Siebentes Buch
Es erstaunte Abel, daß der endgültige Triumph ihm so wenig Befriedigung verschaffte.
George versuchte, ihn zu einer Reise nach Warschau zu überreden, um nach Grundstücken für ein neues Baron-Hotel zu suchen, aber Abel hatte keine Lust. Mit zunehmendem Alter bekam er Angst, im Ausland zu sterben und Florentyna nie mehr wiederzusehen. Auch für seine Hotelgruppe brachte er monatelang kein Interesse mehr auf. Als John F. Kennedy am 22. November 1963 ermordet wurde, versank Abel noch mehr in Trübsinn und sorgte sich um die Zukunft Amerikas. Schließlich gelang es George, ihn zu einer Reise ins Ausland zu überreden; vielleicht würde er die Dinge bei seiner Rückkehr etwas rosiger sehen.
Abel fuhr nach Warschau, wo ihm eine streng geheimgehaltene Vereinbarung die Errichtung des ersten Baron-Hotels in der kommunistischen Welt zusicherte. Sein fließendes Polnisch beeindruckte die Leute in Warschau, und Abel war stolz, Holiday Inns und Intercontinental hinter dem Eisernen Vorhang zuvorgekommen zu sein. Immer wieder mußte er daran denken… Und daß Lyndon Johnson John Gronowski zum ersten polnisch-amerikanischen Botschafter ernannte, machte die Sache auch nicht besser. Aber jetzt schien ihm nichts mehr Befriedigung zu verschaffen. Er hatte Kane geschlagen und seine Tochter verloren; und er fragte sich, ob der Mann ebenso um seinen Sohn trauerte. Nach dem Besuch in Warschau fuhr er in der Welt herum, wohnte in seinen Hotels und schaute dem Bau von neuen Barons zu. Nach der Eröffnung eines Baron-Hotels in Cape Town, Südafrika, flog er nach Deutschland, um ein weiteres Hotel in Düsseldorf zu eröffnen.
Sechs Monate blieb er in seinem Lieblingshotel in Paris, streifte bei Tag durch die Straßen, ging abends in die Oper und versuchte, die Erinnerung an glücklichere Tage mit Florentyna wachzurufen.
Schließlich verließ er Paris und flog nach diesem langen Exil zurück nach Amerika. Als er mit gebeugtem Rücken, die Glatze mit einem dunklen Hut bedeckt, am Kennedy-Airport aus einer Boeing 707 die Gangway hinunterstieg, erkannte ihn kein Mensch. George, der gute treue George, auch er sichtlich gealtert, begrüßte ihn. Auf der Fahrt zum New York Baron erzählte ihm George wie gewöhnlich die letzten Neuigkeiten von den Hotels. Die Gewinne waren noch höher als erwartet, und seine tüchtigen jungen Direktoren setzten sich überall in der Welt durch. Zweiundsiebzig Hotels mit zweiundzwanzigtausend Angestellten; Abel schien gar nicht zuzuhören. Er wollte nur von Florentyna hören.
»Es geht ihr gut«, sagte George, »sie kommt Anfang nächsten Jahres nach New York.«
»Warum?« fragte Abel, plötzlich
aufgeregt.
»Sie eröffnet eine Boutique in der Fifth Avenue.«
»Fifth Avenue?«
»Das elfte Geschäft«, sagte George.
»Hast du sie gesehen?«
»Ja«, gab George zu.
»Geht es ihr gut? Ist sie glücklich?«
»Beiden geht es gut, und beide scheinen erfolgreich und
glücklich
zu sein. Du solltest stolz auf die beiden sein, Abel. Dein Enkel ist schon ein richtiger Junge, und deine Enkelin ist schön. Das Abbild von Florentyna, als sie so alt war.«
»Möchte sie mich sehen?«
»Möchtest du ihren Mann sehen?«
»Nein, George, solange sein Vater lebt, kann ich diesen Jungen
nicht sehen.«
»Und wenn du zuerst stirbst?«
»Du mußt nicht alles glauben, was in der Bibel steht.«
Schweigend fuhren sie ins Hotel zurück, und an diesem Abend aß
Abel allein in seinem Zimmer.
Während der folgenden sechs Monate verließ er kein einziges
Mal
das Penthouse.
Als Florentyna Kane im März 1967 ihre neue Boutique in der Fifth
Avenue eröffnete, schien tout le monde
anwesend zu sein, alle, außer
William Kane und Abel Rosnovski.
Kate und Lucy kamen zur Eröffnung von ›Florentyna’s‹.
William
blieb zu Hause im Bett und redete mit sich selbst.
George ließ Abel allein in seiner Suite, um der Feier
beizuwohnen.
Er hatte Abel zu überreden versucht, ihn zu begleiten, aber
Abel
brummte, seine Tochter habe zehn Geschäfte ohne ihn eröffnet,
und
auf das eine käme es auch nicht mehr an. George nannte ihn
einen
störrischen alten Narren und ging allein. Als er in der
Boutique
ankam, einem prachtvollen, eleganten Geschäft mit dicken
Teppichen
und den modernsten schwedischen Möbeln - es erinnerte ihn an
die
Art, wie Abel Dinge in Angriff zu nehmen pflegte -, sah er
Florentyna
in einem langen blauen Abendkleid mit dem jetzt berühmten ›F‹
auf
dem Stehkragen. Sie reichte George ein Glas Champagner und
stellte
ihn Kate und Lucy Kane vor, die sich mit Zaphia unterhielten.
Kate
und Lucy waren sichtlich vergnügt, und sie erstaunten George, als
sie
sich nach Abel Rosnovski erkundigten.
»Ich sagte ihm, er sei ein störrischer alter Narr, eine so tolle
Party zu
versäumen. Ist Mr. Kane hier?«
Kate Kanes Antwort entzückte George.
William las die New York Times und brummte etwas über Johnson, der sich in Vietnam herumschlug, dann legte er die Zeitung beiseite und stand auf. Langsam zog er sich an und starrte, als er fertig war, sein Spiegelbild an. Ich sehe aus wie ein Bankier, stellte er ärgerlich fest. Aber wie sonst sollte er aussehen? Er zog einen schweren schwarzen Mantel an, setzte den alten Homburg auf, nahm den Spazierstock mit dem Silberknauf, den Rupert Cork-Smith ihm hinterlassen hatte, und gelangte irgendwie auf die Straße. Es war das erstemal seit seinem schweren Herzanfall vor drei Jahren, daß er das Haus allein verließ, und das Hausmädchen war erstaunt, daß er ohne Begleitung fortging.
Der Frühlingsabend war ungewöhnlich warm, doch William fröstelte nach dem langen Hausarrest. Er brauchte eine lange Weile, bis er die Fifth Avenue erreichte, und als er endlich zur Boutique kam, war die Menschenmenge davor so groß, daß er nicht die Kraft hatte, sich durchzukämpfen. Er stand am Straßenrand und schaute zu, wie die Leute sich unterhielten; junge, vergnügte Leute drängten sich in Florentynas elegantem Laden. Ein paar Mädchen trugen bereits die neuen Miniröcke aus London. Was würde als nächstes kommen? fragte sich William, und dann sah er, wie sein Sohn sich mit Kate unterhielt. Er war ein so gutaussehender Mann geworden - groß, selbstsicher, ruhig, mit einem Auftreten, das William an seinen eigenen Vater erinnerte. Aber in dem Kommen und Gehen konnte er nicht feststellen, wer Florentyna war. Fast eine Stunde stand er dort, freute sich an dem Treiben und bedauerte die Jahre, die er vergeudet hatte.
Ein Wind war aufgekommen und pfiff die Fifth Avenue hinunter. Er hatte vergessen, wie kalt Märzwind sein konnte, und schlug den Kragen hoch. Er mußte nach Hause gehen, denn abends würden sie alle zum Dinner kommen, und er würde zum erstenmal Florentyna und seine Enkelkinder sehen: den Enkel und die kleine Annabel und ihren Vater, seinen geliebten Sohn. Er hatte Kate gesagt, daß er ein Narr gewesen sei, und sie um Verzeihung gebeten. »Ich werde dich immer lieben«, war alles, was sie geantwortet hatte. Florentyna hatte ihm geschrieben. Einen so großherzigen Brief. Auch für die Vergangenheit hatte sie verständnisvolle Worte gefunden. Und ihr letzter Satz lautete: »Ich kann es nicht erwarten, dich kennenzulernen.«
Er wandte sich um, um nach Hause zu gehen, und sah ein paar Meter weiter einen alten Mann in einem schwarzen Mantel, den Hut ins Gesicht gezogen und einen Schal um den Hals. Auch ihm war kalt. Kein Abend für alte Männer, dachte William, als er auf ihn zuging. Und dann sah er den Silberreif am Handgelenk, knapp unter dem Ärmel. Wie ein Blitz ging es ihm auf, und zum erstenmal fügte sich alles zusammen: das Plaza, dann Boston, dann Deutschland, und jetzt die Fifth Avenue. Er mußte lang dort gestanden sein, denn sein Gesicht war vom Wind gerötet. Die unverwechselbaren blauen Augen starrten William an. Jetzt waren die beiden Männer nur ein paar Meter voneinander entfernt. Als sie aneinander vorübergingen, hob William grüßend den Hut. Der alte Mann erwiderte den Gruß, und ohne ein Wort zu wechseln, gingen sie ihrer Wege.
Ich muß nach Hause, bevor sie kommen, dachte William. Die Freude, Richard zu sehen, würde das Leben wieder lebenswert machen. Er mußte Florentyna um Verzeihung bitten und darauf vertrauen, daß sie verstehen würde, was er heute kaum mehr selbst verstand. So ein prächtiges Mädchen, sagten ihm alle.
Als er die 68. Straße erreichte, suchte er nach dem Schlüssel und öffnete das Haustor. Man muß alle Lichter aufdrehen, sagte er dem Mädchen, und das Feuer im Kamin anzünden, um die Gäste willkommen zu heißen. Er war sehr zufrieden und sehr, sehr müde.
»Ziehen Sie die Vorhänge zu und zünden Sie die
Kerzen auf dem Eßtisch an«, sagte er. »Es gibt so viel zu
feiern.«
William konnte die Ankunft kaum erwarten; er saß in seinem alten
roten Lederstuhl neben dem lodernden Feuer und dachte glücklich an
den bevorstehenden Abend. Enkel um ihn, die verlorenen Jahre… Wann
hatte sein kleiner Enkel zum erstenmal »drei« gesagt? Eine
Gelegenheit, die Vergangenheit zu begraben und Vergebung für die
Zukunft zu erlangen. Nach dem kalten Wind war das Zimmer angenehm
und warm. Aber der Ausflug war der Mühe wert gewesen.
Ein paar Minuten später waren unten aufgeregte Stimmen zu hören,
und das Hausmädchen kam, um William zu melden, daß sein Sohn
angekommen sei. Er sei in der Halle - mit seiner Mutter, seiner
Frau und den reizendsten Kindern, die das Mädchen je gesehen hatte.
Dann lief sie fort, um sich zu vergewissern, daß das Essen für Mr.
Kane rechtzeitig fertig sein würde. Sicher wollte er, daß an diesem
Abend alles perfekt sei.
Als Richard das Zimmer betrat, war Florentyna an seiner Seite. Sie
sah strahlend aus.
»Vater«, sagte er, »ich möchte dir meine Frau
vorstellen.«
William Lowell Kane hätte sich umgedreht, um sie zu begrüßen, aber
das konnte er nicht. Er war tot.