Fünftes Buch

26

Am 27. Mai 1945 unterschrieb Generaloberst Jodl in Reims die bedingungslose Kapitulation. An diesem Tag kam Abel in New York an; die Stadt bereitete sich darauf vor, den Sieg und das Ende des Krieges zu feiern. Wieder waren die Straßen voll junger Menschen, aber diesmal zeigten ihre Gesichter Freude und nicht Angst. Abel war traurig über den Anblick der vielen Kriegsversehrten - Männer mit einem Bein, einem Arm, blind oder narbenbedeckt. Für sie würde der Krieg nie zu Ende sein, ganz gleich, welches Papier sechseinhalbtausend Kilometer weit weg unterschrieben wurde.

Als Abel in der Uniform eines Oberst ins Baron-Hotel kam, erkannte ihn niemand. Warum sollte man auch? Als die Angestellten ihn vor zwei Jahren zum letztenmal in Zivilkleidern gesehen hatten, war sein jugendliches Gesicht noch faltenlos gewesen. Das Gesicht, das sie jetzt sahen, war älter als das eines Neununddreißigjährigen, und die tiefen Furchen auf der Stirn zeigten an, daß der Krieg seine Spuren hinterlassen hatte. Abel fuhr mit dem Lift in das 42. Stockwerk, und ein Sicherheitsbeamter erklärte ihm mit Bestimmtheit, daß er sich im falschen Stockwerk befände.

»Wo ist George Novak?« fragte Abel.
»In Chikago, Herr Oberst«, antwortete der Beamte.
»Verbinden Sie mich mit ihm.«
»In wessen Namen soll ich anrufen?«
»Abel Rosnovski.«
Der Beamte verschwand sehr rasch. Georges vertraute Stimme hieß

ihn willkommen. Abel spürte, wie gut es tat, wieder zu Hause zu sein. Er beschloß, nicht in New York zu übernachten, sondern nach Chikago weiterzufliegen. Georges ausführliche Berichte nahm er mit, um sie im Flugzeug zu lesen. Er studierte jedes Detail und konnte zufrieden feststellen, daß George die Baron-Gruppe während seiner Abwesenheit ausgezeichnet geführt hatte. Seine vorsichtige Leitung gab Abel keinerlei Anlaß zur Klage; die Gewinne waren immer noch hoch, weil viele Angestellte eingerückt waren, während die Hotels infolge des fortwährenden Hin- und Herreisens aller am Krieg Beteiligten ständig belegt waren. Abel beschloß, sofort neues Personal zu engagieren, bevor andere Hotels ihm die Besten der Rückkehrer wegschnappten.

Als er am Terminal 11C des Midway Airport ankam, stand George am Eingang, um ihn zu begrüßen. Er hatte sich kaum verändert vielleicht war er etwas schwerer geworden und hatte etwas weniger Haare - und nach einer Stunde des Erzählens und Geschichtenaustauschens war es beinahe so, als wäre Abel nie fortgewesen. Abel würde der Black Arrow für seinen ersten Vizepräsidenten immer dankbar sein.

George jedoch äußerte sich nicht gerade freundlich über Abels Hinken, das stärker geworden zu sein schien.
»Der Hopalong Cassidy des Hotelgewerbes«, spottete er.
»Nur ein Pole kann einen so dümmlichen Scherz machen«, erwiderte Abel.
George sah Abel gekränkt an, wie ein junger Hund, der von seinem Herrn gescholten wird.
»Gott sei Dank hatte ich einen dümmlichen Polacken, der sich um alles gekümmert hat, während ich nach den Deutschen Ausschau hielt«, fügte Abel tröstend hinzu.
Abel ließ es sich nicht nehmen, einen Rundgang durch das Chikago Baron zu machen, bevor er nach Hause fuhr. Während der Kriegsjahre war der Anstrich von Luxus ziemlich dünn geworden. Er sah eine Reihe von Dingen, die renoviert werden sollten, doch das alles mußte warten; im Augenblick wollte er nur seine Frau und seine Tochter wiedersehen. Und da kam der erste Schock. George hatte sich während der drei Jahre kaum verändert, aber die jetzt elfjährige Florentyna war ein schönes junges Mädchen geworden, während Zaphia mit ihren achtunddreißig Jahren dick, unscheinbar und ältlich aussah.
Anfänglich wußten die beiden nicht recht, wie sie zueinander standen, doch nach ein paar Wochen erkannte Abel, daß ihre Beziehung nie mehr so sein würde wie früher. Zaphia machte keine Anstrengungen, Abel wiederzugewinnen oder sich über seine Erfolge zu freuen. Ihr mangelndes Interesse betrübte Abel, aber alle seine Versuche, sie an seinem Leben teilhaben zu lassen, schlugen fehl. Sie schien nur zufrieden, wenn sie zu Hause war und von den Hotels nichts sah und hörte. Er fand sich damit ab, daß sie sich nicht mehr ändern konnte, und fragte sich, wie lange er ihr treu bleiben würde. Er vermied es, mit ihr zu schlafen, und wenn es doch dazu kam, dann dachte er an andere Frauen. Bald fand er genügend Ausreden, um Chikago und Zaphias anklagendes Gesicht zu meiden.
Er machte lange Reisen zu seinen anderen Hotels, und während der Schulferien nahm er Florentyna mit. In den ersten sechs Monaten nach seiner Rückkehr stattete er, so wie damals, als er nach Leroys Tod die Hotelgruppe übernommen hatte, jedem Hotel einen Besuch ab. Nach einem Jahr hatten alle Hotels den hohen Standard wiedererlangt, den er verlangte; jetzt wollte Abel zu neuen Zielen aufbrechen. Er teilte Curtis Fenton mit, daß sein Marktforschungsteam zum Bau von Hotels in Mexiko und Brasilien riet, und daß man auf der Suche nach entsprechendem Bauland sei.
»Das Mexiko City Baron und das Rio de Janeiro Baron«, sagte Abel; der Klang der Namen gefiel ihm.
»Nun, Sie verfügen über genug Kapital, um die Baukosten aufzubringen«, sagte Curtis Fenton. »In Ihrer Abwesenheit hat sich einiges angesammelt. Sie können ein Baron bauen, wo immer Sie Lust haben. Weiß Gott, wann Sie genug haben werden, Mr. Rosnovski.«
»Eines Tages, Mr. Fenton, werde ich in Warschau ein Baron errichten, und dann werde ich vielleicht genug haben«, erwiderte Abel. »Gegen die Deutschen habe ich gekämpft, aber mit den Russen habe ich noch eine Rechnung zu begleichen.«
Curtis Fenton lachte. Erst am Abend, als er seiner Frau von dem Gespräch erzählte, dämmerte ihm, daß Abel Rosnovski genau das gemeint hatte, was er sagte… ein Baron-Hotel in Warschau.
»Und wie sieht es mit mir und Kanes Bank aus?«
Der plötzlich veränderte Tonfall störte Curtis Fenton. Es machte ihm Sorgen, daß Abel Rosnovski William Kane immer noch für Davis Leroys Selbstmord verantwortlich machte. Er öffnete die entsprechenden Akten und las vor:
»Die Aktien von Lester, Kane and Company sind in Händen von vierzehn Mitgliedern der Familie Lester und sechs ehemaligen oder jetzigen Angestellten, während Mr. Kane mit acht Prozent der größte Aktienbesitzer ist.«
»Ist jemand von der Familie Lester bereit, seine Anteile zu verkaufen?«
»Vielleicht, wenn wir den richtigen Preis bieten. Miss Susan Lester, die Tochter des verstorbenen Charles Lester, deutete an, daß sie eventuell ihr Aktienpaket abgeben möchte, und auch Mr. Peter Parfitt, ein ehemaliger Vizepräsident von Lester, zeigte sich interessiert.« »Wieviel Prozent besitzen die beiden?«
»Susan Lester hat sechs Prozent, Peter Parfitt nur zwei.« »Wieviel wollen sie für die Aktien?«
Curtis konsultierte wieder seine Aufzeichnungen, während Abel Lesters’ Jahresbericht überflog. Sein Blick blieb an Artikel sieben hängen.
»Miss Susan Lester möchte für ihre sechs Prozent zwei Millionen Dollar und Peter Parfitt eine Million für seine zwei Prozent.«
»Mr. Parfitt ist zu gierig«, sagte Abel, »wir werden daher warten, bis er hungrig ist. Kaufen Sie sofort Susan Lesters Anteile, ohne wissen zu lassen, für wen Sie kaufen, und halten Sie mich über Parfitts Absichten auf dem laufenden.«
Curtis Fenton räusperte sich.
»Haben Sie etwas auf dem Herzen, Mr. Fenton?« fragte Abel.
Curtis Fenton zögerte. »Nein, nichts«, sagte er mit wenig Überzeugung.
»Von jetzt an möchte ich jemandem die Betreuung dieses Kontos übertragen, von dem Sie sicherlich gehört haben - Henry Osborne.«
»Der Kongreßabgeordnete Osborne?« fragte Curtis Fenton.
»Ja - kennen Sie ihn?«
»Nur dem Namen nach«, sagte Fenton mit leichter Mißbilligung, ohne aufzuschauen.
Abel ignorierte die Andeutung. Er kannte Henrys Ruf, aber solange dieser alle bürokratischen Umwege ausschalten und rasche politische Entscheidungen herbeiführen konnte, hielt er das Risiko für gerechtfertigt. Ganz zu schweigen von dem gemeinsamen Haß gegen William Kane, der sie verband. »Ich werde Mr. Osborne auffordern, Direktor der Baron-Gruppe mit besonderer Verantwortung für das Kane-Konto zu werden. Auch diese Information ist, wie immer, streng vertraulich zu behandeln.«
»Wie Sie wünschen«, sagte Fenton unglücklich und fragte sich, ob er Abel Rosnovski seine persönlichen Bedenken mitteilen sollte.
»Benachrichtigen Sie mich, sobald das Geschäft mit Miss Lester abgeschlossen ist.«
»Ja, Mr. Rosnovski«, sagte Curtis Fenton, ohne den Kopf zu heben.
Abel ging zum Lunch ins Baron-Hotel, wo Henry Osborne ihn erwartete.
»Kongreßabgeordneter«, sagte Abel, als sie einander in der Halle begrüßten.
»Baron«, sagte Henry und beide lachten, und gingen Arm in Arm in den Speisesaal, wo sie an einem Ecktisch Platz nahmen.
Abel tadelte einen Kellner, an dessen Jacke ein Knopf fehlte.
»Wie geht es Ihrer Frau, Abel?«
»Ausgezeichnet. Und Ihrer Gattin, Henry?«
»Famos.«
Beide logen.
»Neuigkeiten?«
»Ja. Die Konzession, die Sie in Atlanta brauchen, ist unter Dach und Fach«, sagte Henry verschwörerisch. »Die entsprechenden Dokumente werden in den nächsten Tagen ausgestellt. Um den Monatsersten werden Sie mit dem Bau des Atlanta Baron beginnen können.«
»Damit tun wir aber nichts Illegales, oder?«
»Nichts, was Ihre Rivalen nicht auch tun würden, das kann ich Ihnen versprechen, Abel.«
Henry Osborne lachte.
»Das freut mich, Henry. Ich will nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen.«
»Nein, nein«, versicherte Henry. »Nur Sie und ich kennen alle Fakten.«
»Gut«, sagte Abel. »Sie haben mir viel geholfen in den letzten Jahren, Henry, und ich möchte mich für Ihre Hilfeleistungen ein wenig erkenntlich zeigen. Möchten Sie Direktor der Baron-Gruppe werden?«
»Ich würde mich geschmeichelt fühlen.«
»Hören Sie auf damit. Sie wissen, daß Sie mir mit diesen bundesstaatlichen und Gemeindekonzessionen große Dienste erwiesen haben. Ich hätte nie die Zeit gefunden, mich mit all den Politikern und Bürokraten herumzuschlagen. Und auf jeden Fall haben es die Leute lieber mit einem Harvard-Mann zu tun, selbst wenn er ihnen keine Türen öffnet, sondern etwas von ihnen will.«
»Sie haben sich immer großzügig revanchiert, Abel.«
»Sie verdienen es. Und jetzt möchte ich Sie mit einer Aufgabe betrauen, die mir wichtig ist. Sie verlangt äußerste Diskretion, aber sie wird nicht viel von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen, und es ist eine kleine Rache an unserem gemeinsamen Freund aus Boston, Mr. William Kane.«
Der Oberkellner brachte zwei große Rumpsteaks, halb englisch. Henry hörte aufmerksam zu, als Abel ihm seine Pläne bezüglich William Kane auseinandersetzte.
Ein paar Tage später, am 8. Mai 1946, fuhr Abel nach New York, um den ersten Jahrestag des V-E day zu feiern. Er hatte mehr als tausend polnische Veteranen zu einem Dinner ins Baron eingeladen, und General Kazimierz Sosnkowski, Oberbefehlshaber der polnischen Streitkräfte in Frankreich nach 1943, sollte der Ehrengast sein. Abel freute sich seit Wochen auf das Ereignis und nahm Florentyna mit nach New York. Zaphia ließ er in Chikago zurück.
Am Abend der großen Feier bot der Bankettsaal des New York Baron einen prächtigen Anblick; jeder der hundertzwanzig Tische war mit dem amerikanischen Sternenbanner und der weiß-roten polnischen Nationalflagge geschmückt. An den Wänden hingen riesige Fotografien von Eisenhower, Patton, Bradley, Hodges, Paderewski und Sikorski. Abel saß in der Mitte der Ehrentafel, den General zu seiner Rechten, Florentyna zu seiner Linken.
General Sosnkowski verkündete in seiner Ansprache an die Festgäste, daß Oberst Rosnovski in Anerkennung seiner persönlichen Verdienste um die polnischamerikanische und insbesondere für die großzügige Bereitstellung des New York Baron für die gesamte Kriegszeit zum Präsidenten der Polnischen Veteranengesellschaft auf Lebenszeit ernannt worden sei. Einer, der etwas zuviel getrunken hatte, rief aus dem Hintergrund:
»Diejenigen von uns, die die Deutschen überlebten, mußten auch Abels Mahlzeiten überleben.«
Die tausend Veteranen lachten und jubelten und prosteten Abel mit Wodka zu. Dann wurde alles ruhig, und der General berichtete von Polens Schicksal unter der Herrschaft des stalinistischen Rußland; er forderte alle auf, unermüdlich für die nationale Unabhängigkeit der Heimat zu kämpfen. Abel wollte gern glauben, daß Polen eines Tages wieder frei sein, ja, daß er vielleicht sogar noch zu Lebzeiten sein Schloß zurückerhalten würde, aber nach Stalins Erfolg in Jalta schien diese Hoffnung nicht mehr realistisch.
Der General erinnerte die Gäste, daß die amerikanischen Polen pro Kopf mehr Geld für den Krieg gespendet und mehr Leben verloren hatten als jede andere Volksgruppe in den Vereinigten Staaten. »… Wie viele Amerikaner wissen, daß Polen sechs Million Menschen verloren hat, während die Tschechoslowakei nur hunderttausend verlor. Einige Beobachter behaupten, wir wären töricht gewesen, nicht zu kapitulieren, als wir wissen mußten, daß wir geschlagen waren. Wie kann eine Nation, die Kavallerie gegen deutsche Panzer einsetzte, jemals wissen, daß sie geschlagen ist? Meine Freunde, ich sage euch, wir sind auch heute nicht geschlagen.«
Lauter Applaus von allen Polen im Saal.
Es stimmte Abel traurig, daß die Amerikaner immer noch über die polnischen Kriegsanstrengungen lachten und noch mehr über einen polnischen Helden. Der General wartete, bis es wieder ruhig wurde, dann erzählte er den aufmerksam zuhörenden Gästen, wie Abel in der Schlacht von Remagen eine Gruppe von Männern angeführt hatte, die tote oder verwundete Soldaten zurückbrachte. Als der General seine Ansprache beendet hatte und sich niedersetzte, standen alle Veteranen auf und jubelten den beiden Männern zu. Florentyna war sehr stolz auf ihren Vater.
Abel war erstaunt, als die Geschichte in den Morgenblättern stand, denn polnische Leistungen wurden kaum je in einer anderen Zeitung als dem Dziennik Zwiazkowy wahrgenommen. Wäre er nicht der Chikago-Baron gewesen, hätte die Presse vermutlich kein Wort verlauten lassen. Abel sonnte sich in seinem neuen Ruhm als amerikanischer Held und verbrachte fast den ganzen Tag damit, sich von Reportern fotografieren und interviewen zu lassen. Am Abend fühlte er sich irgendwie niedergeschlagen; der General war nach Los Angeles weitergeflogen, Florentyna in ihre Schule in Lake Forest zurückgekehrt, George befand sich in Chikago, und Henry Osborne in Washington. Das Hotel schien groß und verlassen, und er hatte wenig Lust, zu Zaphia nach Chikago zu fahren.
Er beschloß, früh zu Abend zu essen und die Wochenberichte der anderen Hotels zu studieren, bevor er sich in das Penthouse neben seinem Büro zurückzog. Er aß selten allein in seiner Suite, weil er jede Gelegenheit wahrnahm, sich in einem der Speisesäle servieren zu lassen; es war der beste Weg, fortwährend mit dem Hotelleben in Fühlung zu bleiben. Je mehr Hotels er baute, desto mehr fürchtete er, den Kontakt mit dem Personal zu verlieren.
Er fuhr hinunter in die Halle und erkundigte sich bei der Rezeption, wie viele Gäste heute abgestiegen waren, wurde jedoch von einer auffallend hübschen Frau abgelenkt, die eben ihre Anmeldekarte ausfüllte. Er hätte schwören können, daß er das Profil kannte, war sich aber seiner Sache nicht ganz sicher. Mitte Dreißig, dachte er. Als sie fertiggeschrieben hatte, drehte sie sich um und schaute ihn an.
»Abel«, sagte sie. »Wie schön, dich wiederzusehen.«
»Mein Gott, Melanie, ich habe dich fast nicht wiedererkannt.«
»Niemand würde dich nicht wiedererkennen, Abel.«
»Ich wußte nicht, daß du in New York bist.«
»Nur für eine Nacht. Ich bin geschäftlich hier für meine Zeitschrift.«
»Bist du Reporterin?« fragte Abel ungläubig.
»Nein, ich bin Finanzberaterin für eine Gruppe von Zeitschriften, deren Zentrale in Dallas ist. Ich wurde für ein Marktforschungsprojekt nach New York geschickt.«
»Klingt sehr beeindruckend.«
»Das ist es nicht«, sagte Melanie, »aber es bewahrt mich vor Dummheiten.«
»Hast du zufällig Zeit, mit mir zu Abend zu essen?«
»Was für eine nette Idee, Abel. Aber ich muß ein Bad nehmen und mich umziehen. Kannst du so lange warten?«
»Natürlich. Wann immer du fertig bist, erwarte ich dich im großen Speisesaal. Sagen wir in etwa einer Stunde?«
Sie lächelte zustimmend und folgte einem Liftboy zum Fahrstuhl. Als sie vorüberging, sog er den Duft ihres Parfüms ein.
Abel verbrachte die Stunde damit, sich zu vergewissern, daß auf seinem Tisch frische Blumen standen, und in der Küche wählte er die Speisen, die er für Melanie bestellen wollte. Als er gar nichts mehr zu tun fand, setzte er sich an den Tisch. Immer wieder sah er auf die Uhr und zur Tür, ob Melanie schon käme. Sie brauchte etwas mehr als eine Stunde, aber es hatte sich gelohnt. Als sie endlich in einem langen, engen und fraglos sehr teuren Kleid erschien, das im Schein der Kronleuchter schimmerte und glänzte, sah sie hinreißend aus. Der Kellner führte sie zu Abels Tisch. Er stand auf, um sie zu begrüßen, während ein Kellner eine Flasche Champagner öffnete und jedem ein Glas einschenkte.
»Willkommen, Melanie«, sagte Abel und hob die Champagnerschale. »Es ist schön, dich zu sehen, Baron«, erwiderte sie, »besonders an diesem festlichen Tag.«
»Was meinst du?«
»Ich las in der New York Post von deinem großen Dinner gestern abend und wie du dein Leben aufs Spiel gesetzt hast, um bei Remagen Verwundete zu retten. Vom Bahnhof bis zum Hotel habe ich die Geschichte verschlungen; sie haben aus dir eine Kreuzung zwischen Audie Murphy und dem Unbekannten Soldaten gemacht!«
»Es ist alles übertrieben«, sagte Abel.
»Solange ich dich kenne, warst du nie bescheiden, Abel, also muß ich annehmen, daß jedes Wort wahr ist.«
Er schenkte ihr ein zweites Glas Champagner ein.
»Die Wahrheit ist, daß ich immer ein wenig Angst vor dir hatte, Melanie.«
»Der Baron hat vor jemand Angst? Das kann ich nicht glauben.«
»Nun, ich bin kein Gentleman aus dem Süden, wie du mir einmal so deutlich zu verstehen gabst.«
»Und du hörst nie auf, mich an die Bemerkung zu erinnern.«
Sie lächelte ein wenig spöttisch. »Hast du ein nettes polnisches Mädchen geheiratet?«
»Ja.«
»Und wie hat sich mein Rat bewährt?«
»Nicht sehr. Sie ist jetzt dick, vierzig, und ich bin nicht mehr verliebt in sie.«
»Als nächstes wirst du mir sagen, daß du dich unverstanden fühlst«, sagte Melanie und ihr Ton verriet, wie sie sich freute.
»Hast du geheiratet, Melanie?«
»O ja«, erwiderte Melanie. »Einen echten Gentleman aus dem Süden mit allen richtigen Zutaten.«
»Meinen Glückwunsch.«
»Letztes Jahr habe ich mich scheiden lassen… mit einer großen Abfindung.«
»Ach, das tut mir leid«, sagte Abel, aber es klang erfreut. »Noch ein wenig Champagner?«
»Hast du vielleicht die Absicht, mich zu verführen, Abel?«
»Nicht, bevor ich meine Suppe gegessen habe, Melanie. Selbst polnische Einwanderer der ersten Generation halten sich an gewisse Regeln, obwohl ich bemerken muß, daß es jetzt an mir ist, zu verführen.«
»Dann muß ich dich warnen, Abel. Seit meiner Scheidung habe ich mit keinem Mann geschlafen. Nicht aus Mangel an Gelegenheit, aber niemand war so wirklich richtig; zu viele fordernde Hände und zu wenig Zuneigung.«
Nach einem geräucherten Lachs, Crême brûlée und einem Mouton Rothschild aus den Vorkriegsjahren hatten beide alle Erlebnisse seit ihrem letzten Zusammensein erzählt.
»Kaffee im Penthouse, Melanie?«
»Habe ich nach einer so vorzüglichen Mahlzeit noch eine andere Wahl?«
Abel lachte und führte sie zum Lift. Sie schwankte ein wenig auf ihren hohen Absätzen, als sie einstieg. Abel drückte auf Knopf 42. Melanie schaute auf die Nummern, als sie nach oben fuhren.
»Warum gibt es keinen 12. Stock?« fragte sie ahnungslos. Abel vermochte nicht, es ihr zu sagen.
»Das letztemal, als ich in deinem Zimmer Kaffee trank…« versuchte es Melanie nochmals.
»Erinnere mich nicht«, bat Abel und dachte an seine Verletzlichkeit. Als sie im 42. Stock aus dem Fahrstuhl traten, öffnete der Liftboy die Tür zu Abels Suite.
»Mein Gott«, sagte Melanie und sah sich in dem Penthouse um. »Du hast gelernt, wie ein Multimillionär zu leben, Abel. Etwas Luxuriöseres habe ich noch nie gesehen.«
Ein Klopfen an der Tür hinderte Abel, sie zu umarmen. Ein junger Kellner brachte Kaffee und eine Flasche Remy Martin.
»Danke, Mike«, sagte Abel. »Das ist alles für heute.«
»Wirklich?«
Melanie lächelte.
Der Kellner wäre rot geworden, wäre er nicht schwarz gewesen und rasch hinausgegangen.
Abel schenkte Kaffee und Cognac ein. Melanie saß mit überkreuzten Beinen auf dem Boden und trank langsam. Auch Abel wäre gern so gesessen, aber die Stellung behagte ihm nicht, also legte er sich neben sie. Sie streichelte sein Haar, und er strich ihr zögernd über die Beine. Mein Gott, wie gut er sich an diese Beine erinnerte. Als sie einander küßten, warf Melanie einen Schuh fort, und der Kaffee ergoß sich über den Perserteppich.
»Verdammt«, sagte sie, »ich hab deinen schönen Teppich ruiniert.«
»Macht nichts«, murmelte er und öffnete ihr Kleid. Melanie knöpfelte sein Hemd auf, und Abel versuchte es auszuziehen, während er sie küßte, aber seine Manschettenknöpfe waren im Weg. Also half er ihr aus dem Kleid. Ihre Gestalt war so schön, wie er sie im Gedächtnis gehabt hatte, und daß sie etwas voller geworden war, machte sie noch verführerischer. Die festen Brüste, die langen schlanken Beine. Er gab den Kampf mit den Manschettenknöpfen auf, ließ Melanie los, um sich auszuziehen, und wußte, was für einen Kontrast sein Körper zu ihrer Schönheit bildete.
Er konnte nur hoffen, daß alles, was er über die Faszination von kräftigen Männern auf Frauen gelesen hatte, wahr war. Jedenfalls schnitt sie keine Grimasse, wie sie es früher einmal bei seinem Anblick getan hatte. Zärtlich streichelte er ihre Brüste und schob ihre Beine auseinander. Jetzt war sie an der Reihe, sich auszuziehen, während sie sich küßten. Auch ihr gelang es nicht, aber schließlich hatte sie alles abgestreift, außer - auf Abels Bitte - den Schlüpfer und die Nylonstrümpfe.
Als er ihr Stöhnen hörte, fiel ihm ein, wie lange er eine solche Ekstase nicht mehr erlebt hatte, und dann, wie schnell sie vorüberging. Beide atmeten schwer und schwiegen eine Weile.
Dann lachte Abel.
»Warum lachst du?«
»Ach, nichts«, sagte Abel und dachte an Dr. Johnsons Bemerkung, daß die Stellung lächerlich und das Vergnügen sehr kurz sei.
Abel rollte auf den Rücken und Melanie legte den Kopf auf seine Schulter. Abel war erstaunt, als er feststellte, daß er genug von Melanie hatte. Als er eben überlegte, wie er sie loswerden könne, ohne unhöflich zu sein, sagte sie: »Es tut mir leid, aber ich kann nicht die ganze Nacht bleiben, Abel. Ich habe morgen früh eine Verabredung und ich sollte ein wenig schlafen. Ich möchte nicht so aussehen, als hätte ich die ganze Nacht auf deinem Perserteppich verbracht.«
»Mußt du wirklich gehen?«
Abels Stimme klang betrübt, aber nicht allzu betrübt.
»Ja, Liebling, es tut mir leid.«
Sie stand auf und ging ins Badezimmer.
Abel schaute zu, wie sie sich anzog, und half ihr, den Reißverschluß des Kleides zu schließen. Um wieviel einfacher war es, sich in Ruhe anzuziehen, als sich - wie vorhin - hastig auszuziehen. Als sie ging, küßte er ihr galant die Hand.
»Ich hoffe, daß wir uns bald wiedersehen«, log er.
»Das hoffe ich auch«, sagte sie und wußte, daß seine Worte nicht ehrlich waren.
Er schloß die Tür und ging zum Telefon neben dem Bett.
»Welches Zimmer hat Miss Melanie Leroy?« fragte er.
Kurze Pause; Abel hörte das Umblättern der Anmeldekarten.
Abel klopfte ungeduldig auf den Tisch.
»Wir haben niemand unter diesem Namen, Sir«, kam endlich die Antwort. »Wir haben eine Mrs. Melanie Seaton aus Dallas, die heute abend ankam und morgen wieder abreist.«
»Ja, das ist die Dame«, sagte Abel, »buchen Sie die Zimmerrechnung auf mein Konto.«
»Ja, Sir.«
Abel legte auf und nahm eine lange kalte Dusche, bevor er sich schlafen legte. Er fühlte sich angenehm entspannt. Als er zum Kamin ging, um die Lampe zu löschen, die Licht gespendet hatte bei seinem ersten Ehebruch, stellte er fest, daß der Kaffeefleck auf dem Teppich getrocknet war.
»Dumme Gans«, sagte er laut und machte das Licht aus.

Nach dieser Nacht vermehrten sich die Kaffeeflecke auf Abels Teppich; einige stammten von Kellnerinnen, einige von anderen nächtlichen Besucherinnen. Abel und Zaphia entfremdeten sich immer mehr. Was er nicht vorausgesehen hatte, war, daß sie einen Detektiv anstellte und dann die Scheidung einreichte. In Abels polnischem Freundeskreis betrog man sich oder man trennte sich, aber eine Scheidung war praktisch unbekannt. Abel versuchte, Zaphia von ihrem Vorhaben abzubringen, weil er genau wußte, daß eine Scheidung seine Stellung in der polnischen Gemeinde nicht verbessern würde und ebensowenig seinen politischen und gesellschaftlichen Ambitionen zuträglich war. Zaphia war jedoch entschlossen, die Scheidung bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Abel war überrascht, daß die Frau, die sich bisher so unbeholfen und naiv benommen hatte, in ihrer Rachsucht zu einem kleinen Teufel wurde, wie George es ausdrückte.

Als Abel seinen Anwalt konsultierte, stellte er zum zweitenmal fest, wie viele Kellnerinnen und nicht zahlende Gäste es im letzten Jahr gegeben hatte. Er gab nach; das einzige, worum er kämpfte, war Florentyna, jetzt dreizehnjährig und die erste große Liebe seines Lebens. Zaphia willigte ein, ihm das Sorgerecht zu überlassen, und erhielt eine Abfindung von fünfhunderttausend Dollar, das Haus in Chikago und das Recht, Florentyna an jedem letzten Wochenende im Monat zu sehen.

Abel verlegte sein Hauptquartier und seinen Wohnort nach New York, und George nannte ihn jetzt den Chikago-Baron im Exil. Abel fuhr kreuz und quer durch Amerika und baute neue Hotels; nach Chikago kam er nur, wenn er Curtis Fenton aufsuchen mußte.