand gelehnt. Er war mager und blaß. Sein Kopf war geschoren, ein breiter Klebeverband lief über den Schädel von einem Ohr zum andern; die Haut, die sich um die Backenknochen spannte, war blutunterlaufen. Die beiden Polizisten hatten sich rechts und links des Gefangenen postiert und auch im Raum die Handschellen nicht aufgeschlossen.

Crazy Eagle nahm das Wort. »Nun, Byron Bighorn, sage deinem Wahlvater, was du Mary und ihre Eltern hast miteinander sprechen hören.«

Wakiya blickte auf Inya-he-yukan, aber dieser sah ihn nicht an, sondern hielt die Lider gesenkt. Dem Buben krampfte sich die Kehle zusammen, seine Lippen waren trocken, doch er schluckte und begann klar zu sprechen. Alles, was er seinem Lehrer Ball diktiert hatte, wiederholte er deutlich und ohne Fehler.

Crazy Eagle hörte aufmerksam zu.

Als Wakiya geendet hatte, der Gefangene aber auch jetzt mit keinem Wort und keiner Miene reagierte, fragte der Richter: »Haben Sie verstanden?«

Joe nickte.

»Haben Sie noch Fragen?«

Joe schüttelte den Kopf.

»Haben Sie noch irgendwelche Wünsche?«

»Ja.« Die Stimme klang merkwürdig, als ob Joes Zunge sich nur schwer in Gang setze. »Ich will dem Buben etwas sagen.«

»Sprechen Sie.«

Joe löste sich von der Wand. Er stand frei.

»Wakiya-knaskiya Byron Bighorn, ich habe gelesen, was Mister Ball aufgeschrieben hat, und habe jetzt angehört, was du vorbringst. Du kannst trotzdem noch einmal selbst alles aufschreiben, was du Lehrer Ball erzählt und was du mir hier berichtet hast; du kannst das sogleich tun und mir das Selbstgeschriebene mitgeben, wenn Richter Crazy Eagle es erlaubt. Ich habe das Wiederaufnahmeverfahren beantragt, und ich bestehe darauf, auch wenn es nur damit endet, daß sie mich noch einmal und vielleicht noch ungerechter und härter verurteilen. Du mußt dich aber rüsten und du mußt tapfer sein, Wakiya, wenn du hören wirst, daß die Männer dir nicht glauben, weil du ein Kind bist, und wenn du mich dann zum letztenmal siehst. Sie werden mich heute noch in den Kerker zurückbringen. Wenn ich dort lange bleibe, werde ich sterben müssen. Ich sage dir, daß ich unschuldig sterbe. Nicht ich habe zuerst geschossen, ich habe mich nur gewehrt, als die andern mir meine Pferde gestohlen hatten und mich töten wollten. Das ist die Wahrheit. Ich habe gesprochen, hau. Willst du mich noch etwas fragen?«

»Ja, Inya-he-yukan. Wie denkst du über Mary Booth? Wie wird sie handeln - als Indianerin?«

»Wakiya, auch vor einem Indianer kann eine schwere Frage stehen: Die Eltern oder die Wahrheit? Beide sind ihm heilig.«

»Inya-he-yukan, wenn die Eltern selbst die Wahrheit sagen, stehen Gehorsam und Wahrheit nicht mehr gegeneinander, sondern fügen sich wieder zusammen. Unsere Ahnen haben geglaubt, daß der sterben soll, der lügt.«

»Du bist hart gegen den alten Isaac, Wakiya. Er hatte seinen Sohn auf seine eigene Weise gerichtet, aber er will das Andenken seines Sohnes nicht von anderen richten lassen.«

»So ist es, Inya-he-yukan, doch ist es ganz und gar falsch. - Darf ich dich noch etwas fragen?«

»Frage.«

»Du bist am Kopf verwundet. Wer hat dich angegriffen?«

Der Gefangene zögerte und schaute auf den blinden Richter. »Richter, erlauben Sie, daß ich die Frage Byron Bighorns beantworte?«

»Ja.«

Die Polizisten schienen mit der Entscheidung Crazy Eagles nicht einverstanden zu sein; sie verständigten sich mit unzufriedenen Blicken, die Wakiya nicht entgingen, und sie schauten auf die Uhr. Die halbe Stunde war jedoch noch lange nicht abgelaufen, und sie hatten keine Handhabe, die Entscheidung des Stammesrichters anzufechten.

»So werde ich dir berichten, Wakiya«, sagte Joe und ein Zucken um seine Mundwinkel verriet, daß auch er das Gehabe der Polizisten beobachtet hatte, »werde dir Dinge berichten, die du kennen mußt, wenn du einmal Rechtsanwalt werden willst, und Sie, Richter Crazy Eagle, sollen das alles auch erfahren, wenn Sie es noch nicht wissen.«

Der Gefangene wankte.

»Stehen Sie doch ruhig«, sagte der größere der beiden Polizisten.

Im Raum befand sich nur ein einziger Hocker; Crazy Eagle dachte an Joes Kopfverletzung, von der er gehört hatte; vielleicht litt dieser noch an den Nachwehen einer Gehirnerschütterung. Er erlaubte dem Häftling, sich zu setzen, aber Joe nahm diese Art der Erleichterung, die ihn vor dem Richter bevorzugt hätte, nicht an, sondern trat nur an die Wand zurück, um sich wieder anzulehnen. Seine Sprechweise blieb klar, er sprach langsam, aber er stockte nicht.

»Wakiya. Die Gefangenenwärter haben mich nicht angefaßt. Sie sind es nicht gewesen, nein. Ich war in Gemeinschaftshaft, zu Tischlerarbeiten eingeteilt.«

»Das war doch gut«, bemerkte Crazy Eagle.

Joe zuckte die Achseln. »Sie sprechen wie ein Gefängnisdirektor, Richter. Besondere Vergünstigung für einen rückfälligen Totschläger, Tramp und Gangster, der sich an regelmäßige Arbeit gewöhnen soll. So hieß es. In Wahrheit wollten sie mich fertigmachen.«

»Eine solche Behauptung müßten Sie allerdings erklären, King, denn was Sie sagen, ist für einen vernünftigen Menschen schwer einzusehen.«

»Für einen Menschen, der noch nie hinter Gittern war, ist es natürlich nicht zu verstehen, Richter Crazy Eagle. Es ging aber darum, daß ich nicht viel vom Tischlern verstehe und mir keiner die Arbeit erklärte. Es war leicht für die Mitgefangenen zu behaupten, daß ich Fehler mache, Material verderbe, die andern aufhalte und ihren Verdienst schmälere. Für mich als Indianer war das kein Spaß; ich habe aber endlich, und zwar auf einmal sehr rasch gelernt, nicht und mit nichts vor andern bestehen zu wollen, nur, weil die andern weiß sind und ich eine verdammte Rothaut. Die Burschen merkten, daß ich mir ihre Schimpfworte nur noch anhörte wie ein Gequake und Geheule; das brachte sie noch mehr auf. Der Foreman Bobby Badcock und zwei seiner Handlanger, mit denen er auch nachts die Zelle teilte, markierten Jähzorn und griffen mich an.«

»Was tat der Aufseher?«

»Er war hinausgegangen - wußte wohl, was kommen sollte; die stecken miteinander unter einer Decke.«

»Keine unbewiesenen Beschuldigungen, King. Dafür ist die Besuchserlaubnis nicht gegeben worden.«

»Ich richte mich danach. Kann ich weitersprechen?«

»Ja.«

»Drei Mithäftlinge fielen also über mich her, über den Nichtskönner, den Abtrünnigen, der so respektable Gangster wie den blondlockigen Jenny, Brandy Lex und Black and White auf den Weg zur Hölle geschickt hat. Die übrigen machten mit; Holz und Werkzeuge benutzten sie als Waffe - sie wollten mich totschlagen oder wenigstens verstümmeln, denn der >rothäutige Gangsterkiller< brauchte keine Kinder mehr zu zeugen.«

In Crazy Eagle stieg sichtbar der Zorn auf, sein Gesicht färbte sich dunkel. Es war ein Zorn, wie ihn der in festen Vorstellungen erzogene Mensch empfinden mußte. »Bei dem Lärm muß doch die Aufsicht aufmerksam geworden sein.«

»Lärm? Kein Lärm. Die Bande wurde nicht allzu laut, und ich schreie nicht um Hilfe; das wäre das letzte, was mir einfallen könnte. Ich hatte anderes zu tun. Aber als es zu lange dauerte, kam der mit den Schlüsseln doch zurück, tat verwundert, schalt und pfiff einen zweiten vom Dienst herbei.«

»Und dann?«

»Warteten beide, was aus der Sache herausspringen würde. Nun wird Joe King mit einem Dutzend durchschnittlicher Burschen noch immer fertig, wenn er die gleichen Waffen hat und ebenso wenig Rücksicht nimmt wie sie. Badcock ist eine Bombe, ein Catch-as-catch-can-Mann, aber ohne Einfälle; die Kerle hatten auch noch nie miteinander gearbeitet und waren nicht aufeinander eingespielt. Sie haben ein paar Denkzettel davongetragen, und ich konnte mich behaupten, bis die Wächter endlich energisch abpfiffen. Als Zeugen hielten sie dann gegen mich zusammen, einer wie der andere, auch die Aufseher. Zu allem hin behauptete unser foreman, ich habe die Gelegenheit benutzen und fliehen wollen, während der Wächter nicht da war. Ich hätte einen Nachschlüssel in der Hand gehabt -und auf einmal hatten sie alle diesen Nachschlüssel gesehen. Große Untersuchung, ein Dutzend Verhöre mit mir verstocktem Verbrecher. Sie fanden den Schlüssel nicht - da es ihn nicht gab. Der Direktor grimmig, die Wachen wütend; ich wurde täglich gefilzt. Badcock lachte, aber das verging ihm, und er konnte sich meine Antwort ins Haar schmieren. Die Verwaltung freilich gab mir allein die Schuld und verschärfte für den absolut Unverbesserlichen die Haft, dabei hatte ich in der gleichen Werkstatt weiterzuarbeiten. Nur des Nachts wurde ich isoliert, in einer Zelle mit Eisenplatten­Tür, mußte die Kleider abgeben, und das Licht blieb angeschaltet.«

»Aber nachts waren Sie jedenfalls sicher.«

»Wenigstens schloß sich diese Eisentür hinter mir.«

Wakiya bat, etwas sagen zu dürfen; Joe nickte ihm zu.

»Hast du keinen Freund, Inya-he-yukan?«

»Du hast recht, Wakiya, darauf kommt es an. Freund ist zuviel gesagt. Aber zweien der Burschen hatte es gefallen, wie ich mich mit Badcock schlug. Sie wechselten zu mir herüber.«

»Was waren das für Männer, Inya-he-yukan?«

»Männer? Boys waren das. Der eine war mit neunzehn zum erstenmal im Knast, Eifersuchtsdelikt. Ein paar aus unserer Arbeitsgruppe, auch er, standen kurz vor der Entlassung, darum faßte er etwas Mut. Wollte euch Grüße von mir bringen - hat er nicht gemacht, nein. Der andere war zwanzig, mit Bullen, Mauern, Gittern schon bestens bekannt. Verrückter Kerl, die Wut im Bauche, den Kopf voller Träume, schlug aus wie ein scheu gemachtes Pferd, gegen alles und alle. Ihn zog es an, daß ich ein Indianer bin, außerhalb der ihm verhaßten Welt stehend. War allerdings kein Verlaß auf ihn, obgleich er >president< einer Bande gewesen war. Ein wunderschöner Mensch, aber der letzte Funken Vernunft schien erloschen; er tat immer, was ihm gerade einfiel; selbst ich wurde nur halbwegs mit ihm fertig. Wir nannten ihn des Teufels Engel. Mir erschien er als Engel, als er mir einen Schlüssel zur Alarmanlage verschaffte.«

»Wozu das?«

»Wirst du gleich hören. Devils-angel also. Die übrigen waren engstirnig, Philister; das ist unter den Kriminellen nicht seltener als unter den Bürgern. Sie paßten sich Bobby an. Safety first. Wenn eine Horde erst einmal tyrannisiert ist, gehört viel dazu, sich aufzulehnen. Devils-angels riskierte es, sich zu mir zu bekennen; er hatte ja auch gelernt sich zu schlagen. Der kleine Eifersüchtige informierte mich; gegen ihn waren die andern nicht mißtrauisch geworden. Er steckte Devils-angel, was Badcock plante, und Devil flüsterte es mir zu. Master Bobby und zwei seiner Banditen wollten mich nachts aufhängen, das wäre als Selbstmord in die Akten gekommen. Bobby bastelte auch an einem Molotow-Cocktail; das Ding in meine Zelle werfen und weglaufen - war das einfachste. Die Untersuchung konnte dann ergebnislos verlaufen.«

»Inya-he-yukan! Wer hätte deine Zelle aufgeschlossen, um deine Feinde nachts an dich heranzulassen?«

»Hätte? Hat. Einer von denen, die nachts auf Wache waren - mit ihm war unser foreman im Bund.«

Crazy Eagle hob die Hand. »Stop, King. Sie zwingen mich, Ihnen die Sprecherlaubnis zu entziehen.«

»Keine unbewiesenen Beschuldigungen, Richter Crazy Eagle, nicht von meiner Seite, bitte auch nicht von der Ihren. Die Sache, von der ich spreche, ist zur disziplinarischen Untersuchung gegangen. Ich berichte nur das protokollierte Resultat. Darf ich?«

Der Richter selbst fühlte nach den Zeigern seiner Uhr. »Fassen Sie sich bitte kurz!«

»Die Kerkermeister konnten mich nicht leiden, weil sie nicht wußten, was sie aus mir machen sollten. Ich war für sie ein oddball, und noch dazu ein farbiger. Aber von den waschechten Kriminellen ließen sich einige der Aufseher einschüchtern und bestechen. So hatten sie ihre Ruhe und ein paar armselige Vorteile. Nachdem wir, wie jeden Abend, abgezählt worden waren, vergaß der mit den Schlüsseln, bei mir abzuschließen. Damit begann die zweite Runde.«

Wakiya blieb der Mund offenstehen. »Dann hättest du wirklich fliehen können.«

»Vielleicht. Früher habe ich dergleichen riskiert - ein oder zwei Wachen niedergeschlagen - mit Waffen, Mütze und Jacke weiter -die an den Toren verblüffen - das ist in einem so simplen Gefängnis wie dem von New City immer möglich. Alarm wird dann zu spät gegeben.«

»Warum hast du es nicht getan, Inya-he-yukan?«

»Weil ich ein Rancher und Familienvater geworden bin und Angst habe.«

»Angst? Das ist nicht wahr.« »Nein? Warum nicht?«

»Du, Inya-he-yukan, hast gesprochen: >Ich bleibe. Ich erspare es ihnen nicht.< Du bist ein Mann, der einmal spricht.«

»Du kennst mich, Wakiya, und hast meine Worte nicht vergessen.«

»Inya-he-yukan - erzähle weiter.«

Joe lachte vor sich hin, höhnisch, mit sich selbst nicht ganz unzufrieden. »Ich hatte gehorcht und sehr wohl bemerkt, daß der Schuft nicht abschloß. Habe gewartet, bis die Luft rein war, dann bin ich aus der Zelle gehuscht und habe die Alarmanlage ausgelöst -Großalarm gegeben.«

»Und dann.?«

»Spielte sich einiges ab. Die Meute der Wachmannschaften rannte und grölte - auch wer Tagdienst gehabt hatte, fuhr schnell und mißgelaunt aus dem Bett, der Direktor als erster - es war ein wunderbarer Radau. Natürlich dachten sie an mich. Mußte damit rechnen, daß sie mir die unverschlossene Tür als >Fluchtversuch< auslegten und mich gleich niederschossen; ihre Kanonen hatten sie bei Großalarm alle zur Hand, und wenn ich sie einem etwa wegschlagen wollte, konnten mir die andern wegen tätlichen Widerstandes die Kugel geben. Habe aber Glück gehabt. Unter denen, die hereinkamen, war der alte Rex, als boy mal Rinderhirt auf der Prärie gewesen und nicht bestechlich. Ich meldete sofort, in bester Haltung, und gestand, daß ich Alarm gegeben hatte - ich beschwerte mich, daß meine Zelle nicht verschlossen worden war. Die unseres Vorarbeiters und seiner zwei Kumpane war auch nicht verschlossen.« Joe machte eine Pause und atmete ein paarmal tief. »Die Sache hat eingefetzt. Dick und Devils-angel und ein paar andere Kumpels haben noch die ganze Nacht gelacht. Badcock war am nächsten Tag eine Handbreit kleiner. Rex hatte den Cocktail in seiner Zelle gefunden, und wenn der starke Bobby die Schuld auch seinen beiden Banditen in die Schuhe schob, ohne daß diese offen aufzumucken wagten, so war es mit der Einigkeit in seiner Gruppe daraufhin doch aus. Zwei Wächtern wurde der Prozeß gemacht. Da Badcocks Zelle auch offen gewesen war, konnten sie den Skandal nicht vermeiden. Für die Wachmannschaften und die ganze Gefängnisverwaltung bin ich jetzt der bestgehaßte Mann. Ich wurde wieder disziplinarisch bestraft, weil ich nicht berechtigt gewesen war, den Alarm auszulösen. Da ich nicht gestand, woher ich den Schlüssel gehabt habe, kamen neue nächtliche Verhöre über mich. Devil hat sich aber selbst gemeldet, um mir Ruhe zu verschaffen. Er ist gegen Disziplinarstrafen und Zusatzstrafen auch schon abgehärtet. Disziplinarstrafen sind Schnörkel des Gefängnislebens, ungefährlich. Die neue Gefahr für mich kam aus einer anderen Ecke - da mein angeschlagener Schädel mir noch zu schaffen machte, wollten sie mich nachträglich auf die Krankenstation bringen. Dort sind Gangster-Häftlinge als Ambulanzen eingesetzt. Bei einer solchen dritten Runde wäre ich zu Boden gegangen - „

»Ich habe mich über deinen Brief gefreut, Inya-he-yukan.«

Um Joes Mund leuchtete sein Lächeln auf.

»Unter denen mit den Schlüsseln ist doch einer gewesen, der nach der Alarmnacht einen Narren an mir gefressen hat, eben der alte Rex, Knurrhahn und selbst ein outsider, liebte Rodeos und die harten Burschen, hatte mich in New City gesehen und nannte mich >Indian-Bronc<. Er war zufrieden, daß ich nicht kippte und mich nicht krank meldete. Die Verwaltung stellt ihn gern an die unangenehmen Posten; er übernahm die Aufsicht in unserem Arbeitsraum. Rex ist streng und gerecht, den Profis unter den Kriminellen verhaßt - nicht so wie ich, denn er hat nie zu ihnen gehört, aber die halbe Strähne ist noch dick genug. Er hat es gewagt, wegen meines >Rechtsanwaltsbriefes< zum Direktor zu gehen, nachdem ich selbst nicht vorgelassen worden war. Devil war Tischler gewesen und leitete mich nun bei der Arbeit an. Mit uns Dreien wollte keiner mehr so schnell anbinden. Rex ist aber inzwischen wieder versetzt worden. Devils Versetzung haben sie in der Strafregistratur vergessen oder vergessen wollen, er bleibt noch bei mir.« Joes sarkastische Heiterkeit verflog. »Alles in allem, ich will es denen so schwer wie möglich machen. Doch über das Ende gibt es keinen Zweifel, wenn ich auch nur noch ein paar Wochen hinter Mauern bleibe - und das alles wegen eines Blumenstraußes, und weil ich vor den Geschworenen eine Aussage verweigerte.«

Wakiya trat einen Schritt vor. »Ich will für dich kämpfen, Inya-he-yukan, auch wenn ich nur ein Kind bin.«

»Du bist ein tapferer Bub.«

Die Zeit war abgelaufen.

»Darf ich Mutter Tashina von dir grüßen, Inya-he-yukan?« »Nein.«

»Darf ich zum Abschied meine Hand auf deine Schulter legen?« »Das ist nicht erlaubt.«

»Sag mir noch ein Wort, Inya-he-yukan, das mit mir geht, damit ich alles recht mache.«

»Wakiya, ich bin schon mehr als einmal gefangen gewesen, aber zum erstenmal in meinem Leben werde ich als Gefangener besucht. Noch nie ist jemand zu mir gekommen, weder Vater noch Schwester noch Frau. Du bist der erste, der mich in Fesseln sieht und mit mir spricht. Du kannst ruhigen Sinnes sein. Du bist gut. Leicht werden wir es beide nicht haben.«

Wakiya machte eine hilflose Bewegung. »Inya-he-yukan - „

Crazy Eagle strich dem Buben über das Haar. »Komm. Du kannst im Gerichtsgebäude aufschreiben, was du deinem Wahlvater berichtet hast, und ich werde ihn nach New City zurückbegleiten und deinen Schriftsatz mitnehmen.«

Wakiya schrie auf. »Wambeli-wakan - behalte Inya-he-yukan hier! Sie sollen ihn nicht morden.«

»Sei ruhig. Komm.« Der Richter sprach streng.

Der Bub schaute auf seinen Wahlvater, aber es war, als ob der Gefangene Wakiya-knaskiya nicht mehr bemerke.

Das Kind nahm dies als Tadel für seinen ungehemmten Ausbruch hin. Es ließ sich widerstandslos hinausführen.

Im Dienstzimmer des Richters schrieb Wakiya noch einmal selbst auf, was er gehört und was er zu sagen hatte; er schrieb es ohne zu zittern und gab Crazy Eagle das Schriftstück.

»Gut, Byron.«

Der Bub mußte im Zimmer bleiben, bis der Gefangene wieder in den Wagen gebracht und fortgefahren worden war. Als Wakiya die Straße betrat, war nicht einmal mehr das Geräusch des Gefangenenwagens und des Wagens von Crazy Eagle zu hören. Leer lag die Chaussee, still die Prärie, und in den Bäumen der Agentursiedlung zwitscherten die Vögel, als ob es kein menschliches Leid gebe.