Der Sonntagmorgen brach an. Familie Adlergeheimnis und Wakiya saßen zusammen am Frühstückstisch, tranken aus bunten Kunststofftassen und aßen von bunten Kunststofftellern. Wakiya liebte weder Margarine noch Milch.
David lauerte nur auf die Erlaubnis des Vaters, zu sprechen.
»Vater, darf ich Cowboy werden?«
»So gut reitest du noch lange nicht, Junge.«
»Ich möchte aber. Wie Joe King!«
»Dann mußt du üben.«
»Vater! Ich muß ein Lasso haben.«
»Wozu?«
»Ich muß üben.«
»Wünsche es dir zum Geburtstag.« »Dann sind die Ferien schon vorbei!«
»So müssen wir deinen Geburtstag vorverlegen und Weihnachten dazu.«
»Vater, ich habe doch auch Namenstag. Geht es nicht damit?«
»Wir wollen sehen.«
»Vater, Susanne kann schon gut reiten.«
»Sie lebt ja auch auf einer Ranch.«
»Vater, ich möchte Rancher werden und Cowboy. Wie Joe King. Dann heirate ich Susanne. Ich muß ein Pferd haben.«
»Ist Joe King so gut geritten?«
»Vater, er hat einen ersten Preis gewonnen! Ein Indianer! Er hat über die Cowboys gesiegt. Ich möchte werden wie Joe King.«
»Ein guter Reiter möchtest du werden!«
»Weißt du das mit dem schwarzen Stier, Vater? Er hat ihm den Kopf herumgedreht, und dann ist der Stier hingefallen.«
»Versuche es mit einem Kalb.«
»Aber Vater! Das Kalb hat doch keine Hörner. Lange Hörner braucht man dazu.«
»Beim steer-wrestling war Joe auch dabei? Das ist eine ungewöhnliche Leistung.«
Frau Margot kam zu Wort.
»Joe hat sich tatsächlich wunderbar gehalten. Die ganze Reservation kann stolz auf ihn sein. Der Superintendent war sehr befriedigt.«
»Sehr gut. Joe und Queenie haben es jetzt auch leichter auf ihrer Ranch - seitdem der alte King nicht mehr lebt, der das Geld vertrank. Vielleicht wird doch noch etwas aus dem.«
Ed Adlergeheimnis verschluckte rasch ein Wort, das er auf der Zunge gehabt hatte. »Ich bin froh, daß die Sache glatt gelaufen ist. Ihr seid nach dem Rodeo alle gleich nach Hause gefahren?«
»Kate Carson und Haverman und auch Familie Booth sind noch in New City geblieben und natürlich Joe und Queenie zum Tanzen am Abend. Die Molch-Beats spielen.«
»Hoffentlich läuft auch das noch auf einem glatten Weg.« »Warum sollte es nicht?«
»Die Polizei befürchtet Tumulte. und fürchtet einige Gangster, die aufgetaucht sein sollen. Der Bandenkrieg scheint noch nicht zu Ende. Und Joe ist da irgendwie verstrickt. oder verstrickt gewesen. Lassen wir das. - Wann bringst du Byron heim?«
»Gleich nach dem Mittagessen. Das Mittagessen sollte er noch bei uns haben.«
Den Vormittag über trieben sich die beiden Buben in der Siedlung umher. David erzählte vom Rodeo, und alle Jungen spielten Pferd und Reiter. Ein Junge mußte jeweils das bockende Pferd machen, ein anderer den Reiter.
Wakiya-knaskiya schaute zu. Er war schwach. Er war auch überflüssig. Bis David ihn zum Preisrichter ernannte. Aber Wakiya wußte, daß er nie so stark werden konnte wie Joe King, und nie würde er Susanne Wirbelwind heiraten können.
Auch Inya-he-yukan hatte seine Augen nicht mehr auf ihn gerichtet. Er war zuwenig.
Wakiyas trübe Gedanken wurden unterbrochen.
Aus Richtung New City kamen einige Wagen die Straße herauf. Einer zweigte ab und fuhr am Haus Adlergeheimnis vor. Kate Carson stieg aus. Sie sah müde aus und schnaufte wie ein abgetriebenes Pferd. David rannte sofort zu dem zu erwartenden Besuch. Wakiya lief hinterher. Die Kinder gingen mit Kate Carson zusammen ins Haus.
»Danke, lieber Crazy Eagle, aber ich setze mich erst gar nicht, ich will sofort nach Hause. Es war ja grauenvoll! Ich bin völlig erschöpft. Nur schnell zu Ihrer Information.«
»Was hat es gegeben, Missis Carson?«
»Die rasenden Fans - Tumult - das war verrückt, aber nicht das Schlimmste. Nichts dabei zum Teufel gegangen als das Bretterpodium. Aber dann haben sie geschossen - sie haben Menschen umgebracht - der Hauptverbrecher ist der Polizei noch entgangen - „
»Wer?«
»Ein Schurke, ein Mörder, ein Wahnsinniger - blondgelockt -pervers - Jenny ist sein Gaunername.« »Freunde von uns zu Schaden gekommen?«
»Scheinbar nicht. Hoffentlich ist Joe King noch am Leben. Er war mitten im Feuer... Wie ist so etwas möglich!«
»Treffen wir uns heute nachmittag bei Eivie? Meine Frau wird hingehen können, wahrscheinlich auch ich selbst. Dann berichten Sie in Ruhe.«
»Ruhe?! Aber Sie haben recht, ich muß mich beruhigen. Ich werde etwas einnehmen.«
Kate Carson stürzte wieder zu ihrem Wagen.
Frau Margot zitterte.
»Ed, was kann das gewesen sein?«
»Gangsterrache, nehme ich an. Joe scheint sich losgesagt zu haben. Das wollen sie nicht dulden.«
»Aber wozu haben wir Polizei und Gerichte, Ed?«
»Die Gangster sind ein Staat im Staate, Kind.«
»Du meinst, Joe hat zu ihnen gehört?«
»Daran ist leider kein Zweifel.«
»Aber wie ist das nur gekommen? Er scheint doch ein ganz tüchtiger Mensch zu sein.«
»Ich habe es nicht miterlebt, Margot. Aber der Vater ein Trinker -die Mutter fort - der Junge ein schlechter Schüler - mit sechzehn Jahren kam er zum erstenmal ins Gefängnis - er hatte in der Schule gestohlen.«
Wakiya schrie auf.
»Nein!«
Ed, Margot und David wandten sich wie mit einem einzigen Ruck dem Kinde zu.
Der Blinde wollte Wakiya, dessen Lippen nach dem Aufschrei noch zitterten, über das Haar streichen. Aber das Kind entzog sich ihm.
»Teacock lügt!«
»Byron Bighorn! Setze dich hin und höre mich an. Ich muß jetzt sehr ernsthaft mit dir sprechen.«
Langsam nahm Wakiya einen Stuhl und setzte sich.
»Byron Bighorn! Wann hast du mit Joe King über diese Sache gesprochen?«
Wakiya schwieg.
»Byron Bighorn! Ein Lehrer lügt nicht. Sage nie wieder ein solches Wort. Verstehst du?«
Wakiya schwieg.
»Byron Bighorn, antworte mir!«
Wakiya schwieg.
Ed Adlergeheimnis war selbst ein Indianer. Er wußte, daß er das Kind jetzt nicht zum Sprechen bringen konnte.
Während Wakiya-knaskiya noch auf dem Stuhle sitzen blieb und nicht anders fühlte als je ein Angeklagter, der die Aussage zu verweigern entschlossen ist, wandte sich Ed mit leisen Worten an seine Frau.
»Dieser Joe King ist so gefährlich wie faszinierend. Es mag sein, daß er sich aus seinem üblen Leben selbst herausreißt - obgleich es schwer ist, sich an den eigenen Haaren aus einem Sumpf zu ziehen, und helfen kann ihm im Grunde niemand von uns. Queenie hat er an sich gekettet. Sie wird nie etwas Böses tun, auch wenn sie zugrunde geht. Aber ein in jeder Beziehung anomales Kind, krank und überbegabt, ist in Gefahr, wenn ein Joe King seine Phantasie völlig einnimmt. Was kann man nur tun! Auch die Einsamkeit des Bighornschen Hauses verführt nur zum Unwirklichen.«
»Ich wage nicht, Ed, den kleinen Bighorn zu uns zu nehmen. Ich fühle mich dieser Aufgabe nicht gewachsen. Ich habe Angst vor seiner Krankheit.«
Margot schämte sich selbst; Ed wollte ihr eine solche Empfindung ersparen.
»Es wäre auch falsch, ihn von der Mutter wegzuholen.«
Ed und Margot mochten glauben, daß Wakiya ihren Worten nicht folgen könne. Er hatte jedoch mehr erraten, als sie ahnten.
Wakiya haßte Ed Adlergeheimnis in diesem Augenblick, denn er schien ihm aus einem Menschen ein Geist und ein Richter geworden zu sein. Ed war ein Richter der Geister, so, wie die Mutter es gesagt hatte. Er wiederholte Teacocks Lügen. Und wenn Inya-he-yukan auch sich selbst und seinen kleinen Bruder Wakiya vergessen und verraten hatte und ganz Joe King geworden war, um einen Geisterpreis zu gewinnen, so sollte doch keine Zunge sagen, daß er gestohlen habe. Wakiya glitt plötzlich vom Stuhl, und als Margot und Ed das recht erfaßten, war er schon aus der Tür. Er lief nicht die Straße, denn er wußte, daß man ihn auf der plattgetretenen Schlange mit dem Auto fangen konnte. Er huschte zwischen den Gärten durch in die Prärie hinaus, versteckte sich dort, schlief und machte sich gegen Abend auf den Heimweg.
Bei Sonnenaufgang hockte er an der Türöffnung der Blockhütte, und die Mutter fand ihn da.
Sie fragte nichts. Wenn Wakiya wollte, würde er schon zu erzählen beginnen.
Die Ferien traten in ihre zweite Hälfte. Der Gipfel war überschritten, und die Tage und Nächte rollten dem nächsten Schuljahr zu.
Wakiya spürte, wie sie abwärts rollten.
Er igelte sich wieder ein, saß nachmittags und abends in seinem Versteck und wollte weder Wasser holen gehen noch der Mutter einkaufen helfen. Morgens spielte er mit Bruder und Schwester Schule oder Rodeo oder mit dem Bruder allein Fußball. Die Mutter hatte eines Tages einen alten Fußball mitgebracht, aber sie gestand nicht, wer ihn ihr geschenkt hatte.
Beim Abendbrot berichtete sie Wakiya aber, was sie in der Agentursiedlung Neues gehört hatte.
»Inya-he-yukan haben sie schon wieder geholt, und keiner weiß, wohin sie ihn gebracht haben. Tashina war beim Superintendent deswegen. Sie ist bleich und sieht mager aus wie ein Reh in der Dürre. Es hat Mord und Blut gegeben in New City, und sie wollen von Inya-he-yukan irgend etwas wissen. Aber er sagt ihnen nichts. Er ist von unserem Stamm.«
»Wer ist Tashina?«
»Inya-he-yukans Frau, die die Geister Queenie nennen.«
Es war Wakiya nicht anzusehen, was er nun dachte. Er dachte aber, daß die Geister Inya-he-yukan ganz und gar sterben und verderben lassen wollten, alle die Geister, ob sie nun ein Teacock oder ein Superintendent oder eine Zauberbestie waren oder auch ein Geist, der aus einem Menschen entstanden war wie Ed Crazy Eagle. Wakiya aber konnte Inya-he-yukan nicht helfen. Denn Inya-he-yukan hatte sich selbst in das Geisterreich hineingewagt.
Die Tage und Nächte schienen immer schneller abwärts zu rollen.
Wakiya litt wieder unter seiner Krankheit. Er hatte keine schweren Anfälle, aber oft mußte er laufen wie ein Toller, mit schlenkernden Armen und Beinen. Die Geschwister spielten für sich, und Wakiya lag auf den Decken in der Hütte, oder er saß in seinem Versteck auf einem Präriehügel. Die beiden Hunde kamen dort zu ihm, so war er nicht ganz allein. Er hatte auch müde Gräser um sich, große harte Yucca mit blauen Kernen und eine arme, kleine, vertrocknete Kaktee. Sie hätte dick und saftig werden können und eine große rote Blüte tragen, doch hatte das Unwetter sie entwurzelt, und sie war im Staub vertrocknet, geschrumpft und häßlich. Wakiya liebte die häßliche, kleine, vertrocknete Kaktee, und wenn er des Abends zuweilen lange in seinem Versteck saß und der Mond schon am Himmel heraufzog, sprach er mit Mond und Kaktus. Der größere der Hunde jaulte zum blassen Himmelsgesicht hinauf wie ein sehnsüchtiger Wolf.
Wakiya war in der Prärie.
An manchem Abend, wenn er die Lider senkte und nur den Duft der trockenen Erde, des gilbenden Grases, der welkenden Blüten, den Geruch der halbwilden Hunde in sich aufnahm und das Leben des Windes, der von weither kam, von weither, weither und allüberall vom alten Land der Indianer, die die Winde heilig hielten - dann sprach Wakiya auch mit seinem Vater, und er schaute ihn, wie er einst vor ihm gestanden und ihn die Geheimnisse gelehrt hatte.
Die Tage blieben noch heiß, die Nächte wurden klarer. Wie Zunder lag das verdurstete Gras auf rissiger Erde. Die Mutter und der Bruder mußten noch weiter laufen als bisher, wenn sie Wasser holen wollten. An Waschen war nicht mehr zu denken. Mutter und Kinder waren froh, wenn sie einmal am Tage ihren Durst löschen konnten.
»Mutter, was haben unsere Vorväter getan, wenn die Bäche austrockneten und auf der Prärie nichts als Durst war?«
»Sie haben getan, Wakiya, was die Büffel taten. Sie zogen zu den Wäldern der Schwarzen Berge, und sie zogen zu den Wäldern der Weißen Berge, wo die Quellen aus der Erde hervorkommen und zwischen den Felsen große Seen liegen, und da tranken sie und wuschen sich und schwammen.«
»Mutter, warum haben uns die Geister das Wasser weggenommen?«
»Warum, Wakiya, sollten sie uns das Wasser geben? Sie haben das Land genommen, sie haben die Bäume genommen, sie haben die Büffel genommen, sie haben das Gold genommen, sie haben das Wasser genommen. Wir sind übriggeblieben zum Sterben.«
»Wir sind aber noch immer da, Mutter. Können wir nichts tun?«
»Unsere Arme und Hände sind zu schwach, Wakiya.«
»Aber den Steinknaben, der alles tötete, was er antraf, haben nicht die starken Tiere besiegt, sondern die schwachen, die klug waren. Das hast du uns erzählt, Mutter.«
»Die Biber waren klug, und doch haben die Geister sie alle getötet und tragen ihre Felle als Beute.«
»Ich will aber nicht sterben. Wollen wir wandern gehen und im Garten des Vatergeistes Superintendent von dem Wasser trinken, das er aus seiner schwarzen Schlange mit dem gelben Maul über das Gras sprühen läßt?«
»Die Polizeimänner würden uns fortjagen, Wakiya, mit Stöcken und Mazzawaken.«
Durstig legte sich Wakiya auf die alten Decken. Es war schwül im Blockhaus. Die Mutter hantierte vorsichtig beim Kochen auf dem eisernen Ofen, denn jeder Funke konnte jetzt zum Brand werden. Wakiyas Worte und Gedanken wühlten dabei in ihr. Er hatte wahr gesprochen. In der Agentursiedlung tranken sie aus großen Bechern, badeten sich und netzten das Gras mit frischem Wasser. Aber Eliza Bighorns Kinder litten Durst.
Sie machte sich noch in der Nacht auf.
»Zum Stammesrat gehe ich, Wakiya. Sie sollen Wasser schaffen.«
In der folgenden Nacht erst kam sie wieder heim, einen Sack mit Wasser auf dem Rücken.
»Da!«
Mehr sagte sie nicht. Die Kinder tranken durstig und wuschen sich die Augen, die von Wind und Staub schmerzten. Dann verschloß die Mutter den Sack wieder als Vorrat für den nächsten Tag.
Als die kleinen Geschwister schliefen, begann die Mutter nach ihrer Gewohnheit mit Wakiya zu reden.
»Sie sprechen Worte, die so leer sind wie eine ausgekernte Yucca.«
Wakiya schaute nach der Türöffnung, durch die der Mond hereinschien.
»Die Prärie ist zu trocken. Auch die Geister haben Angst vor dem Feuer.«
Wakiya atmete langsamer und tiefer. Es gab etwas, was die Geister fürchteten.
»Inya-he-yukan ist wieder da. Aber sein Verstand ist verwirrt, sagen sie. Er habe immer schon solche Augen gehabt.«
»Hat er sie noch, Mutter?«
»Ich habe ihn nicht gesehen. Aber geschwiegen hat er. Er ist von unserem Stamm.«
»Was ist sein Geheimnis?«
»Wenn wir es wüßten, wäre es keines.«
Am nächsten Tag saß Wakiya vom Morgen bis zur Nacht in seinem Versteck. Er dachte vorsichtig, nicht übereilt Schritt um Schritt vor sich hin.
Inya-he-yukan war nicht ein Geist geworden. »Er ist von unserem Stamm«, die Mutter hatte es gesagt. Er trug nur den Namen Joe King wie ein Kleid, das ein Indianer anzieht und ablegt. Er trug den Namen wie seinen Cowboyhut. Wenn er ihn absetzte, war er ein Mensch, und wenn die Schere seinen Schädel kahl schnitt, wuchsen die schwarzen Haare immer nach. Die Geister konnten seine Augen nicht verstehen. Teacock haßte ihn. Wakiya-knaskiya liebte ihn. Auch Wakiya hatte einen solchen Namen, den man nehmen und weglegen konnte, Byron Bighorn.
Inya-he-yukan war in der Hand der Geister gewesen und hatte ihnen getrotzt. Wakiya mußte bald wieder zu den Geistern in die Schule gehen. Aber sein Geheimnis wollte auch er nicht verraten.
In der Nacht konnte Wakiya keine Ruhe finden, obgleich er sich glücklich fühlte. Er hatte sein Traumbild wiedergefunden. Er schämte sich, daß er an Inya-he-yukan gezweifelt hatte, und war doch glücklich. Inya-he-yukan war der Stärkere.
Gegen Abend des folgenden Tages war es die Mutter, die unruhig zu werden begann. Sie blieb, ihren Gewohnheiten widersprechend, lange vor der Hütte stehen, mit dem Gesicht gegen den Wind, wie Wild, welches wittert. Sie rief Wakiya zu sich her. Wakiya rannte in seiner alten, eng gewordenen Leinenhose herbei.
»Wakiya, was sagt der Wind?«
»Er spricht fremde Worte zu mir, Mutter.«
»Du kannst sie nicht verstehen. Ich verstehe sie auch noch nicht. Aber wir müssen wach bleiben.«
Zwei Stunden später, im letzten Abenddämmer, lief Wakiya zur Mutter, die noch Feuerholz machte.
»Mutter!«
»Wakiya-knaskiya?« »Der Wind warnt uns!«
Die Luft begann zu rauschen. Eliza Bighorn legte den Kopf zur Seite, horchte, legte das Beil weg. Sie rannte auf den nächsten Hügel. So schnell hatte Wakiya die Mutter noch nie rennen sehen. Oben stand sie und spähte in die dunkelnde Ferne. Dabei witterte sie wieder.
Sie schrie. Es gellte durch die Stille. »Feuer!«
Die Mutter sprang den Hügel herab. Die kleinen Geschwister hatten sich bei Wakiya angefunden.
»Fort! Fort! Zur Sandkuhle!«
Die Mutter nahm das kleine Mädchen auf den Arm, die beiden Buben blieben dicht beieinander. So flüchteten sie, ohne sich noch ein einziges Mal nach der Hütte umzusehen. Die Hunde flüchteten auch, aber in der umgekehrten Richtung. Hoch in der Luft zogen Raubvögel davon. Tiefer, schon erschöpft, flogen Drosseln und Lerchen. Sie alle flüchteten dem in die Hitze der fernen Feuersbrunst hineinrauschenden Sturm entgegen, vom Feuer fort. Aber Eliza Bighorn glaubte, daß die weißen Felsen und daß die Straße zu weit entfernt seien. Mit den Kindern hoffte sie sie nicht mehr vor dem Feuer zu erreichen. Deshalb lief sie in umgekehrter Richtung zu dem Feuer hin. Sie mußte mit den Kindern schneller als das Feuer bei der Sandkuhle sein.
Mutter und Kinder liefen um ihr Leben.
Der Feuersturm rauschte immer mächtiger, je näher das Feuer kam. Er trug Staub mit sich, zerrte in den Kronen der Kiefern und warf loses Holz umher. Es war nicht leicht, in den Staubwolken die Richtung zu halten. Der Staub setzte sich in den Nacken und wirbelnd auch in Nase, Augen und Ohren. Der Sturm verschlang die Stimmen. Die Buben wußten in Dunkelheit und Staub kaum mehr, wo die Mutter war. Sie faßten sich an der Hand, um einander nicht auch noch zu verlieren. Aber das hinderte beim Laufen.
Nun hatten sie die Mutter wieder. Sie trug die kleine Schwester auf dem Rücken. Die Luft rings war schon heiß, feuerheiß. Funkenschwärme stoben über den Nachthimmel, der durch den Rauch noch tiefer geschwärzt war. Die Flüchtlinge sahen die Sandkuhle, einen abgebrochenen Hügelhang, wo kein Gras wuchs. Aber noch war die erhoffte Rettung weit entfernt für keuchende Lungen, müde Füße, brennende Augen.
Die Funkenschwärme schufen neue Brandherde auch außerhalb des wachsenden Feuerkreises. Am Boden lagen schon Vögel mit versengten Schwingen; sie konnten nicht mehr fliegen, und es blieb ihnen nichts als der nahende Feuertod.
Mutter und Kinder flüchteten.
Jetzt war die Sandkuhle näher, aber auch das Feuer rückte mit mörderischer Gewalt vor.
Ja, wenn Eliza Bighorn noch Pferde gehabt hätte wie einst der Großvater! Dann wäre die Flucht leichter gewesen. Aber als der Vater lange krank und arbeitslos gewesen war, hatte die Familie verkauft, was sie nicht auf dem Leibe trug.
Barfuß liefen sie um ihr Leben.
Die Mutter war gestolpert und stürzte. Die kleine Schwester flog ins Gras. Die beiden Brüder hielten an, um der Mutter zu helfen.
»Lauft!«
Eliza Bighorns Stimme war heiser.
Aber die Brüder liefen nicht fort. Sie kannten die Sandkuhle, sie wußten, wohin. Aber Mutter und Schwester zu verlassen, das kam ihnen nicht in den Sinn.
Mühsam richtete sich die Mutter wieder auf. Sie wußte selbst nicht, ob und wie sie sich verletzt hatte.
Aber da die Kinder mit ihr verbrannten, wenn sie nicht weiterlief, so lief sie.
Die Hitze blähte den Körper auf. Die Augen und der Gaumen brannten. Dunkelrot war der Horizont, schwarz brauten darüber die Rauchkronen. Das war das Feuer der Prärie, wie es seit Urväterzeiten die Büffel, die Mustangs, die Antilopen, die Bären, die Vögel und die Menschen gefürchtet hatten. Aber bei den Vorvätern warnten die Trommeln und Pfeifen, und ein rettendes Gegenfeuer wurde angezündet. Niemand wohnte damals allein und hilflos für sich. Immer standen Zelte beieinander. Immer waren Krieger und junge Burschen da, um Frauen und Kindern zu helfen.
Aber die Geister hatten befohlen, die Häuser weit zerstreut zu bauen, weil sie es als Rancher und Farmer selbst so gewohnt waren.
Eliza und die Kinder kamen noch zur Sandkuhle. Nachdem sie das Ziel erreicht hatten, krochen sie bis zur Mitte der großen kahlen Stelle. Sie krochen auf allen vieren und blieben dann einfach liegen. Wenn das Feuer sie jetzt hätte erreichen können, wären sie wehrlos verbrannt.
Es sandte seine quälende Hitze und den Rauch, der die Lungen füllte und lähmen wollte. Rings flammte und qualmte die Prärie. Die Flüchtlinge sahen es nicht, sie lagen auf dem Gesicht, die Wangen drückten sie in den Sand, der warm und doch noch kühler als die Luft war.
Die Mutter rührte sich. Sie drückte Funken aus, die auf sie und die Kinder herabgestoben waren und die Kleider angesengt hatten.
Lange lagen die vier Menschen so, halb ohnmächtig zwischen Glut und Qualm, bis das Grasfeuer endlich vorbeigezogen war. In ihrem Rücken raste es weiter, und jetzt glühte dort der Himmel, und der rauschende Wind hatte die Richtung gewechselt. Er stürmte dem Feuer nach und trieb es an. Wolken von heißer Asche trieben über die Sandkuhle und marterten die Flüchtlinge mit dem, was sich davon niedersenkte. Mutter und Kinder hatten nicht mehr viel Kraft in sich. Sie konnten nicht mehr überlegen, sie konnten nur noch mühsam atmen und denken, daß sie leben wollten. Der Gaumen brannte ihnen vor Durst, die Zunge klebte trocken daran, aber sie hatten kein Wasser, nicht einen einzigen Tropfen. Der Kopf schmerzte sie. Sie waren so ausgetrocknet, daß sie kaum mehr sprechen und daß die Kinder nicht weinen und nicht schreien konnten. Sie lagen da wie die Toten.
Sie wußten nicht, wie lange sie so gelegen hatten, als ein kurzer Regen niederging. Sie wälzten sich auf den Rücken, rissen Hemd und Bluse auf, öffneten den Mund, streckten die Hände flach aus und ließen sich das erquickende, lebenrettende Naß auf die Stirn, auf die Brust träufeln und auf die nackten Füße.
Als der Regen vorüber war, leckten sie noch von dem feuchten, ascheverschmutzten Sand.
Die Mutter raffte sich auf und schaute über das verbrannte Land, über das jetzt Sonne schien mit einem matten, unwirklichen Schein, denn sie hatte Asche und Sand schon wieder getrocknet, und der Wind kam, ganz verwirrt aus vielen Ecken, und jagte Asche und Sand dahin und dorthin. Der Boden war noch warm.
Zwischen den Asche- und Sandschleiern und dem farblosen Sonnenlicht glühte es noch rot und drohend, wo eine alte Krüppelkiefer sich vom Feuer nicht ganz hatte auffressen lassen.
Die Mutter suchte einen Gedanken zu fassen. Sie mußte Wasser finden, sonst verdurstete sie samt den Kindern. Sie machte sich auf. Wakiya schaute ihr nach. Die Mutter hatte kein Gefäß dabei, um Wasser zu bringen. Das einzige, was sie noch besaß, waren die Kleider und ihr Messer. Mit dem Messer konnte sie eine Schale schnitzen, wenn sie Holz dazu fand. Als sie zurückkam, hielt sie eine trockene Schale in der Hand. Die Wasserstelle hatte kein Wasser mehr. »Kommt, Kinder, wir müssen alle gehen, sonst verdursten wir, ehe sie uns finden.«
Die Mutter nahm die kleine Schwester auf den Arm und taumelte voran. Sie hatte sich auf der Flucht vor dem Feuer beim Sturz einen Fuß verletzt.
Die beiden Brüder liefen Hand in Hand mit, kaum mehr ihrer selbst mächtig. Aber sie träumten vom Wasser; hinter heißen Stirnen träumten sie.
Wakiya wollten die Füße nicht mehr gehorchen. Sie begannen sich zu schlenkern und zu schleudern, seine Schultern ruckten, sein ganzer Körper zuckte. Die Mutter packte ihn und zog ihn dicht an sich. Aber er vermochte nicht mehr zu laufen. Die Mutter setzte die kleine Schwester zu Boden und versuchte, den Buben in die Arme zu nehmen, aber er schlug um sich, und sie mußte ihn loslassen. Sie riß sich die Bluse vom Leib und bettete Wakiyas Kopf, damit er ihn nicht auf die harte nackte Erde schlug.
Das wußte er noch.
Dann wußte er lange nichts mehr.
Als er sich selbst wiederzufinden begann, hatte er Durst. Das war ein Durst, so stark, daß er töten konnte. Wakiya öffnete die Augen ein wenig, mit Mühe. Es war Nacht, und die Luft war kühl.
Er schloß die Augen wieder.
Er hatte gesehen, daß er mit Mutter und Geschwistern wieder in der Sandkuhle lag. Sie waren mit dem kranken Wakiya dahin zurückgekehrt, und nun waren sie alle zu schwach geworden, um sich noch einmal aufzumachen. Sie warteten auf den Tod oder auf einen Menschen, der sie finden würde. Aber wer sollte an die kleine Blockhütte und an Eliza Bighorn und ihre Kinder denken! Wer würde über das schwarze verbrannte Land laufen? Jetzt, nach dem Feuer, hatten sie alle mit sich selbst zu tun, mit ihren Häusern, mit ihrem Vieh, dem die Weide genommen war. Am Himmel erschien ein Riesenvogel, surrte und donnerte, kreiste, als ob er etwas suche. Eliza versteckte sich und ihre Kinder. Der Geistervogel zog wieder ab.
Wakiyas Glieder zuckten von neuem.
Er träumte einmal, daß er in der unendlichen Stille ganz von ferne Hufschlag und Stimmen gehört habe. Er träumte davon, bunt und heiß. Wakiya war ein krankes Kind, aber dennoch hatte er scharfe Augen und gute Ohren. Irgendein Geräusch, ganz von ferne, mußte seinen Traum geweckt haben. Er träumte von dem Schecken, den Inya-he-yukan auf dem Rodeo geritten hatte. Er träumte, daß der Schecken über die Prärie stürmte - da gab es keine Arena und keinen weißen Zaun - und keine klatschenden oder zischenden Geister - da gab es nur Himmel und Erde und verbranntes Gras. Aber ein Mustang wie dieser Schecke fand seinen Weg auch in der Nacht, und ein Reiter wie Inya-he-yukan fürchtete die verbrannte Prärie nicht.
Wakiya wollte im Traume rufen, aber die Zunge war ihm am Gaumen angeklebt, und er brachte nur ein ächzendes Lallen hervor.
Doch machte ihn die Qual dieses Augenblicks, in dem er rufen wollte und doch nicht rufen konnte, wach. Er sah die Mutter neben sich hocken, den Kopf auf die Knie gesenkt wie ein Mensch, der weiß, daß er sterben muß. Es war still rings, und kein Hufschlag war zu hören.
Die Mutter stöhnte. Auch sie wollte rufen und konnte nicht mehr.
Wakiya schloß die Augen, um wieder seine glühenden Bilder zu sehen. Er träumte wieder von dem Reiter durch die Nacht, von wehender Mähne und wehendem Schweif, von dumpfem Hufschlag, vom braunhäutigen Reiter mit schwarzem langem Haar - bis er erschrak und wach wurde, denn jemand hatte ihn angefaßt. Eine Hand hatte sich hinter seinen Nacken geschoben. Wakiya öffnete die Augen und schaute in ein Gesicht - den Schattenriß eines Gesichts in der Nacht.
Inya-he-yukan.
Wakiya konnte nicht sprechen. Aber er dachte den Namen so stark, daß der andere es fühlen mußte. Das Kind lag in den Armen des Mannes, dessen Kraft und Sicherheit sich für Wakiya in eine große Ruhe umsetzte.
Wakiya konnte nicht sprechen; er öffnete auch die vertrockneten, verklebten Augen nicht mehr, obgleich es wieder regnete und das Labsal der Wassertropfen auf sein Gesicht fiel. Er fror und zitterte, aber er wußte, daß er gerettet war. Inya-he-yukan trug ihn. Er trug ihn wie damals auf dem Weg von der Wasserstelle zur Hütte.
Wakiya war nicht zuwenig gewesen. Wakiya wurde in der kalten Nacht in etwas Wärmendes gewickelt. Vielleicht war es Inya-he-yukans Jacke, die dieser ausgezogen hatte, um sie Wakiya zu geben. Wakiya fühlte ein Hin und Her; Inya-he-yukan hatte ihn mit auf sein Pferd genommen. Wo blieben Mutter und Geschwister? Inya-he-yukan würde das alles bedacht haben.
Auf dem Rücken des Schecken schaukelte und wiegte es sich leise. Da war noch ein zweiter Reiter... Wie gleichgültig! Wakiya verlor wieder das Bewußtsein. Er brachte es nicht. Inya-he-yukans Arm hielt ihn.
Während Joe King, Wakiya im Arm, und sein Begleiter, der Arzt Piter Eivie, in einem wilden Ritt die Höhen der weißen Felsen bezwangen und jenseits die Straße erreichten, war Eliza Bighorn mit den beiden jüngeren Geschwistern zurückgeblieben. Eliza hatte Essen und Wasser erhalten. Sie konnte am nächsten Morgen mit den beiden jüngeren Kindern dahin zurücklaufen, wo ihre Blockhütte gestanden hatte.
Sie wollte dort bleiben, bis die Geister ihr eine neue Hütte gebaut hatten.
Sie wollte von diesem Platz nicht fort. Nein, das wollte sie nicht.
Mit bösen Augen schaute sie den beiden Reitern nach.
Inya-he-yukan hatte Wakiya mitgenommen.
Aber Eliza Bighorn hatte Wakiya nicht hergeben wollen.
Für Wakiya gab es nun eine Frist, die für ihn weder lang noch kurz, weder gut noch schlecht war, weil er in dieser Spanne Zeit weder fühlte noch dachte.
Was ihm dann zuerst wieder begegnete, war die Gewißheit, daß er weich lag und keinen Durst mehr spürte.
Das tat ihm wohl, und er beeilte sich nicht, die Augen zu öffnen. Er rührte sich auch kaum, sondern blieb auf dem Rücken liegen und sandte Botschaft zu seinen Händen, sie sollten ihm berichten, was sie fühlten. Sie lagen still, ausgebreitet, auf einer Decke, die sich kühler anließ als die Wolldecken daheim. Die Luft war frisch, doch hatte sie einen eigentümlichen, fremden Duft. Durch die Augenlider schimmerte es eher rot als schwarz.
Es mußte Tag sein, Wakiya horchte.
Er vernahm, daß eine Tür leise auf- und zuging; er vernahm Schritte, die durch einen großen Raum kamen und auch bei ihm vorbeigingen und sich dann wieder entfernten.
Die Tür ging nochmals auf und wieder zu. In der Nähe von Wakiya rührte sich etwas anderes; es knackte, wie eine Matratze und ein Bett knacken. Das war nicht das Zuhause; Wakiya war nicht daheim. Er befand sich aber auch nicht im Hause Adlergeheimnis. Dort gab es zwar knackende Betten, aber nicht so große Räume.
Wakiya öffnete langsam die Augen, ohne sich sonst zu rühren. Es brauchte nicht jedermann gleich zu wissen, daß er seine Umgebung jetzt deutlich erkennen und beobachten wollte.
Es war alles weiß um ihn. Decke, Wände, Tür, Fensterrahmen, Bettgestelle, ein Tisch, ein paar Stühle. Alles war weiß, und Fenster und Boden spiegelten blank.
Draußen schien die Sonne vom blauen Himmel auf grüne Bäume und grüne Wiesen.
Hier hatte kein Feuer gewütet.
Wakiya blieb still liegen. Er fühlte sich selbst und alles, was um ihn war, als unwirklich, unwahrscheinlich, als im Zauberreich, in das man hineingeraten und das auch wieder verschwinden konnte.
Er hatte keinen Durst, er hatte keinen Hunger, er war ausreichend müde, um gern auf einer weichen Matratze ausgestreckt zu liegen. Außer dem seinen standen noch fünf Kinderbetten in dem Raum. In jedem lag ein braunhäutiges, schwarzhaariges Kind, und alle waren so still wie Wakiya. Wakiya horchte wieder. Es war jemand an der Tür.
Herein kam Margot Adlergeheimnis; sie war anders gekleidet als sonst, auch ganz in weiß, und auf dem schwarzen Haar trug sie ein weißes Häubchen. Vielleicht war sie hier nicht Margot Adlergeheimnis, vielleicht gehörte sie zu dem weißen Zauberreich, obwohl sie noch mit den gleichen braunen Antilopenaugen auf Wakiya schaute, wie sie immer getan hatte.
Sie begrüßte Wakiya leise und vorsichtig. Dann lief sie weg, und mit ihr kam ein Geist zurück in weißem Kittel, mit einem runden freundlichen und wissenden Gesicht wie der Vollmond, mit blauen Augen und mit wenigen blonden Haaren auf dem Kopf.
Als er sich zeigte, setzten sich die anderen fünf Indianerkinder in ihren Betten auf und schauten vertrauensvoll nach ihm.
Er schien also ein guter Mann zu sein, obgleich er ein Geist war.
Wakiya ließ sich von ihm abfühlen. Seine Hände waren weich und geschickt. Das war Piter Eivie, den die Patienten >Doktor< nannten, obwohl er kein Medical Doctor war, sondern nur ein einfacher Arzt.
Von dieser Stunde an bildete sich eine eigentümliche verschwiegene Freundschaft zwischen den beiden, zwischen dem Kind und dem Arzt, heraus. Eivie fragte nichts, und Wakiya erzählte nichts. Aber wenn der Arzt zur Visite kam, lächelten sie einander an, als ob sie sich schon lange kennen. Der Doktor gehörte für Wakiya zu dem weißen Zauberreich, in dem es sich zeitweise leben ließ, das aber auch eines Tages wieder verschwinden konnte.
Eivie gab dem Jungen Bilderbücher; Wakiya blätterte, schaute, dachte nach und wurde wieder müde. Allmählich aber kräftigte er sich und durfte aufstehen.
Noch immer blieb er schweigsam. Wenn Margot Adlergeheimnis ins Krankenzimmer kam, wurde sein schmales Gesicht ernst, und er hielt sich ganz zurück.
Die Zeit verging. Für andere Kinder hatte die Schule schon angefangen.
Wakiya lernte mit einigen kranken Kindern zusammen. Eine Indianerin half ihnen dabei. Es machte ihm Freude zu lernen, denn er verstand alles leicht und wurde oft gelobt. Die Lehrerin sprach das Englische langsam und deutlich aus. Auch für sie war es nicht die Muttersprache. Wakiya durfte jetzt schon im Garten Spazierengehen und in der frischen Luft über die Prärie schauen.
Allmählich sammelten sich die Fragen in ihm. An einem Sonntag fand Eivie Zeit, sie sich anzuhören.
»Wo ist Mutter?«
»Daheim. Ihr habt ein neues Haus bekommen.« Wakiya mußte erst leer kauen, ehe er schluckte. »Geht mein Bruder jetzt in die Beginnerklasse?« »Ja, das tut er.«
»Warum kann Mutter mich nicht besuchen?«
»Der Weg ist doch weit, Wakiya, und dein Bruder muß in die Schule gehen und deine Mutter.«
»Ich habe Mutter gesehen, als ich im Garten saß. Ich kann von dort in die Siedlung hineinschauen. Mutter war im Laden. Sie hat eingekauft.«
»Ja, das muß sie tun.«
»Warum darf sie mich nicht besuchen?«
Der Arzt kämpfte um die Antwort. Die Mutter kam nicht, um Wakiya zu besuchen. Sie war erbittert, daß man das Kind ins Krankenhaus gebracht hatte. Aber wie sollte der Arzt das seinem kleinen Patienten erklären, ohne daß dieser einen neuen Schock bekam? Alle Aufregung mußte vermieden werden.
Wakiya legte seine Kinderhand auf die des Arztes.
»Laß. Ich weiß schon. Ich gehe ja dann wieder heim. Gehe ich?«
»Nicht so bald, Wakiya. Wenn du noch viel kräftiger bist. Dann kannst du der Mutter besser helfen.«
Das Kind schien zufrieden. Der Arzt war erleichtert. Er war nicht verheiratet, hatte selbst keine Kinder, aber eine besondere Liebe für seine kleinen Patienten.
Wakiya grübelte, wie er seine nächste Frage anbringen sollte.
Eivie wartete.
»Wo hat das Feuer aufgehört?«
»Die Männer von New City sind gekommen in großen Wagen, mit Hacken und Schaufeln und Sprengstoff und mit Schläuchen, um Wasser zu spritzen, und da konnte das Feuer nicht mehr weiter und erlosch. Über die Straße ist es nicht mehr gekommen.«
Wakiya hatte nur die Worte Wasser und Straße recht verstanden.
»Ihr seid Geister. Ihr habt Wasser und Straßen. Ohne Wasser kann die Prärie nicht leben, und über eure breite, plattgetretene Schlange, die ihr Straße nennt, kann sie nicht hinüber. Die Straße zerschneidet uns. Ihr seid stärker.«
Wakiya sprach mit großem Ernst und einem großen Verzicht. Der Arzt erkannte auf einmal, wie alt das Gesicht dieses Kindes war. Er lenkte ab.
»Hast du eigentlich gemerkt, Wakiya, wie wir dich geholt haben -Stonehorn und ich?«
»Stonehorn - Inya-he-yukan hat mich geholt.«
Der Arzt wurde rot, als das Kind ihn so stolz berichtigte.
»Du hast recht. Er hat dich gefunden. Wir hatten mit einem Flugzeug, einem Hubschrauber, über das ganze verbrannte Land nach Menschen, Vieh und Pferden gesucht. Viel ist umgekommen, einiges konnten wir noch retten. Aber euch in der Sandkuhle hat erst Stonehorn gefunden.«
Wakiya hatte glühende Backen.
»Warum glaubt ihr Geister, daß Inya-he-yukans Verstand verwirrt sei?«
»Wer hat das gesagt?«
»Die Mutter hat es gehört.«
»Das ist nichts als ein Geschwätz, leerer Wind. Er wird wieder gesund.«
»Er wird wieder gesund.« Wakiya wiederholte diese Worte, sehr langsam und deutlich. Er wird wieder gesund! Das hieß aber, Inya-he-yukan ist krank gewesen, und du, Eivie, willst es mir nicht sagen. Du willst es mir nicht sagen, deshalb frage ich dich auch nicht.
»Stonehorn ist ein prächtiger Mensch, Wakiya. Kennst du ihn?«
Wakiya überlegte sich die Antwort. Was Eivie eben gesagt hatte, war nicht gelogen. Wenn es auch viel zuwenig und nur obenhin gesagt war. Es war alles, was man von einem der Geister erwarten konnte; für einen Geist war es viel. So fühlte Wakiya. Aber war das, was Eivie gesagt hatte, auch eine Falle? Der Richter Ed Crazy Eagle hatte wissen wollen, wann Wakiya mit Inya-he-yukan gesprochen hatte. Wakiya hatte die unbeantwortete Frage nicht vergessen. Er antwortete deshalb auch jetzt nicht direkt, sondern stellte eine Gegenfrage.
Er wollte seine Geheimnisse nicht preisgeben.
»Ist Inya-he-yukan, als er krank war, in deinem schneeweißen Geisterreich gewesen?«
Eivie lächelte über das schneeweiße Geisterreich und vergaß darüber ein Stück Vorsicht.
»Stonehorn will nicht in unser schneeweißes Geisterreich hereinkommen. Er hat es mit schlechten Ärzten zu tun gehabt, als er gefangen war, und nun läßt er sich von keinem mehr anfassen.«
Da war es gesagt.
In Wakiya blitzte es auf. Die Mutter kam nicht in dieses Reich herein, in dem Wakiya jetzt lebte, und Inya-he-yukan auch nicht. Inya-he-yukan wurde leichter ohne die Geister gesund, die ihn immer verachtet und verfolgt und zwischen ihren Mauern krank gemacht hatten. Aber Wakiya war nicht so stark und hatte auch nicht soviel böse Erfahrungen gemacht. Ihm gefiel es bei dem Doktor mit den wenigen blonden Haaren gut. Vielleicht deshalb, weil er nun keinen weiten Weg zu laufen und nicht in die Schule zu gehen brauchte.
Die Schule war weit, weit weggerückt.
Eines Tages aber war sie wieder da.
Wakiya hatte sich so weit erholt, daß er nicht mehr im Krankenhaus bleiben konnte. Er sah frischer und kräftiger aus; seine Krankheit schien sich gemildert zu haben.
Dem Arzt und den Schwestern fiel es schwer, Wakiya gehen zu lassen. Sie hatten sich an ihn gewöhnt. Er war immer still und hilfsbereit gewesen, und sein kluges und nachdenkliches Gesicht hatte Gedanken und Fragen geweckt. Wenn er jetzt bei jedem Wetter wieder den langen Weg zur Schule laufen mußte - was sollte aus ihm werden? Wakiya selbst weinte beim Abschied.
Still kam er nach Hause zu der Mutter, die ihn nie besucht hatte. Das neue Haus war geräumiger, es hatte Fenster und nicht nur eine Türöffnung, sondern eine Tür. Die Wände waren aus Brettern, nicht mehr aus dicken Balken gefügt.
Wakiya fühlte sich erst fremd, aber der kleinen Schwester gefiel das hellblau gestrichene Haus gut.
Der Bruder war nicht mehr da.
Er besuchte nicht nur die Beginnerklasse, wie Eivie gesagt hatte, sondern er wohnte und schlief auch in der Schule. In einer Schule außerhalb der Reservation. Nicht in Wakiyas Schule. Wakiya mußte den Weg wiederum allein machen. Ihn konnte kein Schulheim aufnehmen. Er war krank und ein schlechter Schüler.
Es fiel ihm sehr schwer, sich in seine Klasse wieder einzugewöhnen. Was er im Krankenhaus gelernt hatte, war nicht ganz das, was in der Schule von ihm verlangt wurde.
Das blonde junge Geistermädchen, das über seinen versäumten Schulbesuch gezürnt hatte, war wieder seine Klassenlehrerin. Sie hatte unterdessen von Wakiyas Krankheit und seinem weiten Schulweg gehört und versuchte, auf ihre Weise Rücksicht zu nehmen. Doch machte Wakiya ihr das Leben schwer und gab kaum eine Antwort.
Er mochte sie nicht leiden. Sie hatte die Mutter ins Gefängnis bringen wollen!
Wakiyas Leistungen wurden schlechter und schlechter beurteilt. Auch sein Betragen galt als ungenügend, weil er nicht antworten wollte. Wakiya wartete während eines jeden Schultags auf nichts als auf das Ende des Unterrichts. Dann rannte er heim. Die Angst vor seiner Krankheit verfolgte ihn von neuem.
Es nützte Wakiya nicht viel, daß er zuweilen Tashina sah, die >Queenie< der Geister. Sie kam im Schulbus und besuchte die zwölfte Klasse. Da sie Stonehorns Frau war, hatte sie nicht mehr in die Kunstschule zurückgehen wollen, die weit entfernt im Süden des Landes lag. Es nützte Wakiya auch nicht viel, daß Gerüchte in der Schule umgingen, Theodore Teacock habe gelogen, und Joe King sei kein Dieb. Wakiya freute sich zwar darüber, aber mitten in einer müden Trauer und Verlassenheit.
Inya-he-yukan sollte es gut gehen. Wakiya war unnütz. Solche Gedanken kamen wieder über ihn.
David nahm Wakiya eines Tages in der Pause beiseite. Diesmal sprachen die beiden englisch.
»Du hast recht gehabt, Wakiya. Joe King hatte nicht gestohlen. Sie hatten ihn unschuldig verurteilt.«
»Warum sagst du es mir? Ich habe es gewußt.«
»Aber nun wissen es alle Leute. Teacock hatte wirklich geglaubt, daß Joe gestohlen habe, weil er ein so schlechter Schüler war.«
»Ich bin auch ein schlechter Schüler. Vielleicht wird Teacock noch sagen, daß ich auch ein Dieb sei.«
»Wakiya, sei nicht so verrückt.« »Stonehorn war auch verrückt.« »Du bist doch nicht Stonehorn.« »Ich bin Wakiya-knaskiya.«
»Byron Bighorn bist du. Warum willst du den schönen Namen nicht haben?«
»Es ist nicht der meine.«
»Wem soll er denn sonst gehören?«
»Meinem Geist.«
»Byron, es gibt keine Geister. Es gibt Gott und seine Engel und den Teufel.«
»Sind die Engel Menschen?«
»Nein, die Menschen sind keine Engel.«
»Was sind also Engel?«
»Mit Flügeln.«
»Sie tragen aber ihre Federn an der falschen Stelle.« »Was du immer zusammenredest, Byron!« »Was machen sie jetzt mit Teacock?«
»Er muß fortgehen von der Schule. Es ist eine große Schande.«
Die Pause war zu Ende. Die beiden Buben stoben auseinander.
Eines Tages gab es neuen Alarm der Nachrichten und Gerüchte. Tashina, die beste Schülerin der ganzen Schule, die Hoffnung auf ein ausgezeichnetes Baccalaureat, hatte Harold Booth erschossen.
Wakiya rannte heim, noch schneller und atemloser als sonst. Er wußte, daß die Mutter an diesem Tage einkaufen gegangen war. Es mochte sein, daß sie etwas gehört hatte.
Eliza Bighorn hatte sich wieder daran gewöhnt, mit Wakiya als ihrem einzigen Vertrauten zu sprechen. Sie war wie eine Vogelmutter gewesen, die sich von einem Jungen zurückzieht, das von fremden Händen berührt worden ist. Nun hatte Wakiya den Geruch der Geister und ihrer weißen Kleider längst verloren, und er hatte seine Muttersprache nicht verlernt.
Wenn er in der dritten Klasse ein sehr schlechter Schüler war, so war das in Elizas Augen kein großer Mangel. Es erging Wakiya damit nicht anders als seiner Mutter, die nach drei Jahren die Schule schon verlassen hatte. Auch jetzt gab es noch Kinder, die es nicht weiter brachten, wenn ihre Zahl auch geringer wurde. Was brauchte der kranke Wakiya so viel zu lernen! Der Bruder konnte das an seiner Stelle tun.
Die kleine Schwester schlief auf der gestrichenen Bettstatt im hellblauen Haus; die Fenster waren verhängt, aber die Tür stand offen. Eliza Bighorn und ihr Sohn Wakiya saßen auf der Schwelle. Wakiya hatte eine neue Hose an. Die alte war mit der alten Hütte verbrannt; sie wäre noch für zwei Jahre weit genug gewesen. Aber das Schicksal hatte sie ereilt. Die neue war schwarz, wie Wakiya sie sich gewünscht hatte, und Raum für die Ausdehnung ihres Besitzers ließ auch sie noch auf einige Jahre hinaus.
Mutter und Sohn schauten über die Prärie, auf der das Gras aus dunklem Boden sprießte. Die Kiefern rings waren verschwunden; Bäume wuchsen langsamer als Gras.
Auch Wakiyas Versteck lag kahl und bloß, und die kleine häßliche Kaktee war ein Raub des Feuers geworden. Wakiya ging nur noch selten zu dem Platz.
Am Abend saß er meist mit der Mutter zusammen und gern auf der Schwelle des Hauses.
»Was war mit Tashina, Mutter?«
Eliza kaute an ein paar trockenen Beeren. Sie hatte schon viele Zähne verloren, und mit dem Kiefer konnte man nur langsam mahlen.
Wakiya schob auch zwei Beeren in den Mund, um leichter auf die Antwort warten zu können.
»Ich will dir das einmal sagen, Wakiya. Ich will es dir alles sagen. Du kommst nun in den neunten Winter. Alt genug bist du, um von deiner Mutter alles zu hören. Mache deine Ohren auf, und vergiß meine Worte nicht.«
»Ich höre, Mutter, und vergesse deine Worte nicht.«
»Tashina, sagst du. Sie ist ein schönes und gutes Mädchen. Bei ihrem Vater und ihrer Mutter hatte sie gelernt, gehorsam zu sein und zu arbeiten. Weißt du das?«
»Sie ist auch in der Schule fleißig, und immer weiß sie alles. Sagen die anderen. Sogar Teacock hat sie gelobt. Das ist nicht gut. Aber sie malt Bilder für unsere Aula, die werden sehr gut. Sie will unsere Vorväter malen, so, wie sie wirklich waren und wie sie die Kinder lehrten und die Kinder hörten zu. Sie malt auch einen Mann, der unseren Kindern mit einer langen Schere die Haare abschneidet. Er sieht Teacock gleich, ob sie es nun weiß oder nicht. Er wütet im Haare-Abschneiden, und die Kinder sind traurig. Die Eltern streiten sich und sterben, die Kinder gehen Hand in Hand allein. Die Häuptlinge verhandeln, und die Geister stehen da, einer hinter dem andern, die Unterhändler, die Langmesser, die Pelzhändler, die Goldsucher. Das wird sie alles malen, und es ist gut.«
»Kommen die Bilder in eure Schule?«
»Sie werden in der Aula an die Wand gemalt.«
»Gut, gut. Aber wie macht das Tashina King, daß Teacock sie gelobt hat, und du lobst sie auch?«
»Sie hat zwei Gesichter und ist doch rund und schön wie ein Mond. Ich habe sie gesehen.«
»Nun hat sie Harold Booth erschossen. Harold Booth wollte sie zur Frau haben, aber Inya-he-yukan hat sie sich zur Frau genommen. Die beiden sind Feinde, und Harold Booth gab keine Ruhe.«
»Ich weiß, daß sie Feinde waren.«
»Nun hat Tashina Harold Booth erschossen. Er war kein guter Mann. Aber das Haus der Kings ist auch ein verfluchtes Haus.«
Wakiya zuckte zusammen.
»Sage mir, Mutter, wie das ist.«
»Von lange her ist das. Die Väter und Vorväter der Inya-he-yukan gehörten zu unseren Häuptlingen und Geheimnismännern. Sie waren ein stolzes Geschlecht, gute Büffeljäger und gefürchtete Krieger. Sie besaßen ein großes Tipi und speisten mit ihrer Beute viele Gäste, und die Nähte ihrer Röcke waren mit Skalphaaren geschmückt. Aber sie waren auch streitsüchtig und lebten in Unfrieden mit vielen Männern aus ihrem eigenen Stamm. Immer gewannen sie die schönsten und tugendhaftesten Mädchen für sich. Es war wie ein Zauber. Inya-he-yukans Großvater erhielt in den Büchern der Geister den Namen King, das bedeutet bei ihnen soviel wie Oberhäuptling.«
»Ich weiß.«
»Ja, du hast diese Sprache gelernt. Der Großvater hieß also King. Er wollte nicht verstehen, daß wir besiegt und ganz beraubt sind. Er war ein starker und trotziger Mann und wollte es nicht verstehen. Der Sohn, das ist Inya-he-yukans Vater, nahm sein Pferd und schweifte weit umher, weit hinauf nach Norden bis über den Minisose, und er brachte sich eine Frau aus unserem Stamme mit, so tugendhaft und schön, wie je eine gewesen war.«
»Wie das, Mutter? Gibt es oben beim Nordwind auch noch Männer und Frauen von unserem Stamm?«
»Ja, einige, die sich dem Vater Superintendent nicht beugen mochten. Von dort holte er sich seine Frau. Sie hatte ein hartes Leben. Denn ihr Mann und der Vater ihres Mannes wollten nicht verstehen, daß wir ganz besiegt und beraubt sind. Aber sie hatten auch keine Waffen und keine Krieger mehr, und da begannen sie, zu trinken und zu träumen. Die Geister haben ein Zauberwasser für unsere Männer mitgebracht, um sie zu verwirren.«
»Das habe ich schon gehört, Mutter, aber ich habe noch nie gesehen, daß ein Mann davon trank.«
»Sei glücklich, Wakiya. Dein Vater hat nie einen Tropfen von dem schändlichen Gift genommen. Aber viele unserer Männer tun es heimlich, und dann werden sie wie besessene Tiere! Sie zerstören das Haus und schlagen Frauen und Kinder. So ist es bei den alten Kings gewesen. Als nun der Vater Inya-he-yukans im Gefängnis war, im Gefängnis der Geister, weil er sich im Trunk mit anderen Männern geschlagen hatte, da blieb Inya-he-yukans Mutter allein mit dem Großvater. Er trank und schlug das kleine Kind. Fast hätte er es totgeschlagen. Aber sie wollte ihr Kind schützen, nahm das Beil und erschlug den alten Mann.«
Wakiya schauerte zusammen.
»Darum ist das Haus verflucht. Die Frau mußte gehen; wir haben sie nicht mehr unter uns geduldet. Sie hatte das Blut des alten Vaters an den Händen. Sie nahm ihre beiden Kinder, Inya-he-yukan und seine Schwester, und ging in das Elend nach New City.
Als der Vater aus dem Gefängnis heimkam, holte er sich seinen Sohn wieder, den Inya-he-yukan. Aber der Bub wuchs ohne Mutter auf, und der Vater trank, und als der Sohn groß und kräftig wurde, schlug er sich mit dem Vater. Mit sechzehn Jahren mußte Inya-he-yukan ins Gefängnis, weil Teacock sagte, er habe gestohlen und ihn bedroht und eine Bande gebildet. Als der Bursche wieder aus dem Gefängnis kam, hat ihn keiner abgeholt. Er wollte auch nicht mehr heim und nicht mehr in diese Schule gehen. Er stand auf der Straße, und die Geister haben ihn zu sich geholt, jene Geister, die sich Gangster nennen und mächtige Geheimbünde unter sich geschlossen haben. - Manchmal war Inya-he-yukan heimlich hier auf unserer Reservation. Oft ist er den Polizeimännern entkommen, manchmal wurde er gefangen. Er soll auf Rodeos geritten sein, für Fremde auf fremden Pferden, er soll geraubt und Menschen getötet haben. Nun, sie reden so, ich weiß es nicht, und ich traue ihnen nicht. Auf einmal, im vergangenen Sommer, kam Inya-he-yukan wieder ganz zu uns zurück, und die Geister der Geheimbünde wollten ihn darum töten. Er ist ihnen aber entkommen, und dabei ist wiederum Blut geflossen, hier und in New City. Die Polizeimänner haben Inya-he-yukan wieder geholt und wollten alle seine Geheimnisse erfahren. Aber er ist einer von unserem Stamm und schweigt. Er hat Tashina zur Frau genommen, unser schönstes und bestes Mädchen. Sein Vater ist beim Trinken umgekommen. Nun hat Tashina Harold Booth erschießen müssen. Er war kein guter Mensch, und sie hatte Angst vor ihm, weil er sie noch immer zur Frau haben wollte. Harold Booth war auch betrunken.«
»Warum wollte er sie durchaus zur Frau haben, Mutter?«
»Das ist eine lange Geschichte. Sie sind alle einmal in die gleiche Schule gegangen, in deine Schule, Wakiya-knaskiya, nur in verschiedene Klassen. Harold Booth, Inya-he-yukan und Tashina. Die beiden Burschen haben Tashina geliebt und sich um sie geschlagen. Sie liebte in Wahrheit Inya-he-yukan, aber mit Harold hat sie gespielt und auch ihm ihre schönen Augen gezeigt.«
»Tun das Mädchen oft?«
»Manche tun es.«
»Susanne Wirbelwind.«
Die Mutter lächelte. »Ja, Susanne. Liebe sie nicht, Wakiya, denn sie wird dich nie zum Manne nehmen. Ihr Vater hat eine große Ranch.«
»Ich kann dir nicht versprechen, Mutter, daß ich sie nie lieben werde. Es ist noch nicht entschieden.«
»Aber Harold wollte die schöne Tashina zur Frau haben, und es kam ihm wohl nie der Gedanke, daß Tashina nicht ihn, sondern den Sohn eines Säufers und einer Mörderin lieben würde. Er wollte die schöne Tashina auch darum zur Frau haben, weil sie Malerin wurde und schon gut verdiente. Aber Tashina nahm Inya-he-yukan. Da fing Harold selbst an zu trinken und stahl Inya-he-yukan die Pferde. Aus Rache und um des Geldes willen. Ja.«
»Was haben Harold und Tashina miteinander gesprochen, ehe Tashina Harold erschoß?«
»Das weiß kein Mensch, Wakiya-knaskiya. Er wollte sie aber noch mit Gewalt zu seiner Frau machen. Darum hat sie ihn erschossen, und niemand bestraft sie dafür. Es ist ein verfluchtes Haus, denn das Blut des alten Vaters klebt daran, und Inya-he-yukan hat auch keine reinen Hände. Blut braucht neues Blut. In dem Hause werden sie nie zur Ruhe kommen.«
»Inya-he-yukan hat uns in der Sandkuhle gefunden, als der Durst uns schon zu töten begann.«
»Wakiya, er ist unser bester Reiter und unser bester Schütze. Er ist besser als alle die anderen. Aber er ist ein Mensch und auch ein Geist, Inya-he-yukan und Joe King. Er ist nicht so rund wie Tashina, sondern ein zackiger Stern, und an dem Hause und an seinen Händen klebt Blut. Ich sage dir das, Wakiya, weil ich weiß, daß du in vielen Nächten von ihm träumst. Er ist aber ein Mensch, dem niemand helfen kann, denn das Haus ist verflucht, und Blut kann keiner abwischen außer mit Blut. Nun hat Tashina den Nachbarsohn Harold Booth erschossen. Hau.«
Das war die längste Rede, die Wakiya-knaskiya je von seiner mürrischen und schweigsamen Mutter gehört hatte. Die beiden saßen noch bis in die Nacht hinein auf der Schwelle des hellblauen Hauses und schauten über Wiese und Hügel zu den Sternen hinauf und zum Mond, der sein Gesicht nur wie eine dünne Sichel zeigte.
Als die beiden schlafen gegangen waren, träumte Wakiya und schrie laut den Namen Inya-he-yukan.
Am frühen Morgen schlief er endlich ruhig. Die Mutter konnte ihn nur mit Mühe wecken. Er aß kaum etwas und machte sich auf den Schulweg. In den Unterrichtsstunden paßte er weniger als je auf.
»Byron Bighorn! Was habe ich gefragt?«
Miss Gish sprach ärgerlich und streng.
Wakiyas Gesicht wirkte völlig abwesend.
»Byron Bighorn! Weißt du nicht, was ich gefragt habe?«
Wakiya blieb stumm; er schien nicht dazusein.
Die anderen Kinder schauten auf ihre Tische. Sie schämten sich für Wakiya, er tat vielen leid; einige unterdrückten ein Kichern. Alle fürchteten, daß wieder einmal ein Strafgericht hereinbrechen würde.
»Byron Bighorn! Woran denkst du überhaupt? Antworte mir.«
Wakiya war es schwindlig zumute, wie in Nebeln auf einem schmalen Grat. Er hatte nichts begriffen als die letzte Frage, und er antwortete, weil seine Gedanken ihn sehr bedrängten und weil er auch schon wieder vergessen hatte, daß es Miss Gish war, die ihn fragte:
»Womit kann man Blut abwischen?«
Miss Gish glaubte, nicht recht gehört zu haben.
»Byron Bighorn! Woran denkst du überhaupt?«
»Gibt es das, >verdammt<? Es ist doch immer einer schuld.«
»Byron Bighorn, setze dich hin und passe von nun an besser auf. Ich werde mit deinem Pfarrer sprechen. Die Wege, auf denen deine Gedanken gehen, sind ja nicht mehr normal.«
Wakiya gehörte wie alle Kinder auf der Reservation einer Kirche an. Die Mutter hatte ihn aber nur sehr selten mitgenommen, denn auch der Weg dorthin war weit.
An einem der nächsten Tage kam ein alter Pfarrer in die Schule. Er holte sich Wakiya nach der letzten Stunde, als die anderen Kinder zum Schulbus eilten, und setzte sich mit ihm in den Schulgarten hinter das Haus. Das Gras wuchs hier als dichter Teppich. Die Blumen waren längst abgeblüht. Die schmalen Wege waren mit Sand aus roter und gelber Erde bestreut. Eine einzige Bank stand da, und auf diese setzte sich der alte Mann mit dem Kind.
Wakiya hatte den Alten schon vorsichtig gemustert. Er war weißhaarig, hatte blaue Augen, und seine welke Haut war hell, wie sie bei einem Geist sein sollte. Er war groß, wenn auch nicht so groß wie der alte Geheimnismann, den Wakiya noch gekannt hatte.
»Byron Bighorn, du möchtest Blut abwischen. Das ist freilich eine schwere Sache. Das kann nur Gott allein, den du Wakan-tanka nennst.«
»Kann er es wirklich?«
Der alte Mann erschrak.
»Er kann alles.«
»Aber wenn das Haus verdammt ist?«
»Niemand kann verdammen außer Wakantanka selbst.«
»Und wenn er verdammt hat?«
»So vermögen wir nichts dagegen zu tun außer zu beten.« »Aber er selbst?«
»Er kann verdammen, und er kann Gnade schenken.« »Was ist das?«
»Er kann das Blut abwischen.«
»Es ist ein großes Geheimnis. Warum verdammt er?«
»Wenn einer eine ganz böse Tat getan und böse Gedanken gehegt hat.«
Wakiya schüttelte den Kopf. »Das willst du nicht glauben?« Wakiya schüttelte wieder den Kopf.
»Kannst du mir erklären, Byron Bighorn, warum das so schwer zu verstehen ist?«
»Ich habe nicht immer die Worte, die ich sagen will. Aber vielleicht kann ich es dir sagen, wenn du genau aufmerkst. Ich weiß nicht, ob Wakantanka euer Gott ist. Vielleicht ist er es geworden. Gegen uns ist er nicht mehr gerecht. Ihr dürft uns alles nehmen, und er verdammt euch nicht.«
»Wir versuchen, Buße zu tun und euch vieles wiederzugeben. Wir geben euch den Glauben, und wir geben euch Wissen, und wir geben euch Straßen, und wir geben euch Häuser.«
»Aber wenn ein Mensch verdammt ist, ist er erst verdammt, und dann tut er das Böse.«
»Aber nein, Byron Bighorn, das ist heidnischer Aberglaube.«
»Ich habe es bei euch gelernt, und die Mutter hat es auch bei euch gelernt. Euer Gott straft den Vater, den Sohn und dessen Sohn und wieder dessen Sohn. So steht es bei euch geschrieben.«
»Wenn der Ahne eine böse Tat getan hat.«
»Aber der Sohn hat sie nicht getan.«
»Das ist der Fluch.«
»Wie kann man einen Fluch aufheben?«
»Das kann nur Gott, den ihr Wakantanka nennt.«
Der Kreis war geschlossen.
»Du mußt beten, Byron Bighorn.«
»Der Alte hat gebetet. Hast du viel Kraft?«
»Ich habe keine Kraft. Die Kraft ist bei Gott.«
Wakiya gab es auf. Er betrachtete den gelben und den roten Sand.
»Wessen Blut willst du abwischen, Byron Bighorn?«
Nun wurde dieser alte Geist noch neugierig.
»Die Mutter hat einen Hund geschlachtet.«
»Hast du den Hund so gern gehabt?«
»Wir haben ihn aufgegessen.«
»Ja, du willst nun nach Hause gehen, Byron Bighorn, nicht wahr?« »Ja.«
Wakiya lief los. Er blieb wieder allein mit seinem Traumbild, mit seinen Rätseln und seinem Grübeln, mit seiner Liebe und mit seinem Haß. Er sprach mit niemandem mehr über das, was ihn Tag und Nacht verfolgte. Inya-he-yukan war verloren! Die Geister waren daran schuld. Es gab keinen Gott gegen sie.
Der Winter brach herein. Es wurde ein harter Winter. Viel Schnee fiel. Wakiya mußte wieder lange Zeit der Schule fernbleiben. Die Mutter hatte noch Vorräte ins Haus geschafft, so daß sie mit Wakiya und der kleinen Schwester nicht zu verhungern brauchte, wenn auch alle darbten.
An Tagen, an denen der Schnee fest genug lag und die Straße nicht verweht war, nahm sie die Schneereifen und wagte sich bis zum Laden der Agentursiedlung.
Einmal hatte sie dort Inya-he-yukan gesehen, der ebenfalls eingekauft hatte.
»Er hat lange Bretter an den Füßen; damit fliegt er über den Schnee wie ein Vogel. Er hat immer das Neueste. Einen Brunnen hat er jetzt auch. Ein Indianer einen Brunnen! Das Wasser fließt. Sie haben Geld, die Kings. Inya-he-yukan hat zwei Geister gefunden, die verlorengegangen waren. Dafür hat er viel Geld bekommen. Er wird noch so reich werden wie die Wirbelwinds.«
Die Mutter packte ihren Sack aus.
Ob Geld und Wasser Blut abwischen konnten? Wakiya dachte über neue Fragen nach.
Die Schule wurde ihm immer gleichgültiger, weil er keine Hoffnung mehr hatte, das Klassenziel zu erreichen. Lehrer und Schüler wußten, Wakiya selbst wußte, daß er sitzenbleiben würde.
Wakiya graute es davor, weil er dann wieder unter fremde Kinder kam, vor denen er sich scheute, und weil er ein Jahr länger in die Schule gehen mußte. Die Mutter war nur drei Jahre in die Schule gegangen. Wie gut hatte sie es gehabt - trotz des großen Stocks. Wakiya interessierte sich nicht mehr für die Schule. Auf seine Fragen konnte sie ihm keine Antwort geben. Er gewöhnte sich in den langen Schneeferien daran, auf der Schlafstatt zu liegen, zu denken oder auch gar nichts mehr zu denken und nur nach der gelben Decke im Innern des hellblauen Bretterhäuschens zu starren. Es war nicht so kalt in dem Hause, wie die Mutter gefürchtet hatte; die doppelten Wände schützten fast so gut wie Balken.
Die kleine Schwester spielte mit einer Puppe, die die Mutter ihr gemacht hatte.
Als der Schnee zu schmelzen begann, mußte Wakiya wieder in die Schule gehen. Er konnte dem Unterricht kaum mehr folgen, auch wenn er es sich vornahm. Seine schriftlichen Arbeiten waren ungenügend. Er schämte sich vor den anderen Schülern. Still und verzweifelt saß er an seinem kleinen Tisch in der ersten Reihe, rechts außen.
In dieser Zeit der Nässe und des Schneematsches sah er Tashina wieder einmal. Sie wurde auf einer Bahre in das Krankenzimmer getragen. Matt und blutleer sah sie aus; ihre Hände waren weiß wie weißer Stein. Wakiya hörte die Stimme der Rektorin.
»Wir müssen Mister King verständigen. Ein Herzanfall.«
Wakiya trieb sich nach Schulschluß noch umher. Er wollte sehen, ob Inya-he-yukan zu Tashina kam, ehe sie vielleicht starb.
Es ging gegen Abend, als ein Sportcabriolet mit großer Geschwindigkeit die letzte Kurve nahm und vor dem Schulgebäude stoppte. Joe King sprang heraus und schlug hinter sich die Tür klappend zu. Er eilte in das Haus.
Wakiya sah den Wagen stehen und schaute dem Mann nach, der hinter der großen Eingangstür verschwunden war. Joe trug nach seiner Gewohnheit den schwarzen Cowboyhut und jetzt im Winter über dem dunklen Hemd die Jacke. Es war noch die gleiche Jacke, in die er Wakiya gebettet hatte, als dieser von der Flucht und den Tagen in der Sandkuhle völlig erschöpft gewesen war.
Wakiya ging nicht zu dem schnellen Wagen hin, wie wohl jeder andere Junge getan hätte. Er wollte Inya-he-yukan nicht in den Weg laufen. Sicher hätte ihn dieser ein Stück im Wagen mitgenommen. Aber der Mann mußte sich nun um seine Frau kümmern, und Wakiya war scheu. Der Bub beobachtete noch, wie Inya-he-yukan Tashina aus der Schule führte und sorglich in den Wagen setzte. Der Motor sprang leise an, und das Cabriolet fuhr weg. Wakiya blickte hinterher, bis es nicht mehr zu sehen war. Dann lief er heim und kam noch viel später als sonst bei der Hütte an.
Inya-he-yukan besaß einen Brunnen, Ski, Pferde, einen Wagen und Geld.
Die Mutter hatte gesagt, daß ihm niemand helfen könne. Wer hatte ihm geholfen? War der Fluch gelöst? Oder galten Brunnen, Ski, Pferde, ein Wagen und Geld nichts vor der Verdammnis?
Wakiya vertraute seine Fragen niemandem mehr an.
Er lief täglich zur Schule, blieb ein schlechter Schüler und war abends todmüde. Margot Adlergeheimnis kam noch in jedem Monat einmal zu der Schule und sah auch nach Wakiya. Sein Leiden hatte sich im Krankenhaus gebessert. Schwere Anfälle waren nicht mehr eingetreten. Leichte kamen jetzt wieder öfter. Aus einem Gespräch der Rektorin mit Frau Margot erfuhr Wakiya, daß Tashina wieder gesund war und daß sie bald ein Kind erwartete.
Inya-he-yukan würde einen eigenen Sohn haben. Irgendein letztes Band zerriß in Wakiya; er wußte selbst nicht, woraus es gewebt gewesen war.
Am Ende des Schuljahres erfuhr er, daß er sitzenbleiben würde und die dritte Klasse wiederholen müßte. Er nahm es äußerlich ruhig hin. Aber sein Herz klopfte vor Aufregung und Scham, und als er heimgekommen war, schlich er sich wieder einmal an seinen alten Platz, wo alle Erinnerungen verbrannt waren. Der alte Hund, der zu zähe war, um aufgegessen zu werden, kam zu ihm und legte sich auf Wakiyas nackte Füße.
Wakiya weinte bitterlich.
Zwei Tage später kam der Bruder aus dem Schulinternat in die Ferien heim. Er war rund, hatte ein gutes Zeugnis und war zu Streichen aufgelegt. Doch erklärte er entschlossen, daß er nie mehr in das Schulheim zurückkehren werde. Lieber wollte er täglich mit Wakiya den langen Weg laufen.
Die Mutter war einverstanden.
Da der Bub immer wieder drängte und die Mutter seinen Wunsch selbst vernünftig fand, machte sie wieder einmal den langen Weg zur Agentursiedlung und zum Stammesrat. Sie nahm die beiden Brüder mit.
Der Stammesrat hatte seinen Amtssitz in einem der Holzhäuser an der Agenturstraße; ein kleiner Garten lag davor. Das Haus war einmal weiß gestrichen worden. Eliza wartete mit ihren Kindern, dann wurde sie zu dem Ratsmitglied für Schulwesen Bill Temple eingelassen. Sie brachte ihr Anliegen vor.
»Damit wird es nichts werden, Eliza. Es sollen möglichst viele Kinder in das Internat, damit sie auch nach dem Unterricht immer englisch sprechen und die Lebensweise der weißen Männer leichter lernen. Sie haben dort genug Wasser, um ihren Durst zu löschen und sich zu waschen. Es ist ein wunderschönes neues Schulinternat, in das sie deinen Sohn Hanska aufgenommen haben.«
»Aber Wakiya ist krank, und der Bruder könnte auf dem Weg immer bei ihm sein, wenn er mit ihm hier in die gleiche Schule geht.«
»Miss Bilkins wird nicht zustimmen. Das ist aussichtslos. Aber wenn du anders denkst, kannst du mit den beiden Kindern zu ihr gehen.«
»Komm du mit, Bill Temple.«
»Es ist besser, du gehst allein. Ich muß die Grundsätze kennen und kann nicht dagegen sprechen. Aber du kennst die Grundsätze eben nicht.«
Eliza erhob sich, nahm die Kinder an die Hand und ging hinüber in das blank-weiß gestrichene Bürohaus der halbmächtigen Geister. Miss Bilkins empfing sie. Ein Dolmetscher machte verständlich, was Eliza wollte.
»Das kommt nicht in Frage.« Miss Bilkins vertrat die Grundsätze aufs eifrigste. »Ihr älterer Sohn, Misses Bighorn, ist ein schlechter Schüler und Sitzenbleiber, weil er nicht von Anfang an ins Internat kam. Ihr jüngerer Sohn ist ein guter Schüler. Ich opfere nicht einen guten Schüler einem schlechten Schüler. Ihr jüngerer Sohn bleibt im Internat und macht die zwölf Klassen. Erledigt. Der Schulwechsel von Queenie King hat mir Ärger genug verursacht. Das darf keinesfalls so weitergehen.«
Was ein Indianerkind zu tun und zu lassen hatte, bestimmten nicht seine Eltern, noch weniger des Kindes eigene Wünsche. Das bestimmten vielmehr der allmächtige Vater Superintendent und die halbmächtige Geisterfrau des Schulwesens.
Als der Bub verstanden hatte, blitzten seine Augen böse auf.
Mutter und Kinder verließen das Bürohaus.
Um die Anstrengung des langen Weges auszunutzen und den Weg nicht ganz vergeblich gemacht zu haben, brachte die Mutter ihre beiden Buben noch zu dem braunhäutigen Mann mit der Schere.
Wie immer saßen einige wartende Kunden auf den Stühlen an der Wand; die Stühle waren in den vergangenen vier Jahren nicht neuer und nicht fester geworden.
Die da saßen und warteten, waren alles Indianer. Die Geister ließen sich ihre Haare andernorts pflegen.
Das Warten gab Gelegenheit zu einem leise und mit vielen Unterbrechungen geführten Gespräch, zum Austausch von Meinungen und zum Verbreiten der wichtigsten Nachrichten.
»Er hat den ersten Preis gemacht in Calgary für >Bronc sattellos<! Habt ihr es gehört?«
»Gehört.«
»Ein Indianer! Ist das schon dagewesen?« »Es steht in den New City News.«
»Jetzt brüsten die sich damit, weil er aus unserem Staat ist. Er ist aber ein Indianer. Das schreiben sie nicht. Das haben sie nur geschrieben, als er noch ein Gangster war.«
»Wer weiß denn, ob er es nicht mehr ist?«
»Sie haben ein Bild gebracht.«
»Das alte vom Rodeo in New City?«
»Nein, ein neues.«
Einer der Männer zog umständlich einen Ausschnitt aus seiner Brieftasche.
Das Blatt ging von Hand zu Hand.
Auch Wakiya und sein Bruder bekamen es zu sehen.
»Wakiya! Schau dir das an! Ich will auch Bucking Horses reiten!«
Die Männer lächelten.
»Joe King züchtet sie. Mußt dich anmelden bei ihm als Cowboy und Rodeoreiter.«
»Mutter, laß mir die Haare wachsen. Ich will nicht mehr fort von euch in das Schulgefängnis. Ich will gar nicht mehr in die Schule gehen. Ich will Cowboy werden.«
Wakiya zog die Mundwinkel ein wenig herunter. »Das will David auch.«
»David kann das nicht. David wird studieren. Aber ich will ein Cowboy werden, Mutter!«
Die Männer lächelten noch offener.
»Das fängt aber nicht mit Calgary an, Hanska! Das fängt mit Üben an - und damit, daß du mit dem blauen Hintern mehr im Gras sitzt als auf dem Pferderücken.«
»Mutter, kaufst du mir ein Pferd?«
»Du mußt zu Frau Carson gehen und fragen, ob sie dir das Geld gibt.«
Wakiya mischte sich ein.
»Sie schenkt dir einen roten Radiergummi, aber keinen Mustang.«
»Dann laufe ich zu Joe King und frage ihn.«
»Du bist imstande.«
Die Männer lachten herzlich.
Aber Wakiyas Bruder ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Joe King ist auch ein Indianer. Wie hat er es gemacht?«
»Mit dem Teufel wahrscheinlich.«
Das sagte einer. Die anderen wurden wieder ernst.
»Er ist ein verdammter Bursche.«
Wakiya faßte die Stuhlkanten fester. Seine Füße reichten erst knapp zum Boden. Der Mann hatte >verdammt< gesagt. Dieses Wort hatte er aus der Geistersprache entnommen. Verdammt war Joe King! Wußten denn das schon alle?
»Es ist gut für uns, daß er den Preis gemacht hat.«
»Gut, ja. Aber was wird er sonst noch alles machen? Mit den Kings gibt es niemals Ruhe.«
»Der Alte, den er sich aus Canada geholt hat von seiner Mütter Seite, hat geschossen, als einer von uns eine Flasche Brandy trinken wollte.«
»So sind sie. Saufen und schießen. Das sind die Kings und ihre Frauen.«
»Aber reiten kann er.«
»Und wenn er es mit dem Teufel macht?«
»So sind die Cowboys alle.«
»Er bringt den ganzen Stamm durcheinander. Auto und Calgary und ein Brunnen! Er ist kein Indianer mehr. Paßt auf, wenn er jetzt den Preis in der Hand hat, läuft er wieder fort.«
»Er wird durch den Sonnentanz gehen.«
»Der?«
»Hüte deine Zunge. Das Sonnenopfer reinigt jeden Mann.«
Wakiyas Augen wurden groß. »Läßt der Medizinmann ihn zu?« »Er ist schon angenommen.«
»Noch hat er nicht bestanden. Vielleicht ist er des Teufels.« Im Kopf der Männer mischte sich alte und neue Religion, wie es für sie zusammenpaßte. Manches schien einander nicht fremd.
»Verdammt.«
Das war das letzte Wort, das einer der Männer zu der Sache Inya-he-yukan sprach. Wakiya ahnte nicht, wie leichtfertig die Geister dieses Wort gebrauchten und überall verbreiteten. Für ihn lag darin ein unbestimmtes, darum um so drohenderes Grauen.
Der Reihe nach ging nun jeder zu dem frei im Raum stehenden Stuhl, und bei einem nach dem anderen fielen die abgeschnittenen schwarzen Haare auf das weiße Tuch. Als letzter kam Wakiyas jüngerer Bruder an die Reihe. Er hielt still.
Eine Woche später sollte das Fest des Sonnentanzes gefeiert werden. Drei junge Männer hatten sich bereit gefunden, das Opfer zu bringen und die Qualen auf sich zu nehmen. Einer von ihnen war Inya-he-yukan.
Eliza Bighorn wußte nicht, was sie tun sollte. Mit ihrem Mann zusammen war sie immer zu den großen Kulttänzen gegangen, nach seinem Tode noch zuweilen. Aber der Weg war weit, und Wakiya hatte wieder einen stärkeren Anfall gehabt. Sie mochte ihn nicht mitnehmen, da er das Fest stören konnte. Sie mochte ihn nicht allein zu Hause lassen, auch nicht allein mit der kleinen Schwester, und sie wollte die heißen Bitten des jüngeren Bruders, ihn mitzunehmen, nicht abschlagen.
Es war schwierig, das Rechte zu finden.
Endlich wußte sie, was sie tun mußte. Sie schickte den jüngeren Bruder zum weit entfernten Nachbarn. Man sah sich selten, aber das Kind würde der Nachbar zu der Feier mitnehmen. Die Mutter blieb mit Wakiya und der kleinen Schwester zu Hause.
Wakiya sagte nichts zu der Entscheidung. Er hatte nicht mit einem einzigen Wort gebeten, zu dem Sonnentanz gehen zu dürfen.
Als der Tag der Opferfeier begann, lief er vor Sonnenaufgang hinaus in die Prärie, und die Mutter sah ihn bis zum Abend nicht mehr. Er suchte seinen alten zerstörten Platz auf. Die Erde hatte das Feuer nicht fressen können; den Himmel hatten die Flammen nicht erreicht. Erde und Himmel waren geblieben; die Prärie dehnte sich gelb und dürstend wie in jedem späten Sommer und jetzt weithin ohne irgendeinen Baum und Strauch. Die Einsamkeit war nur stärker geworden durch das Feuer.
Wakiya blieb Stunde um Stunde an seinem Platz. Die Sonne zog mit rotgolden glänzender Macht herauf, als wisse sie, daß dies der Tag sei, an dem sie geehrt wurde. Sie konnte das Gras aus der Erde locken und Tieren und Menschen die Nahrung geben. Sie konnte das Gras verbrennen und das Wasser austrocknen und Tiere und Menschen sterben lassen. Seit den ältesten Zeiten hatte sie das Opfer der braunhäutigen Männer empfangen.
Wakiya wußte genau, wie der Tag verlief. Die Mutter hatte es ihm gesagt. Jetzt, um diese Stunde, waren die Opfernden noch im Gebet, ohne Speise und Trank, vom Dufte des heiligen Tabaks gestärkt, den an solchem Tag zu rauchen einen Gruß an die mächtige Sonne bedeutete.
Wakiya hatte vom Vater gelernt zu denken, ohne mit den Gedanken abzuirren. Er saß an seinem Platz regungslos und blickte nach Osten.
Er war bei denen, die an diesem Tag der Sonne ihr Leben weihten und es wieder empfangen konnten. Es war aber auch schon geschehen, daß die Sonne ein Leben festhielt und es nicht wieder herausgab. Die Strahlen konnten töten oder neues Leben schenken.
Inya-he-yukan wollte heute um sein neues Leben ringen. Sein Blut würde fließen und altes Blut von der Erde wischen. So wußte es Wakiya.
Die Sonne hatte das Blutrot ihrer morgendlichen Geburt abgelegt und strahlte in dem Glanz, vor dem der Mensch seine Augen senken muß. Wakiya schaute, was fern von ihm auf dem Kultplatz bei dem großen belaubten Baum und um die geheimnisvolle Hütte des Sonnenopfers vor sich ging. Der Baum war heilig. Im Innern seines Markes war die dunkle Stelle zu sehen, deren Form dem fünfzackigen Morgenstern glich. Schon kamen sie alle, und wer die alten Gewänder seiner Vorfahren noch besaß, der trug sie heute. Wer sie nicht mehr besaß, aber geschickte Hände hatte und die Alten ehren wollte, der trug neue Gewänder, die nach alter Art gefertigt waren. Bunt und schön war die Menge der braunhäutigen, schwarzhaarigen Menschen auf der gilbenden Wiese am Sonnentag.
Die Geheimnismänner gingen zu der Hütte, um miteinander das Opfer vorzubereiten. Die drei jungen Männer, die es bringen wollten, hatten sich im Schwitzzelte gereinigt. Sie hatten nicht gegessen und nicht getrunken, sondern nur die Blätter des Tabaks für die Sonne geraucht. Ihre Gedanken irrten nicht ab, sie waren ganz auf das Kommende gerichtet.
Wakiya war bei Inya-he-yukan. Noch trug >Stein hat Hörner< die hirschledernen Kleider seiner Vorfahren. Einem jungen Häuptling gleich stand er auf der roten, gelben, grauen Erde, und seine Füße gingen über das Gras, das die Büffel und die Mustangs gern geweidet hatten. Er war groß gewachsen und kräftig. Das Gewicht des Lederrocks spürte er kaum auf seinen Schultern.
Gelb, rot und blau gestickt leuchteten Tipi und Sterne auf dem Rock.
Inya-he-yukan war der Sohn der Prärie an einem großen Festtag. Aber seine schwarzen Haare waren kurz; auch er war den Geistern unterlegen wie sein ganzer stolzer Stamm. Die hellhäutige Faust lag auch ihm im Nacken. Aber gebeugt hatte sich sein Sinn noch nicht.
Die Stunde kam, in der die drei Opfernden die Kleider ablegten und in die Hütte gingen.
Die große Trommel wirbelte schon unaufhörlich, dumpf, mächtig, noch immer die Stimme dieses Landes und derer, die es zuerst besessen hatten. Die Sänger sangen die alten heiligen Lieder des Sonnentags. Schrill, vom Ohr nicht abzuwehren, packten sie jeden.
Wakiya hörte sie. Er hatte zweierlei Ohren, äußere und innere, wie er auch zweierlei Augen besaß. Doch öffneten sich ihm die inneren Augen und die inneren Ohren nur dann, wenn er allein war und ganz bei dem, was er sehen und was er hören wollte. Heute störte ihn niemand.
Die anderen, die vielen in den alten buntbestickten Gewändern, die jetzt um die Hütte aus Laub herumsaßen, durften nicht mit den Opfernden hineingehen. Wakiya aber ging mit.
Er ging mit Inya-he-yukan und dessen beiden Gefährten.
Der älteste und angesehenste der Geheimnismänner durchstach jedem der drei Opfernden die Brusthaut an zwei Stellen. Noch kam kein Blut hervor; das war die Kunst der Geheimnismänner. Jedem der drei Opfernden wurde an den durchstochenen Stellen je ein Stück eines kräftigen biegsamen Zweiges vom heiligen Laubbaum durchgezogen; die Enden waren an Lederriemen befestigt.
Die Riemen waren die Strahlen der Sonne, die den Opfernden gepackt hielten. Er mußte sich unter Qualen davon losreißen.
Jetzt floß das Blut.
Das eigene Blut.
Niemand durfte den Opfernden helfen, niemand sie berühren, ehe nicht der heilige Zweig ihr Fleisch durchgerissen hatte.
Manche blieben lange von der Sonne gefangen.
Wakiya war bei Inya-he-yukan. Er fühlte die Schmerzen. Sein eigener Körper zuckte. Er war ganz dabei. Kein anderer konnte Inya-he-yukan jetzt so nahe sein wie Wakiya, das einsame Kind in der einsamen Prärie.
Die Klöppel wirbelten auf die Trommel, die Stimmen der Sänger schrillten.
Große Sonne! Gib deine Opfer wieder frei!
Inya-he-yukan stürzte, blutbesudelt von der Brust bis über die Knie, fahl, seiner selbst fast nicht mehr mächtig. Sein Fleisch war durchgerissen.
Auch seine beiden Gefährten wurden frei und sanken auf dem Boden zusammen.
Das Opfer war vollzogen.
Die Trommeln wirbelten, die Stimmen der Sänger schrillten. Es ging dem Abend zu.
Selbst ihr Blut im roten Lichte verströmend, ging die Sonne zu der Unterwelt, wo sie ihre Macht verlor. Aber das Opferblut gab ihr die Kraft zurück, so daß sie des Morgens in neuem Glanze aufzutauchen vermochte.
Das hatten die Ahnen vor langer, langer Zeit gesagt. Jetzt sprachen die Geheimnismänner anders. Das Blut entsühne den Menschen. Die Geister aber lehrten, daß die Sonne ihren Weg gehe und der Hilfe der Menschen nicht bedürfe.
Wakiya schüttelte die Wirrnis der Gedanken ab und blieb bei dem, was er aus dem Munde der Mutter gehört hatte.
Die Sonne hatte ihren großen Tag gesehen. Die Opfernden waren frei geworden.
Erschöpft, mit den schmerzenden Wunden wurden sie den Ihren zurückgegeben.
Nun konnte Tashina ihren Mann pflegen und heilen. Wakiya aber war bei ihm in der Hütte gewesen, in der er seine Qual durchstand und alles Blut mit dem eigenen abwusch.
Es gab keinen Fluch mehr und keine Verdammnis, wenn die Sonne ihr Opfer freigegeben hatte.
So dachte Wakiya.
Als ob alle Krankheit, alle Schwäche, alle Sorge und aller Kleinmut von ihm gewichen seien, erhob er sich und schaute über das dürre, grenzenlose Land. Schritt um Schritt, im Ohr noch den Laut der verklingenden Trommelschläge und des hell gellenden Gesangs, ging Wakiya mit seinen bloßen Füßen über Gras, über harte Erde und Staub zurück zu der Hütte. Fremd schien sie ihm, armselig in ihrem verblichenen Hellblau. Er wandte ihr den Rücken und blickte nach dem Himmel, der Farben von überwältigender Kraft zaubern konnte, bis sie alle in die Nacht dahinschwanden und im sanft auszehrenden Licht des Mondes zur Ruhe gingen.
Die Mutter sprach Wakiya nicht an. Sie kannte ihn und wußte, daß er allein sein wollte. Spät gingen Mutter und Kinder schlafen.
Am nächsten Tag kam der jüngere Bruder zurück. Er erzählte wenig. Der Eindruck war zu mächtig gewesen.
Die Ferientage der beiden Brüder rollten wieder abwärts wie Steine, die in immer schnelleres Rollen geraten und endlich den Hang in großem Bogen hinabspringen.
Die beiden Buben kamen sich näher als je. Sie hatten beide Angst vor der Schule. Wakiya fürchtete die Schande, mit der er nun als Sitzenbleiber noch einmal die dritte Klasse beginnen würde. Er würde sich in dieser Klasse schämen und langweilen und noch verstockter werden als zuvor. Er kannte sich selbst gut genug, um das schon zu fühlen. Es gab jedes Jahr viele Sitzenbleiber, denn die Kinder mochten nicht die Sprache der Sieger lernen, nur sehr wenige Eltern konnten ihren Kindern helfen, und die meisten Schüler wußten nicht, wofür sie lernten. Draußen vor dem Schulhaus standen oft die schulentlassenen Burschen, die Hände in den Hosentaschen, und zeigten auf diese Weise, was ein Schulabgänger in der Welt der Reservation zu tun hatte.
Es gab viele Sitzenbleiber. Aber unter ihnen keinen zweiten Wakiya.
Den jüngeren Bruder schüttelte eine andere Angst. Es war die Angst vor dem Heimweh. Er war noch ein kleiner Bub und sollte nun wieder ein ganzes Jahr fort von daheim. In eine Schule, wo er niemals reiten lernen konnte. Seine Mutter, seinen Bruder, seine Schwester, die Prärie und ihre Pferde sollte er drei Jahre lang nicht wiedersehen, wenn er nicht seinen Trotz ablegen und sich nicht alle seine heißen Wünsche abgewöhnen würde. So hatte Miss Bilkins entschieden, wie sie selbst glaubte, endgültig. Die Geister herrschten über Hanska. Aber alles in ihm bäumte sich auf, wie ein bockendes Pferd sich bäumt.
Er sagte nichts mehr davon. Die Mutter konnte es ja nicht ändern.
Als sie ihn zwei Tage vor Beginn des neuen Schuljahres an die Hand nahm, um ihn zu der Agentursiedlung zu bringen und zu dem Überlandbus, der dort wartete, da lief er mit gesenktem Kopf neben ihr; er hatte den Kopf so tief gesenkt, daß sein Nacken bloßlag wie der eines Mannes, der ihn unter dem Henkerbeil beugen muß.
Er haßte die Geister und träumte von dem Kriegspfad, den er beschreiten würde.
Für Wakiya blieben nach dem Abschied von Hanska noch zwei Tage Zeit. Er nutzte sie, um der Mutter Wasser zu holen. Als er am letzten Tag von diesem Gang zurückkam, fand er die Mutter verändert. Sie sah ihren Wakiya mißtrauisch von der Seite an.
Der Junge, bis zum achten Lebensjahr kleiner als die anderen Kinder seines Alters, war im Krankenhaus und in der Zeit danach stark gewachsen. Lang aufgeschossen, schmal und mager stand er neben der Mutter. Aber es blieb bei Elizas verwundertem, fragendem, nicht eben freundlichem Blick.
Erst beim Schlafengehen sagte die Mutter etwas von dem, was sie zu betrüben schien. Sie sagte es in ihrem mürrischen Ton.
»Was hast du wieder mit Inya-he-yukan gehabt?«
Wakiya fuhr zusammen und dachte an seine Wachträume am Sonnentag. Konnten sie unrecht gewesen sein? Er schaute fragend und bittend auf die Mutter.
»Nun, er war da.«
Wakiya wartete wieder.
»Mach, was du willst. Aber das Geschlecht der Inya-he-yukan wird von bösen Geistern verfolgt.«
Mehr sagte die Mutter nicht, und Wakiya war zu aufgeregt und zu verschüchtert, um noch etwas zu fragen. Inya-he-yukan war in das Haus der Bighorns gekommen, Wakiya aber hatte ihn nicht gesehen!
Am nächsten Morgen hatte der Bub seinen Weg zur Schule angetreten. Es war ihm schlecht, und er erbrach das Brot, das die Mutter ihm zu essen gegeben hatte. Die Zeit wurde knapp, und Wakiya lief fast den ganzen Weg im Dauerlauf. In der Seite fühlte er Stiche.
Er wollte in der neuen Klasse nicht gleich zu spät kommen. Darum gab er nicht nach.
Seine Lunge lechzte nach Luft; er öffnete den Mund und rannte, aber nun klopfte das Herz noch schneller.
Endlich kam das Schulhaus in Sicht. Der Schulbus war schon leer; die Kinder waren bereits ausgestiegen und eingeströmt. Wakiya lief ganz allein über den großen Platz auf die große Tür zu, und er war sehr klein. Er hätte hören können, daß ein Pferd stampfte, und sehen können, daß Inya-he-yukan den Schecken an einem Baum festmachte. Doch sah Wakiya das nicht, denn seine Augen waren ganz auf seinen Weg über den großen freien Platz zu der großen drohenden Tür gerichtet, die sich wundern mochte, wer hier noch so spät und so allein herbeirannte.
Wakiya schlüpfte hinein; er keuchte noch. Durch leere Gänge hastete er zu seinem alten Klassenzimmer. Er öffnete zaghaft die Tür, schon gewärtig, von einer strengen Lehrerin streng empfangen zu werden und zu der Schande des Sitzenbleibens noch die Schande des Zuspätkommens zu häufen.
Doch war keine Lehrerin anwesend.
Wakiya klinkte die Tür sehr leise hinter sich ein. Die ihm fremde Klasse schaute nach ihm. Alle saßen sie schon an ihren Plätzen, Buben und Mädchen, schwarzhaarig, dunkeläugig. Alle saßen sie ganz still da. Sie hatten wohl erwartet, daß die Lehrerin eintreten werde. Vielleicht wußten einige schon, daß die Rektorin selbst die erste Stunde in englischer Literatur geben würde. Aber nun war nicht die Rektorin hereingekommen, sondern Wakiya.
Die Schüler saßen vorläufig an den Plätzen, die sie in der zweiten Klasse innegehabt hatten. Wakiyas gewohnter Platz war besetzt. In den beiden letzten Reihen waren noch Plätze frei, aber Wakiya traute sich nicht, einen davon einzunehmen. Er blieb bei der Tür stehen und wagte nicht einmal, sich an die Wand anzulehnen. Sein Herz klopfte noch; sein Kopf fühlte sich leer an. Aber er war wenigstens nicht zu spät gekommen.
Die Kinder schauten nicht mehr offen nach ihm. Sie beobachteten ihn verstohlen.
Die Lehrerin kam noch immer nicht.
Wakiya packte neues Entsetzen. Wenn jetzt seine Krankheit über ihn kam? Solange nicht einmal eine Lehrerin da war? Die Kinder würden sich grauen und schreien, und er würde am Boden liegen, den Kopf aufschlagen und nichts mehr von sich wissen.
Die Angst trieb sein Herz immer weiter an, so daß er sich von dem langen, schnellen Lauf nicht erholen konnte. Er sah schon alles vor sich, wie es kommen würde...
Wakiya, der Sitzenbleiber, eine kümmerliche, schmal aufgeschossene Gestalt mit einer wiederum zu weiten Hose, barfüßig, in schlechtem Hemd, stand bei der Tür. Es wollte ihm schwindlig werden. Er starrte auf den Boden, um die Kinder nicht zu sehen, die ihn heimlich musterten. Auf dem Gang waren Schritte zu hören.
Die Kinder setzten sich alle sehr gerade hin, bereit, sofort aufzustehen, wenn die Tür sich öffnen würde und die Lehrerin hereinkam.
Die Tür ging auf.
Die Geräusche des Aufstehens von mehr als dreißig Kindern rauschten durch den Raum.
Dann trat die Totenstille des unverbrüchlichen Gehorsams ein.
Wakiya schaute noch nicht auf. Vielleicht war Miss Gish da.
Es waren aber zwei Menschen hereingekommen. Der zweite war ein Mann. Sein Schritt war leichter als der der Frau. Wakiya schaute auf die Füße der Eintretenden.
Er kannte den etwas langen Rock und die braunen Schuhe der Rektorin.
Der Mann trug schwarze Hosen und schwarze niedrige Stulpenstiefel von weichem Leder. Solche Schuhe waren teuer.
Die Bilder und Gedanken schossen wirr durch Wakiyas Kopf. Wer würde hier die Schande eines Sitzenbleibers mitansehen? Wer?
Wakiya krampfte sich zusammen.
Eine Hand legte sich schützend auf seine Schulter. Wakiya überkam das Gefühl, daß er fester stehen könnte. Eine Stimme sprach. Wakiya kannte sie. Sie klang dunkel und gut.
»Komm, Wakiya. Du bist hier nicht in der richtigen Klasse. Du darfst in der vierten Klasse weiterlernen. Du wirst bei uns wohnen. Wir bringen dich jeden Tag zum Schulbus. Du wirst wieder gut lernen.«
Wakiya gab sich dem Traum hin. Ihm war benommen zumute.
»Du wohnst bei uns. Aber du kannst deine Mutter und deinen Bruder und deine Schwester besuchen, wann du willst, und ihnen Geschenke bringen. Willst du mit mir kommen?«
Wakiya nickte stumm und folgte dem leichten Druck der Hand.
Er konnte es noch nicht begreifen, aber es war so. Inya-he-yukan, der beste Reiter und beste Schütze, Inya-he-yukan, der durch den Sonnentanz gegangen war, holte sich Wakiya-knaskiya, den Kranken, den Sitzenbleiber, wie ein Vater seinen Sohn heimholt.
Wakiya ging mit.
Inya-he-yukan und die Rektorin brachten ihn in die vierte Klasse, wo jetzt die Kinder saßen, die ihn aus der dritten Klasse kannten.
Am Platz des Lehrers hatte hier Mr. Ball gesessen. An einem Ständer hing eine große Karte. Lehrer Ball war schon aufgestanden, ehe die Tür wieder ganz geschlossen war.
Alle Kinder hatten sich mit erhoben und standen wie kleine Statuen neben ihren Plätzen. Aber beim Aufstehen war etwas mehr Geräusch entstanden als üblich, denn die Überraschung war zu groß gewesen. In den hinteren Reihen waren noch Plätze frei. Wakiya durfte sich dorthin setzen.
Lehrer Ball warf einen Blick auf die Rektorin und war schnell gefaßt, obgleich hier die Beschlüsse der Lehrerkonferenz offenbar umgestoßen wurden.
»Sie haben die Klasse, Mister Ball. Vielleicht können Sie es mit Byron Bighorn doch noch einmal versuchen? Seine häuslichen Verhältnisse werden jetzt günstiger sein, und er kann zur Schule fahren...«
Lehrer Balls Mienen wurden sehr freundlich. Er lächelte Joe King zu.
»Sie waren als mein Schüler immer gut in Geographie, Mister King - Byron Bighorn!«
Wakiya erhob sich von seinem Platz.
»Byron, komm her. Zeige mir auf der Karte die Black Hills.« Wakiya holte sich den langen dünnen Stock und zeigte richtig. »Wie heißen diese Berge in deiner Sprache?« »Che sapa.« »Was heißt das?« »Black Hills.«
»Richtig. - Wo liegen die Rocky Mountains?«
Wakiya fuhr mit dem Stock den Zug dieses Gebirges von Norden nach Süden nach.
»Zu welchen Staaten gehören diese Berge?«
»Zu den Vereinigten Staaten von Amerika und zu Canada.«
»Aber das Gebirge zieht sich doch noch weiter nach Süden. Siehst du das nicht auf der Karte?«
»Ich sehe es. Aber dort trägt dieses Gebirge andere Namen.«
»Gut, Byron, gut.«
Wakiya stellte den Zeigestock wieder ab und ging zu seinem Platz zurück. Die Mitschüler hatten sich von ihrem Staunen noch nicht erholt.
Die Rektorin und Joe King grüßten Mr. Ball und verließen das Klassenzimmer wieder.
Nachmittags, als der Unterricht endete, fand Wakiya auf dem Platz vor dem Schulgebäude das Sportcabriolet, in dem Inya-he-yukan auf ihn wartete.
»Heute fahre ich dich noch den ganzen Weg. Morgen hast du deinen Platz im Schulbus bis zu unserem Tal.«
Wakiya stieg ein.
Am Steuer sah er Inya-he-yukans Hände spielen. Sie führten das Lenkrad so leicht und so sicher wie den Zügel.
Der Sportwagen überholte den Schulbus. Wakiya-knaskiya, der bisher immer hinter den anderen Kindern hatte zurückbleiben müssen, fuhr ihnen jetzt voran.
An der Kreuzung zu dem Tal der weißen Felsen bog Inya-he-yukan ab. Die Fahrt ging jene Straße entlang, die Wakiya mit fünf Jahren als erste Straße gesehen und die ihn wie eine feindliche Schlange erschreckt hatte. Er hatte diesen Schrecken auch darum nie verloren, weil viele seines Stammes eine tiefe Unruhe befiel, wenn sie die Straßen sahen, die zerschnitten, was bis dahin verbunden, und verbanden, was bis dahin getrennt gewesen war.
Nun fuhr Wakiya mit Inya-he-yukan diesen Geisterweg, über dem die weißen Felsen, das Grabmal des Häuptlings, leuchteten und mahnten.
Das Tal wurde enger, die Berge rückten näher. Zwischen diesen weißen Felsen war Wakiya mit der Mutter hindurchgewandert, als er mit ihr zu dem Alten ging. Am gegenüberliegenden Talhang hatte das Haus des Alten gestanden, die kleine Hütte, dunkler Block in der Nacht. Dort hatte der Alte die Hände zum mondlosen Himmel erhoben und hatte gebetet, aber der Mond war verborgen geblieben, und die Toten und die Büffel waren nicht aus ihren Gräbern unter den Wurzeln hervorgekommen.
Die Erinnerungen drängten und drohten in Wakiya, während er in einem Wagen saß, der 120 Meilen in der Stunde fahren konnte, wenn er nur wollte.
Wakiya dachte nicht mehr an den Wagen, der sanft und fast lautlos über den Rücken der plattgetretenen Schlange glitt. Wakiya dachte an den alten Geheimnismann zurück, an die Nacht, in der die Toten aufstehen und die Büffel wiederkommen sollten und doch nicht wiedergekommen waren. Er dachte an den Vater und an Tashunka-witko, die nicht auferstanden waren. Damals hatte die Krankheit Wakiya zum erstenmal heftig überfallen.
Plötzlich hatte Wakiya ein Gesicht. Es überwältigte ihn. Er sah auf den hartgrasigen Weiden, in den schrägen Strahlen der sinkenden Sonne - Büffel. Er hörte ihr Brüllen zu Füßen der weißen Felsen. Das Gesicht packte ihn mit solcher Gewalt, daß er seine Kinderhand fragend und hilfesuchend auf das Handgelenk des Fahrers legte. Inya-he-yukan fuhr langsamer und wandte sich dem Buben zu.
»Wakiya-knaskiya?«
»Inya-he-yukan - siehst du - sehen deine Augen - die Büffel auch?«
»Ich sehe sie auch, Wakiya.«
»Hörst du sie brüllen, Inya-he-yukan?«
»Der Büffelstier brüllt, Wakiya.«
Inya-he-yukan bremste. Der Wagen hielt in ruhigem Auslauf. Durch das Tal erscholl das dumpfe mächtige Gebrüll noch einmal.
Wakiya wagte kaum mehr zu sprechen.
»Inya-he-yukan - sind sie - sind sie - wiedergekommen?«
»Wir gehen zu ihnen hin, Wakiya.«
Inya-he-yukan fuhr den Wagen zur Seite. Die beiden stiegen aus.
Inya-he-yukan nahm Wakiya auf den Arm und sprang mit ihm über einen elektrisch geladenen Zaun. Dann gingen sie miteinander Hand in Hand über die holprigen Weiden.
Sie kamen den Büffeln näher, und das Bild der machtvollen dunklen Tiere wurde immer deutlicher. Der Büffelstier hatte aufgehört zu brüllen. Er äugte nach dem Mann und nach dem Kind.
Hinter ihm, wohlbeschützt, grasten vier Kühe und zwei hellfarbene stelzbeinige Kälber.
Inya-he-yukan blieb mit Wakiya zusammen stehen.
»Näher gehen wir nicht. Sieh ihn dir genau an.«
Was für ein prachtvolles Tier! Dunkel die mächtige Mähne, unter der die Büffelaugen hervorspähten. Kurz die Hörner; damit konnte keiner hebeln. Hoch der Widerrist hinter dem Nacken, in dem die Kraft wohnte.
Leise ging die Schwanzquaste hin und her.
Die Kühe grasten, aber der Stier äugte abwartend.
»Büffel sind gefährlich, Wakiya. Ich habe mein Pferd und die Peitsche nicht dabei. Wir gehen wieder. Wenn wir aber nun heimkommen, wirst du vor einem alten Mann stehen und das Messer sehen, mit dem er in seiner Jugend einen solchen Stier getötet hat. Hau. Mit meinem Stilett würde ich das weniger gern versuchen.«
Wakiya machte an der Hand Inya-he-yukans kehrt, und die beiden gingen zu dem Wagen zurück.
»Inya-he-yukan!«
»Wakiya-knaskiya?«
»Werden die Büffel - die Büffel - sind sie - die Büffel - sind sie -?« »Frage nur!« »Bleiben sie da?«
»Sie sind lebendig, Wakiya. Auf diesen Wiesen kannst du sie immer finden, Tag und Nacht, wenn du willst. Sie sind wieder da, und sie gehen nicht mehr weg. Sie bleiben.«
»Hast du gebetet, Inya-he-yukan?«
Inya-he-yukan antwortete nicht gleich. Wakiya wartete. Er konnte nicht wissen, welche Wege die Gedanken des Mannes jetzt liefen und wann sie zu Wakiyas Frage zurückkommen würden. Inya-he-yukan blieb ernst, und Wakiya blieb geduldig.
»Gearbeitet habe ich, Wakiya. Es war ein hartes Stück, bis wir die Büffel hier hatten. Ich habe sie geholt, weither aus der Prärie von einer anderen Ranch. Der Stier wollte uns beim Ausladen angreifen.
Mit Peitschen und Lassos waren wir hinter ihm her - das ist mehr gewesen als ein Rodeo. Aber nun sind sie da, die Büffel.«
»Deine Büffel?«
»Meine Büffel - unsere Büffel.« Wakiya atmete tief.
Im Wagen fuhr er mit Inya-he-yukan von der Straße weg einen schmalen, furchenreichen Wiesenweg aufwärts an dem Hang, der den weißen Felsen gegenüberlag.
Vor einem rechteckigen Blockhaus mit einer Tür und einem kleinen Fenster hielt Inya-he-yukan. Neben dem Blockhaus war ein altes büffelledernes Zelt aufgeschlagen; seine Wände waren mit großen Vierecken gezeichnet, dem Symbol der vier Weltecken, aus denen die heiligen Winde kamen.
Wakiya trat wiederum in ein neues Leben ein. Tag um Tag würden ihn nun die Augen, die er wiedergefunden hatte, behüten. Er war nicht mehr zu wenig. Er war Inya-he-yukans Wahlsohn geworden und Inya-he-yukans und Tashinas beide Kinder würden seine jüngeren Geschwister sein.