ACHT
Um fünf Uhr klingelte das Telefon. Es hallte
gellend in meinen Ohren wider, bis es mir schließlich gelang, den
Hörer abzunehmen und mich verschlafen zu melden.
»Ja?« Vor neun Uhr funktionierte das mit der
Höflichkeit noch nicht so recht.
»Harper?« Ich kannte die Stimme, aber im Halbschlaf
brachte ich keinen Namen mit ihr in Verbindung. Also knurrte ich
mürrisch: »Wer ist da?«
»Ich bin es – Cameron. Cameron Shadley.«
Dieser Name weckte mich endgültig. Cameron war mein
erster Klient aus dem Vampirmilieu gewesen. Ich hatte eigentlich
angenommen, dass wir seine Probleme gelöst hatten, doch jetzt klang
er wieder sehr beunruhigt. »Cam! Was ist los?«
»Ich stecke tief in der Tinte, und ich brauche
dringend Hilfe. Carlos meinte, dass ich am besten dich anrufen
sollte.«
Carlos half Cameron dabei, nach einem recht
schlechten Start die Spielregeln des Vampirdaseins zu erlernen. Er
gehörte zu den wenigen Vampiren, die ich respektierte, und zwar
nicht nur dafür, dass sie töten konnten. Er war ziemlich unheimlich
– sogar für einen Vampir – und uns Tageslichtler mochte er sowieso
nicht besonders. Aus irgendeinem
Grund schien er mich aber interessant zu finden, auch wenn ich
nicht wusste, woher dieses Interesse eigentlich rührte.
Ich schaltete die Nachttischlampe an und hob ein
T-Shirt vom Boden auf, das ich rasch überzog. Auch wenn sich
Cameron am anderen Ende der Leitung befand, war es mir doch lieber,
nicht nackt mit ihm zu telefonieren. Selbst auf Distanz fand ich
das Gespräch mit einem Vampir stets etwas nervenaufreibend.
»Was ist los?«, fragte ich erneut, als ich mein
T-Shirt anhatte. Ich klemmte mir das Telefon zwischen Schulter und
Wange, während ich mir eine Hose, die in Reichweite lag, nahm und
überzog.
»Ich habe leider nicht viel Zeit. Die Sonne geht
bald auf.«
»Dann mach schon, erzähl schneller.«
»Jemand ist gestorben, und ich möchte, dass du ins
Leichenschauhaus gehst und sicherstellst, dass er wirklich tot
ist.«
»Wer soll das sein? Gehört er zu dir oder zu
mir?«
»Es war ein alter Mann. Ein ganz normaler alter
Mann. Er sollte nicht sterben, aber ich habe einen Fehler gemacht
und …«
»Hast ihn getötet?« Meine Stimme klang auf einmal
kalt und angewidert. Ich mochte Cameron, auch nachdem ich
herausgefunden hatte, was es bedeutete, als Vampir leben zu müssen.
Ich hatte immer gehofft, dass es ihm irgendwie gelingen würde,
nicht so wie die anderen zu werden, auch wenn ich tief im Innersten
gewusst hatte, wie sinnlos diese Hoffnung war.
»Nein!«, protestierte Cameron lautstark. Er klang
aufgewühlt. Zumindest das war ihm von seinem früheren Menschsein
geblieben. »Er ist einfach gestorben. Er hatte
Probleme mit dem Herzen, aber woher sollte ich das denn wissen?
Carlos hat versucht, mir etwas Neues beizubringen. Ich habe das
irgendwie falsch eingeschätzt, und der Mann war zu schwach. Und da
war er plötzlich tot. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und
während ich noch darüber nachdachte, hat jemand die Leiche
entdeckt. Die Polizei hat sie dann ins Leichenschauhaus gebracht.
Ich schaffe es nicht mehr, dorthin zu kommen, ehe die Sonne
aufgeht. Deshalb musst du das für mich tun und herausfinden, ob er
tot oder einer von uns geworden ist.«
»Was?«
»Na, du weißt schon. Ob er als Vampir zurückkehrt.
Oder etwas … etwas anderes. Carlos ist jedenfalls verdammt wütend
auf mich.«
»Und warum soll ich das für dich tun? Carlos kennt
doch bestimmt genügend andere Leute, die er ins Leichenschauhaus
schicken könnte.«
»Das schon. Aber es war mein Fehler, und deshalb
muss ich mich auch darum kümmern. Carlos darf wegen mir keine
Probleme mit Edward bekommen. Wenn Carlos jemanden schickt, der
nachsehen soll, wird das bald die Runde machen, und dann könnte es
ziemlich unangenehm werden.«
»Ich dachte, Carlos und Edward verstehen sich jetzt
wieder.« Edward war der Anführer der Vampire von Seattle. Er und
Carlos hatten sich nach einer Fehde, die Jahrhunderte gedauert
hatte, wieder angenähert. Damals war ich gerade damit beschäftigt
gewesen, mich mit Camerons Problemen herumzuschlagen.
»Es ist eher eine gewisse Entspannung eingetreten.
Von Versöhnung kann keine Rede sein«, erwiderte Cameron. »Mann,
Harper, ich habe keine Zeit mehr. Bitte sag zu! Ich zahle dir, was
du verlangst, und du hast dann auch etwas
gut bei mir – bei uns beiden. Alles, was ich von dir möchte, ist,
dass du heute früh in die Leichenschauhalle gehst und nachsiehst,
ob der Typ tot ist. Dann rufst du mich heute Abend an und lässt es
mich wissen. Bitte!«
Ich seufzte. »Und wie soll ich das
feststellen?«
»Du weißt doch, wie ein Vampir im Grau aussieht.
Für die meisten sieht er tot aus, aber doch nicht für dich. Wenn er
tot ist – richtig tot, meine ich -, dann ist er einfach nur kalt,
so wie jeder andere auch.«
»Könnte er denn noch am Leben sein?«
Cameron zögerte einen Moment. »Du kannst mir
glauben, Harper. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er tot ist. Ich
will nur wissen, ob er sich plötzlich aufrichtet und jemanden zu
Tode erschreckt oder eben nicht.«
Na super. Ich seufzte und ließ mir den Mann
beschreiben. Natürlich hoffte ich inbrünstig, dass er tatsächlich
tot war – und das auch blieb. Ich hatte keine Ahnung, wie man einem
Vampir den Garaus machte. Außerdem bezweifelte ich, dass sich die
Gerichtsmediziner besonders begeistert zeigen würden, wenn ich bei
ihnen herumexperimentierte, bis ich es herausfand.
Ich sagte also zu, verabschiedete mich dann und
legte auf. Am besten machte ich mich gleich auf den Weg ins
Leichenschauhaus. Zu viel Zeit sollte ich nicht verstreichen
lassen. Außerdem wollte ich gegen Ende der Nachtschicht eintreffen,
wenn dort weniger Leute waren und die Besseres zu tun hatten, als
mir auf die Finger zu sehen.
Ich betrachtete mich im Spiegel und stellte fest,
dass die Klamotten, die ich trug, schmutzig waren. Nirgends konnte
ich eine frische Jeans entdecken, und Zeit zum Waschen hatte ich
auch keine.
Leise vor mich hin fluchend, duschte ich hastig und
holte
eine Hose aus einem feinen Wollstoff aus dem Schrank, die ich mir
vor einiger Zeit einmal ganz spontan gekauft hatte. Dazu wählte ich
einen Kaschmirpulli, ein Weihnachtsgeschenk meiner Mutter. Es war
ein hübsches Outfit, aber mir graute vor der Rechnung für die
chemische Reinigung. Hoffentlich war die Leiche sauber und
tatsächlich tot. Auf eine Jagd durch schmutzige Hintergassen hatte
ich an diesem Tag überhaupt keine Lust. So wie ich mich und mein
Glück kannte, würde ich mich allerdings gerade heute besonders
schmutzig machen. Auch egal – zumindest sah ich dann gut aus.
Chaos gähnte mir entgegen und reckte sich
ausführlich, als ich auf dem Weg nach draußen sicherstellte, dass
sein Käfig diesmal auch wirklich verriegelt war. Er protestierte
nicht einmal, weil ich ihn nicht herausholte. Wahrscheinlich war er
noch immer mit sich und seinem Erfolg aus der Nacht zuvor
zufrieden.
Auf der West-Seattle-Bridge gab es kaum Verkehr.
Die Sonne war noch nicht weit genug aufgegangen, um die Wolkendecke
zu durchbrechen und mich auf meiner Fahrt nach Osten zu
blenden.
Das Harborview Medical Center lag am Rand von First
Hill, das die Bewohner deshalb nur noch Pill Hill nannten. Wie ein
gewaltiger Geier aus Stein thronte das Gebäude über dem Freeway und
schien nur darauf zu warten, dass wieder ein Toter eingeliefert
wurde. Im Keller des Centers befand sich nämlich das städtische
Leichenschauhaus. Ich parkte auf der Seite der
Krankenhausverwaltung, um das stets geschäftige Institut für
Trauma-Opfer zu vermeiden, und machte mich auf den Weg nach unten.
Dort lief ich durch die düsteren grauen Nebelschwaden, die sich
hier seit siebzig Jahren angesammelt hatten.
Mit gesenktem Kopf watete ich durch Erinnerungen an
Krankheit und Genesung, an Geburt und Tod. Gespenstische
Unfallopfer säumten die Gänge oder lagen auf düsteren Bahren. Der
Geruch nach Krankheit und das Schreien Neugeborener drangen von
allen Seiten durch das Grau hindurch auf mich ein.
Ohne nachzudenken, wich ich automatisch den
Schattengestalten lange verschwundener Krankenschwestern aus, die
an mir vorbeieilten. Im Lift war es geradezu erleichternd
langweilig, selbst wenn sich auch dort noch ein paar Nebelgestalten
aufhielten. Als sich jedoch die Türen öffneten, fand ich mich
inmitten eines Gewimmels von grauen Kreaturen.
Das Leichenschauhaus hatte schon immer im Keller
gelegen, sodass sich hier das Grau und seine Toten zu ballen
schienen. Ich war früher bereits öfter hierher gekommen, um nach
vermissten Personen zu suchen oder irgendwelche Versicherungsfälle
zu lösen. Doch noch nie zuvor hatte ich all das sehen können, was
man sich sonst nur ausmalte, wenn man an ein Leichenschauhaus
dachte – all die Geister, die einen solchen Ort nie
verließen.
Es gab Unmengen von ihnen. Die meisten bemerkten
mich nicht, aber einige hatten sich um die Lifttür versammelt und
sahen mir entgegen, als ich ausstieg. Zwei oder drei blickten mich
sogar so an, als ob sie etwas von mir erwarteten oder auch
erhofften.
»Ich habe jetzt keine Zeit«, murmelte ich. »Lasst
mich in Ruhe.«
Daraufhin wichen sie zurück, sodass ich ungehindert
aussteigen konnte. Etwas flüsterte mir zu: »Wir kennen den Weg
nicht.«
Ich wusste nicht, was damit gemeint war.
Wahrscheinlich
würde ich es noch bedauern, aber dennoch sagte ich: »Ihr könnt mir
folgen, wenn ich wieder gehe. Aber draußen seid ihr auf euch
gestellt.« Die Geister traten beiseite und bildeten eine Art Gang,
damit ich passieren konnte. Trotzdem musste ich einige von ihnen
durchqueren, um zur Eingangspforte zu gelangen.
Jede Phantomgestalt, die ich berührte, fühlte sich
eisig an, als sie durch mich hindurchglitt. Mir lief ein kalter
Schauer über den Rücken, und ich war auf einmal froh, den
Kaschmirpulli zu tragen.
Ich kannte die schläfrige Angestellte an der Pforte
zwar nicht, aber ihr Typ war mir vertraut – eine Studentin, die
spätnachts einem nicht sehr anstrengenden Nebenjob nachgeht, um auf
diese Weise Geld zu verdienen und gleichzeitig für die Uni arbeiten
zu können. Da Harborview von der University of Washington verwaltet
wurde und auch als Lehranstalt diente, konnte es allerdings auch
gut sein, dass es sich bei ihr um eine Medizinstudentin handelte,
die hier ein Praktikum absolvierte.
Sie machte sich nicht einmal die Mühe, ihr Buch
zuzuklappen, als sie zu mir aufblickte. Ein wenig schien sie meine
schicke Erscheinung allerdings zu überraschen.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Das hoffe ich.« Ich zeigte ihr meine
Detektivlizenz. »Ich suche nach einem Vermissten und hätte gerne
gewusst, ob Sie eine männliche Leiche hereinbekommen haben, die
noch nicht identifiziert werden konnte und auf die die folgende
Beschreibung passt.« Ich schilderte das Aussehen des Mannes, wie es
mir Cameron zuvor erklärt hatte, und versuchte dabei, die kalte
Präsenz der Toten zu ignorieren.
Plötzlich wurde mir bewusst, dass sicher auch Mark
Lupoldis Leichnam hier aufbewahrt wurde. Wieder musste
ich an sein entsetztes Gesicht beim Anblick seines Mörders denken,
und ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken.
Die Studentin machte einige Anrufe und sah in
irgendwelchen Listen nach. Schließlich wurde ich von einem jungen
Mann, der sich Fish nannte, in den Kühlraum im hinteren Bereich des
Leichenschauhauses geführt. Eine kleine Prozession aus Geistern
folgte uns den schmalen Gang entlang. Die meisten Besucher sahen
sich die Verstorbenen auf einem Monitor in einem separaten Raum an,
doch da die Nachtschicht bald zu Ende ging, blieb zu dieser
Prozedur nicht genügend Zeit. Jetzt wollte nur noch jeder so
schnell wie möglich nach Hause. Genau damit hatte ich
gerechnet.
Der tote Mann, den ich mir ansehen sollte, lag also
direkt vor mir. Die Geister des Grau reihten sich um ihn auf und
schienen wissen zu wollen, warum gerade er so wichtig war. Er sah
nicht nach viel aus, wie er da auf seiner Metallbahre lag. Ein
alter Mann mit schlohweißen Haaren und zerrissener Kleidung, der
tot war. Schlicht und ergreifend tot.
Ich betrachtete ihn aus verschiedenen Blickwinkeln,
konnte aber nichts Auffallendes entdecken – nicht einmal ein
Anzeichen dafür, was Cameron mit ihm gemacht hatte. So weit es
ging, wagte ich mich in das Grau vor. Doch nirgends konnte ich auch
nur einen Anschein von Lebenskraft erkennen, von dem dunkelroten
Strahlenkranz, der die meisten Vampire im Grau umgab, ganz zu
schweigen. Ich schloss die Augen und dankte jedem Gott, der
möglicherweise ein Interesse daran hatte, dass ich es mit einem
toten Stück Körper zu tun hatte, in dem nicht einmal mehr ein Geist
hauste.
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist nicht der
Mann.«
»Sind Sie sich sicher?«, fragte Fish. »Sie haben
sich ihn aber sehr genau angesehen.«
»Er hat auch eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem,
den ich suche. Der Bart hat mich etwas irritiert. Aber er ist es
nicht. Tut mir leid, wenn ich Ihnen unnötige Umstände gemacht
habe.«
Er zuckte mit den Achseln. »Nicht der Rede wert.
Wenigstens sucht mal jemand nach einem dieser Toten. Das lässt mich
zumindest hoffen, dass der Mann doch noch identifiziert werden
kann.«
Ich sah zu, wie Fish den Leichnam in sein Kühlfach
zurückschob. »Tun Ihnen diese Leute leid?«, wollte ich von ihm
wissen.
Er nickte. »Ja, schon. Keiner sollte ewig in einer
solchen Schublade liegen müssen. Einige von den Leichen hier können
seit mehr als zehn Jahren nicht identifiziert werden. Das ist doch
schrecklich.«
Ich musste ihm recht geben. Die Vorstellung war
verstörend.
Als ich ging, folgte mir eine makabere Schar von
Gespenstern, fast so, als ob ich der Rattenfänger von Hameln für
die Toten wäre.
Die Geister ließen mich bis zur Tür, die zum
Parkplatz hinausführte, nicht allein. Dort aber lösten sie sich mit
einem Seufzer von mir und verschwanden. Als ich einen Blick über
die Schulter warf, war keiner mehr zu sehen. Ich vermutete, dass
sie aus dem Leichenschauhaus hinausgewollt hatten, um endlich das
Krankenhaus verlassen zu können, wo einige von ihnen bestimmt
gestorben waren. Endlich war es ihnen gelungen, von hier
wegzukommen. Meine gute Tat für diesen Tag.
Ich dachte an die Toten, die schon so lange dort
lagen und nie identifiziert wurden, und konnte nur hoffen, dass es
dem alten Mann nicht ebenso ergehen würde.