Wakiya-knaskiya
Dreifach stand es geschrieben, in Listen, in Registern und in Karteien:
Byron Bighorn, geb. 24. April 195...
Das Papier, auf dem Byron Bighorns Geburt und sein Name verzeichnet wurden, war gutes Papier. Es hielt seine Farbe. Die Tinte war fest eingetrocknet, nicht verflossen, die Farbbänder waren neu gewesen und hatten sich deutlich abgedrückt. Die Listen, Register und die Karteien wurden in Häusern, unter Dächern, gegen Hitze, Kälte und Nässe geschützt aufbewahrt, und sie waren in Fächern geordnet, so daß jedermann jederzeit den Namen und das Datum finden konnte, so unwichtig diese auch scheinen mochten.
Wo aber Wind über gelbes Gras und bunte Erde wehte, wo Sonne und Mond über bloßliegendem Land leuchteten und der Himmel sich in der Gewalt der Sturzregen auf die Prärien niederwarf, wo die Blockhütte einsam und verloren stand, da riefen Vater und Mutter, Bruder und Schwester: Wakiya-knaskiya! Wilder Donner, Toller Donner, Geheimnisträchtiger Donner!. Sie riefen es leise mit klingenden Stimmen.
Als Wakiya-knaskiya vier Jahre alt geworden war, nahm ihn der Vater eines Morgens an die Hand und machte sich mit ihm auf einen weiten Weg. Der Vater war ein großgewachsener Mann, mager, müde und schweigsam, Sohn seines Landes. Seine Niethosen und das offene Hemd waren einmal blau gewesen, die sorgfältig aufgesetzten Flicken in Blau, Schwarz oder Grün gemustert, aber Arbeit hatte die Kleidung abgewetzt und Sonne die Farben weggefressen, und so konnte nicht viel mehr gesagt werden, als daß Hose und Hemd billig und alt, die Frau aber um ihren Mann besorgt war. Das wußte auch Wakiya-knaskiya, so klein er noch war. Die Haut des Vaters hatte das sonnenluftatmende Braun verloren; sie war stumpf geworden, grau wie von Nebel umzogen.
Der Tod saß diesem Mann im matten Blute. Auch das wußte Wakiya-knaskiya, obgleich es ihm niemand gesagt hatte. Aber Wakiya war mit Gräsern, Blüten, Bäumen und Tieren aufgewachsen, die wuchsen und starben, und war dem Leben wie dem Tod so nah wie ein Bruder.
Wakiya lief an der Hand des Vaters, still wie dieser, mit viel kleineren, darum viel eiligeren Schritten. Er lief mit bloßen Füßen über Grasbüschel, vertrocknete Kakteen, Steine und krustigen Boden. Seine Füße kannten die Erde. Sie waren nicht durch künstliche Sohlen davon getrennt. Der Wind blies ihm vor die Brust, die Sonne wärmte ihn im Rücken. Sein einziges Kleidungsstück war eine neue Hose, die an verkürzten Trägern unschierig weit um seinen schmächtigen Körper bis über seine Knie schaukelte; sie sollte die nächsten sechs Jahre überdauern. So hoffte die Mutter, und so fürchtete Wakiya; eben in diesem Punkte wollten sie beide sehr klug sein und vergaßen darum die unsichtbaren Spinnfäden des Lebens.
Der Vater ging mit Wakiya-knaskiya querfeldein. Einmal schwang er sich über einen Zaun und hob den Buben herüber. An einer Wasserlache am ausgetrockneten Bach standen Rinder. Der Vater machte halt, und Wakiya holte von den beiden Scheiben Schwarzbrot, die ihm die Mutter in die Hosentasche gesteckt hatte, eine hervor und verzehrte sie mit Bedacht. Der Vater aß nichts. Des Morgens in der Frühe, als die Sonne aufgegangen war und das Düster im kleinen Blockhaus nur mühsam und um ein geringes erhellt hatte, waren Eltern und Kinder um die Pfanne versammelt gewesen, in der die Mutter Mehlklümpchen in Fett briet, und alle hatten davon zu sich genommen.
Aber auch in dem Mehl lauerte die Krankheit auf den Vater, und so ging er unsicher hin und her zwischen Hunger und Verderben.
Es wurde hoher Mittag. Die Sonne stand im Scheitel ihrer Bahn, als der Vater und sein Kind ein Ziel erreichten. Der Vater blieb stehen und schaute ringsum, einmal langsam, noch einmal sehr langsam und endlich ein drittes Mal. Aber es war Wakiya nicht, als ob der Vater etwas suche, sondern als ob er etwas wiederfinde, und Wakiya folgte dem Blick, stumm und geduldig aufmerkend, wie er es in der Einsamkeit gelernt hatte.
Was es aber zu sehen gab, war nichts als das Uralte; wildes Gras, wilde Stachelblätter, rote und graue Erde, die noch keines Menschen Hand und kein scharfes Eisen aufgerissen und umgestülpt hatten, und über allem der Himmel, so blau wie eine Blüte. Es war still, nicht einmal der Wind flüsterte; die Lüfte trugen die ausgebreiteten Flügel eines Raubvogels.
Da sprach der Vater.
»Wakiya - schließe deine Augen und deine Ohren und schaue und horche auf die Geister und auf die Toten.«
Und das Kind schloß die Lider fest und hielt die kleinen Fäuste vor die Ohren, um die leere Prärie nicht mehr zu sehen und die Sprache ihrer Stille nicht mehr zu hören; es lauschte nur noch auf den Gesang des Vaters. Als der Vater ihm aber über das lange schwarze Haar strich und dann die Hand auf dem Kopf seines Kindes ruhen ließ, in einer sanften und sachten Art wie eine Mutter, öffnete Wakiya-knaskiya die Augen wieder und nahm die kleinen Fäuste von den Ohren, denn er brauchte keine Gewalt mehr, um zu vergessen, was er mit seinen äußeren Augen sah und mit seinen äußeren Ohren hörte; die inneren hatten sich geöffnet. Der Vater bewegte die Füße im Takt und hob beide Hände; er sang dabei mit seiner tiefen, dem Kinde so vertrauten Stimme, und Wakiya konnte alles schauen, was der Vater erschaute, nur undeutlicher und geheimnisvoller noch, denn er war erst vier Jahre alt.
Ein langer, schweigender Zug kam heran, stolze Männer, braunhäutig, hager, in prächtig gestickten Röcken aus Hirschleder, an den Nähten hingen die Skalphaare besiegter Feinde. Einer von ihnen trug Wapaha, die Krone aus Adlerfedern, ein zweiter die Haube mit Büffelhörnern und weißem Hermelin, ein dritter den Balg eines Falken. Dieser letzte hielt den langen Stab in der Hand, dessen gekrümmtes Ende von Fell umkleidet war und an dem Adlerfedern hingen. Die Hand des großen Kriegers pflanzte den Stab mitten zwischen wildes Gras und vertrocknete Kakteen in die Erde, die hier rot war, und der Vater sang:
»Das ist unser Land, solange Gras grünt, solange Schnee schmilzt, solange die Bäche von den weißen Bergen kommen und unsere Männer die heilige Pfeife nicht vergessen. Die Toten und die Büffel kommen wieder.«
Ein langer Zug hielt hinter den drei Kriegern, hinter dem ersten mit der Krone aus Adlerfedern, hinter dem zweiten mit dem Ehrenzeichen aus Büffelhörnern und Hermelin und hinter dem dritten mit dem Balg eines Falken als Schmuck und mit dem gekrümmten Stab, dem Wahrzeichen des Landesherrn, in der Hand. Mustang stand hinter Mustang; Zeltstangen waren über den Pferderücken gekreuzt und die Lasten angehängt. Rechts und links hielten Reiter, sattellos, nackt bis auf Gürtel und Schurz, Ketten aus Bärenkrallen über Nacken und Brust, Pfeile im Köcher, Messer in der Scheide, Speere in der Hand. Die Frauen auf den Lastpferden hielten die Augen gesenkt. Die Jungen auf den Ponys, die Mädchen, die hinter den Müttern auf den Pferderücken saßen, die Kinder in den Rutschen hinter den Mustangs, die Säuglinge in den Tragen rührten sich nicht. Nicht einmal die Hunde gaben einen Laut. Aber der Vater sang die Lieder, die die Männer und Frauen in den hirschledernen Kleidern einst gesungen hatten, und er bewegte die Füße in dem Takt, in dem sie ihren letzten Tanz zum Gebet getanzt hatten. Als der Vater verstummte, waren sie alle verschwunden, die schweigenden Häuptlinge und Krieger, die Frauen und Mädchen, die Kinder, die Mustangs und die Hunde. Aber da, wo die Erde rot war, war ein Stab eingerammt, mit Adlerfedern behängt, die gekrümmte Spitze mit Fell geziert. Der Vater führte Wakiya zu dem Stabe und sprach: »Es ist unser Land. Die Toten sind meine Väter und deine Väter. Da, wo du sie gesehen hast, sind sie gezogen, Krieger und Knaben, Frauen und Mädchen. Hier sind sie gezogen, und jenseits der Hügel haben sie gelagert. Es kamen aber die Geister, die das Geheimnis des Donnervogels gestohlen haben. Ihre Mazzawaken blitzten, ihre Mazzawaken krachten. Das Blut sickerte in die Erde, aus der das Gras wächst. Die Häuptlinge und Krieger starben, die Frauen und Mädchen starben; die Kinder schrien und versteckten sich. Da sagten die Geister freundliche Worte, aber ihre Zungen waren gespalten, und als die Kinder wieder hervorkamen, blitzten die Mazzawaken, krachten die Mazzawaken, und auch die Kinder starben.
Bei jenem Zuge, Wakiya, ist mein Großvater gewesen, der dein Urgroßvater war, und er starb. Bei jenem Zuge sind zwei seiner Brüder gewesen, Wakiya, und seine jüngere Schwester, und sie starben. Sie liegen miteinander und mit allen Toten in einer tiefen Grube; die Geister haben die Grube gegraben und unsere Toten dort hineingeworfen. Mein Vater aber ist ihren Händen entflohen, und als ich so alt war wie du, Wakiya, als ich vier Winter gesehen hatte, sagte mir mein Vater alles, und ich sage es dir, und du hast sie gesehen. Die Toten und die Büffel aber werden wiederkommen. Ja.«
Wakiya hatte auf die Worte des Vaters gelauscht. Er wußte, daß er solche Worte nur einmal in seinem Leben vernehmen würde, wie auch der Vater sie von seinem Vater nur einmal vernommen hatte und eben darum niemals vergaß. Wakiya versuchte, die Häuptlinge und Krieger, die Frauen, die Mädchen und die Kinder, die Mustangs und die Hunde noch einmal zu schauen, aber es gelang ihm nicht mehr, und auch der Stab verschwand, als sei er nicht gewesen. Das Bild aber haftete in Wakiyas Gedächtnis ein Leben lang wie eine Spur in weicher Erde, die mit der Erde zusammen hart wird, und das Bild war ihm vertraut, denn seit er geboren war, hatten ihn Vater und Mutter auf der Höhe eines jeden Sommers zu den Feiern und Tänzen mitgenommen, zu denen die Alten und Jungen sich kleideten, wie ihre Altvorderen sich gekleidet hatten. Dort hatte Wakiya auch einmal Geister gesehen. Sie sahen den Menschen ähnlich, aber ihre Haut war hell, sie waren unruhig und ohne Scheu und sprachen mit lauter Stimme ihre Geisterworte, die Wakiya fremd waren wie jene ganze Geisterwelt, die er nicht kannte. Wakiya-knaskiya hatte sich gefürchtet und war nicht von der Hand der Mutter gegangen. Jetzt wußte er, daß die Geister Menschen töteten.
Die Mazzawaken hatten geblitzt und gekracht; die Geister hatten das Geheimnis des Donnervogels gestohlen. Auch der Vater besaß ein Mazzawaken. Daheim in der kleinen dunklen Blockhütte hing es, von zwei Haken gehalten, an der Wand; die Kinder durften es nicht berühren. Hin und wieder ging der Vater damit weg; dann brachte er einen Fasan nach Hause, und es gab zu essen. Mazzawaken waren gut, aber nicht in der Hand der Geister.
Der Vater berührte Wakiya-knaskiya leicht an der Schulter und machte sich mit dem Kind auf den Heimweg. Zweimal zuckte Wakiya und erschrak dabei, denn seine Glieder hatten sich bewegt, ohne daß er es wußte und wollte; seine dünnen Beine schlenkerten sich selbst, als ob sie nicht mehr zu ihm gehörten, und er stolperte. Der Vater schaute forschend auf den kleinen Buben und trug ihn ein Stück weit. An der Wasserlache im ausgetrockneten Bachbett machten die beiden wieder halt, und Wakiya aß die zweite Scheibe Brot auf. Aber sie schmeckte ihm nicht, und die Brocken würgten ihn im Halse.
»Wenn du mir noch etwas sagen willst, Wakiya-knaskiya, so sage es mir.«
»Vater, wann kommen die Toten und die Büffel wieder?«
»Die Geheimnisse sind verborgen, Wakiya, und du kannst sie nicht öffnen, es sei denn, sie öffnen sich dir selbst. Ich bin kein Mann der Geheimnisse. Die Toten sind gekommen, und sie sind gegangen; sie haben nicht zu uns gesprochen. Sie werden aber wiederkehren, und das Brüllen der Büffel wird über die Wiesen schallen, nachdem der Alte gebetet hat. Über eine große Sonne hinweg, wenn das Gras wiederum gelb ist und die Erde sich wieder vor Durst aufreißt, dann komme an mein Grab, und dann nimm die Mutter an der Hand, und führe sie zu dem Alten, der stärker ist als ich. Er wird beten, der Mond wird am schwarzen Himmel hervorkommen, und die Toten und die Büffel kehren wieder.«
»Du auch, Vater?«
»Ja, auch ich, Wakiya-knaskiya.«
Die beiden erhoben sich und liefen schnell, denn es wollte schon dämmern, und der Weg war noch weit. Als sie endlich heimkamen, wanderte der Mond schon am Himmel, und das kleine Blockhaus lag wie ein schwarzer Klotz in der Wiese vor Hang und Gesträuch im Nachtschatten. Die Hunde rührten sich. Wakiya-knaskiya schaute noch einmal nach dem runden Gestirn am Himmel, dessen Blässe leuchten konnte; es wurde von nun an sein Geheimnis und sein Bruder, dem er vertraute.
Der Bub legte sich auf Bretter und Decken zu der Mutter und zu den beiden kleinen Geschwistern, und es überkam ihn eine neue Furcht, weil seine Glieder wieder zuckten, ohne daß er es wollte. Aber die Mutter schloß ihn in die Arme und drückte ihn an sich, so daß seine Angst verging.
Wakiya-knaskiya schlief ein.
Als Wakiya den fünften Winter durchlebt hatte, als der Schnee über dem Grab des Vaters geschmolzen, als die Blumen darauf erblüht und wieder verwelkt waren, als das Gras wiederum gelb und die Erde staubig und durstig war, nahm Wakiya-knaskiya seine Mutter an der Hand, um mit ihr zu dem Alten zu gehen, wie der Vater gesagt hatte.
Die Mutter war klein von Gestalt, aufgebläht von Mehl und Fett, und seit der Vater gestorben war, zogen sich ihr die Falten mürrisch um die Mundwinkel; ihre Zähne verbissen sich in die Lippen, so daß nur selten mehr ein Wort daraus hervorkam. Aber in der Frühe jenes Morgens, sobald Mutter und Kinder alle erwacht waren, hatte Wakiya-knaskiya die Wangen und die Stirn der Mutter gestreichelt, und sie sah seine Augen in dem mageren und blassen Gesicht leuchten. Da lächelte sie noch einmal und erkannte in ihm den Vater wieder, denn Wakiya glich ihm. Sie ahnte aber auch und wußte doch nicht woher, daß Wakiya-knaskiya eines Tages noch mehr sein könnte, als der Vater gewesen war. Sie herzte das Kind, mit dem sie am meisten Sorgen hatte, gab allen das Frühstück aus Mehl und Fett in der Pfanne und machte sich mit Wakiya-knaskiya auf einen Weg, der noch weiter war als jener, den der Vater sein Kind ein Jahr zuvor geführt hatte. Der kleine Bruder, der vier Winter gesehen hatte, und die kleine Schwester blieben allein mit den Hunden zurück. Was sollte ihnen geschehen? Sie lebten in den weiten Wiesen, auf denen es im hohen Sommer kein reißendes Wasser und nirgendwo wilde Tiere oder tiefe Abgründe gab.
Die Mutter hatte ihre Bluse und ihren Rock gewaschen, ehe dieser Tag herangekommen war, und das schwarze lange Haar am Morgen sorgfältig gekämmt und in Zöpfe geflochten. So ging sie mit Wakiya-knaskiya über das einsame Land, ein paar Scheiben Brot und einige Beeren in der Tasche.
Wakiya war munter und fühlte sich gesund; er dachte an diesem Morgen nicht an das Leiden, das ihn vor einem Jahr befallen hatte. Seine Schritte waren nun schon größer und die Muskeln seines schmächtigen Körpers kräftiger geworden. Er war glücklich. Die Freude strahlte in ihm auf wie das Licht am Morgen; nichts stand ihr entgegen, und er koste damit die Gräser, die bald wieder die Nahrung der Büffel sein sollten; er fühlte unter den nackten Füßen die Erde, deren Herz wieder unter den Hufschlägen der Mustangs klopfen würde; er sog die Luft ein, die er künftig nach dem Gebet wieder zusammen mit den großen Kriegern und Häuptlingen der Prärie atmen wollte. Die Geister aber mußten verschwinden, als wären sie nie gewesen. Die überwältigende Erwartung des künftigen Lebens trieb ihm alle seine Säfte und Kräfte zu schnellerem Lauf; Wakiya war ganz erfüllt. Denn in der kommenden Nacht würde der Alte beten, und obgleich sich das bleich schimmernde runde Gestirn in diesen Nächten zu verstecken pflegte, würde es am schwarzen Himmel hervorkommen. Dann kehrte der Vater wieder, und mit ihm kamen alle die Toten im hirschledernen Gewand, mit Adlerfedern, Büffelhörnern und Hermelin und mit dem Stabe ihrer Herrschaft über das weite Land. Hin und wieder rann es Wakiya wie Flammen durch die Glieder, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er glaubte schon nicht die Hand der Mutter, sondern die des wiedergekehrten Vaters gefaßt zu haben, aber er besann sich. Noch war es Tag. Erst wenn es finster wurde und der erste Stern flimmerte, würde der Alte zu beten beginnen, und dann erst kehrten die Toten zurück.
Wakiya erinnerte sich an einiges aus den Liedern, die der Vater vor einem Jahr gesungen hatte, und sang leise vor sich hin, obgleich ihm der Atem beim Laufen und Singen ausgehen wollte. Die Mutter horchte auf, schaute auf das Kind, blieb stehen und wischte ihm den Schweiß von der Stirn.
Wakiya verstummte. Beim Laufen durfte man nicht singen, das war unrecht. Wer sang, mußte bei sich selbst und seinem Lied sein und nicht mit den Füßen unstet über Gras und Erde fegen.
Wakiya wurde noch blasser, und seine großen Augen wurden noch größer. Die Mutter stieg mit ihm einen hohen steilen Hang hinauf. Gras und Erde waren aufgerissen, und weiße Erdhänge drangen hervor, Felsen gleich, so weiß wie Wolken. Wakiya-knaskiya nahm die Hand vor den Mund und grüßte sie stumm und ehrfürchtig, denn sie waren das Grabmal eines großen Häuptlings, das nicht von Menschenhand geschaffen war. Hier lag er verborgen, und die Geister konnten ihn nicht ausgraben, und sie konnten den Toten nicht mit ihren schamlosen Stimmen stören; die Laute ihrer Geistersprache fanden nicht zu seinem Ohr. Doch wenn sich die Sonne dieses Tages senkte und der Alte seine Hände zum Himmel heben würde, dann sollte mit dem Monde auch der große Häuptling auferstehen.
Wakiya lief mit der Mutter zwischen den weißen Felsen abwärts einem fremden Tale zu. Nadelzweige kratzten ihn, Steine drückten sich in seine Fußsohlen, vor seinen Augen schimmerte die Sonne, rund wie ein Schild, rot wie Blut. Als Wakiya in das fremde Tal hinunterblicken konnte, öffnete sich ihm vor Schrecken der Mund, ohne einen Ton hervorzubringen, und Wakiya verlor den Halt. Die Mutter mußte hastig zugreifen, damit er nicht stürzte. Im Tal unten wand sich eine endlose, plattgetretene Schlange: der Weg der Geister.
Die Geister hatten den Weg in das Tal des Alten gefunden. Was würde nun geschehen? Wakiya blickte nicht mehr hinunter, sondern nur noch Schritt für Schritt vor sich hin. Aber er dachte an die platte Schlange ohne Anfang und Ende. Sie war tot, sie war grau, aber sie war nicht Erde noch Stein, noch Haut. Sie atmete nicht, sie trug weder Gräser noch Blumen, sie war weder kantig noch schroff. Glatt war sie, leblos, fremd. Welcher Fuß konnte sie überschreiten? Unberührt, voller Tücke wand sie sich durch das Tal und trennte die Toten von dem Alten. Gab es ein Gebet, das den Weg der feindlichen Geister überschreiten konnte?
Wakiyas Lippen zitterten, doch er sagte nichts zu der Mutter. Sie würde wohl alles wissen. Ruhig und unbeirrt stieg sie den Hang weiter abwärts, hin zu den grünen Füßen der weißen Felsen.
Wakiya konnte seine Augen nicht mehr abwenden, sie mußten jetzt die platte Schlange ansehen. Die Mutter führte ihn geradewegs darauf zu. Sie trat darauf, und Wakiya folgte ihr mit seinen bloßen Füßen. Er spürte das Harte, Glatte, Fremde und zog die Fußsohlen und die Zehen zusammen, um sich zu schützen und abzuschließen vor dem feindlichen Geheimnis. Aber während er die breite leblose Schlange mit heiler Haut überschritt, wurde ihm besser zumute. Denn was er vermochte, das vermochten auch - Nein, dessen war er nicht gewiß. Für Tote und für Lebende galten andere Gesetze.
Wakiya-knaskiya und seine Mutter ließen die Banngrenze der Geister hinter sich. Sie lag hinter ihrem Rücken, und sie stiegen wieder aufwärts, und Wakiya konnte den Blick zur Höhe heben, ohne das Unbekannte und Verwirrende zu sehen. Was vor ihm lag, war vertraut: ein kleines Blockhaus aus roh behauenen Stämmen, ohne Fenster, nur mit einer Türöffnung, nacktes Holz, sich lösende alte Rinden, Moder, schüchternes Moos am Dach und über allem der Abschied der Sonne, die wieder am gilbenden Himmel hing wie der runde Schild eines Kriegers an der Zeltwand. Wakiya-knaskiya klammerte sich an die Hand der Mutter, denn aus der dunklen Öffnung des Hauses trat der Alte heraus.
Er war groß, größer noch, als der Vater gewesen war. Was seine hagere Gestalt umkleidete, war ein hirschlederner Rock, hirschlederne Leggins und Mokassins und ein langer Schurz, gestickt mit den geschmeidigen Borsten des Stachelschweins, deren einige mit roter Erde, einige mit gelber Erde und einige mit dem Blau der Yuccakerne gefärbt waren. Das Gestickte zeigte drei Ecken, auf der Brust aber acht Zacken, und Wakiya-knaskiya erkannte an den drei Ecken das Zeichen des Tipi, Mutterschoß, Heim und Heimat, und an den acht Zacken der Sterne die acht Winde, die überallher vom Himmel über die Erde kamen. Das waren die Zeichen, die auch Wakiya heilig hielt, und der Vater hatte ihn noch gelehrt, sie zu verstehen. Die Mutter hatte haltgemacht. Wakiya drückte sich an ihre Hüfte, und die beiden warteten miteinander, ob der Alte zu sprechen beginnen würde. Sein Gesicht war ausgemergelt wie der Stein von Wasser in vielen Jahren, sein Haar war dünn und grau geworden wie das Gras im langen Winter, seine Arme glichen Zweigen eines gestürzten Stammes. Der Alte hatte keine Augen mehr.
Aber mit den leicht erhobenen, in der Luft tastenden Händen kam er geradewegs auf Wakiya-knaskiya zu, und als ob er das Kind am tiefen Atem erlauscht und gefunden habe, beugte er sich herab und legte die Hand auf Wakiyas Haar, so sacht wie einst der Vater.
»Du bist zu mir gekommen, Wakiya-knaskiya, wie dein Vater mir vor einer großen Sonne gelobte. Du bist sein Sohn und sollst alles finden, was ich dir zu weisen vermag, und du sollst alles schauen, was sich uns in dieser Nacht zeigen will. Dein Vater ist von dir gegangen, und auch ich werde bald gehen; die Stimmen der Väter rufen mich. Aber ich will dich vorher auf den Weg schicken, die Augen zu suchen, die ich verloren habe.«
Wakiya-knaskiya lauschte auf die Stimme des Alten, die sanft und dunkel klang wie das Rauschen der heiligen Winde, wenn sie dem Lande wohltun wollten und den erquickenden Regen brachten.
»Ich will aber gehen und die Augen suchen, die du verloren hast, mein alter großer Vater.«
Der Alte strich dem Kind über das lange schwarze Haar und neigte den Kopf tiefer.
»Du wirst ein Bruder der Geheimnisse, Wakiya-knaskiya.«
Da der Alte nun voranging, folgten ihm die Mutter und Wakiya zu der Höhe über dem Haus. Der Himmel hatte seinen Sonnenschild abgehängt.
Es wurde so dunkel, als ob das Innere der Erde hervorgekommen sei und sich mit seiner Finsternis über alles Land gewölbt habe. Sterne blinkten auf, aber die Winde erhoben sich; sie stürmten und jagten Wolken wie ein Rudel reißender Wölfe, das die Sterne fraß.
Es war ein dunstiger, heißer Tag gewesen, nun war es wilde Nacht. Auf der Höhe über dem Haus standen die drei Menschen, der Alte, die Mutter und das Kind. Der Alte hatte eine heilige Pfeife mit sich getragen, eine lange Pfeife, mit Hermelin und mit den Federn des Adlers geziert und geweiht. Er bot sie dem schwarzen Himmel, der staubenden Erde und den rauschenden Winden, ehrfürchtig und stolz sich neigend, wie es einem Häuptling und wissenden Manne geziemte. Dann hob er die Hände und betete zu dem Großen Geheimnis, daß der Mond in der mondlosen Nacht aufleuchten und die Toten und die Büffel aus den Gräbern unter den Wurzeln hervorkommen und die ihnen geraubte Erde wieder in Besitz nehmen möchte. Er hielt die mageren Hände in die Höhe, mit großer Geduld und ohne müde zu werden, eine Stunde um die andere, und obgleich er seine Augen verloren hatte, bog er den Nacken nach hinten, als könne er aus der Nacht seiner Augen das wahre Finstere noch schauen, und bot das Gesicht dem Himmel, der lichtlos über ihm drohte.
Wakiya-knaskiya stand neben dem Alten, und als das Kind nicht mehr zu stehen vermochte, zog die Mutter es zu sich heran und griff ihm unter die Schultern, so daß es halb in ihren Armen hing. Die Winde rauschten und pfiffen, die Krüppelbäume ächzten, und die Wolken jagten wie Wölfe vor den Sternen.
Aber der Mond kam nicht.
Der Vater kam nicht zu Wakiya-knaskiya, seinem Sohn, wie er doch versprochen hatte.
Die Toten standen nicht auf.
Die Büffel vermoderten unter den Wurzeln und kamen nicht mehr hervor.
Hohl und leer pfiffen die Winde, als ob sie nicht mehr heilig seien.
Die Arme des Alten sanken herunter. Sein Körper erzitterte wie der Baum, den der Sturm zu brechen beginnt. Er beugte sich hinab zu dem Kinde und legte sein Gesicht an das seine. Wakiya spürte die Tränen aus verlorenen Augen.
Das Kind schrie auf, denn die Wolken waren zerrissen, und unter den Sternen wand sich tief unten im Tal die platte, helle, tückische Schlange, das Tier der bösen Geister. Die Geister hatten gesiegt.
Tot blieb Wakiyas Vater im Grabe.
Tot blieben die Männer und Frauen im hirschledernen Gewand. Tot blieben die Büffel.
Zum Tode neigte sich der Alte, den die Mutter und das Kind wieder zu seiner Hütte führten.
»Ich bin zu schwach geworden, Wakiya.«
»Warst du stärker - ehedem - alter Vater?«
»Ich war stärker - stärker konnte ich glauben, als die Männer noch um mich waren - klarer konnte ich träumen, als ich noch jung war - ich habe den Mond gesehen, in der mondlosen Nacht - ich habe den Mond gesehen - Wakiya, vielleicht ist es alles ein Trug gewesen, als ich jung war, so wie auch nun, da ich alt geworden bin.«
Das verstand Wakiya-knaskiya nicht, aber auch diese Worte blieben in seinem Gedächtnis geschrieben wie die Fährte, die mit der weichen Erde zusammen hart wird.
»Alter Vater, wo kann ich deine Augen suchen, die du verloren hast?«
»Sie werden dir begegnen, Wakiya-knaskiya, und du wirst sie erkennen.«
Der Alte neigte sich vor dem Tode und widerstand ihm nicht mehr. Wakiya-knaskiya aber lag nach jener Nacht in der düsteren Hütte daheim, und es war dunkel und leer um ihn, denn sein künftiges Leben war vor ihm dahingeschwunden, und er hatte keine Freude mehr. Sein Körper krampfte sich zusammen. Eine ihm fremde Macht schüttelte ihn, so daß er nicht mehr zu tun vermochte, was er wollte. Seine Glieder zuckten, sein Kopf schlug auf die Decken, und sein Mund stand offen.
Stumm stand die Mutter bei ihrem Kind und wartete, bis der Geist es wieder loslassen würde.
Als Wakiya ruhig werden konnte, war er völlig erschöpft. Bleich war sein kleines Gesicht wie das eines Toten. Die Mutter koste ihn, aber sie weinte nicht. Ihre Zähne bissen noch fester auf die Lippen, und die mürrischen Falten um ihren Mund waren noch tiefer geworden. Seit jener Nacht ging sie nicht mehr zum Grab ihres Mannes.
»Er hat uns betrogen und ganz verlassen, Wakiya.«
Wakiya-knaskiya sagte darauf nichts. Wie hätte er der Mutter widersprechen dürfen! Aber seine Gedanken suchten jeden Tag Schritt um Schritt auf der Fährte des Gedächtnisses, und er wartete darauf, daß die verlorenen Augen ihm begegnen würden.
Er wußte nun auch, daß ein Geist von ihm Besitz genommen hatte und ihn zerrte und schüttelte, sooft es ihm beliebte. Wakiya-knaskiya konnte nichts dawider tun. Die Mutter blieb immer geduldig mit dem Kind, das ihr die meisten Sorgen machte, aber sie wollte in seinen Zügen nicht mehr den Vater wiedererkennen, und die jüngeren Geschwister erschraken, und es graute ihnen, wenn der Geist der Krankheit über Wakiya kam. Darum spielte Wakiya nur noch selten mit Bruder und Schwester. Wenn aber die Kleinen des Morgens noch schlummerten oder des Abends schon eingeschlummert waren oder wenn sie zur Hitzezeit des Mittags in der schattig-dunklen Hütte auf den alten Decken ausruhten, dann schlich sich Wakiya-knaskiya zu dem Platz bei der alten Kiefer, wo die Kinder sich unter den verholzten Wurzeln eine kleine Höhlung gegraben hatten, eine Höhlung, in der Steinchen lagen, leuchtende Steinchen in vielen Farben - eine Höhlung, in der Tiere standen, Tiere aus Lehm geformt - eine Höhlung, in der sie einen winzig kleinen roten Wagen mit vier lose gewordenen Rädchen aufgestellt hatten. Den Wagen hatte die Mutter eines Tages mitgebracht, als sie Mehl und Brot einkaufen gegangen war; sie hatte ihn am Straßenrand gefunden.
»Das ist ein Auto«, hatte sie erklärt.
Wakiya-knaskiya saß vor dem Auto und konnte seine Rätsel nicht lösen.
»Damit fahren die Geister auf der Straße, Wakiya, und die Unsern tun es auch schon.«
»Was ist das, Mutter, eine Straße?«
»Du hast sie doch gesehen, Wakiya, als wir zu dem Alten gingen.«
Wakiya schaute die Mutter lange an. Er hatte noch nicht verstanden. Aber auf einmal wußte er etwas, denn auf den Spuren seiner Erinnerung fand er das Bild der platten, leblosen, tückischen Schlange. Er nahm das Spielzeugauto in die Hand und wunderte sich voll Mißtrauen.
»Die, mit denen sie auf der Straße fahren, sind nicht so klein, Wakiya, sie sind groß.«
Das begriff der Bub. Vorsichtig stellte er das Spielzeugauto wieder an seinen alten Platz in der Höhlung und wischte seine Hand an Gras und Erde ab. Von dem Gift der platten Schlange sollte nichts an seinen Händen kleben. Er fürchtete nicht, daß dieses Gift der Mutter schaden könnte oder den kleinen Geschwistern. Es fiel ihm gar nicht ein, daß es ihnen schaden könnte. Sie waren andere Menschen als Wakiya, und die Geister verfolgten sie nicht.
Es ging auf den Sommer zu, und das war der letzte Sommer, in dem Wakiya-knaskiya noch nicht zur Schule gehen mußte. Er fürchtete sich vor der Schule. Dort waren Kinder, die sich vor ihm entsetzen würden, wenn sein Geist ihn zerrte und schüttelte. Dort wurde die fremde Geistersprache gesprochen, und Wakiya-knaskiya konnte die lauten Worte nicht verstehen. Die Geister töteten die Kinder nicht mehr, aber sie schlugen sie mit einem großen Stock, groß wie der Ast eines Kiefernbaumes, und verhöhnten sie. Die Mutter wußte es. Drei Sommer und drei Winter war sie als Kind in dem Hause der Geister gewesen. Zwölf Wörter der fremden Sprache hatte sie behalten. Sie brauchte auch diese Wörter nicht. Wenn sie einkaufen ging, legte sie Brot, Mehl und Fett in den Korb, und sie legte das Geld hin, das sie sich vorher bei der Wohlfahrtsfrau geholt hatte. Etwas Geld bekam sie wieder, und dann lief sie stundenweit zurück zur Hütte.
»Wakiya, geh Wasser holen!«
Der Junge schrak aus seinen bösen Träumen auf und griff nach dem Eimer, den die Mutter ihm hinhielt. Mit dem Eimer in der Hand eilte er im Trab über die trockenen Wiesen. Er fing bald an zu rennen, obgleich der Eimer recht groß für ihn war und ihn beim Laufen hinderte. Aber die Wasserstelle war weit entfernt, und Wakiya hatte Angst, daß ihn sein Geist verfolgte und ihn auf dem Weg einholen und niederwerfen und zerren würde. Darum rannte er, und der Eimer klapperte und quietschte.
Er war müde, als er bei der Wasserstelle anlangte. Es war fauliges Wasser im sandigen Bachbett. Vorsichtig ließ es Wakiya in den Eimer einlaufen, so daß nicht zu viel Schmutz mit hereinkam. Es gab bessere Wasserstellen, und weit, weit weg, irgendwo, gab es Brunnen. Aber dorthin konnte Wakiya nicht laufen; dazu war er zu schwach. Er saß neben seinem gefüllten Eimer. Die Mücken tanzten und stachen. Das war er gewohnt; er kümmerte sich nicht darum. Aber er war wirklich sehr müde und ganz allein mit dem schwer gewordenen Eimer. Das war auch eines der Dinge, die Wakiya fürchtete: einen Eimer voll Wasser den langen Weg heim schleppen. Er hatte der Mutter noch nie gesagt, wie schwer ihm das wurde. Sie hatte ohnedem Kummer genug mit Wakiya-knaskiya, der nicht leben und nicht sterben konnte.
Der kleine Bub war durstig und trank ein paar Schluck. Er schaute den spielenden Mücken zu und schaute auf den Wasserspiegel, der das Sonnenlicht zurückflimmerte. Er war wie ein großes Auge.
Irgendwann einmal konnte Wakiya-knaskiya den verlorenen Augen begegnen, und er würde sie erkennen. Vielleicht waren der Mond und die Büffel nicht hervorgekommen, weil der Alte seine Augen verloren hatte.
Aber eines Tages würde Wakiya die verlorenen Augen finden. Er wartete immer darauf. Er wartete darauf, wenn er des Abends nach dem Mond schaute, der sein Bruder geblieben war; er wartete darauf, wenn sich Blütenblätter unter der Sonne öffneten wie Augenlider. Er wartete in dieser Stunde darauf, wenn er das Wasser über braunem Moder mit der Sonne spielen sah.
Am anderen Ufer des träge und seicht gewordenen Baches tauchte ein Mann auf, oder war es noch ein junger Bursche? Seine Haut war braun, sein Haar schwarz, aber kurz geschnitten. Er war groß und sehr schlank, ganz nackt bis auf Gürtel und Schurz. In einer Scheide am Gürtel steckte ein Messer; der Griff schaute heraus. Wakiya starrte auf diesen Griff, er wußte selbst nicht, warum, aber dieser Griff war anders als andere Messergriffe, die Wakiya kannte, und so mußte auch das Messer ein anderes Messer sein; es setzte nicht breit an, sondern schmal, fast so schlank wie ein Finger.
Wakiya schaute nur und sagte nichts; und der Fremde sagte auch nichts. Wakiya wartete, ob dies einer der jungen Burschen sei, die er mit dem Vater zusammen bei dem schweigenden Zuge der Toten gesehen hatte. Der Gürtel und der lederne Schurz des Fremden waren mit den geschmeidigen langen Borsten des Stachelschweins bestickt, in Rot, Gelb und Blau, wie es dem Sohn aus einem Häuptlingstipi zukam.
Wakiya-knaskiya hatte Alte, Männer, Burschen in hirschledernen Gewändern beim Tanze gesehen, aber einem solchen Mann wie diesem glaubte er noch nie begegnet zu sein, außer bei dem Liede des Vaters. Der Fremde warf sich in den Sand und trank durstig in langen Zügen das schlechte Wasser. Dabei wurde sich Wakiya wieder bewußt, daß die Haare des Burschen kurz geschnitten waren. Ein Feind mußte ihm die langen schwarzen Haare geraubt haben, so, wie man einem besiegten Manne den Skalp nahm. Seit er sich von dem großen Zuge der Toten entfernt hatte, mußte ihm Übles geschehen sein. Der braunhäutige Bursche schien sich satt getrunken zu haben. Er glitt wieder auf; an seinem Körper haftete noch etwas Sand. Ehe er irgendeine weitere Bewegung machte, schaute er auf Wakiya.
Wakiya-knaskiya holte ein einziges Mal tief Atem, dann begann sein Kindergesicht zu leuchten; von der Stirn breitete sich das Leuchten über Wangen und Mund wie fließendes Gold.
Wakiya-knaskiya hatte die verlorenen Augen gefunden. Schwarz schimmerten sie zu ihm herüber, groß, wie Dunkelheit ohne Ende, in die unbekanntes Licht einstrahlt. Wakiya lächelte, denn er war glücklich.
Der Fremde schaute ihn an. Die merkwürdigen Augen trafen sich mit denen Wakiyas. Der Fremde kam über den Bach herüber; gleichgültig lief er mit seinen nackten Füßen durch Wasser und Schlamm. Er blieb bei Wakiya stehen und strich ihm über das lange Haar, das noch kein Feind geschoren hatte. Dann griff er nach dem Eimer.
»Wo steht das Tipi deiner Mutter?«
Wakiya hatte die Stimme des Fremden in sich aufgenommen; dunkel war sie wie das Rauschen des Windes, der dem dürren Lande wohltun und Regen herbeiwehen will; Wakiya kannte sie. Er nahm den Fremden vertrauend an der Hand und führte ihn, und jetzt lächelte auch dieser.
Sie gingen ein Stück miteinander, ohne ein Wort zu sagen. Dann nahm der Fremde Wakiya auf, mit einem einzigen Griff, und Wakiya schlang die Arme um den Nacken des Unbekannten. Keine Angst fühlte Wakiya; alle Furcht fiel von ihm ab, wie welke Blätter vom Baum fallen. Er dachte nicht an die tückische Schlange, nicht an die finster gebliebene Nacht, nicht an seinen Geist, der ihn verfolgen und niederwerfen konnte, nicht an die Kinder, die in der Schule schreien und vor Wakiya davonlaufen würden, nicht an den großen Stock, mit dem die Geister Kinder schlagen konnten.
Wakiya hatte die verlorenen Augen gefunden.
Er war geborgen.
Wie aber der Fremde gekommen war, so ging er wieder. Er setzte Wakiya sacht zur Erde, stellte den Eimer neben ihn und verschwand zwischen den Hügeln in dem schnellen, lautlosen Lauf eines indianischen Kriegers, der verfolgt oder verfolgt wird.
Wakiya faßte nach dem Henkel und schleppte den Eimer nach Hause. Die Mutter und die kleinen Geschwister freuten sich über das Wasser und darüber, daß Wakiya heil und gesund damit zurückgekommen war. Die Mutter hatte unterdessen eingekauft und war einen noch längeren Weg gelaufen als das Kind. Sie hatte ein Stück Fleisch mitgebracht, seltenes Labsal. Alle rochen den Duft des röstenden Bratens, und alle schmausten. Die Mutter erzählte den Kindern noch das Märchen vom Steinknaben, während es draußen dunkelte und in der Blockhütte schon ganz finster war.
Wakiya-knaskiya schwieg und hütete wie einen Schatz, was er gesehen und erlebt hatte. Er hatte die verlorenen Augen wiedergefunden. Das blieb sein Geheimnis, und es war ein neues Leben für ihn. Er wollte den Augen wiederbegegnen. Aber wenn er Worte darüber machte, wurden sie vielleicht für immer verscheucht.
Mutter und Kinder schliefen alle beieinander auf ihrem harten Lager. Das Nachtlager des Vaters blieb leer, seitdem er im Grabe lag.
Draußen schlugen die beiden Hunde an.
Sie hatten sich am Abend noch lange um den einzigen Knochen gestritten, dann hatten sie sich müde zusammengerollt. Aber nun waren sie hell wach, kläfften, flohen und kamen zurück.
In der Hütte öffnete Wakiya als erster die Augen und horchte auf das Gebell. Als er auch Schritte vernahm, weckte er die Mutter. Bruder und Schwester schliefen weiter.
Die Mutter nahm den Rock über das Hemd, das wohl so gut wie eine Bluse war, und lief barfüßig hinaus.
Eine Mannsstimme schallte ihr entgegen.
» Hallo! „
Wakiya erschrak. Das war eines der Geisterworte.
Er hörte die Mutter leise und undeutlich antworten, und er vernahm wieder die barsche Stimme des Mannes, der hallo gerufen hatte; der Bub konnte auch Worte unterscheiden, aber er verstand sie nicht.
Ein Licht blitzte in die Hütte hinein, scharf wie Messer. Die beiden kleinen Geschwister rieben sich die Augen und wälzten sich auf die andere Seite, um diesem Licht, das sie im Schlaf störte, den Rücken zu kehren. Wakiya saß auf dem Bettgestell mit verschränkten Beinen, eine Wolldecke halb über sich gezogen. Die Mutter stand bei der Türöffnung, durch die das Licht hereinschoß. Der blendende Strahl wanderte rings in der Blockhütte umher; über das leere Nachtlager des Vaters, über den eisernen Ofen, auf dem die Mutter auch die Speisen briet, über die Haken an der Wand, über das Jagdgewehr des Vaters, über Wakiya, der unwillkürlich die Augen schloß, um sie dann nur ganz wenig zu öffnen. Er hatte aber den Mann gesehen, der braunhäutig und schwarzhaarig war wie ein Mensch und doch fremde und feindliche Kleider trug. Wakiya hätte nicht genau sagen können, was ihm an diesen Kleidern fremd und was ihm feindlich schien. Der Mann trug aber nicht Niethosen und ein altes Hemd, wie der Vater sie getragen hatte; er hatte einen ledernen Gürtel um, doch der war nicht gestickt. Seine Füße waren nicht nackt, noch steckten sie in Mokassins; er hatte Schuhe aus festem Leder an. In seiner Hand hielt er ein Geheimnis, aus dem das Licht hervorblitzte und die anderen Menschen traf wie Lanzenspitzen.
Als der Mann alles abgeleuchtet und auch in den leeren Decken auf des Vaters Lager gewühlt hatte, ging er zu dem Jagdgewehr an der Wand, nahm es, stellte fest, daß es nicht geladen war, und schaute die Mutter fragend an.
»Meines Mannes Mazzawaken.«
Diese Worte verstand Wakiya-knaskiya, denn sie waren in seiner Mutter Sprache gesprochen worden.
Der Mann antwortete in der gleichen Sprache.
»Das hebst du für den auf?« und er wies mit einer Bewegung seines Kopfes auf Wakiya. Wakiya begriff jetzt erst, wie groß und stark dieser Mann mit dem Zauberlicht war; er hatte bis dahin nicht darauf geachtet.
»Du solltest das Mazzawaken lieber verkaufen und den Kindern von dem Geld zu essen geben.«
Die Mutter gab keine Antwort.
Aber Wakiya erkannte in diesem Augenblick an der Türöffnung einen zweiten kleinen, stämmigen Mann, der ebenso braunhäutig und schwarzhaarig und ebenso gekleidet war wie der erste.
»Du sagst, hier bei euch sei kein fremder Mann gewesen?« fragte der Große die Mutter.
»Ich sage es.«
»Er treibt sich aber hier herum.«
Der große Mann faßte Wakiya ins Auge und setzte sich zu dem Kinde auf die Bettstatt. Wakiya hielt die Lider gesenkt.
»Was hast du heute getan, kleiner Bub?«
Wakiya schaute auf die Mutter, und als diese ein Zeichen gab, daß er antworten sollte, antwortete er:
»Ich habe Wasser geholt.«
»Wann bist du weggegangen?«
»Als die Sonne über die Hügel kam.«
»Wo hast du das Wasser geholt?«
»Am Wasser, das langsam fließt.«
»Wann bist du heimgekommen?«
»Als die Sonne wieder zu den Hügeln herabstieg.«
Der große Mann sah die Mutter an und leuchtete ihr in das Gesicht.
»Du hast Fleisch geholt?«
»Ja.«
»Wann bist du weggegangen?«
»Als die Sonnenstrahlen über die Hügelkämme gekommen sind.« »Wann bist du heimgekommen?« »Als die Amsel zum Abend sang.« »Die kleinen Kinder waren allein?«
»Ja.«
»Wem bist du begegnet, als du über die Prärie gingst?«
Die Mutter zuckte die Achseln. »Keinem Menschen bis zur Straße.«
»Auf der Straße?«
»Fuhren zwei Autos.«
Der große Mann rief den kleinen herein. »Die Mutter und der älteste Junge waren den ganzen Tag weg.« Er leuchtete die Pfanne an, in der das Fleisch gebraten worden war; das Bratfett war noch frisch.
»War in deiner Blockhütte etwas verändert, als du wiederkamst?«
Die Mutter zuckte wieder die Achseln. »Die Kinder haben gespielt.«
Der große Mann blies ein wenig Luft durch die Lippen.
»Komm, wir gehen. Hier ist nichts zu finden.«
Er ging mit dem kleineren zusammen weg. Wakiya huschte von seinem Lager zu der Türöffnung und schaute ihnen nach. Es war leicht, den Weg des Lichtes zu verfolgen. Er führte zu einem kurzen, gedrungenen Wagen, der hoch auf vier großen Rädern stand. Wakiya sah diesen Wagen erst jetzt, als das Licht ihn traf. Die beiden Männer stiegen ein und schlugen die Tür zu. Der Wagen fauchte und knurrte, als ob er zornig sei, daß er laufen sollte, dann rollte er über die harterdigen, staubenden Wiesen und verschwand zwischen den Hügeln.
Wakiya wunderte sich, daß er den Wagen nicht hatte kommen hören, aber er hatte wohl tief geschlafen. Sehr tief und sehr ruhig hatte er geschlafen in der Nacht nach dem Tage, an dem er Wasser geholt hatte und den verlorenen Augen begegnet war, bis die Männer, die weder rechte Menschen noch rechte Geister waren, ihn geweckt hatten. Mit diesen zwiespältigen Wesen konnte er nur schwer zurechtkommen, und er fürchtete sich davor, von ihnen zu träumen. Er wußte aber nun, was ein richtiges Auto war, in dem Geister über die Wiesen und die platte Schlange rollen konnten. Das kleine rote allerdings hatte ihm besser gefallen; es hatte eine schönere Farbe und war schlanker.
Die Mutter legte den Rock ab und schlüpfte wieder zu den Kindern unter die Decken, um weiterzuschlafen. Sie mochte aber merken, daß Wakiya nicht einschlafen konnte, denn sie antwortete ihm, obgleich er nichts gefragt hatte.
»Das waren Polizeimänner, Kind, und sie suchen wieder einmal den Inya-he-yukan.«
Wakiya-knaskiya wiederholte leise wie ein Windhauch »Inya-he-yukan«, als ob ihm hier ein großes, schweres Wort voll geheimer Wunder begegnete. Inya-he-yukan - Stein hat Hörner - Stein, gewiß so weiß wie die Felsen über dem Grabe des großen Häuptlings, Hörner, so stark wie der Büffel, der die gierigen Wölfe hoch in die Luft schleudern und Reiter und Pferd töten konnte. Als Wakiya den Namen aussprach, schaute er dabei im Dunkeln die Augen, die er wiedergefunden hatte. Diese Männer aber, die hier gewesen waren, mit festen Röcken, hartgeschnallten Gürteln und barschen Stimmen, sie konnten solchen Augen nie begegnen, mochten sie auch mit ihrem Licht durch die Nacht stechen und suchen. So dachte Wakiya-knaskiya, und dann schlummerte er ein und träumte von seinem unbekannten Bruder, der ihn und den Eimer mit Wasser getragen hatte.
Der Sommer ging zu Ende. Der Tag, an dem Wakiya-knaskiya zur Schule gehen mußte, stand bevor. Wakiya saß jetzt oft in seinem Versteck und schaute über das Land. Die Luft war mild, aber auch der sachteste Wind wirbelte Staub aus der rissigen Erde auf. Vertrocknete Krautstiele tanzten mit den Winden, blätterlos, bleich wie Gebein erstorbenen Lebens. Die Laubbäume warfen die ersten Blätter ab, die Kiefernzapfen reiften.
»Morgen nehme ich dich mit. Du mußt dir die Haare schneiden lassen.«
Wakiya hörte die Worte der Mutter. Er hatte auf diese argen Worte gewartet, und doch vermochte er nicht, sie zu glauben. Er lief hinaus und versteckte sich wieder. Weinen konnte er nicht. Er saß vom Morgen bis zum Abend zwischen Gras und Gesträuch an dem Platz, den er besonders liebte, und dachte nach. Hin und wieder strich er über sein eigenes Haar, langes, dichtes, glänzend schwarzes Haar, wie es einst der Stolz der Häuptlinge und Krieger gewesen war. Die Sonne hatte Strahlen; wer wollte sie abschneiden und ein stumpfes Gestirn am Himmel stehenlassen? So war es mit den Haaren des Menschen. Aber die Geister waren die Feinde der Menschen und wollten ihnen allen die Strahlenhaare rauben, damit sie den Häuptlingen und Toten nicht mehr gleichsahen und den Geistern unterliegen mußten. Die Sonne wurde müde und schwand dahin. Wakiya-knaskiya ging nach Hause. Er hatte keinen Gedanken gefunden, der ihn trösten konnte. Wenn nur der Vater noch lebte! Er hatte seine Haare lang getragen; die schwarzen Zöpfe waren sein Stolz gewesen.
Die Mutter sagte kein Wort darüber, daß Wakiya so spät heimkam. Sie briet die Mehlklößchen noch einmal auf. Das Kind aß, gehorsam, aber ohne Lust.
Nachts wälzte sich Wakiya auf dem Lager, und der Schweiß brach ihm aus. Durch die Türöffnung fiel ein Streifen des Mondlichts schräg herein. Bruder Mond war freundlich, doch konnte er Wakiya nicht gegen die Geister beschützen. Wakiya-knaskiya bäumte sich auf. Er mochte nicht besiegt sein. Aber die Geister wollten den Menschen besiegt sehen, darum schnitten sie ihm die Haare ab. Vor der Sonne und aller Augen sollte es kund werden, daß die Menschen besiegt waren. Besiegt sein tat weh. Es konnte die Kraft fortnehmen und die Träume verscheuchen. Schal konnte es machen, trocken und welk, wie die Krautstengel waren, die in den Winden umhertorkelten.
Wakiya-knaskiya sehnte sich nach seiner Krankheit, während er des Morgens neben der Mutter herlief, die dünnen Beine schlenkernd. Wenn sein Geist kam und ihn zerrte und niederwarf, so brauchte Wakiya-knaskiya vielleicht nicht zu dem Mann zu gehen, der ihm die Haare abschneiden wollte.
Aber der Geist huschte durch das Gras und kicherte zwischen den Kiefernnadeln. Er freute sich wohl, daß Wakiya nun ganz unterlegen war und seine Strahlen verlieren würde.
Als es Mittag wurde und die Mutter den kleinen Buben auf der Straße in die Agentursiedlung führte, schlug Wakiya die Augen nieder.
Er mochte nicht die hellen Häuser mit den blinkenden Fenstern, nicht die Blumen in den Gärten und nicht das volle Laub der Bäume sehen, nicht die glitzernden Tropfen reinen Wassers, die wie ein Wunder aus dem gelben Maule einer schwarzen Schlange über grünes Gras sprühten.
Wakiya schämte sich bitter. Um seinen mageren Kinderkörper schaukelte an verkürzten Trägern die Hose, die ihm auch jetzt noch viel zu weit war. Die Schulterblätter standen eckig aus seinem Rücken hervor. Seine Füße waren schlaff geworden, seine Schritte wurden klein und kleiner. Die Mutter packte ihn fest an der Hand und drängte ihn durch eine schlotternde Tür in ein Holzhaus, das einmal weiß gestrichen worden war. Aber unter Hitze, Kälte und Nässe hatte die Farbe abzublättern begonnen.
Wakiya-knaskiya schaute sich unter halbgesenkten Lidern um, wie wohl einst ein Krieger getan hatte, den die Feinde gefangennahmen. An der Wand standen ein paar alte Stühle; dort saßen zwei Männer in buntkarierten offenen Hemden, mit ausgewaschenen Blue Jeans, mit schlechten Schuhen angetan. Buschig wuchsen ihnen die schwarzen Haare auf dem Kopf. Ein dritter saß mitten im Raum auf einem einzigen Stuhl, um die Schultern lag ihm ein weißes Tuch, und auf das Tuch fielen seine schwarzen Haare. Wakiya vernahm das Klappern der scharfen Schere.
Noch blieb irgendeine Zeit, in der irgend etwas geschehen konnte, ehe auch Wakiyas schwarze Strahlen kraftlos auf ein weißes Tuch fallen würden. Was hatte einst ein Krieger wie Wakiyas Großvater getan, wenn die Feinde ihm den Skalp rauben wollten?
Die Mutter setzte sich auf einen der freien Stühle an der Wand und winkte ihrem Buben. Stumm setzte sich das Kind neben sie, und die nackten Füße hingen herab, ohne sich zu bewegen. Mit den Händen stützte es sich rechts und links auf die Stuhlkanten, beugte den Nacken und schaute zur Erde. Es hatte gesehen, daß der Mann mit der Schere lächelte. Lächeln war Hohn. Auch der Mann mit der Schere war ein Mensch, aber er stand im Dienste der Geister wie die Männer mit den festen Röcken und den hartgeschnallten Gürteln, die die Augen des Donnervogels gestohlen hatten und sie aus ihrer Hand durch die Finsternis blitzen ließen. Der Mann auf dem einzeln stehenden Stuhl erhob sich; das weiße Tuch wurde ausgeschüttelt, und mit kurzgeschorenem Kopf ging der Mann hinaus.
Warum sich ein so starker Mann, der nicht mehr zur Schule gehen mußte, wohl die Haare abschneiden ließ?
Die Geister hatten große Macht über die Menschen.
Bisher war im Raum kein Wort gesprochen worden, keines war durch die Luft geflogen zu anderen Menschen, keines auf die Erde gefallen mit den abgeschnittenen kraftlosen Haaren. Aber nun, als der Mann seine Schere noch einmal abwischte, obgleich kein Härchen mehr daran klebte, sagte er, und er sagte es wohl als Antwort auf eine Frage, die schon lange vorher gestellt worden war:
»Nein, den haben sie nicht gefunden. Dafür ist er Joe King.«
Der Mann klappte die Schere zusammen; das war der einzige Laut nach seinen Worten. Er wartete nun auf den nächsten, der auf dem einzelnen Stuhle Platz nehmen wollte. Es erhob sich aber noch niemand, um das zu tun. Alle lauschten, ob der Mann mit der Schere nicht weitersprechen wolle.
»Nein, was ihr denkt! Bei mir war er nicht. Der braucht mich nicht mehr. Dem scheren sie den Kopf von Zeit zu Zeit ganz woanders kahl. Aber ihm wachsen die Haare wie das Gras nach dem ersten Regen im Frühling. Ich weiß noch, wie er zu mir gebracht wurde, acht Jahre alt, und sollte in die Schule gehen. Der alte King hatte ihn bis dahin versteckt oder auch gesagt, er wisse nicht mehr, wann der Boy geboren sei. Aber er war schon mit acht Sommern und Wintern eine Wildkatze, kratzte und biß, und drei Männer haben ihn festgehalten, bis ich den Urwald von seinem Kopf wegbrachte. Ja. Das ist das Blut der Kings.«
»Der Inya-he-yukan.«
Als Wakiya diesen Namen hörte, glühten seine Wangen und seine Stirn auf wie Eisen im Feuer. Alles, was er gegrübelt und gedacht hatte, schmolz dahin. Inya-he-yukan! Inya-he-yukan hatte dieselbe Schande erlitten, die Wakiya nun erleiden sollte. Er, der Mann wie Fels und starkes Büffelhorn - der Mann, dessen Augen nicht schwarz waren wie Holz von erloschenem Feuer, sondern dunkel und zugleich licht gleich dem Himmel in der Nacht. Der Mann mit den verlorenen Augen hatte Schande über sich ergehen lassen müssen in den Händen der Feinde - als Kind, als Mann. Schande? Schande über jene, die ihm Gewalt angetan hatten! Schande über sie! Wakiya stand auf und ging zu dem Marterstuhl, auf dem Inya-he-yukan vor ihm gesessen hatte, als ein Knabe von drei Männern kaum bezwungen. Wakiya setzte sich hin, so, wie sich wohl einst ein Häuptling freiwillig an den Pfahl stellte, um seinen Mut zu beweisen.
»Schneide mir die Haare, Mann mit der Schere, im Dienste der Geister. Du kannst sie schneiden und wieder schneiden. Die Haare werden wachsen und wieder wachsen, weil die Toten nicht tot bleiben. Hau.«
Die beiden Männer, die noch auf den Stühlen an der Wand saßen, die Mutter und der Mann mit der Schere rissen die Lider hoch, so daß ihre Augen groß wurden wie die staunender Büffelkälber, und sie öffneten die Lippen, aber es kamen ihnen lange keine Worte aus dem Munde. Der Mann mit der Schere tat seine Arbeit; er tat sie gut. Wakiya saß da, wie aus Stein gehauen, und zuckte nicht einmal. Sein Kopf sah danach nicht aus wie eine Wiese, über die das Feuer gegangen ist. Seine schwarzen Haare legten sich gekürzt, aber glänzend und schön um die große Stirn und den stark gewölbten Schädel.
»Du hast sie nicht kurz genug geschnitten. Ich kann nicht oft hierherkommen.« Die Mutter kramte in ihrem alten ledernen Beutel.
Der Mann mit der Schere winkte ab. »Laß. Dafür gibst du kein Geld.«
Wakiya glitt von dem Stuhl wie ein Krieger, der seine Marterschmerzen tapfer bestanden hat und den Pfahl verlassen darf. Er ging zu der Mutter, ohne einen der Männer dabei anzuschauen.
Aber auf einmal schleuderten sich seine Arme und Beine von selbst. Sein ganzer Körper geriet ins Zucken, und er wurde bleich, als ob kein Blut mehr in ihm sei. Die Mutter nahm ihn noch in die Arme, aber auch das nützte nichts mehr. Er schlug um sich... Der Mann hatte seine Schere weggeworfen, schloß die Tür zu und verhängte das Fenster. Die beiden anderen Männer wollten Wakiya festhalten, aber dadurch wurde das Übel nur schlimmer. Sie ließen entsetzt los, als sie Wakiyas unnatürliche Kraft spürten und den Schaum vor seinem Munde sahen. Die Mutter legte das Kind auf den Boden und bettete den Kopf, so weich sie vermochte.
Hilflos und voll Schrecken warteten alle, bis der Anfall der geheimnisvollen Krankheit vorüber war.
Dann nahm die Mutter das kraftlos gewordene Kind auf den Arm und trug es den weiten Weg heim zur Blockhütte. Es war schon düster darin, draußen dämmerte der Himmel der Nacht zu. Die beiden Kleinen aßen hungrig von dem Brot, das die Mutter ihnen aufschnitt.
Wakiya lag erschöpft auf den Decken, und die Mutter hätte am liebsten aufgeheult wie eine Wölfin, denn das graue Antlitz des Kindes glich dem Antlitz des Vaters in jener Stunde, als er starb. Sie konnte das vor sich selbst nicht verbergen.
In ihren Ohren aber klangen noch die Worte nach, die einer der Männer beim Abschied zu ihr gesagt hatte:
»Hüte ihn gut, deinen Wakiya, denn ihm ist mehr gegeben, zu leiden und zu wissen, als uns gegeben wurde. Bei ihm sind die Geheimnisse.«
Wakiya erholte sich nur langsam, aber der Tag, an dem er zur Schule gehen mußte, rückte immer näher. Eines Mittags kam eine fremde Frau zu der Hütte. Wakiya saß bei der Mutter in der Wiese vor dem Haus und half ihr, Beeren auszulesen. Die fremde Frau war höflich. Sie blieb, wie es sich für einen ungebetenen Gast geziemte, zwanzig Schritt vor der Hütte stehen und grüßte, vorsichtig, beinahe zaghaft, ob sie wohl nicht störe. Die Mutter schaute auf, erhob sich aber nicht, sondern erwiderte nur den Gruß, ebenso vorsichtig und noch halb abweisend, da sie die Wünsche dieser Frau, die noch nie hier gewesen war, nicht kannte.
Wakiya warf ein paar schlechte Beeren beiseite und musterte dabei verstohlen die Fremde. Sie war kein Geist, sondern ein Mensch mit Kleidern, wie sie auch die Mutter trug, Bluse und Rock. Aber die Kleider waren nicht geflickt, und die Bluse war weiß, so weiß wie Schnee, der Rock aber blau wie der Himmel, wenn er zu dunkeln beginnt. Zierliche Schuhe trug die Frau, ähnlich wie Mokassins, doch waren sie nicht gestickt. Sie hatte ihre langen schwarzen Haare in der Mitte gescheitelt und die Zöpfe im Nacken aufgesteckt. Ihre Augen waren groß und hellbraun wie die einer Antilope.
Wakiya hatte nun schon gehört, wie die Frau hieß: Margot Adlergeheimnis.
Sie kam noch ein paar Schritte näher, aber da die Mutter sie nicht einlud, sich zu setzen, blieb sie stehen. Sie erzählte mit einer Stimme, die so sanft war wie der Blick ihrer Antilopenaugen, daß sie selbst auch einen kleinen Buben habe und daß dieser nun auch in die Schule komme. Wakiya-knaskiya werde in die schöne neue Schule aufgenommen, und dorthin werde auch ihr Bub gehen, David Adlergeheimnis.
Byron Bighorn und David Adlergeheimnis würden wohl in der gleichen Klasse zu lernen beginnen. Sicher würde es ihnen Freude machen zu lernen, da sie beide große, alte, berühmte Namen trügen: Byron, den Namen eines Mannes, der zu träumen, zu dichten und zu kämpfen verstand, und David, den Namen eines Hirtenjungen, der mit einem kleinen Stein einen Riesen erlegte.
Das zweite machte Wakiya-knaskiya mehr Eindruck, und er schaute gespannt auf die fremde Frau, ob sie weiter Geschichten erzählen würde.
Aber die Mutter blieb mürrisch. »Der Weg zur neuen Schule ist weit, und Wakiya ist schwach.«
Die fremde Frau seufzte. »In die alte Schule werden keine Kinder mehr aufgenommen, weil sie zu klein und zu schlecht ist.«
Da die Mutter darauf keine Antwort gab, sondern sich wieder ganz ihrer Arbeit zuwandte, nahm Margot Adlergeheimnis Abschied und ging fort. Die Mutter lauschte, bis kein Schritt mehr zu hören war.
»Sie kommt von den Geistern, Wakiya, die uns mit ihren Geheimnissen und Giften gesund machen wollen. Aber dein Vater ist gestorben, und sie haben nichts dagegen vermocht. Als unsere Väter noch Büffelfleisch aßen, Büffelleber und Büffelhirn, wurden sie alt. Seitdem die Geister uns die schlechtesten ihrer Speisen geben, werden wir krank und sterben früh. - Der Mann der Margot Adlergeheimnis trägt den Namen Ed Adlergeheimnis. Er ist nicht in unserem Stamm geboren und lernt auf der hohen Schule der Geister, weit, weit fort von hier. Schaue dir David genau an, ehe du mit ihm sprichst. Du hast gehört: Sein Vater ist nicht in unserem Stamm geboren, und er lernt die Worte und Schliche der Geister.«
Die Mutter horchte wieder, und durch die linde Stille der Prärie war von weither ein schwacher fremdartiger Ton zu hören.
»Das ist ihr Auto. Die Frau des Ed Adlergeheimnis läuft nicht mit ihren Füßen den ganzen weiten Weg zu uns. Es wundert mich, daß sie unsere Hütte überhaupt gefunden hat.«
Die Mutter hatte niemand, mit dem sie sprechen konnte, außer Wakiya. Die Nachbarn wohnten meilenweit entfernt, und gegen Fremde war Eliza Bighorn mißtrauisch. Wakiya fühlte das alles, wenn er es auch nicht hätte beschreiben können.
An dem Tag, an dem Wakiya zum erstenmal zur Schule gehen mußte, weckte ihn die Mutter vor Sonnenaufgang. Sie zog ihm die weite Hose und ein neues Hemd an, rot und blau kariert. Schuhe trugen arme Kinder im Sommer nicht. Die Geschwister liefen noch ein Stück mit, dann blieben sie stehen und schauten Wakiya und der Mutter nach.
Die Mutter ging schnell, und Wakiya fiel immer wieder in Trab, um mit ihr Schritt zu halten. Der Wind wehte und trocknete die letzte Feuchtigkeit des Taus von vergilbtem Gras und von den harten Blättern der Yucca, deren Kapseln die dunklen Kerne schon verstreut hatten.
Mutter und Kind liefen eine und eine halbe Stunde. Wakiya-knaskiya dachte in dieser Spanne Zeit gar nichts. Es war alles hohl und dunkel in ihm. Er hob auch nicht die Augen, als er mit der Mutter auf dem großen freien Platz vor dem neuen Schulgebäude anlangte. Undeutlich und ohne recht zu begreifen, sah er den großen graugrünen Schulbus, dessen große Reifen über den Kies knirschten und dann stillstanden. Er sah nicht einmal recht die schwarzhaarigen, braunhäutigen, dunkeläugigen Mädchen und Jungen, die aus dem Bus ausstiegen und in das Schulgebäude liefen. Das waren die Kinder, deren Eltern in der Nähe der großen Straße wohnten. Sie gehörten durch die Straße und durch den Bus zusammen, Wakiya aber gehörte nicht zu ihnen.
Er fand sich erst wieder, als die Mutter längst gegangen war und er in einem großen Raum mit hellen Fenstern saß, auf einem Stuhl, den er allein für sich hatte, vor einem Tisch, den er allein für sich hatte. Es gab keine Banknachbarn, kein anderes Kind Ellenbogen an Ellenbogen. Es gab Tisch und Stuhl und Luft ringsum wie bei kleinen Blockhäusern, von denen ein jedes für sich lag. Wakiyas Stuhl und sein Tisch standen in der ersten Reihe, rechts außen. Wenn er die Augen schräg blinken ließ, konnte er andere Kinder beobachten, nicht alle, aber einige.
Vorn vor allen Kindern stand die Lehrerin, hinter ihr standen ein großer Tisch und ein großer Stuhl, darüber erhob sich ein schwarzes großes Brett, und an dem schwarzen Brett lehnte ein langer Stock. Er war länger, gerader und dünner als ein Ast der Krüppelkiefern, die Wakiya kannte.
Die Lehrerin sprach, und Wakiya horchte auf ihre Stimme, die zart und freundlich klang. Mit Staunen sah er auf das schwarze krause Haar und auf das dunkle Gesicht, auf das rosa-weiße Kleid, das duftig war wie eine Blüte, und auf die dunklen Hände. Diese Frau konnte nicht im Stamme geboren sein, aber sie gehörte auch nicht zu den Geistern, die eine helle Haut hatten. Wakiya hatte nicht gewußt, daß es schwarze Menschen mit hellen Kleidern und munteren Augen gab.
Die Stimme der Lehrerin plätscherte wie ein kleiner Bach, der mit allem spielt und kost, was in seine Wellen gerät, und seinen Weg doch findet. Wakiya-knaskiya hörte die Stimme gern, aber er verstand nicht ein einziges Wort. Er stand zu spät auf, nachdem andere Kinder schon aufgestanden waren, und er setzte sich zu spät, nachdem andere Kinder schon wieder auf ihren Stühlen saßen. Er sah der schwarzen Frau im duftigen Kleide an, daß sie sich über die Kinder freute, die alles richtig machten. Aber sie kam auch zu Wakiya-knaskiya und zu anderen kleinen Buben und Mädchen, die noch keines ihrer Worte verstehen konnten, weil sie die Sprache der Geister sprach, und mit großer Geduld lehrte sie sie die ersten Worte, die sie kennen mußten. Wakiya fand, daß die Worte häßlich klangen, aber da die Stimme gut war, merkte er dennoch auf und verstand die Worte schneller als die anderen Mädchen und Buben, die auch noch nichts von der Geistersprache wußten.
Die Lehrerin zeigte den Kindern ein Tuch mit Streifen und Sternen. Wenn sie es sahen, sollten sie zum Gruß die Hand aufs Herz legen. Sie sollten beginnen, einen Spruch für dieses Tuch zu lernen. Zwei Kinder konnten den Spruch schon aufsagen. Wakiya aber verstand noch kein Wort davon. Die Namen der beiden Kinder, die den Spruch schon ganz kannten, waren David Adlergeheimnis und Susanne Wirbelwind. Sie saßen beide in der hintersten Reihe, waren groß gewachsen für ihr Alter, hatten schöne Kleider und Schuhe und verstanden schon alle Wörter der Geistersprache, die die Lehrerin der Beginnerklasse vorsagte.
Um die Mittagszeit stellten sich die Kinder zu einer Reihe eines hinter dem anderen auf, und die Lehrerin führte sie in einen Saal mit langen Tischen und Bänken. Ehe die Kinder sich setzten, gingen sie an einem großen Guckfenster vorüber, durch das ihnen zwei Frauen je einen Teller mit Fleisch und Gemüse, einen kleinen Teller mit roter Speise und gelber Soße und ein Glas Milch auf ein Tablett stellten. Wie jedes Kind, so trug auch Wakiya sein Tablett mit Speisen sorglich zu dem nächsten langen Schulkindertisch, wo die kleinen Buben und Mädchen saßen. Alle Kinder hatten zu Hause Gehorsam gelernt und verhielten sich still und ordentlich. Wakiya schaute Susanne Wirbelwind auf die Hände; und als er sich gemerkt hatte, wie sie den Löffel und die Gabel nahm, machte er es ebenso, und die Lehrerin hatte keine Mühe mit ihm wie mit manchen anderen Kindern. Sie nickte ihm freundlich zu. Aber mit der Milch war es sehr schwer. Wakiya wurde es übel, als er die ersten Schlucke getrunken hatte. Susanne Wirbelwind und David Adlergeheimnis tranken den Becher aus, als ob das nichts wäre. Aber Wakiya verschluckte sich und mußte speien und aufwischen, was er ausgespien hatte. Vielen Kindern wurde es übel, und die Becher konnten nicht alle leer getrunken werden. Das Gesicht der Lehrerin wurde traurig und ernst.
In der Pause stand Wakiya auf dem großen freien Platz vor der Schule und sah zu, wie Susanne Wirbelwind und David Adlergeheimnis miteinander schaukelten. Wakiya sah zum erstenmal in seinem Leben eine Schaukel. Nachmittags war die Schule zu Ende, und Wakiya lief nach Hause. Er lief den weiten Weg zumeist im Trab. Nur heim, nur heim!
Er wußte selbst nicht, warum er seine Angst vor der Schule im Herzen behielt, aber es war so, und sie wich nicht. Mit Grauen dachte er daran, daß er nun jeden Morgen den Weg zur Schule laufen und ihn jeden Nachmittag zurücklaufen mußte. Es geschah in der Schule nichts Schlimmes; der lange, gerade, dünne Stock half der Lehrerin nur, den Kindern auf der schwarzen Tafel zu zeigen, was weiß darauf geschrieben stand. Die Lehrerin erklärte immer geduldig und langsam, und auch Wakiya wurde oft gelobt. Hin und wieder verstand er jetzt schon schneller als die anderen Kinder, was die Lehrerin meinte, hin und wieder sogar schneller als Susanne Wirbelwind und David Adlergeheimnis. Die Kinder achteten Byron Bighorn als einen guten Schüler in der Beginnerklasse. Die Kinder sollten dort mit der Geistersprache vertraut gemacht werden, ehe der Unterricht in der ersten Klasse begann.
Es schien alles gut bis auf den weiten Weg, den Wakiya täglich zu laufen hatte, aber wie würde das erst im Winter werden, wenn der Schnee hoch lag? Jetzt schon pfiff der Wind kalt um Wakiyas nackte Beine und durch sein Hemd. Und selbst das Gute war fremd, fern und nur wie ein Geisterschatten zu sehen. Denn Wakiya-knaskiya konnte nie mit der Lehrerin sprechen, die seine Muttersprache nicht gelernt hatte, und er konnte mit keinem der Schulkinder sprechen, denn es war den Kindern streng verboten, ihre Muttersprache untereinander zu gebrauchen. Die wenigen Wörter der Geistersprache, die Wakiya nun schon kannte, nützten ihm noch nicht viel.
Es war ein Geisterhaus, in das er täglich rannte, um vor den Geistern zu bestehen. Er hatte sie noch kaum zu Gesicht bekommen - denn seine schwarzhäutige Lehrerin rechnete er nicht zu ihnen -, aber alles war geschwängert von ihrer Sprache und ihrer Macht. Es wehte Geisterluft um Wakiya, und auch die milde Stimme der Lehrerin schien ihm mehr und mehr auf kühlen Wellen zu schwimmen.
Wakiya war in der Schule allein. Auch daheim vergaß er das Sprechen und das Erzählen. Er saß oft an seinem einsamen Platz und schaute nach Himmel und Gras, aber sie rückten von ihm ab, wenn ihm Worte der Geister einfielen, die für alles einen anderen Namen wußten, als Vater und Mutter ihn gelehrt hatten, und die die Wörter anders stellten, das vordere nach hinten, das hintere nach vorn. Sie wollten die Welt verdrehen, und einem kleinen Buben konnte davon schwindlig werden. Vielen Buben und Mädchen erging es nicht anders als Wakiya-knaskiya, den die Lehrerin Byron Bighorn rief. Still, artig, aber im Herzen weitab saßen die Kinder da, ein jedes auf seinem Stuhl. Manche saßen schon das zweite Jahr in der Beginnerklasse. Die meisten waren älter als Wakiya, nicht erst fünf, sondern schon sechs oder sieben Jahre alt.
Im Winter mußte Wakiya oft fehlen, weil er durch Schnee und Kälte nicht durchkam. Er wußte dann nicht, was die anderen Kinder gelernt hatten. David Adlergeheimnis ging darum in der Pause mit Byron Bighorn zusammen, um ihm dies und jenes zu erklären. Die Mutter, Margot Adlergeheimnis, hatte ihren David nach Wakiya ausgefragt und ihn dann gebeten, Wakiya zu helfen. Im Eifer des Erklärens sprach David oft seine Muttersprache, und Wakiya liebte ihn dafür. Aber eines Tages kam ein langer, magerer Mann, dessen Stimme klang wie Steine, die sich aneinander rieben. Er schalt die Lehrerin mit der schwarzen Haut, so daß ihre Augen nicht mehr munter blickten und ihre Wangen noch dunkler schienen.
»Ihre Kinder sprechen untereinander nicht englisch! Haben Sie das überhört?«
Diese Worte konnte Byron Bighorn schon verstehen, und David Adlergeheimnis verstand sie auch. Die Kinder erschraken beide. Durch ihren eigenen Schrecken hindurch wie durch einen Vorhang hörten sie die sanfte Stimme der Lehrerin antworten: »Entschuldigen Sie, Mister Teacock, ich werde künftig aufmerksamer sein.«
Aber Mister Teacock war mit dieser Antwort nicht zufrieden. Wer in sein Inneres hätte schauen können, hätte ihn dabei angetroffen, wie er einen Augenblick über die präziseste Formulierung seiner Unzufriedenheit nachdachte, nicht anders als über die beste Lösung einer mathematischen Aufgabe. »Es ist nicht genug, Miss Lawrence, daß Sie sich vornehmen, künftig aufmerksamer zu sein. Sie müssen die Kinder bestrafen. Das ist Vorschrift. Werden Sie das tun?«
»Ja, Mister Teacock. Es ist Vorschrift.« Miss Lawrence wagte es nicht, bei ihren Worten zu seufzen, aber Wakiya fühlte, daß ihre Worte ein einziger Seufzer waren.
»Die Kinder müssen gehorchen lernen, das ist das erste. Wie heißen diese boys? Nein, Miss Lawrence, lassen Sie die beiden selber antworten! Wie heißt ihr?«
»Dave Crazy Eagle.« Das war eine feste Antwort.
»Und du?«
Wakiya-knaskiya schaute den langen, mageren Mann verwundert an, als ob ihm ein fremdes, gefährliches Tier begegne, das er scharf beobachten müsse. Er legte den Kopf etwas zu Seite. Vor ihm stand Mister Teacock. Mister Teacock war ein Geist. Mister Teacock war kein guter Geist, aber Mister Teacock war ein mächtiger Geist. Ein böser Geist. Wakiya-knaskiya wußte auf einmal, wie jene Geister ausgesehen haben mußten, deren Mazzawaken blitzten und krachten, und dann waren die Kinder gestorben. Geister hatten Kinder getötet. Sie hatten auch Wakiyas Urgroßvater, zwei seiner Brüder und seine junge Schwester getötet. In der Nacht waren die Toten in den hirschledernen Gewändern gekommen, aber sie hatten nicht mehr sprechen können, und der Stab ihrer Herrschaft war wieder verschwunden.
»Nun - willst du nicht antworten?! Wie heißt du?«
»Bighorn!«
Mister Teacocks Gesicht verzog sich, als er das Wort hörte, denn jetzt war es an ihm, Gedankenverbindungen herzustellen.
»Miss Lawrence, ist das tatsächlich sein Name?! Oder will dieser Bub mich zum besten haben... Die Kinder zeichnen im Zeichenunterricht Dragoner ohne Köpfe - strömendes Blut -! Es hat schon in der Zeitung gestanden. Was soll das also, Bighorn? Meint er das Massaker, dem General Custer zum Opfer fiel?«
Wakiya-knaskiya konnte diese Worte nicht alle verstehen, obgleich Mister Teacock sehr deutlich akzentuierte. Wakiya wußte nicht, was ein Massaker ist, aber der Vater hatte ihm in den Abendstunden oft von dem großen Sieg der Häuptlinge über General Custer erzählt, bei dem auch Wakiyas Urgroßvater mitgekämpft hatte. Wakiya verstand, daß es um seinen Namen und um diese Schlacht ging. Die Lehrerin hatte glühende Wangen wie die Kinder, aber sie antwortete wiederum sehr sacht und milde.
»Entschuldigen Sie, Mister Teacock, aber Bighorn ist tatsächlich der Name der Familie. Byron' Bighorns Vater trug ihn schon.«
»So, so. Trug ihn schon. Ich muß mich darum kümmern, wer die Namen auswählt. Um alles müßte ich mich kümmern, schlechthin um alles! - David Crazy Eagle und Byron Bighorn! Habt ihr das Treuegelöbnis zu unserem Banner gelernt?«
David Adlergeheimnis - Crazy Eagle und Wakiya-knaskiya -Byron Bighorn waren noch sehr kleine Buben. Sie waren beide noch nicht ganz sechs Jahre alt, die jüngsten in ihrer Klasse. Aber wie das Büffelkalb, das noch stelzbeinig hinter der Mutter über die Prärie läuft, schon Freund und Feind wittert, so witterten David und Byron, daß es für Theodore Teacock, dessen schmales Gesicht jetzt auch schon rot angelaufen war, mit dem Treuegelöbnis zum Sternenbanner nicht nur um eine allgemeine Schulregel, sondern um irgendein ganz Persönliches ging, daß dies die Stelle war, an der ihn einmal eine Mücke bösartig gestochen haben mochte. Sie witterten auch beide, daß es sich nun um die Ehre ihrer Lehrerin handelte, der sie zugetan waren und die sie gegen Mr. Teacock beschützen wollten. Sie waren noch sehr klein, die beiden braunhäutigen Buben mit den gestutzten schwarzen Haaren, aber sie wollten ihre Miss Lawrence gegen den mächtigen Geist Theodore Teacock beistehen.
David hatte das Treuegelöbnis zum Sternenbanner schon daheim bei der Mutter wie ein Kindergedicht gelernt; Margot Adlergeheimnis wußte, wie wichtig es für ein Indianerkind in der Schule war, das Gelöbnis aufsagen zu können, und sie wollte David alle Schwierigkeiten ersparen. Wakiya-knaskiya hatte in der Schule zum erstenmal von diesem langen Spruch gehört und konnte überhaupt nur wenige Worte Englisch. Aber als David begann, ohne Zögern und gleich mit den Erklärungen für Kinder zusammen vorzutragen, sprach Wakiya mit. Er lernte leicht auswendig, und David hatte in der Klasse schon öfters vorsprechen dürfen. Was die Worte alle bedeuteten, ahnte Wakiya kaum; er hätte ebensowohl lulalei sagen können, aber da es sich nun um dies und nichts anderes und um Miss Lawrence gegen Mr. Teacock handelte, sprach er mit David zusammen im gleichen Rhythmus, fließend, sicher, ohne Scheu das Gelöbnis samt den Erklärungen für die Schüler:
»I pledge allegiance
I promise to be true to the flag of the United States of America,
to the flag of the United States of America,
and to the republic for which it stands,
and to the government for which it stands,
one nation under God,
one country with God's help,
indivisible,
which cannot be divided, with liberty and justice for all, where all people are free and have the same rights.«
Miss Lawrence machte ihre kugelrunden schwarz-weißen Augen auf, denn einen solchen Erfolg hatte sie nicht erwartet. Auf den hageren Wangen von Theodore Teacock blieb das Rot stehen, als ob es über den Wandel seiner eigenen Bedeutung überrascht sei.
»Gut, sehr gut! Sehr gut! Ihr seid zwei gute Boys und könnt der Stolz unserer Schule werden, David Crazy Eagle und Byron Bighorn!«
Selbst das Bighorn schlüpfte jetzt ohne Hemmung über Theodore Teacocks Zunge und durch seine schmalen Lippen. Es war in diesem Augenblick eine glänzende Sache und Stoff einer neuen Schullegende. Zwei fünfjährige Indianerkinder hatten das Treuegelöbnis ohne Stocken aufgesagt! Bei diesem Glanze blieb es auch nach außen hin, und der Direktor der Schule erfuhr davon. Da er bald abgehen und einer indianischen Rektorin Platz machen sollte, freute er sich ganz besonders über das unerwartete Zeugnis der Erziehungserfolge bei den ihm anvertrauten Schülern. David und Byron galten für einige Zeit als die Sterne der Schule, ohne das selbst zu wissen. Außerhalb der Schule erfuhr nur Margot Adlergeheimnis davon, war glücklich und schwieg.
Aber unter dem prächtigen Deckmantel solchen Glanzes rührten sich Keime des Dunklen, die Theodore Teacock ganz unwissentlich erzeugt und gepflanzt hatte. Nach der Weise unzulänglicher Sieger hatte es ihm nicht genügt, sich an einem einfachen Siege einfach zu freuen oder sich damit zu bescheiden, daß er ein Steckenpferd mit Leichtigkeit durchs Ziel geritten hatte. Er hatte sich gedrängt gefühlt, auch noch das zweite aus dem Stall zu holen, das der ganzen Lehrerschaft, so auch Miss Lawrence, und vielen Schülern in den oberen Klassen, aber noch nicht den Beginnern David und Byron bekannt war.
»David und Byron, ihr seid gute Schüler, und wenn ihr auch verbotenerweise die primitive Sprache gesprochen habt, die euch in Schule und Leben niemals weiterhelfen kann, so sollt ihr doch diesmal nicht bestraft werden. Miss Lawrence?«
»Ja, Mister Teacock?« Miss Lawrence hielt die Lider gesenkt, um das Lächeln ihrer Augen zu verbergen.
»Sie sind auch der Meinung, daß die beiden Kinder diesmal nur verwarnt werden?«
»Ich bin auch der Meinung, Mister Teacock.«
»Gut. Ihr werdet künftig in der Schule stets englisch sprechen, David und Byron, und euch dadurch selbst nützen. Ihr werdet den richtigen Weg gehen, um gute Bürger zu werden. Schüler, die nicht Englisch lernen mögen, sind auf einem falschen Wege. Sie werden nur zu leicht Diebe und Mörder, wie es Joe King geworden ist, der die schöne Sprache unserer Welt dann im Gefängnis zu lernen hatte und nun ein Auswurf der Menschheit geworden ist.«
Von dieser wohlgesetzten Rede begriff David einiges, Wakiya aber nichts als den Namen Joe King, der für ihn schon mit dem Namen Inya-he-yukan verbunden war. Aus dem Tone, in dem Theodore Teacock gesprochen hatte, fühlte Wakiya die Verachtung gegen Joe King heraus, und von diesem Augenblick an haßte Wakiya-knaskiya Theodore Teacock, mit dem ganzen Haß, den ein Kind der Prärie fühlen konnte. Wakiya hätte Teacock ohne Bedenken auf der Stelle skalpiert. Bis dahin waren Geister für Wakiya etwas Fernes, Fremdes, Furchterregendes, Verächtliches und auch Hassenswertes gewesen; sie lebten in ihren Geisterhäusern, deren eines die Schule war, und Wakiya mußte sich in acht nehmen, daß er sie nicht zu nahe streifte. Jetzt hatten sie in einer Gestalt Fleisch und Blut angenommen; da stand ein Geist, der Kleider trug, sprach und mächtig war, ein Lehrer. Er wagte es, Inya-he-yukan zu beleidigen. Diese seichten wasserblauen Augen wollten in die Nacht schauen, die sich nicht in ihnen spiegeln konnte.
Mit seiner Liebe, die aus der Begegnung mit den verlorenen Augen wie ein Quell entsprungen war, und mit seinem Haß, der in diesem Augenblick aus dem Dunkel emporschnellte, setzte Wakiya sich zur Stunde eine Aufgabe. Für einen kleinen Buben war es eine große Aufgabe. Wakiya wollte in Erfahrung bringen, was dieser Teacock über Inya-he-yukan - Joe King zu sagen gewagt hatte. Seinen Mitschüler David mochte Wakiya nicht fragen, denn er traute David nicht zu, daß dieser alle die fremden und schwierigen Worte richtig verstanden habe. Er fürchtete sich auch davor, daß David schlechte und beleidigende Worte gegen Inya-he-yukan wiederholen müßte; das wäre wie ein >Coup< gewesen, wie das nochmalige Berühren eines schon verwundeten oder gefallenen Kriegers durch einen Feind; den Coup mußten Freunde und Brüder des Verletzten selbst unter Todesgefahr verhindern. Wakiya konnte David nicht fragen. Seine Lehrerin Miss Lawrence aber konnte Wakiya auch nicht fragen, denn er verstand und sprach zu wenig Englisch. Wakiya wollte mehr Englisch lernen, um seine Feinde besser belauschen zu können. Er mühte sich darum, doch es war sehr schwer für ihn, da die Mutter von den zwölf Wörtern, die sie von der Schule her noch gekannt hatte, unterdessen wiederum drei vergessen hatte und Wakiya nicht zu helfen vermochte.
Mit solchem einsamen Denken, Fühlen und Grübeln wurde Wakiya im folgenden Herbst Schüler der ersten Klasse. Er verlor dabei seinen Freund David, da dieser die erste Klasse überspringen durfte und sogleich in die zweite versetzt wurde. Susanne Wirbelwind schmollte und lernte wie besessen. Zu Weihnachten durfte auch sie schon in die zweite Klasse übergehen. Unter den verbleibenden Schülern galt Byron Bighorn als einer der besten. Sein Ruhm als vorzüglicher Schüler stammte immer noch aus seiner Begegnung mit Mr. Teacock und übertraf bei weitem das, was Wakiya wirklich wußte. Aber da er hin und wieder durch eine kluge Antwort überraschte, schwebte die Seifenblase des Ruhms lange, ohne zu platzen.
Wakiya lernte nun schon biblische Gedichte. Die Engel auf den Bildern trugen die Federn an der falschen Stelle, und Wakantanka, das große Geheimnis, das die Geister Gott nannten, sowie sein Sohn hatten einen Bart. Das war einer der Irrtümer der Geister, die nicht wissen konnten, was ein Geheimnis war; am wenigsten wußten sie vom Großen Geheimnis. Doch hörte Wakiya erstaunt und wißbegierig, wie das Volk Israel verfolgt worden war. Er glaubte, daß dies seine Vorväter gewesen sein müßten, lernte die Namen, Worte und Taten mit großem Eifer und wurde wieder einmal gelobt.
Mit diesem Lob kam er zu Weihnachten nach Hause. Er stapfte mit schlechten Schuhen durch den Schnee, steckte die fröstelnden Hände in die Hosentaschen und fror im Nacken, weil seine Haare kurz geschnitten waren. Am Weihnachtsabend stellte die Mutter einen kleinen Fichtenbaum in der Blockhütte auf und schürte den Ofen kräftiger als sonst ein, so daß das Holz in den Flammen knackte. Für Kerzen reichte das Geld nicht. Aber der Mutter war es darum auch nicht zu tun. Sie erzählte den Kindern, daß der Baum heilig war und wie die jungen Männer das Sonnenopfer bei einem Baume bestanden. Mit aufgerissenen Augen hörte Wakiya zum erstenmal, wie ein Sonnenopfer vor sich ging und welche Qualen junge Männer dabei freiwillig auf sich nahmen. Seine jüngeren Geschwister begriffen noch nicht viel davon, aber Wakiya wußte es nun. Er dachte an Inya-he-yukan, der sicher den Mut zu einem solchen Opfer haben würde. Dann erzählte er der Mutter, wie das Volk Israel verfolgt worden war, und sie hörte ihm zu.
Die Weihnachtsferien gingen schnell vorüber. Wakiya quälte sich wieder über die lange Strecke zur Schule. Miss Lawrence gab noch die meisten Stunden in der Klasse. Aber Wakiya lernte auch einen neuen Lehrer kennen. Er hieß Ball und sprach überall, wo es angebracht oder auch unnütz war, von Geographie. Wakiya lernte begreifen, daß die Welt viel größer war, als er bisher geglaubt hatte. Das erschreckte ihn. Die Flecken, auf denen noch Indianer wohnten, waren in seinem Lande sehr klein. Was für gewaltige und tapfere Männer aber waren doch seine Vorväter gewesen! Wakiya verstand das nicht. Die Mutter konnte es ihm auch nicht recht erklären, und er weinte an einem Sonntag, an dem die Sonne über den Schnee schien, bittere Tränen an seinem einsamen Platz in der Prärie.
Die Mutter hatte von Wakiya erfahren, daß die meisten Kinder erst mit sechs Jahren in die Beginnerklasse kamen. Das hatte sie sich zunutze gemacht und den jüngeren Bruder noch nicht zur Schule angemeldet. Er mußte jetzt an Stelle von Wakiya Wasser holen gehen. Da er gesund und kräftig war, machte ihm dies nicht so viel Mühe. Wakiya hatte noch immer an seiner unheimlichen Krankheit zu leiden. Hin und wieder schüttelte es ihn auch auf seinem Schulweg, besonders wenn er müde und erschöpft nach Hause lief. Dann blieb er wohl in der Prärie liegen und kam erst des Nachts daheim an, oder die Mutter mußte ihn im Schnee suchen gehen und halb erfroren heimtragen. Aber einen sehr schweren Anfall hatte er seit dem Tage, an dem ihm zum erstenmal die Haare geschnitten worden waren, nicht mehr gehabt. Wakiya vermied es, daran zu denken.
Nur tief drinnen in ihm saß noch die Angst, daß sein Geist ihn eines Tages wieder so heftig niederwerfen könne wie an jenem Tage, den er nie vergaß.
Der Abschluß der ersten Klasse stand für Wakiya bevor. Der Winter, die ärgste Zeit für einen langen Schulweg, lag hinter ihm. Er durfte die schlechten Schuhe, die ihm schon zu klein geworden waren, ehe die Mutter neue kaufen konnte, endlich wieder ablegen und barfuß rennen. Es war Mai. Noch war es kühl, die Winde stürmten über die Prärie, es regnete, das neue Gras kam hervor, und weiße, blaue und gelbe Blumen blühten auf. Die Kakteen füllten sich mit Wasser, und die Kiefern kamen mit ihren ersten grünen Spitzen hervor.
Wakiya war nur wenig gewachsen und trotz des Mittagessens in der Schule noch sehr mager. Die Hose, nicht mehr neu, schlotterte ihm nach wie vor um den Körper. Er wußte, daß er trotz häufigen Fehlens in die zweite Klasse versetzt werden konnte. Aber es gab eine neue Angst für ihn. Zu oft geschah es jetzt schon, daß die Lehrerin englische Wörter gebrauchte, die er nicht verstand oder falsch schrieb. David konnte ihm nicht mehr helfen. Wakiya fürchtete sich vor der zweiten Klasse. Er mochte nicht daran denken, wie es ihm dort ergehen würde. Er zählte nur die Tage bis zu den Sommerferien, in denen er daheim bleiben durfte und kein Wort der Geistersprache hören mußte. Mehr als drei Monde währten die Ferien. So lange brauchte er die Schule nicht mehr zu sehen und konnte mit den Geschwistern spielen. Sie wuchsen heran und ließen sich schon gern von Wakiya Geschichten erzählen, die Geschichte vom Steinknaben, der alle Tiere getötet hatte, die er nur treffen konnte, und dafür zu Stein erstarrt im Wasser stehen mußte - die Geschichte von der Großen Bärin, deren Sohn ein Mensch wurde, als eines Nachts eine schöne Frau zu ihm kam, und dessen Kinder auch Wakiyas und seiner Geschwister Ahnen waren - die Geschichte von David, dem Knaben, der einen Riesen mit einem kleinen Stein getötet hatte. Wakiya und sein Bruder übten sich dann im Steinewerfen und wurden zielsicher.
Als der Unterricht in der ersten Klasse schon zu Ende gegangen war und die ersehnten Ferien anfingen, verketteten sich aber noch unvorhergesehene Ereignisse.
Mrs. Whirlwind, Susannes Mutter, war auf den Gedanken gekommen, am dritten Ferientag zwei Schulklassen zu einem Busausflug in die Agentursiedlung einzuladen. Sie war die Frau eines der wenigen erfolgreichen indianischen Rancher auf der Reservation und hatte Geld genug. Die Schule brauchte nichts zuzulegen. Die neue indianische Rektorin hatte nur die Genehmigung zu geben, und diese gab sie gern. Miss Lawrence und Frau Margot Adlergeheimnis wollten mitkommen, um Mrs. Whirlwind zu unterstützen und Ordnung zu halten. Wakiya-knaskiya stieg also zum erstenmal in seinem Leben in einen Bus ein, zusammen mit vielen Kindern, die täglich den Schulbus benutzen konnten. Er schaute sich nicht nach den anderen um, saß stumm und still an seinem Platz und glitt im Bus über die endlose, graue plattgetretene Schlange, die die Geister durch die Prärie gelegt hatten.
Die Agentursiedlung kannte er schon. Dort wohnte der Mann mit der Schere.
Der Bus hielt an einer Ecke an dem großen Laden, in dem die Mutter Mehl, Brot und Fett in einem Korb einzukaufen pflegte. Die Kinder stiegen alle aus und warteten gespannt. Mrs. Whirlwind erklärte ihnen, daß sich jedes Kind der Reihe nach einen Korb nehmen und von einer der vielen guten Sachen, die es in dem Laden gab, etwas in seinen Korb legen dürfe, um es dann mit nach Hause zu nehmen. Aber nur dann dürfe ein Kind etwas in seinen Korb legen, wenn es auf englisch darum gebeten habe. Das machte die Aufgabe bedeutend schwieriger. Erst waren die Kinder der zweiten Klasse daran, unter ihnen auch Susanne und David, der Wakiya verborgen zulächelte.
Es schien alles gut zu gehen, wenn die Lehrerin und Mrs. Whirlwind nur da und dort einmal aushalfen. Dann kamen die Schüler der ersten Klasse mit den Körben an die Reihe, unter ihnen auch Wakiya.
Wakiya wollte Fleisch für die Mutter einkaufen. Fleisch war teuer. Vielleicht durfte sich Wakiya nicht das teure Fleisch auswählen.
Es war in einer besonderen Ecke des großen Ladens gestapelt. Zögernd ging das Kind mit seinem Korb umher.
Da stand auf einmal ein Mann mit toten Augen bei ihm. Wakiya sah nichts als die Lider über den toten Augen. Er sah nicht, ob der Mann groß oder klein, ob er gut oder schlecht angezogen war. Die Augen des Mannes waren tot! Seine Haut war braun, sein Haar schwarz. Der Mann trug einen Korb in der Hand, aber er konnte ja nicht sehen, was es alles in den Korb zu legen gab.
»Bitte, Byron Bighorn, hilf mir. Meine Augen sind tot.«
Wakiya nahm den Mann an die Hand. »Was brauchst du?«
Die Stimme des Kindes zitterte. Was für eine Aufgabe, diesem Mann helfen zu dürfen, und gerade er, Byron Bighorn, von Gestalt der Kleinste und Jämmerlichste, wurde dazu ausersehen.
»Was gibt es denn Gutes für euch hier, Byron? Was würdest du mir in den Korb legen?«
»Fleisch.« Das war Wakiya herausgefahren, weil er die ganze Zeit daran gedacht hatte. »Aber Fleisch ist teuer. Weißt du das?«
»Führe mich bitte hin, Byron, und lies mir vor, was das Fleisch kostet.«
Wakiya führte den Mann zu der Ecke des Ladens, wo die Fleischwaren abgepackt lagen, und las die Preise vor. Er hatte jetzt schon gesehen, daß der Mann gute Schuhe und gute Kleidung trug; sicher konnte er auch viel Geld ausgeben. Wakiya stotterte hin und wieder, wenn er die komplizierten Zahlen vorlesen mußte, doch machte er wohl keinen Fehler. Miss Lawrence, die die Klasse mit Mrs. Whirlwind zusammen begleitete, nickte in ihrer freundlichen Art.
Endlich hatte sich der Mann mit den toten Augen entschieden, daß er Rindfleisch kaufen wollte. Er ließ sich vier Pakete geben, und Wakiya durfte ihn zu der Kasse bei der Tür des Ladens führen und ihm bezahlen helfen. Die blonde Frau an der Kasse lächelte und begrüßte den Mann.
»Mister Crazy Eagle, wieder einmal auf Besuch bei uns? Hat die Universität auch schon Ferien?«
Sie gab Geld heraus. Wakiya zählte es bedächtig und legte es dem Mann mit den toten Augen in das geöffnete Portemonnaie. Dabei schossen die Gedanken wie sich kreuzende Blitze durch Wakiyas Kopf. Crazy Eagle? War das Davids Vater, der fern von der Reservation noch das Studium der Rechte begonnen hatte und nur in den Ferien und selbst da nur selten zu seiner Frau Margot und seinem Sohn David heimkommen konnte? War der Mann mit den toten Augen dieser Ed Adlergeheimnis, von den Geistern >Verrückter Adler< genannt, da sie um die Geheimnisse nicht wußten?
Warum ließ er sich nicht von seinem Sohn David helfen, der doch hier war?
Was wollte er von Wakiya?
Der Blinde ließ sich Wakiyas Korb reichen und legte zwei von den bezahlten Fleischpaketen in diesen.
»Das ist für deine Mutter, Wakiya, für dich und für deine Geschwister. Du hast deine Sache gut gemacht.«
Wakiya stieg das Blut bis zu den Schläfen. Er schaute auf die beiden Fleischpakete. Soviel Fleisch auf einmal hatte es in der Hütte daheim noch nie gegeben. Wie hatte der Mann mit den toten Augen Wakiyas geheimen Wunsch erraten können? Es gab zweierlei Augen, äußere und innere. Wakiya war glücklich.
Dann kam das, was er immer gefürchtet hatte, mit schrecklicher Gewalt hervor. Seine Glieder fingen an zu zucken, und er stöhnte. Während Mrs. Whirlwind, Margot Adlergeheimnis und Miss Lawrence herbeieilten, packte Wakiya die Krankheit, schleuderte ihn und warf ihn hin, und er hörte noch die Schreckensschreie rings, bis er dann nichts mehr wußte, als daß er gequält und gerissen wurde und um sich schlagen mußte, obgleich er es nicht wollte.
Während Wakiya selbst gar nichts mehr wahrzunehmen vermochte, hatten Mrs. Whirlwind und Miss Lawrence die Kinder der beiden Klassen rasch aus dem Laden hinausgeführt. Manche Kinder der ersten Klasse hatten noch nichts in ihren Korb gelegt oder den Korb in der Verwirrung mit zum Bus genommen. Die beiden Frauen hatten genug zu tun, um zu sammeln und zu ordnen, während Margot und Ed Crazy Eagle bei Wakiya knieten, ohne den schweren Anfall mehr brechen zu können. Die Kassiererin geriet in eine unvernünftige Aufregung.
»Um Himmels willen, schaffen Sie ihn fort! Schaffen Sie ihn augenblicklich weg! Wie kann man ein solches Kind überhaupt zur Schule schicken - und dann noch hier im Laden.! Wie verantwortungslos! Was ist das überhaupt?! Es ist ja furchtbar.«
Als der Anfall endlich nachließ, brachte Margot Adlergeheimnis das Kind, das noch nicht wieder bei sich war, in ihren bereitstehenden Wagen. Blaß setzte sie sich an das Steuer, neben sich David, während ihr Mann hinten saß und Wakiya auf seinen Schoß gebettet hielt.
So kam Wakiya zum erstenmal in das Haus seines Freundes David.
Es dauerte lange und war schon Abend, als er wieder recht um sich schauen, seine Umgebung betrachten und beobachten konnte. Es war ihm dabei noch unheimlich zumute, da er sich nicht daheim in der Blockhütte wiederfand.
Endlich aber ließ er es gern geschehen, daß David bei ihm saß und seine schlaff gewordene Hand hielt.
Durch das Fenster sah Wakiya die Abendsonne am Horizont, den runden Schild, die Blutfarbe. Er trank etwas Wasser aus einem Becher. Die Familie Crazy Eagle bewohnte ein Haus bei der Agentursiedlung, wo es eine Wasserleitung gab wie in der Schule. Margot war Krankenschwester und Fürsorgerin; das erklärte sie Wakiya jetzt. Sie kannte seine Muttersprache. Aber Ed, der blinde Mann, der aus einem anderen Stamm kam, kannte diese Sprache nicht.
Die beiden erzählten Wakiya dies und das leise, um ihn von seiner Erinnerung an den Anfall abzulenken. Wakiya hörte wie über eine weite, leere Strecke hinweg zu und schaute unentwegt in das Gesicht mit den toten Augen.
»Wer hat dir die Augen genommen, Crazy Eagle?«
»Der Schmutz und der Sand. Wir waren arm daheim, Wakiya, und hatten noch weniger Wasser als du und deine Mutter.«
Wakiya dachte nach. »Der Alte war auch blind.« Diese Worte sagte er in seiner Muttersprache. Margot und Ed schauten sich an, und Margot übersetzte. Es gab mehr als einen Blinden und viele Augenkranke. Ed und Margot konnten nicht wissen, wen Wakiya meinte, und sie wollten nicht in ihn dringen.
Wakiya aß einen Happen Fleisch. Er lag auf der Küchenbank; die anderen saßen am Küchentisch bei ihm. Die Möbel glänzten weiß. Die Fenster hatten weiße Rahmen wie in der Schule. Wakiya ging wieder in sich zurück. Doch konnte er von dem Gedanken, daß Ed Adlergeheimnis blind sei und doch fern von der Reservation die Worte und Schliche der Geister lernte, nicht loskommen. Er wollte etwas fragen und wußte doch nicht, wie und was. Sie saßen alle um ihn herum; er war aber nicht gewohnt, in dieser Weise im Mittelpunkt zu sein. Rings um ihn war alles fremdartig, und er wußte nicht, wie er hier wieder heraus und nach Hause kommen könnte. Er dachte auch an den Alten und daran, wie er selbst die verlorenen Augen wiedergefunden hatte und daß er das dem Alten nicht mehr sagen konnte. Der Alte ruhte schon lange im Grabe, die Geister aber herrschten.
»Teacock ist ein böser Geist.«
Margot und Ed schauten sich wieder verwundert an. Sie konnten nicht ahnen, auf welchen Wegen Wakiyas Gedanken auf den Namen dieses Lehrers gestoßen waren. Vielleicht war Byron Bighorn von ihm gescholten worden und das Erlebnis wühlte noch in ihm?
Teacock war nicht nur Mathematiklehrer; er hatte sich zu einer Art Befehlshaber in der ganzen Schule gemacht und wurde von den meisten Schülern, ja, auch von manchem Lehrer gefürchtet und gehaßt. Margot wußte das. Fragend schaute sie auf David, der sie verstand und ihr zu Hilfe kam.
»Warum denkst du denn jetzt an den, Wakiya? Er unterrichtet nur von der siebenten bis zur zwölften Klasse, nicht bei uns Kleinen.«
»Er ist ein böser Geist. Weißt du das nicht mehr, David?«
Die Kinder sprachen jetzt in ihrer Muttersprache.
David erinnerte sich wie mit einem Schlag. »Aber er hat Miss Lawrence doch nicht angezeigt, und uns hat er schließlich gelobt.«
Wakiya betrachtete David lange stumm.
Margot Adlergeheimnis fing an sich auch zu erinnern. »Du kannst das dem Vater erzählen, David. Ich glaube, wir haben ihm das nie erzählt.«
David fand Spaß daran, dem Vater die Geschichte zu berichten. Er sprach jetzt wieder englisch, da er mit seinem Vater überhaupt nur englisch sprechen konnte. Die Stammessprache des Vaters hatte er nicht gelernt. David besaß nicht nur ein gutes Gedächtnis. Die Begegnung mit Teacock und das Ergebnis hatten ihm großen Eindruck gemacht, und er konnte sich noch an alle Einzelheiten und an alle Worte, die dabei gesprochen wurden, genau erinnern.
»... zum Schluß aber sagte Mister Teacock noch: Schüler, die nicht Englisch lernen wollen, sind auf einem falschen Wege. Sie werden nur zu leicht Diebe und Mörder, wie es Joe King geworden ist, der die schöne Sprache unserer Welt dann im Gefängnis zu lernen hatte und nun ein Auswurf der Menschheit geworden ist.«
David war sehr stolz, daß er alles richtig zu Ende gebracht hatte.
Wakiya spannte seinen Willen an, der in dem geschwächten und kranken Körper trotz allem mächtig war. Es war ihm bewußt, daß er in diesem Augenblick oder nie genau erfahren würde, was Teacock über Inya-he-yukan zu sagen gewagt hatte.
»Ich habe nicht alles verstanden.«
David wiederholte die ganze Unterredung, alle Worte Theodore Teacocks geduldig in der Stammessprache. Menschen waren nicht so hastig und ungeduldig wie die Geister.
Wakiya merkte genau auf und schrieb alles in sein eigenes Gedächtnis wie ein Krieger seine Nachrichten auf Büffelhaut. Er schrieb mit der unverwischbaren Farbe des Schmerzes.
Ed Crazy Eagle hatte am Ende des englischen Berichts aufgehorcht, er hatte schweigend die Übersetzung abgewartet. Nun fragte er:
»Wer ist das, Joe King?«
»Ein Verbrecher, der leider von unserer Reservation stammt.«
Margots Stimme war traurig wie immer, wenn sie etwas Bösem oder einem Hindernis des Guten begegnete. »Er sitzt jetzt wieder in Untersuchungshaft unter schwerem Mordverdacht.«
Wakiya war aschfahl geworden, und Margot fürchtete einen neuen Anfall. Aber das Kind blieb ruhig. »Ich habe wieder nicht genau verstanden.«
»Das brauchst du auch nicht alles zu wissen, Byron. Das sind Angelegenheiten der Erwachsenen, und sie sind trübe genug.«
Wakiya hatte wie jedes in alter Tradition erzogene Indianerkind gelernt, den Erwachsenen nicht zu widersprechen. Aber sein ganzes Gesicht flehte, und niemand wollte die Verantwortung dafür übernehmen, ihn aufzuregen. David fragte seine Eltern stumm um Erlaubnis und erklärte:
»Joe King ist ein böser Mensch. Er soll jetzt einen Geist getötet haben. Darum ist er in Gefangenschaft bei den Geistern.«
Wakiyas bleiches Gesicht wurde plötzlich dunkel. Was sollte er jetzt tun, was sagen? David hatte die schändlichen Worte Teacocks wiederholt, er hatte einen Wehrlosen das zweitemal berührt, und auch Margot Adlergeheimnis hatte Inya-he-yukan beschimpft. Jene Augen, die wie die Nacht waren mit unbekanntem Licht, schauten Wakiya an, wenn er die Lider schloß. Durfte er schweigen? War das feige? War das Verrat? Was mußte er tun, um nicht das Gesicht jener Augen für immer zu verlieren? Alles wollte er hergeben, auch sein Leben, aber nicht die Augen, die er wiedergefunden hatte. Er wollte ganz und in allem bei seinem Bruder sein, dem er begegnet war.
»Ich lerne auch nicht gut Englisch.« Wakiya sprach die Sprache der Geister, damit ihn alle sogleich verstehen konnten. »Ich werde auch einmal Menschen töten.« Und er dachte an Theodore Teacock und war zugleich voll schmerzlicher Verzweiflung über Margot Adlergeheimnis, die Wakiya geholfen hatte, als es ihn schleuderte und schüttelte, und die mit ihrem Antilopenblick und ihrem weichen Mund sich doch nicht schämte, Inya-he-yukan zu verleumden und den Geistern, die ihn jetzt gefangenhielten, recht zu geben. Inya-he-yukan war gefangen! Seine Augen stießen sich an den Mauern, die die Geister um ihn errichtet hatten. Vielleicht töteten ihn die Geister. Was konnte es sonst noch zu denken geben? Nichts.
Margot, Ed und David Adlergeheimnis waren so betroffen, daß sie erst nach langer Zeit wieder ein Wort herausbrachten.
»Kind, Wakiya, was redest du so irre? Du bist ein guter Schüler. Du kommst jetzt in die zweite Klasse. Nie wirst du einen Menschen töten. Mister Teacock überlegt nicht immer, was er sagt, wenn er zornig ist, und Joe King hat ihn allzusehr aufgebracht, als er noch in eure Schule ging.«
Noch in eure Schule ging! Inya-he-yukan hatte auf den Stühlen, an den Tischen, in den Räumen gesessen, in denen jetzt Wakiya saß. Wakiya legte den Kopf auf ein Kissen zurück, als ob er schlafen wollte. Er wollte aber nur träumen. Daran konnten ihn weder Steinmauern noch Geister hindern. Träume gingen frei aus und ein. Inya-he-yukan war stolz, groß, stark, schlank wie ein junger Krieger. Er würde seinen Feinden auch als Gefangener zu widerstehen wissen. Wakiya-knaskiya träumte für einen Bruder, der sich in Not befand.
Da Wakiya die Augen nicht mehr öffnete, ließ Margot ihn ruhen und breitete nur eine Decke über das Kind, dessen Mund im Traume lächelte. Sie blieb die Nacht über bei ihm sitzen. David und sein Vater legten sich endlich im Zimmer nebenan zu Bett.
Die Ferien gingen vorüber. Es war ein schlechter Sommer. Stürme und Wirbelstürme brausten, Bäume brachen, und den Ranchern entstand Schaden an Vieh. Wakiya konnte nicht oft an seinem Platz in der Prärie sitzen. Er gewöhnte sich daran, in der Hütte auf der Decke zu liegen, wie auch der Vater es in den Jahren seiner Krankheit oft getan hatte. Wakiya-knaskiya - Byron Bighorn hatte erfahren, wie die Geister die Krankheit nannten, an der sein Vater gestorben war - Diabetes oder Zuckerkrankheit - und welchen Namen die Krankheit trug, die Wakiya quälte - Epilepsie.
Die Unterrichtsstunden begannen wieder, und Wakiya lief den weiten Weg, das dritte Jahr nun, als Schüler der zweiten Klasse. Der Weg fiel ihm so schwer wie je, und gegen das Lernen wurde er gleichgültiger, weil er meist müde war. Jeden Monat einmal kam Margot Adlergeheimnis in die Schule, um sich nach Krankheiten der Kinder zu erkundigen. Jedesmal begrüßte sie Wakiya, aber meist schaute er sie gar nicht an, wenn er kurz und undeutlich antwortete. Den Grund dafür konnte sie nicht finden, und so schob sie alles auf seine Schwäche und seine Krankheit, die ihn von den Altersgenossen mehr und mehr fernhielten. Die anderen Kinder konnten das Entsetzen noch nicht vergessen, mit dem sie Wakiyas Anfall in dem Laden miterlebt hatten. Sie scheuten sich unwillkürlich vor ihm, auch wenn die Lehrerin ihnen zu erklären versuchte, daß sie zu Wakiya besonders freundlich und hilfsbereit sein sollten. David saß beim Mittagessen mit seiner Klasse an einem anderen Tisch, und Wakiya schloß sich seit jener Nacht in Davids Heim gegen ihn auch bewußt ab.
So schlich das Schuljahr dahin, und Wakiyas Leistungen ließen weiter nach. Der einzige Mensch, mit dem er sich in dieser Zeit zusammenfand, war seine Mutter, die sich feindselig von Menschen und Welt zurückzog, seitdem sie fürchtete, Wakiya zu verlieren, wie sie seinen Vater verloren hatte.
Gegen Ende des Schuljahres, im Juni, behielt die Mutter Wakiya drei Tage zu Hause, damit er sich von einem Anfall auf dem Schulweg besser erholen konnte. Als er wieder zur Schule ging, gab sie ihm kein Entschuldigungsschreiben mit, denn sie konnte kaum schreiben, und bis dahin waren Wakiyas Schulversäumnisse durch schwere Hindernisse wie Schnee und Sturm immer von selbst entschuldigt gewesen.
Wakiya meldete sich bei seiner Klassenlehrerin, einem jungen blonden eifrigen Geistermädchen. Das Geistermädchen schalt sehr, weil Byron Bighorn unentschuldigt gefehlt hatte. Er hörte sich ihre Worte an, antwortete gar nichts und setzte sich wieder an seinen Platz. Aber sie hieß ihn aufstehen, und er mußte die ganze Stunde hindurch vorn vor der Klasse stehen, weil er unentschuldigt gefehlt hatte und sich auch jetzt nicht entschuldigen wollte. Wakiya schwieg beharrlich, denn er schämte sich, von seinen Anfällen zu sprechen. Miss Gish aber wußte nichts von Wakiyas Krankheit und auch nicht, welchen weiten Weg er täglich zu laufen hatte. Es war ihr nur eingeprägt worden, daß sie bei indianischen Schülern nicht die geringste Disziplinlosigkeit durchgehen lassen dürfte.
Am Ende des Schultages wurde Byron Bighorn auf das Rektorat gerufen. Dort saß eine ernste, strenge Frau mit brauner Haut und schwarzem Haar. Sie wartete lange auf Wakiyas Erklärung oder Entschuldigung. Als sie nicht mehr zweifeln konnte, daß auch sie von dem Kind keine Antwort erhalten würde, gab sie ihm einen Brief, den er seiner Mutter zu bringen hatte.
Der Tag war schwül. Nachmittags fühlte sich die harte Erde selbst für Wakiyas dickhäutige Fußsohlen heiß an. Er lief langsamer als sonst nach Hause und gab seiner Mutter des Abends stumm den Brief.
Sie öffnete ihn, aber ihre geringen und halb wieder vergessenen Schulkenntnisse reichten nicht hin, um ihn zu lesen. So gab sie den Brief Wakiya zurück. Er las vor und übersetzte nach bestem Wissen.
>Ihr Sohn, Byron Bighorn, ist der Schule drei Tage lang unentschuldigt ferngeblieben und hat auch nachträglich keine Entschuldigung vorgebracht. Die Eltern sind dafür verantwortlich, daß ihre Kinder die Schule besuchen. Bleiben die Kinder unentschuldigt fern, so werden die Eltern mit Gefängnis bestraft. Wir sind leider gezwungen, beim Superintendent Anzeige gegen Sie zu erstatten.<
Die Mutter kam ins Gefängnis! Wakiya aber würde mit den kleinen Geschwistern allein sein - allein würde er Brot, Mehl, Fett holen - allein bis zur Agentursiedlung und zurück laufen müssen -und die Schule wieder versäumen - und selbst auch ins Gefängnis kommen.
Wie Inya-he-yukan.
So mochte eben alles seinen Lauf nehmen.
Wakiya legte sich auf die Decken in der schwül-heißen Blockhütte und schaute zum Dach hinauf, durch das der Rauch des Herdofens abzog.
Die Mutter sagte gar nichts. Aber schon vor Anbruch des nächsten Tages kochte sie für drei Tage für die Kinder, schnürte ein kleines Bündel und ging fort. Wakiya machte sich nicht viel später auf den Weg zur Schule. Er hörte die Fragen der Lehrerin an diesem Tage überhaupt nicht und mußte eine Strafarbeit schreiben, während die anderen Kinder in der Pause spielten. In der Zeichenstunde durften die Kinder mit Buntstiften malen. Sie konnten sich das Bild, das sie malen wollten, selbst ausdenken. Als manche zweifelnd schauten, sprach die Lehrerin von dem schönen schnellen Schulbus, in dem jeden Morgen und jeden Nachmittag kleine Buben und Mädchen in bunten Hemden und bunten Blusen saßen. Vielen Kindergesichtern war anzusehen, daß sie nun wußten, was sie malen würden, und daß sie sich freuten. Wakiya hatte die Worte der Lehrerin an sich vorbeifließen lassen. Er brauchte keine Ratschläge. Er hatte ein eigenes großes Vorhaben. Sein Gesicht war sehr ernst, und ehe er das weiße Blatt für seinen Plan einzuteilen begann, saß er einige Minuten da, in sich gekehrt und nur mit seinen Gedanken und Träumen beschäftigt, wie ein Geheimnismann, der einen Zauber beschwören will. Endlich fing er an, mit seinen bunten Stiften zu malen. Die Augen glühten ihm, und das Blut pulste ihm bis in die Fingerspitzen. Er wollte das Bild malen, das Teacock töten würde. Er wollte den bösen Geist in das Bild bannen und töten. Teacock würde sterben. Sobald das Bild gemalt war, war Teacock tot, auch wenn er vor den Augen der unwissenden Geister noch einige Monde und Sonnen wie lebend umherlief.
Wakiya malte mit der bunten Kreide den getöteten bösen Geist, der seinen Skalp verloren hatte. Als die Bilder am Ende der Stunde eingesammelt wurden, zeigte es sich, daß ein anderer Schüler Tatanka-yotanka gemalt hatte, den einst aufständischen und dann ermordeten Häuptling. Die übrigen Kinder hatten den Schulbus gemalt. Die Lehrerin hätte das von Wakiya gemalte Bild am liebsten verschwinden lassen, weil sie schon wußte, daß sie selbst Schwierigkeiten dadurch haben würde. Aber sie wagte doch nicht, es beiseite zu bringen, sondern schloß es mit anderen Bildern zusammen in den Schrank ein. Die drei besten Bilder des Schulbusses mit seinen kleinen Insassen wurden an der Wand des Klassenzimmers angebracht.
Als Wakiya nach diesem Schultag heimkam, traf er die Mutter an, die einen Teil des vorgekochten Essens aufwärmte. Schweigend aßen Mutter und Kinder miteinander. Auf dem Nachtlager, während die Kleinen noch schliefen und draußen noch viele Grillen im Grase zirpten, erzählte Eliza Bighorn ihrem Ältesten:
»Ich war bei Margot Adlergeheimnis, und sie hat mir einen Brief an den Superintendent geschrieben. Von dort haben sie mich mit dem Brief zum Gericht geschickt. Ed Adlergeheimnis ist Richter geworden bei uns, obgleich er in einem fremden Stamm geboren wurde. Er hat ausgelernt im Hohen Hause der Geister, alle Schliche und Tücken. Aber er hat mich nicht ins Gefängnis geschickt. Ich brauche nicht ins Gefängnis zu gehen. Er wird das an die Schule schreiben.«
Wakiya atmete tief auf und klammerte sich an die Mutter.
»Noch etwas, hör zu, Wakiya. Ich habe es gehört, als ich beim Superintendent wartete. Inya-he-yukan, den die Geister Joe King nennen, ist wieder frei. Sie sollen ihn Tag und Nacht befragt haben, so daß er nicht schlafen konnte. Aber er ist ein tüchtiger Bursche, das ist das Blut der Inya-he-yukan. Sie haben ihm nichts bewiesen, und er ist frei.«
»Mutter - kommt er wieder in die Prärie?«
»Wie soll ich das wissen, Wakiya, er geht und kommt wie der Wind. Aber seinen alten Vater wird er doch einmal besuchen, obzwar sich die beiden immer schlagen, wenn sie beisammen sind. Der Alte trinkt zuviel von dem Zauberwasser der Geister.«
Die Mutter hatte keinen anderen Vertrauten mehr als Wakiya, und wenn sie überhaupt sprechen mochte, sprach sie mit ihm.
In der Schule herrschte in den nächsten Tagen große Aufregung. Die Schüler flüsterten und munkelten, und im Lehrerzimmer wurde diskutiert. Das Bild, das Wakiya gemalt hatte, war bekannt geworden, niemand wußte recht, auf welche Weise. Theodore Teacock hatte den Toten als sich selbst identifiziert; er fühlte sich getroffen und ermordet und beschwerte sich über Lehrerin und Schüler bei der Rektorin. Die Zeichenlehrerin und Wakiya wurden zusammen auf das Rektorat gerufen. Theodore Teacock stand schon dort.
»Sehen Sie sich dieses Bild an! Das ist die Schule des Joe King. Ich bitte, diese Angelegenheit auf das strengste zu untersuchen! Auch Joe King hat mich schon als Schüler bedroht. Jetzt läuft er wieder frei herum; er trampt, bis sein geschorener Kopf wieder mit Haaren bedeckt ist, dann ermordet er den nächsten Menschen, und vielleicht bin das ich!«
»Vorsorgliche Haft gibt es nicht, Mister Teacock. Es ist nichts geschehen, und ich kann gegen Joe King keinen neuen Haftbefehl beantragen.«
Die Rektorin blieb ernst und streng.
»Nichts geschehen! Als ob das Bild hier nicht genügt! Nie kommt ein Kind von acht Jahren selbst auf den Gedanken, mich ermorden zu wollen! Das ist ihm von einem Verbrecher eingegeben worden!«
»Byron Bighorn, hast du Joe King irgendwo getroffen?«
Wakiya schüttelte den Kopf. Mit Joe King hatte er nichts zu schaffen. Der ihm einmal den Wassereimer getragen hatte, das war Inya-he-yukan.
»Es ist nichts zu machen, Mister Teacock. Ich finde die Ähnlichkeit des Bildes mit Ihnen auch nicht eben groß. Ich werde nachforschen, ob den Kindern etwas im Fernsehen gezeigt worden ist. Vielleicht stammen von daher die blutrünstigen Phantasien.«
Theodore Teacock ging, nur halb erleichtert.
Wakiya und die Lehrerin wurden auch entlassen.
Wakiya summte vor sich hin, was er sonst nie tat. Es war ihm nicht nur gelungen, Teacock zu töten. Es war ihm gelungen, ihn in Schrecken zu setzen. Wie feige war der mächtige Geist! Er hatte Angst vor Inya-he-yukan.
Beim Abschluß der zweiten Klasse erhielt Wakiya eine sehr schlechte Betragenszensur. Auch seine Leistungen waren wieder merklich zurückgegangen. Doch wurde er noch in die dritte Klasse versetzt.
In den ersten Ferientagen wollten Mrs. Whirlwind und Margot Adlergeheimnis den Busausflug in die Agentursiedlung und den Einkauf im Selbstbedienungsladen mit den Kindern wiederholen, und sie freuten sich nach den im allgemeinen guten Erfahrungen des vergangenen Sommers, diesmal vier Klassen mitzunehmen. Die Lehrer waren der Meinung, daß der Ausflug zum Erlernen der englischen Sprache angefeuert habe. Wakiyas Klasse sollte wieder teilnehmen. In Wakiya wurden die Schreckenserinnerungen wach. Doch glaubte Margot Adlergeheimnis, daß diese Erinnerungen am besten durch eine neue gute Erfahrung überwunden werden könnten und auch die anderen Kinder nicht etwa glauben sollten, daß Wakiya nun nicht mehr mitfahren dürfe. Sie wollte Wakiya mit David zusammen in ihren eigenen Wagen nehmen und die Nacht vorher und nachher bei sich behalten, damit er sich möglichst wenig anstrengen mußte. Margot Adlergeheimnis wurde zu ihrem besonderen Eifer noch durch eine unausgesprochene Absicht angetrieben. Vielleicht fand sie eine Gelegenheit zu erforschen, was sich Wakiya bei dem Bilde gedacht hatte, um das so viel Unruhe entstanden war. Mutter Bighorn gab Wakiya widerwillig die Erlaubnis mitzugehen. Sie wollte nicht Ed Adlergeheimnis kränken, der ihr das Gefängnis erspart hatte. So kam es, daß Wakiya bis zur Straße lief, die in seinen Augen noch immer eine Schlange war, und dort nachmittags von Frau Margot mit dem Wagen in Empfang genommen wurde. Er begegnete ihr kühl, wenn auch nicht eben feindselig. Vielleicht hatte sie ihre falschen und beleidigenden Ansichten über Inya-he-yukan inzwischen geändert.
Auf der Fahrt zur Agentursiedlung ging es durch einen heftigen Platzregen hindurch. Die Scheibenwischer wurden mit der triefenden, klatschenden Nässe kaum mehr fertig. Als der Regen aufhörte, blieb der Himmel mit einem drohenden Gelb am Horizont noch verschwommen leuchtend, und für die Nacht wurden weitere Unwetter erwartet. Die Menschen in der Siedlung waren besorgt. Sie sicherten die Fensterläden und verrammelten alle Türen, die nicht unbedingt gebraucht wurden. Die Feuerwehr stand in Alarmbereitschaft. Die Büros waren bereits geschlossen.
Wakiya sah sich das alles gleichgültig an. Er war ein Leben in der Wildnis ohne viel Schutz gewohnt. Als Frau Margot den Wagen in der Garage abstellte, fragte er mit den Augen, ob er etwas tun oder helfen könne. Margot Adlergeheimnis freute sich über die Hilfsbereitschaft des Kindes und kam auf den Gedanken, Wakiya rasch noch zu einem Einkauf zu schicken. Sie gab ihm Geld und bat ihn, ein halbes Kilogramm Margarine in dem Selbstbedienungsladen zu holen, ehe dieser schloß, Wakiya lief los, das Geld in der Hand.
Der Selbstbedienungsladen lag an einer Ecke der Agenturstraße, die jetzt menschenleer war. Vor dem Laden, ein paar Schritte von der der Hauptstraße zugewandten Schaufensterscheibe entfernt, stand ein junger Mann, groß gewachsen. Er betrachtete nicht das Schaufenster, sondern blickte die Straße hinunter, als ob er jemanden erwarte. Sein weißes Hemd klebte vor Nässe an Brust und Schultern; seine schwarzen Niethosen waren naß bis über die Knie, und naß war der schwarze Cowboyhut. Der junge Mann mußte wohl in dem Sturzregen draußen gewesen sein.
Wakiya spielte mit dem Geldstück in der Hand, als ob er nochmals überprüfe, was er für den geplanten Einkauf auszugeben habe. Halb verdeckt spähte er nach dem Ledergürtel des Mannes und nach einem Messergriff, der am oberen Rande des rechten Schaftstiefels sichtbar wurde. Wakiya erkannte diesen Griff sofort wieder, wenn ihm auch sonst der Mann fremd geblieben wäre. Es war der Griff zu einer schmalen spitzen Klinge. Wakiya sah Joe King und sein Stilett.
Wakiyas Herz klopfte, aber er versteckte sich vor sich selbst und seinen brennenden Wünschen und wollte an Joe King schnell vorbei in den Laden huschen. Er wagte nicht einmal, ihm einen Augenblick ins Gesicht zu sehen. Von irgendwoher bedrückte ihn die Angst, daß er Inya-he-yukans Augen nicht darin wiederfinden würde oder daß sie ihn verbrennen müßten, wenn er zu neugierig war.
Aber ein »Hay!« ließ seine Füße anhalten. Er stand und blickte zu Boden.
»Komm, bring mir eine Schachtel Zigaretten aus dem Laden mit.«
Die Stimme ging Wakiya durch Leib und Glieder, die Worte blieben ganz gleichgültig. Als er auf den Mann zulief, erkannte er das Gesicht, ein noch junges mageres Gesicht, scharf aus natürlicher Anlage, schärfer geworden im Leben, und Inya-he-yukans Augen schauten ihn an.
Wakiya nahm das Geldstück. Die Hand, die es ihm gab, war schlank gewachsen. Er lief in den Laden, legte Margarine in den Korb und ließ sich von der Kassiererin eine Schachtel Zigaretten geben. Bei den Zigaretten bekam er noch etwas Geld heraus. Die blonde Kassiererin, die sonst keinen Kunden im Laden hatte, war unaufmerksam und langsamer als sonst. Sie äugte durch die Schaufensterscheibe und murmelte vor sich hin: »Damned, das ist doch Joe King.«
Als Wakiya den Laden verließ, war auf der gegenüberliegenden Straßenseite noch ein zweiter Mann aufgetaucht, ebenfalls groß, breiter in Schultern und Hüften und mit etwas hellerer Haut. Auch er trug die übliche Kleidung, aber in bunten Farben.
Wakiya hatte sich die Fähigkeit bewahrt, das Unausgesprochene zu begreifen, wenn es stark gefühlt und gedacht wurde. Diese beiden jungen Männer, die auf der leeren Straße einander gegenüber standen, waren Feinde. Jeder von ihnen tat, als ob der andere nicht vorhanden sei und nicht bemerkt zu werden brauche. Beide schauten in der gleichen Richtung die Straße hinunter, als ob sie jemanden erwarteten.
Joe King nahm die Zigaretten und den Rest Geld. Seine Mundwinkel waren durch ständige Gewohnheit herabgezogen, haßgeformt, spöttisch. Jetzt spielte ein ungewohntes, zartes, ernsthaftes Lächeln darum; das war Inya-he-yukan. Wakiya fühlte, daß er wiedererkannt war, und auch er lächelte wie ein erster Sonnenstrahl nach grauem Wetter.
»Bei wem wohnst du hier?« Inya-he-yukan sprach die Stammessprache.
Wakiya schämte sich, ohne nachzudenken, warum.
»Ich wohne bei Wambeli-wakan. Aber nur zwei Nächte.«
Joe King spuckte aus. Er tat es in Richtung des Mannes auf der anderen Straßenseite; so waren zwei Gegner auf einmal mit der Geste der Verachtung getroffen.
»Bei Wambeli-wakan wirst du ja gehört haben, daß ich ein Dieb und ein Mörder bin.«
Aus den dunklen Augen war etwas wie Feuer gekommen, das Wakiya heiß brannte.
»Ich töte auch einen Mann, Inya-he-yukan. Einen Geist.«
Joe King fuhr zusammen, als ob er einen völlig unerwarteten Schlag erhalten habe. Es konnte sonst nicht seine Art sein, sich verblüffen zu lassen. Er wunderte sich wohl nicht nur über Wakiya, sondern ebenso über sich selbst und fragte aus seinem Verwundern heraus langsam, als ob er einen vollgültigen Menschen vor sich habe: »Wen tötest du? Und wie ist dein Name?«
»Mein Name ist Wakiya-knaskiya. Ich töte Theodore Teacocks Bild, das tötet ihn selbst. Er hat dich beleidigt, Inya-he-yukan.«
Der Mann kämpfte mit seiner eigenen zerrissenen Stimmung, jetzt zwischen Drohung und Lachen.
»Theodore Teacock wirst du nicht töten, Wakiya-knaskiya. Ich will es nicht. Er gehört nicht in den Tod, er gehört an den Schandpfahl. Er gehört nicht dir, er gehört mir. Er muß leben, bis ich ihm vor aller Ohren bewiesen habe, daß er falsch geschworen hat und daß ich nie gestohlen habe. Solange lebt er.« Wakiya war erschrocken.
»Du bist stärker als ich, Teacock ist dein. Du kannst meinen Zauber aufheben.«
»Lauf heim, Wakiya-knaskiya. Es gibt bald einen bösen Sturm.«
Wakiya machte kehrt. Er hörte dabei noch, daß ein altes knatterndes Auto von fern die Straße heraufkam, und spürte, wie die beiden feindlichen jungen Männer auf das Geräusch horchten. Inya-he-yukan zog ein einzelnes Streichholz aus der Tasche, brachte es mit einem Schnellen des Daumennagels zum Brennen und steckte sich eine Zigarette an. Er schaute nicht mehr die Straße hinunter, sondern drehte seinem Gegner den Rücken und schien die Auslagen im Schaufenster zu betrachten.
Wakiya langte im Hause Adlergeheimnis an. Frau Margot war froh, daß das Kind richtig und ohne Verzögerung eingekauft hatte.
Die Familie aß am blanken Küchentisch. Da ein Unwetter drohte, wurden David und Byron nicht zu Bett gebracht, sondern lagen angekleidet auf einer Couch im Wohnzimmer unter einer Wolldecke. Auch Frau Margot und Ed gingen nicht schlafen. Mäntel und Koffer wurden bereitgelegt. Der Radioapparat war angeschaltet und brachte von Zeit zu Zeit Nachrichten über den Weg, den der Wirbelsturm nahm. Nun hofften alle, daß sein Kern an der Reservation vorbeigehen würde und man nur die Ausläufer zu fürchten habe.
In der Nacht brach das Unwetter mit unheimlicher Gewalt los. Der Sturm tobte wider die Holzhäuser, die ihm lästig im Wege lagen, Bäume knickten zusammen; ihr wehrloses Ächzen schreckte die Menschen. Das Haus Adlergeheimnis zitterte; auf dem Dach splitterte und krachte es; niemand wußte, was da geschah. Mit Geklirr brach ein Fenster in die Stube herein; der Sturm hatte es mit einer Kiste eingeschlagen; wer konnte sagen, woher er sie gebracht hatte. Die Sirenen der Feuerwehr wollten gegen das Brausen des Sturmes anheulen; aber sie klangen nur schwach und verweht, als ob die Töne fortgeschleppt würden von den Häusern der Menschen über die wilde Prärie. Durch das zersplitterte Fenster sah Wakiya draußen Feuerschein: ein Haus brannte.
Frau Margot Adlergeheimnis betete zu Gott und Wakan-tanka, zu allen Heiligen und allen guten Geistern um ihren Mann und um die Kinder. Sie betete laut, aber ihre Stimme mischte sich mit dem zischenden Fauchen, mit dem die Luft durch das gewaltsam geöffnete Fenster hereinschoß, und die Worte waren nicht zu hören. Wasser brach vom Himmel. Der Feuerschein erlosch. Es platschte, der Regen kam durch Fenster und halb abgedecktes Dach. Auf dem Boden schwamm das Wasser. David zog die Decke bis über den Kopf, aber schon sickerte es durch.
Da der Sturm etwas nachließ, schienen die Sirenen lauter zu heulen. Auf der Straße wurde geschrien und gerufen. Margot versuchte die Tür zu öffnen, aber dagegen stand die Macht des Sturmes noch zu stark. Sie schaute durch ein kleines Fenster. Die Straße war ein Bach geworden, das Gärtchen war verwüstet.
Noch einmal setzte der Sturm an. Das Haus bebte in seinen Fugen, die Möbel rückten sich selbst vom Platz. Das Radio war längst abgeschaltet. Kein Licht durfte brennen. Die vier Menschen drängten sich im Dunkel zusammen.
»Jesus, Maria und alle Geheimnisse, möge in dieser Nacht niemand draußen sein!«
Wakiya dachte an Inya-he-yukan. Das war ein Mann, der eine solche Nacht bestehen konnte.
Wakiya dachte auch an Mutter und Geschwister. Die Blockhütte war fester und lag besser geschützt als die bunten leichten Geisterhäuser, und in der Blockhütte gab es keine Möbel, die wie Bälle herumrollen würden, außer dem eisernen Ofen, diesem Erzeugnis der Geisterwelt. Wakiya blieb ruhig; er fürchtete sich nicht.
Endlich ließen Sturm und Regen nach.
Frau Margot machte sich daran, das Wasser vom Boden zu wischen.
Schon meldeten sich auch die ersten Flüchtlinge aus Häusern, die zerstört oder deren Dach ganz abgedeckt war. An Schlafen konnte niemand denken.
Erst als der Morgen kam, wurde man sich recht bewußt, was alles geschehen war.
Der Schaden am Haus Adlergeheimnis gehörte zu den geringen. Nachbarn und Freunde kamen und halfen, die Löcher im Dach zunächst notdürftig zu decken. Für zwei Wochen war in der Siedlung genug Arbeit dieser Art. Von Familie zu Familie gingen die Nachrichten, ob die Menschen noch lebten und heil seien. Von dem Busausflug zu dem Laden sprach niemand mehr. Der Wagen Margots war samt der Garage beschädigt, und sie konnte Wakiya noch nicht heimfahren.
So blieb er zunächst im Hause Adlergeheimnis und mit David zusammen.
Da er das erstemal zuverlässig eingekauft hatte, schickte ihn Frau Margot in den nächsten Tagen ein paarmal allein oder mit David zu dem Laden. Ihre Lebensmittelvorräte waren durch das Wasser verdorben.
Kunden des Supermarkts waren sowohl Geister als auch Menschen.
Wakiya-knaskiya hegte nicht die Hoffnung, Inya-he-yukan dort noch einmal zu begegnen. Aber er lauschte aufmerksam auf alles, was bei der redseligen Kassiererin gesprochen wurde, und Frau Margot wunderte sich zuweilen und wunderte sich doch nicht, daß er lange ausblieb. Indianer waren immer reich an Zeit, und woran sie reich waren, das verschenkten sie auch großzügig.
Wakiya lernte bei seinen Kundschaftsgängen, auf englische Worte genau zu achten. Doch mußte er David noch oft um Hilfe bitten, wenn er die Namen und den Zusammenhang der Sätze verstehen wollte.
»Was um des Himmels willen wird aus Queenie Halkett geworden sein! Sie ist am Abend vor dem Sturm mit ihrem alten Ford hier durchgefahren. Sie kann noch nicht zu Hause gewesen sein. Die Ranch liegt weit entfernt...«
»War denn das Mädchen allein?«
»Allein im Wagen! Es hätte sie doch einer von der Familie abholen können. Die Indianer sind oft zu leichtsinnig.«
»Aber die Halketts sind solide Rancher.«
»Sicher, sicher, aber.«
»Wo steckt denn Harold Booth?«
»Wo soll er stecken? War doch noch hier am Abend.«
»Eben. Aber die Ranch der Booth liegt auch nicht in der Nähe.«
»Ist nicht Joe King noch gesehen worden?«
»Dem kann nichts lieber sein als eine dunkle Nacht!«
»Die Booth und die King sind sich schon lange feind.«
»Haben Sie gehört? Der alte Halkett war da.«
»Lebt Queenie noch? Es wird ihr doch nichts zugestoßen sein?«
»Nichts passiert. Das Auto läuft auch schon wieder. Aber in der Prärie liegen Tote.!«
»Ein Haufen Tote.?!«
»Nein - einer.«
»Nein, zwei sollen es sein. Runzelmann soll das erzählt haben.« »Drei, hat Halkett gesagt!« »Woher wissen Sie?« »Verunglückt?«
Achselzucken.
»Was... nicht?«
»Doch nicht ermordet?!«
»Erschossen?«
»Erstochen?«
»Himmel und Hölle! Wozu haben sie den Burschen wieder freigelassen!«
»Wissen sie schon, wer die Toten sind?«
»Nein? - Keine Hiesigen? Wo kommt das Gesindel auf einmal her?«
Das alles fing Wakiya-knaskiya auf. Er hatte keine Eile, sich heimfahren zu lassen zur Mutter, obwohl der Wagen längst wieder in Ordnung war. Frau Margot und David glaubten, daß Wakiya sich in ihrem ordentlichen Hause mit Wasserleitung und weißem Kinderbett wohler fühlte als daheim. Sie täuschten sich. Er hatte andere Gründe auszuharren.
Ed Adlergeheimnis, der Vater, sagte nichts zu der Sache; stillschweigend gab er die Erlaubnis, daß Wakiya noch in der Siedlung blieb. Die Mutter, die zum Einkaufen in die Siedlung kam, widersprach nicht.
Wakiya kannte sich in seiner neuen Umgebung schon aus. Er wußte, in welchem Hause der Superintendent, der allmächtige Vater der Reservation, seinen Sitz hatte, wo die übrigen halbmächtigen Geister zwischen Stühlen und Schreibtischen zu finden waren, wo der Stammesrat tagte, wo das Gerichtshaus des Stammes und wo das kleine Gefängnis stand, in dem die Mutter hatte büßen sollen, daß Wakiya unentschuldigt von der Schule ferngeblieben war.
Wakiya war viel unterwegs, und wenn Ed Crazy Eagle, der Blinde, Zeit hatte, erlaubte er dem Kind, seine Fragen zu stellen. Die beiden saßen sich am Tisch im Wohnzimmer gegenüber. David hörte gespannt zu.
»Vater Ed Crazy Eagle! Sind Indianer dümmer als Geister?« Wakiya mußte mit dem Blinden englisch sprechen, und er hatte sich schon daran gewöhnt, daß in dieser Straße Menschen >Indianer< und Geister >weiße Männer< hießen. Doch brachte er dies auch zuweilen noch durcheinander, nicht ganz ohne Absicht.
»Sie sind nicht dümmer, Kind.«
»Warum haben uns die Geister besiegt?«
»Weil wir unseren klugen Kopf noch nicht richtig gebraucht haben. Es nützt nichts, wenn einer ein Pferd hat. Er muß es auch reiten können.«
»Wie können wir lernen, unseren Kopf richtig zu reiten?«
»In der Schule.«
Wakiya war mit dieser Antwort nicht zufrieden. »Dort lerne ich aber nicht alles, was ich wissen möchte.«
»Was möchtest du wissen, Wakiya?«
»Alles über Tashunka-witko, unseren Häuptling.«
»Der Große Vater in Washington hat ihn den größten Reiterführer aller Zeiten genannt.«
»Ist Tashunka-witko in die Geisterschule gegangen?«
»Nein.«
»Hat er seinen Kopf nicht richtig gebraucht?«
»Er hat nicht gewußt, wie groß die Zahl der weißen Männer ist. Weil er nicht in die Schule gegangen ist.«
»Aber hat er gewußt, was recht ist und was unrecht ist?«
»Das wußte er, Byron Bighorn.«
»Wissen die weißen Männer immer, was recht und was unrecht ist?«
»Sie haben dicke Gesetzbücher, darin steht das geschrieben.« »Steht darin geschrieben, daß unser Land ihnen gehört?« »Ja, auch das.«
»Ist das recht oder ist es unrecht?«
»Eure Väter haben viele Männer des Absaroka-Stammes getötet und ihnen Prärie und Büffel weggenommen. War das recht oder war es unrecht, Byron Bighorn?«
Wakiya überlegte lange.
»Sie haben aber mit gleichen Waffen gekämpft, darum ist es nicht schmählich gewesen.«
»Du könntest ein Rechtsanwalt werden, Byron Bighorn!«
Des Nachts, als alle schon in ihren Betten lagen, sprach Ed leise zu Margot, und er bemerkte nicht, daß Wakiya noch nicht schlief: »Wakiya ist unglaublich begabt und aufgeweckt. Wenn ich nur wüßte, was man für ihn tun könnte.«
»Er ist epileptisch, Ed.«
»Ich weiß. Das ist schlimmer als blind, weil man die Anfälle nie berechnen kann.«
Wakiya lag in dem weißbezogenen Kinderbett, und als er die anderen endlich Schlafend atmend hörte, ließ er die Tränen in seine geöffneten Augen treten.
Am nächsten Morgen spähte er aus einem versteckten Winkel, den er sich ausgesucht hatte, wieder einmal über die Agenturstraße.
Der Gefangenenwagen der Polizei fuhr vor das Gerichtsgebäude. Der große und der kleine Polizist, die Wakiya schon kannte, stiegen aus, öffneten und schafften Joe King in Handschellen in das Gerichtsgebäude.
Wakiya-knaskiya hatte genug gesehen. Er lief zurück in das Haus Adlergeheimnis, suchte in Davids Bilderbüchern herum, ohne David, der dabeisaß, zu beachten, und blieb mit seiner Aufmerksamkeit an einem Kinderbuche hängen. »Two Feet« hieß es. »Zweifuß« war ein Indianerbub, der einem Mustang half, und dieser half wiederum dem Jungen.
Wakiya las das ganze Buch sich selbst laut vor; es waren viele Bilder darin und wenige Wörter in großen Buchstaben; damit kam er schon zurecht. Frau Margot hörte zu, störte Wakiya nicht, war aber besonders freundlich zu ihm, weil sie glaubte, daß er lernen wollte. Er zielte aber nur darauf, an diesem Tage Lob zu ernten, damit Vater Ed Crazy Eagle am Abend freundlich gestimmt wäre.
Das erreichte er allerdings nicht so vollständig, wie er es sich gewünscht hatte, denn Vater Ed kam sehr ernst und sehr müde nach Hause.
Um ihn aufzumuntern, erzählte Frau Margot, wie eifrig sich Byron im Lesen geübt habe.
»So wirst du jetzt doch Englisch lernen und keinen Menschen töten!«
Ed Crazy Eagle hatte die merkwürdige und erschreckende Antwort Wakiyas aus einem früheren Gespräch offenbar noch im Gedächtnis.
Was aber während seines Arbeitstages dem blinden Richter die neue Anknüpfung an solche Gedanken gegeben hatte, konnte Wakiya nicht wissen. Das Kind benutzte jedoch die Bemerkung des Erwachsenen, um zu seinen eigenen Fragen zu leiten.
Da Vater Ed mit seiner Frage die Erinnerung an Theodore Teacock und an Joe King aufrührte, sprang Wakiya unmittelbar und mit wohlgesetzten Wendungen darauf an.
»Ist es wirklich wahr, Vater Crazy Eagle, daß Joe King im Gefängnis die schöne Sprache unserer Welt gelernt hat?«
»Wie kommst du denn auf solche Worte, Byron! Bist du schon ein Redner geworden?«
»Mister Teacock hat so gesprochen.«
»Ah - damals - und daher die wohlgesetzte Floskel. Schöne Sprache unserer Welt! Ja, Joe King hat wahrhaftig Englisch gelernt, nicht einmal das schlechteste. Wer weiß, wem er im Gefängnis begegnet ist.«
Wakiya-knaskiya, dem es gelungen war, Vater Ed Crazy Eagle auf das gewünschte Thema zu bringen, raffte allen Mut zusammen. Er wollte nicht so feige sein, seinen Freund zu verleugnen, wo es schwer war, von ihm zu sprechen.
»Was macht ihr nun mit Inya-he-yukan?«
»Wen meinst du?«
»Joe King.«
Ed Crazy Eagle, der Blinde, horchte auf den Ton in Wakiyas Worten. Da gärte mehr als Neugier. Wie sollte er sich nun dem Kinde gegenüber verhalten? Das beste war wohl, ihm zu antworten, wie er auch einem Erwachsenen auf diese Frage geantwortet hätte. Frau Margot strich ihrem Mann warnend über die Hand. Aber Ed ließ sich nicht abhalten.
»Joe King ist wieder frei. Die erschossenen und erstochenen Banditen, die Vater Halkett gefunden hat, gehen uns nichts an. Sie sind als üble Gangster identifiziert. Kämpfe der Gangster untereinander. Das ist eine Welt für sich und keine schöne. Wir forschen nicht weiter nach. Was aus Harold Booth geworden ist, wissen wir nicht. Er ist verschwunden. Aber es gibt keine Beweise dafür, daß Joe ihn getötet hätte. Joe King wird übrigens Queenie Halkett heiraten.«
»Was?!« Margots braune Antilopenaugen weiteten sich nicht nur erstaunt, sondern entsetzt.
Ed lächelte kummervoll. »Unser schönstes und tüchtigstes Mädchen hier. Sie hat ein ausgezeichnetes Zeugnis über den Abschluß der elften Klasse der Kunstschule für Indianer. Aber gegen die Liebe ist kein Kraut gewachsen.«
»Hat Joe denn Arbeit?«
»Damit wird es schwerhalten. Die Angelhakenfabrik will ihn nicht haben. Vater Halkett nimmt einen Joe King nicht bei sich auf. Das junge Paar wird wohl auf die Ranch zu dem alten King ziehen müssen.«
»Zu dem Trinker? Schrecklich.« Ein neuer Seufzer Frau Margots über die böse Welt klang in den Worten mit.
Ed zuckte die Achseln. »Was willst du machen?«
Bis zum nächsten Morgen wußte Wakiya-knaskiya aus diesem Gespräch auch alles das, was er zunächst nicht genau verstanden hatte. Er bat darum, daß er wieder heimgehen dürfe zur Mutter, und Frau Margot verstand diesen Wunsch und brachte das Kind mit dem Wagen so weit, daß es das letzte Stück des Heimwegs laufen konnte, ohne daß sich Frau Margot Sorgen darum zu machen brauchte.
Wakiya-knaskiya rannte die verbleibende Strecke zu der kleinen Blockhütte in der freien Prärie. Er fiel der Mutter um den Hals, und Eliza Bighorn weinte und lachte, weil ihr ältester Junge wieder bei ihr bleiben wollte. Die Geschwister zogen an ihm mit Händen und Fragen; er sollte ihnen erzählen, was er bei den Geistern erlebt hatte.
Und er erzählte.
Aber nicht von Inya-he-yukan.
Das Bild dieses Mannes, das sein Denken und Träumen im Wachen und Schlafen bestimmte, kam erst einige Wochen später und wieder auf unvermutete Weise mit Wakiyas Wirklichkeit in Berührung.
Bis dahin verlebte, verspielte und durchdachte Wakiya seine Ferienwochen auf eine ihm selbst ungewohnte Weise. Er war zwar noch ein Kind, ein Kind mit einem sehr schlechten Zeugnis, ein krankes Kind, ein Kind armer Leute, Kind eines ganz besiegten und unterworfenen Volkes und vaterlos. Aber er hatte die Augen, die er suchte, wiedergefunden. Inya-he-yukan hatte mit ihm wie mit einem Bruder gesprochen, und Ed Adlergeheimnis hatte ihm geantwortet, wie man einem Manne Antwort gibt.
Wakiya saß jetzt oft mit seinen Geschwistern zusammen, und da er seinem kleineren Bruder, der im Herbst in die Schule aufgenommen wurde, vieles zu erklären hatte, merkte er erst, daß auf Schritt und Tritt immer neue Rätsel auf seinem Wege lagen.
Wer war Ed Adlergeheimnis? Er war als ein Mensch geboren aus dem Stamme der Cheyenne. Aber er hatte auf der hohen Schule die Tücken und Schliche der Geister gelernt, so hatte die Mutter Wakiya gesagt, und die Mutter log nicht. Ed Adlergeheimnis war Inya-he-yukans Feind; Inya-he-yukan hatte ausgespuckt, als er den Namen hörte. Ed Adlergeheimnis glaubte, daß Inya-he-yukan ein Dieb und Mörder sei, aber das war eine Lüge. Vielleicht hatte Inya-he-yukan Feinde getötet, vielleicht hatte er im Kampf diese bösen Feinde besiegt und getötet, die erstochen und erschossen in der Prärie lagen. Aber Inya-he-yukan stahl und mordete nicht.
Wakiya hatte mit Vater Ed gesprochen, wie man mit einem Feinde verhandelt. Ed mochte ein tapferer und achtbarer Feind sein, doch mußte man immer aufmerksam bleiben und sich vor ihm hüten. Aber was war dieser Feind Ed Adlergeheimnis in Wahrheit? Als Mensch geboren und ein Geist geworden! Menschen konnten also Geister werden. Das hatte Wakiya bis dahin noch nicht gewußt. Vermochten aber auch Geister Menschen zu werden?
Wakiya fragte die Mutter, und die Geschwister hörten zu.
»Ich habe noch keinen Geist gesehen, der ein Mensch wurde. Aber euer Leben ist länger als meines. Schaut euch um, und wenn ihr einen gefunden habt, so sagt es mir.«
Wakiya-knaskiya wollte sich umsehen.
Das hatte Zeit.
Er dachte noch nicht an das Ende der Ferien. Er lebte in der Prärie, lag im engen Blockhaus auf einer harten Bettstatt, lief barfuß über Büschelgras und Kakteen und saß oft stundenlang in seinem Versteck, um nachzudenken. Morgens und abends aß er die schlechte Kost, die die Mutter für das Wohlfahrtsgeld kaufen konnte. Wakiya kannte jetzt schon die dicke blonde Frau, bei der die Mutter das Geld holte. Sie hatte mit Wakiya Spaß gemacht und ihm einen roten Radiergummi geschenkt, weil er ihm gefallen hatte. Von seiner Krankheit spürte Wakiya in dieser Zeit nichts. Er konnte mit dem jüngeren Bruder um die Wette laufen und ihn ins Gras werfen.
Dann kam der Tag, an dem sich das Überraschende und Überwältigende ereignete.
Es war in aller Frühe, und Wakiya hatte eine alte kurze Leinenhose an; sie war schmutzig und längst zu klein geworden, aber eben um die Lenden reichte sie noch. Die Sonne kam zur Prärie kaum vier Stunden nach der Mitte der Nacht. Der Himmel wurde glühend rot, golden und blau. Wakiya und seine Geschwister aßen Schwarzbrot und tranken Wasser, aber nicht zu viel, denn der Rest im Eimer sollte noch bis zum nächsten Tage reichen. Waschen konnten sie sich heute nicht. Sie huschten umher und spähten. Heimlich fragten sie sich, ob sie nicht einmal einen Fasan fangen konnten. Seit der Vater gestorben war, hatten sie keinen Fasan mehr gegessen. Das Jagdgewehr hing unbenutzt an der Wand, aber die Mutter pflegte es noch immer von Zeit zu Zeit zu reinigen.
Wakiya war mit seinen Geschwistern auf einen Hügel gelaufen; alle drei lagen auf dem Bauch und hielten Ausschau.
Sie entdeckten keinen Fasan, aber sie entdeckten einen Buben und ein Mädchen, die Hand in Hand näher kamen. Wakiya erkannte David Adlergeheimnis und Susanne Wirbelwind.
Beide steckten in Feiertagskleidern, in besseren Kleidern noch, als sie sie in der Schule zu tragen pflegten. David hatte sogar einen Cowboyhut auf. Das paßte zu ihm, da er ja den Namen eines jungen Cowboys erhalten hatte, der einen Riesen mit einem einzigen Stein getötet hatte. Susanne Wirbelwind trug ein schneeweißes Kleid, zart wie die weiße Rose, die jetzt auf der Prärie blühte. Susanne war zierlich gewachsen, hatte eine dunkelbraune Haut und langes Haar.
Wakiya-knaskiya wurde es warm ums Herz vor Bewunderung. Er floh sofort, weil Susanne seine alte Leinenhose nicht sehen sollte. Die Geschwister rannten hinter ihm her. In der Hütte stieß Wakiya nur zwei Worte hervor, um die Mutter von dem bevorstehenden Besuch zu unterrichten, und fuhr dann in die neue Hose, die - zu seinem Leidwesen mußte er es sich selbst gestehen - immer noch zu weit war. David und Susanne langten etwas später an, ernsthaft und sehr schüchtern.
Die Mutter begrüßte die beiden Kinder in der Hütte, ohne sich ihr Erstaunen anmerken zu lassen.
David trug vor, was die beiden ausrichten sollten. Er hatte auch einen Zettel dabei, auf dem Mutter Margot vorsorglich einiges aufgeschrieben hatte, aber Eliza Bighorn konnte das doch nicht lesen, und David war zu stolz, die Hilfe zu benutzen; er wußte alles auswendig.
»Mein Vater Ed Adlergeheimnis und meine Mutter Margot Adlergeheimnis und Vater und Mutter Wirbelwind...«
Pause.
». bitten dich, Mutter Eliza Bighorn, deinem Sohn Wakiya-knaskiya zu erlauben.«
Pause.
». deinem Sohn zu erlauben.« Pause.
». heute mit uns nach New City zu fahren.« »Was denn nicht gar, Wakiya nach New City?!« »Ja. In New City findet ein Rodeo statt.« »Ein Rodeo?!«
»Ja. Wir denken aber, daß einer von unserem Stamm einen Preis gewinnen kann, und deshalb fahren wir alle hin, und Ihr, Mutter Eliza Bighorn, sollt auch mitkommen.«
Pause.
David schaute nun doch auf seinen Zettel. Mutter Bighorn hatte ihn aus dem Konzept gebracht.
»Wenn Ihr aber nicht mitkommen möchtet, Mutter Bighorn, so bitten wir Euch, doch zu erlauben, daß wir Wakiya-knaskiya mitnehmen.«
»Es geht dem Buben jetzt gut. Er kann mitfahren. Aber er kann doch nicht mitfahren, denn seine Hose ist nicht gut genug.«
David seufzte. Darauf fand er auf dem Zettel keine Antwort.
Pause.
David raffte sich auf.
»Es könnte aber sein, daß einer aus unserem Stamm einen Preis gewinnt. Deshalb fahren wir alle hin.«
»Wie soll denn einer aus unserem Stamm einen Preis gewinnen! Die Geister haben die besseren Pferde und das bessere Essen, so daß sie stärker werden als wir, und sie haben das Geld, und das Rodeo ist für die Cowboys teuer. Wer von unseren jungen Männern soll sich denn wohl für ein Rodeo geübt haben und das Geld einzahlen können und einen Preis gewinnen!«
»Joe King.«
Das stand auf dem Zettel. Wakiya ließ es sich zeigen. »Mutter - darf ich?«
»Ja, dann geh eben mit. Willst du nicht deine Schuhe anziehen?« Wakiya schüttelte den Kopf.
Die drei Kinder rannten miteinander los. Der Weg bis zur Straße und zum Auto war weit genug. Margot Adlergeheimnis wartete mit ihrem Wagen. In den feinen Falten um ihre Augen lächelte es, als sie Wakiya-knaskiya mitkommen sah. Den Buben einzuladen, war der Gedanke ihres Mannes gewesen. Ed Crazy Eagle selbst kam nicht mit, weil er blind war.
Frau Margot traf mit ihrem Wagen in der Agentursiedlung die Familie Whirlwind, die mit dem eigenen kam. Da aber Susanne nun einmal bei David saß, blieb sie dort. Wakiya hatte den Platz neben Frau Margot, die steuerte; den zweiten Wagen steuerte Vater Wirbelwind, ein gesetzter, verbissen wirkender Mann mit brauner Haut. Die Straße war schon belebt. Viele wollten das Rodeo besuchen und der Wochenendlangeweile auf diese Weise entgehen. Wakiya, der die Augen offenhielt, entdeckte die dicke Wohlfahrtsfrau, die ihm den roten Gummi geschenkt hatte; sie fuhr einen großen Wagen, in dem sich eine Menge anderer Geister mit angefunden hatten. Der Privatwagen des Superintendent und seiner zarten Frau zog ohne Mühe vorbei. Ein alter Ford kam angerattert und hielt tapfer das Tempo der übrigen.
»Halketts!«
Inya-he-yukan war nicht zu entdecken, auch nicht seine junge Frau Queenie, die zu sehen Wakiya zugleich wünschte und fürchtete. Als Teilnehmer des Rodeo war Joe King vielleicht schon einen Tag früher nach New City gefahren.
Oder geritten?
In Wakiya schnurrte und surrte es wie in einem aufgestörten Bienenstock. Was würde er erleben? Zum erstenmal fuhr er aus der Reservation hinaus.
Er fuhr durch Prärie; die Grenze der Reservation war an nichts zu erkennen.
Er fuhr durch Prärie, durch einsames leeres Land. Einmal sah er Vieh, das sich an einem halb ausgetrockneten Bache zusammengefunden hatte. Einmal sah er ein Zelt, in dem keine Menschen wohnten, und eine Bretterwand. Margot Adlergeheimnis erklärte, daß diese Bretterwand ein Fort darstellen sollte, das Zelt aber das Tipi des Crazy Horse. Einige Geister standen an dem Kassenhäuschen, und der Name Crazy Horse war groß angeschrieben. Crazy Horse nannten die Geister den ermordeten Häuptling Tashunka-witko, weil sie nicht wußten, daß ein >Mustang-Geheimnis< nicht ein >verrückter Mustang< war. Sie wußten auch nicht, wo der Häuptling begraben lag. Die Geister wußten vieles nicht, doch gaben sie stets vor, alles zu wissen. Darum hatte es keinen Zweck, daß die Menschen ihnen etwas zu erklären versuchten. Die Geister wollten nicht von den Menschen lernen. Das hatte der Vater gesagt.
In der Ferne tauchte die Stadt auf, die erste Stadt, die Wakiya in seinem Leben sah. Beim Einfahren erschien sie ihm nicht verwunderlich. Die Holzhäuser mit ihren Vorgärtchen sahen aus wie die in der Agentursiedlung, einige waren schlechter, einige ganz verfallen; es waren ihrer aber viel mehr. Dann kamen auch große Häuser in Sicht mit Aufschriften, die Wakiya so schnell nicht lesen konnte. Er hörte aber, wie David Susanne vorlas.
»Postamt«
»Bank«
»Rathaus«
»Schule«.
Diese Häuser waren aus Stein und höher als die anderen.
Auf der Straße liefen die meisten Geister in Cowboyhüten herum, und einige waren ganz und gar als Cowboys angezogen. Wakiya fragte sich, ob einer von ihnen einen Riesen mit einem einzigen Stein hätte töten können. Über die Mädchen mit Cowgirlhüten und Cowgirlblusen mußte er lachen.
Die Wagen erreichten das Rodeogelände. Jeder Fahrer suchte einen guten Parkplatz.
Die Insassen stiegen aus.
Das Zuschauergelände auf grünem Rasen senkte sich hinunter zu der Arena, in der die Wettkämpfe stattfinden sollten.
David und Susanne liefen zusammen zu dem weißgestrichenen mannshohen Zaun, der die Arena umgrenzte. Vielleicht glaubten sie, daß Wakiya hinter ihnen herkäme, vielleicht dachten sie in diesem Augenblick auch nicht an ihn.
Er blieb stumm stehen.
Frau Margot legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Komm, wir gehen zu der Bude, dort kannst du dir Würstchen oder Eis kaufen.«
Wakiya schüttelte den Kopf, machte sich unversehens los und lief weg.
Er hatte einen Baum entdeckt, in dessen Zweigen bis jetzt nur ein einziger Junge saß. Der Baum versprach aber einen guten Überblick.
Wakiya lief dorthin. Er kletterte geschickt, das hatte er schon mit zwei Jahren gelernt. Der andere Junge hatte sich nicht einmal den besten Platz ausgesucht; er war größer als Wakiya, zu schwer. Wakiya nistete sich in der Gabelung eines Astes ein, der ihn eben noch tragen konnte, und da hockte er, mager, schmächtig, in der zu weiten Hose, barfuß. Seine Augen schauten fragend umher. Er wollte sich nicht betrügen lassen. Er wollte wissen, was hier wirklich geschah, und wollte durch die Geister und durch die Menschen hindurchschauen.
Der erste, an dem sein Blick haftenblieb, war Harold Booth. Das war er doch, der Breitschultrige, der auf der anderen Straßenseite gestanden hatte und dann verschwunden war. Inya-he-yukan hatte ihn nicht getötet. Der Breite ging mit einer Geisterfrau zusammen, die so dick war, wie Wakiya noch nie eine Frau gesehen hatte. Er wollte die beiden nicht weiter beachten. Sie mißfielen ihm.
Aber zu den Halketts kam eine junge Indianerin in türkisfarbenem Kleid, um den Hals eine silberne Kette, wie nur Indianerhände sie arbeiteten. Diese junge Indianerin war schlank und wohlgebildet. So schön konnte Susanne Wirbelwind niemals werden. Queenie mußte das sein, die Königin, Inya-he-yukans Frau. Wakiya schauerte; er fürchtete sich und wußte nicht, warum.
Drunten in der Arena, am Eingang der Teilnehmer an den Wettkämpfen, bei den Verschlagen der Mustangs tauchte Joe King auf. Er trug den schwarzen Cowboyhut; alles war dunkel an ihm, auch die schwarzen Stulpenstiefel. Nur das Halstuch leuchtete gelb wie die Mittagssonne. Dieser und jener ging zu Joe und sprach mit ihm.
Wakiya starrte hinüber.
War das Joe King? War das Inya-he-yukan? War das ein Geist? War das ein Mensch?
War das sein Bruder? War das ein Fremder?
War das Joe King.
War das Inya-he-yukan.
War das ein Mörder.
War das ein Dieb.
War das ein Häuptling.
War das ein Cowboy.
Der Vater hatte nie einen Cowboyhut getragen. Der Vater hatte gesagt, die Häuptlinge im Grabe würden sich ihrer Söhne schämen, wenn diese einen Cowboyhut über ihre schwarzen Haare setzten.
Wer war das, der dort stand? Hatte Wakiya-knaskiya beim Wasserholen einst nur geträumt, wie er mit dem Vater zusammen am hellen Mittag geträumt hatte?
Waren die Augen gefunden?
Waren sie wieder verloren?
Joe King hätte Wakiya-knaskiya im Baume sitzen sehen können, so wie dieser ihn in der Arena stehen sah. Aber er schaute nicht herüber.
Vielleicht dachte er nur an den Preis, den er gewinnen wollte, einen Preis der Geister.
Vielleicht dachte er an Queenie, die so schön war, wie Susanne Wirbelwind niemals werden konnte. Aber an Wakiya und die Geheimnisse dachte er gewiß nicht.
Unter dem Baum, in dessen Geäst Wakiya saß, rührte sich etwas. Wakiya schaute unwillkürlich hinunter. Er schaute in einen Wust blonder Locken hinein. Daneben aber war ein Kopf mit kurzem schwarzem Haar zu sehen, wie eine verbrannte Wiese, dachte Wakiya.
Der Lockenwust und das Brandfeld krönten zwei Männer, zwei große schlanke Männer, Cowboygestalten; der Nacken unterhalb der Locken war hell, der unter dem kurzen schwarzen Haupthaar war braun.
Die Kopfhaltung der beiden Männer verriet, daß sie genau auf den Punkt starrten, zu dem auch Wakiya unentwegt hinschaute: auf Joe King in der Arena.
Das Brandfeld und der Lockenkopf sprachen nicht miteinander.
Als sie langsam zu der Arena hingingen, fort von dem Baum, schauten sie sich noch ein paarmal um, und Wakiya konnte ihnen ins Gesicht sehen.
Der Mann mit der braunen Haut und den kurzgeschnittenen borstigen Haaren auf dem Kopf war kein guter Mann.
Das Gesicht des Mannes mit dem Lockenwust war das eines bösen Zaubergeistes.
Wakiya-knaskiya schloß einen Augenblick die Lider, aber da wurde die Fratze im Dunkeln noch gräßlicher für ihn.
Ein Feind ging um, ein böser Geist, und er hatte seinen bösen Blick auf Joe King gerichtet.
Auf...
Inya-he-yukan, bist du unter die Geister gegangen, nur um ihren schnöden Preis zu gewinnen? Einen Mann wie dich werden sie nicht unter sich dulden, sie werden dich verderben.
Wakiya dachte an die Toten in der Prärie. Sie hatten Inya-he-yukan verfolgt, und er hatte sie getötet. Anders war es nicht. Aber da unten auf der Wiese stand ein Oberster der Feinde. Inya-he-yukan, warum bist du unter die Geister gegangen? Mit ihrem Preis haben sie dich gelockt, und du bist verloren.
Wakiya schaute dem Blonden nach. Der schaudererregende Mensch ging hinüber auf die Zuschauertribüne und setzte sich hin, wie es auch viele andere taten.
Der Mann mit den borstigen Haaren ließ sich nicht mehr sehen.
Wakiya-knaskiya hielt sich den Kopf mit beiden Händen. An seinen Schläfen klopfte das Blut. Allmählich nur konnte er ruhiger werden und darauf achten, was um ihn vorging.
Drunten in der Arena wurde die Rodeoparade geritten; die Teilnehmer des Wettbewerbs zeigten sich. In ihrer Reihe ritt auch Joe King.
Ein Cowboy. Ein Cowboy, der einen Riesen mit einem einzigen Stein hätte töten können. Aber besaß er auch Kraft wider den bösen Zaubergeist? Oder wurde er wehrlos dagegen, weil er selbst ein Geist geworden war?
Die Wettbewerbe begannen.
Ein kleines flüchtendes Kalb mit dem Lasso fangen und es fesseln, das konnte jeder Hirte. Nur war der eine schneller und behender als der andere.
Joe King machte dabei nicht mit.
Einem kleinen flüchtenden Kalb das Lasso um ein Hinterbein werfen, das war schon schwieriger. Nur wenigen gelang es in kurzer Zeit.
Für Joe King war es ein Spiel.
Ein junges, sehniges, wütend bockendes Pferd mit Sattel reiten war eine schwere Probe. Manche Reiter stürzten. Ein Mann war schwer verletzt.
Joe King hatte zugesehen.
Ein mit seiner ganzen Kraft und allen Tücken bockendes Pferd ohne Sattel reiten, das war die Kunst der Söhne der Prärie.
Inya-he-yukan saß auf der Bretterwand des Verschlages - er ließ sich auf den Rücken des Pferdes herabgleiten - die Tür des Verschlages wurde im gleichen Augenblick aufgerissen. Der Schecke stürmte heraus. Inya-he-yukan ritt ihn. Wie bäumte sich das Tier! Es schnellte sich, daß der Reiter in die Höhe flog - stieg wieder -schlug hoch aus - Inya-he-yukan aber hielt das Gleichgewicht -Inya-he-yukan stürzte nicht.
Die geforderte Zeit war um. Doch der Schecke wußte so wenig wie die anderen Pferde etwas von der Stoppuhr des Preisrichters und seinem Signal. Der Reiter, der den Wettkämpfern beim Abschluß zu helfen und sie auf sein Pferd herüberzunehmen hatte, galoppierte heran. Der Schecke ließ ihn nicht in seine Nähe. Joe King mußte von dem tobenden Pferd abspringen; das war der gefährlichste Augenblick. Zwei Reiter brachten den Schecken endlich mit Mühe hinaus.
Inya-he-yukan hatte seinen Cowboyhut verloren. Da stand er, schwarzhaarig, ein Indianer. Beifall brauste auf.
Wakiya klatschte nicht wie die anderen. Er hatte das nie gelernt. Er schaute nur aus seinem Baum hinab und hinüber zu Inya-he-yukan. Aber der Sieger schaute nicht zu ihm herüber, nicht mit einem Blick.
Nach der Pause folgte der Wettkampf im steer-wrestling, im >Ochsenringen<. Andernorts wurden dafür auch längst Ochsen eingesetzt, aber hier hatten es die Wettkämpfer noch mit jungen schwarzen Stieren zu tun. Wakiya hatte kein Programm in der Hand wie Queenie King, die im türkisfarbenen Kleid drunten am weißen Zaun der Arena stand, oder wie Margot Adlergeheimnis, die auf dem Rasen saß. Wakiya mußte warten, ob Inya-he-yukan in die Arena ging. Die anderen Teilnehmer sah er kaum. Aber jetzt wurde ein besonders schneller und starknackiger der schwarzen Stiere in die Arena gejagt, von zwei Reitern rechts und links verfolgt, so daß er nicht ausbrechen konnte. Der eine der Reiter war Inya-he-yukan.
Der Indianer schwang sich hinüber auf den Stier, packte ihn von hinten an den langen Hörnern - glitt mit den Füßen auf den Boden und lief mit dem Stier - wollte das Tier zum Stehen bringen -wollte aber der Stier lief und der Indianer stolperte und der Indianer lief doch noch mit - noch immer mit - zu lang zu lang - wurde er schon geschleift? - Nein - doch - aber jetzt stand der Stier.
Inya-he-yukan wechselte blitzschnell den Griff. Er hielt noch ein Horn des Stieres gepackt, mit der anderen Hand griff er in die Nase und versuchte, den Kopf des Tieres mit einem Ruck zu drehen. Der Stier stand wie aus Stein; er gab seine ganze Kraft in den Nacken. Es gelang Inya-he-yukan nicht, ihm den Kopf zu drehen - Stierkraft gegen Menschenkraft - Hebelwirkung - gelang doch - der junge Stier mußte sich fallen lassen, wollte er nicht das Genick brechen.
Der Indianer war erschöpft und taumelte.
Sein Cowboyhut lag wieder irgendwo.
Es war eine sehr schwere Übung. Nur wenige ganz junge und starke Männer bestanden sie.
Der Beifall für Inya-he-yukan blieb dennoch schwach. Er hatte sich zu erschöpft gezeigt.
Warum wollte er mehrere Proben bestehen? Eine genügte für diesen Indianer. Er brauchte sich nicht als All-round-Cowboy über die Maßen hervorzutun.
Inya-he-yukan erhielt seinen Hut abermals zurück, setzte ihn auf und verließ als Joe King die Arena.
Drüben auf der Tribüne saßen der böse Geist mit dem Lockenhaar und das schwarze Borstenfeld, glotzten und pfiffen abfällig. Wakiya war fast so erschöpft wie ein Stierringer. Er kletterte vom Baum herunter und lief zu Frau Margot. Als sie sah, wie bleich das Kind war, fürchtete sie einen neuen Anfall der Krankheit. Aber Byron Bighorn aß und trank etwas und zweigte sich nach außen hin sehr ruhig.
In der Arena folgten noch mehrere Wettkämpfe. Wakiya blieb dagegen gleichgültig.
Er betrachtete noch einmal Queenie, die schöne junge Königin, um sie nicht zu vergessen.
Dann begann schon der allgemeine Aufbruch, und die Familien Wirbelwind und Adlergeheimnis beschlossen, mit den Kindern sogleich nach Hause zu fahren. An dem großen Tanzvergnügen, das des Abends und des Nachts in einem neuen Etablissement stattfinden sollte, hatten sie kein Interesse.
Man begegnete noch Kate Carson, der fülligen Wohlfahrtsfrau, bei deren Anblick Wakiya stets an den roten Gummi denken mußte.
»Sie bleiben noch?«
»Mit Mister Haverman. Wir versauern sonst auf der Reservation. Mal zusehen, wie die jungen Leute tanzen. Die Beatgruppe soll gut sein, von außerhalb.«
Man grüßte und trennte sich.
Wieder ging die Fahrt durch die einsame Prärie und über die Grenze, die niemand sehen konnte. Das Vieh drängte sich noch am halb ausgetrockneten Bach. Bei dem leeren Zelt und der Bretterwand fanden sich keine Besucher mehr ein. Mahnend stand nur noch der Name in großer schwarzer Schrift: Crazy Horse.
Tashunka-witko, dachte Wakiya, und er dachte an die weißen Felsen und an >Stein hat Hörner<. Stonehorn, wie manche auf englisch sagten.
Aber Inya-he-yukan war Joe King geworden. Um des Preises willen war er zu den Geistern gegangen, die ihn haßten und verderben wollten.
Als die Agentursiedlung erreicht war, fröstelte Wakiya und wollte heim zur Mutter. Doch erlaubte Frau Margot nicht, daß er bis in die Nacht hinein noch einen langen Weg laufen würde.
Er mußte in dem Haus Adlergeheimnis im weißbezogenen Kinderbett schlafen.
Dreimal fuhr er schreiend aus seinen Träumen, weil er einen bösen Geist gesehen hatte. Frau Margot stand jedesmal auf, um ihn zu beruhigen.
»Es war zu viel für ihn.«
David wurde durch die Unruhe nicht geweckt; er schlief und lächelte im Schlafen.