SIEBEN
Am Donnerstag kümmerte ich mich um einige
andere Fälle, die ich nicht völlig vernachlässigen wollte, und las
bis drei Uhr nachmittags in verschiedenen Akten. Dann tauchte
Quinton auf, um mir zu helfen, in den Bürocomputer ein DVD-Laufwerk
einzubauen. Ich hatte zwar einen DVD-Spieler zu Hause, aber
keinerlei Lust, die ganzen Notizen und Akten ständig hin und her zu
schleppen.
Nachdem das Laufwerk angeschlossen war und
tatsächlich funktionierte, setzten wir uns vor den Bildschirm und
sahen uns einige der DVDs gemeinsam an. Ich hoffte, dass Quinton in
der Lage sein würde, die Geister produzierende Maschinerie genauer
auszumachen, wenn er sie in Aktion sah.
Wir machten es uns vor dem Monitor bequem wie zwei
Kids, die sich zu Halloween Gruselfilme ansehen. Im Grunde
brauchten wir nur noch Decken und Popcorn.
Die erste Sitzung war uninteressant gewesen, und
für eine ganze Weile blieb das auch so. Die Gruppe hatte zu dieser
Zeit noch steif im Dämmerlicht um den Tisch gesessen und eine Weile
meditiert, ehe sie dazu übergegangen war, über Celia zu sprechen.
Es war nichts Aufregendes geschehen, auch wenn man langsam den
Eindruck gewann, dass sie sich zumindest besser kennenlernten.
Schließlich
hatten sie versucht, die Technik der Philip-Gruppe zu imitieren,
indem sie gemeinsam ein Lied sangen, das Celia vielleicht gefallen
könnte – in diesem Fall eine kaum erkennbare Version des Songs
»Don’t sit under the apple tree«.
»Die singen genauso schlecht wie du«, grinste
Quinton. Ich rammte ihm den Ellenbogen in die Seite und schnaubte
empört.
Nach einer Weile hörte die Gruppe ihr erstes klares
Klopfgeräusch, von dem wir beide annahmen, dass es von einem der
Teilnehmer stammen musste – vielleicht sogar aus Versehen. Es war
uns jedenfalls klar, dass es sich bei dem Klopfen um kein echtes
Geisterphänomen handelte, doch die Gruppe schien ziemlich zufrieden
zu sein, die Teilnehmer gratulierten einander zu diesem Erfolg.
Keiner wirkte durch das Klopfen beunruhigt, auch wenn die asiatisch
aussehende Frau und der Mann im Anzug beide die Stirn runzelten.
Die anderen waren entweder überrascht oder sogar hellauf
begeistert. Auch wenn ich fand, dass der junge Mann mit dem
hellbraunen Teint ein wenig zu selbstzufrieden aussah.
Es war seltsam, Mark gesund und lebendig am Tisch
mitten unter den anderen zu sehen. Er schien ernster als der Rest
und auch ernster, als ich ihn aus dem Old Possum’s kannte.
Von Marks Verhalten einmal abgesehen, kamen mir die ersten
Sitzungen allerdings sehr durchschnittlich vor.
Ich machte mir einige Notizen, und wir arbeiteten
uns langsam durch die frühen Aufzeichnungen. Nach und nach
entspannten sich die Gruppenmitglieder. Es schien ihnen auch nicht
mehr so peinlich zu sein, bestimmte Aufgaben, die ihnen gestellt
wurden, zu lösen. Vor jeder Séance plauderten sie miteinander. Mir
fiel auf, dass das Paar im mittleren Alter fast immer mit dem
Rücken zueinander saß und
dass die Hausfrau meist finster dreinblickte, wenn sie sich nicht
gerade mit einem der jungen, alleinstehenden Männer unterhalten
konnte. Dann wurde sie auf einmal kokett.
In einer Sitzung unterhielt sich die Gruppe über
den Beginn der Baseball-Saison. Einer der jungen Männer fragte, ob
Celia wohl Baseball mochte. Sie begannen darüber zu diskutieren und
überlegten hin und her, welche Interessen der Geist haben
könnte.
Die Frau im mittleren Alter – auffallend
hergerichtet, blond und sogar in einem grauen Kostüm noch
aufgedonnert wirkend – unterbrach die anderen nach einer Weile
ungeduldig: »Warum fragen wir sie nicht einfach? Celia – hast du
Baseball gemocht?«
Der Tisch wackelte hin und her. Ein lautes Klopfen
erfolgte, dann ein leiseres. Mark Lupoldis Augen weiteten sich
sichtbar.
Wir lehnten uns beide nach vorn und starrten
interessiert auf den Monitor. »Kannst du da mal kurz anhalten?«,
bat ich Quinton.
Er drückte auf die Tastatur, und das Bild blieb
stehen.
»Ein wenig zurück, bitte. Ich will genau sehen, was
passiert ist.« Quinton spulte etwas zurück und ließ die
Aufzeichnung dann langsam, Bild für Bild, wieder vorwärts laufen.
Der Tisch wackelte auf die gleiche Weise wie am Mittwoch, als
Quinton die Bewegung erzeugt hatte. »Der Tisch wird doch von dem
Beobachtungsraum aus ins Wanken gebracht – oder?«, wollte ich
wissen.
»Ja. Du siehst doch, wie sich die Tischbeine auf
dieselbe Weise bewegen wie am Mittwoch. Außerdem verzeichnet die
Infrarotkamera ein leichtes Ansteigen der Temperatur in den Kabeln
im Teppich«, bestätigte er. Er spulte etwas weiter vor. Als
Nächstes sah man, wie Mark seine Ellbogen
ein wenig hochhob, kurz bevor der erste Schlag ertönte. »Der Kerl
mit den langen Haaren hat das gemacht.«
Ich nickte. Er spulte weiter vor. Die Gruppe
verharrte für einen Moment in Schweigen. Dann kam das zweite
Klopfen. »Aber das nicht«, sagte ich.
Quinton betrachtete das Bild auf dem Monitor
genauer. »Nein, stimmt. Hat er nicht. Ich kann auch niemanden sonst
sehen, der sich bewegt. Das Geräusch kann also von keinem stammen,
der am Tisch sitzt. Und außerdem klingt es irgendwie anders. Warte.
Das muss ich mir genauer ansehen …«
Er begann etwas einzutippen und suchte dann in den
Dateien. Mit dem Cursor wählte er einen Bereich der Abspielleiste
aus, den er in eine Ecke des Monitors zog. Dort zeigte sich ein
wellenartiges Gebilde. Das vergrößerte er und gab weitere
Anweisungen in den Computer ein.
»Okay. Sieh dir das mal an und höre genau zu.« Er
klickte, und der Rechner begann, die Klopfgeräusche abzuspielen,
während eine rote Linie über die Wellen lief und sie so sichtbar
machte.
»Das ist das Klopfen des Inders aus der vorherigen
Sitzung.« Die Aufzeichnung auf dem Computer sah aus wie eine
Kaulquappe, und das Geräusch klang tief und hölzern.
Ich warf Quinton einen fragenden Blick zu. »Wieso
Inder?«
»Na ja, für mich sieht er irgendwie indisch aus. Er
könnte natürlich auch arabischer oder asiatischer Herkunft sein …
was weiß ich.«
Ich dachte darüber nach und beschloss, dem Ganzen
später nachzugehen. Aus irgendeinem Grund wäre ich nie auf die Idee
gekommen, den Mann mit der bronzefarbenen Haut und dem koboldhaften
Grinsen als Inder zu bezeichnen.
Keiner auf Tuckmans Liste hatte zudem einen indisch oder
pakistanisch klingenden Namen.
Quinton brachte mich wieder auf Kurs. Er zeigte auf
die nächste Wellenform. »Und hier ist das Geräusch, das der
langhaarige Typ fabriziert hat – das erste Klopfen in dieser
Sitzung.« Wieder schaute ich auf den Monitor. Vorne schien es
dicker zu sein, doch ansonsten hatte es eine ähnliche
Kaulquappenform wie das vorherige Klopfen. Es klang auch beinahe
gleich.
»Und jetzt das zweite Klopfen dieser Sitzung, das
anders klingt.« Die Wellenform sah nun wie ein Kleiner Tümmler aus.
Dem langen, flachen Anstieg – dem Maul – folgte ein runder Kopf und
Körper, der langsam zu einem kurzen, scharfen Schwanz auslief. Das
Geräusch klang hohler als die anderen und endete in einem leisen
Knall, der so kurz war, dass man ihn kaum bemerkte.
Quinton führte den Cursor zu einer weiteren
Wellenform auf dem Bildschirm. »Dieses Geräusch habe ich aus dem
Vergleichsbericht herausgeschnitten. Die Datei heißt ›Celia‹. Das
ist doch der Name des Poltergeists, um den es hier geht – oder
nicht?«
»Genau.«
Quinton vergrößerte die letzten beiden
Wellenformen. »Sie sind zwar nicht identisch, aber einander doch
sehr ähnlich. Die Länge des Anstiegs ist in der Vergleichsversion
kürzer, und auch der Ausklang ist etwas kürzer. Aber insgesamt sind
die Wellenformen fast gleich, einschließlich des kurzen Knalls am
Ende.«
»Dann stammt das Klopfen also von Celia.«
Quinton nickte. »Ja. Was auch immer Celia sein mag
– sie hat dieses Geräusch gemacht.«
Ich biss einen Augenblick lang nachdenklich auf
meiner
Unterlippe herum. »Und wieso sind die beiden Klopfgeräusche
unterschiedlich?«, fragte ich schließlich.
»Ich vermute, das hat sich im Laufe der Zeit so
ergeben. Der Anstieg zu Beginn ist sozusagen der Einsatz, den man
bei normaler Lautstärke nicht hören kann. Aber die Mikrofone unter
dem Tisch haben ihn trotzdem aufgenommen. Und der leise Knall am
Ende ist sozusagen der Shutdown – als würde man den Stecker
herausziehen. Je besser die Leute beim Produzieren des Geräusches
wurden, desto weniger konnte man das langsame Anlaufen und das
ruckartige Abbrechen am Ende hören.«
Ich überlegte. Im Grunde stimmte ich mit Quintons
Analyse überein, auch wenn ich dabei nicht auf die Idee gekommen
wäre, von herausgezogenen Steckern oder so etwas zu sprechen. »Aber
was ist das für ein Geräusch?«, fragte ich. »Es ist doch wohl kein
Gegenstand, der auf den Tisch knallt.«
Quinton schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich
auch nicht. Wenn etwas auf den Tisch geschlagen wäre, hätte das
eine ähnliche Wellenform wie die anderen beiden ergeben. In denen
spiegelt der Kopf der Kaulquappe das Aufschlagen einer Faust oder
etwas Ähnliches auf Holz wider. Und der Rest ist die Resonanz und
das Ausklingen auf der Holzoberfläche. Die beiden
Celia-Wellenformen aber sind von einer gänzlich anderen Natur. Sie
haben diese kaum hörbare Komponente am Anfang, und auch ihre
Resonanz und ihr Ausklang sind ganz anders strukturiert. Das
Geräusch scheint sich eher im Holz als darunter oder darauf
abzuspielen.«
Ich legte den Kopf schief und blickte ihn fragend
an. »Und was könnte so etwas hervorrufen?«
Er zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung.«
»Meinst du … Könnte es vielleicht wirklich ein
Geist sein?«
Quinton sah mich scharf an und runzelte die Stirn.
»Das meinst du wirklich ernst – oder?«
»Ja. Was denkst du?«
»Ich habe schon zu viele seltsame Dinge in dieser
Stadt gesehen, als dass ich einfach behaupten könnte, dass es kein
Geist ist. Aber ich weiß es nicht.«
Ich sah wieder auf den Bildschirm und zeigte auf
Mark. »Der Typ, der für den Trick mit dem Tisch verantwortlich ist,
der mit dem langen dunklen Haar – er ist gestern auf ziemlich
schreckliche Weise ums Leben gekommen.«
Quinton musterte Mark und sah dann mich an. »Was
willst du damit sagen?«
»Ich bin mir nicht sicher. Aber ich habe bei dieser
ganzen Sache ein schlechtes Gefühl.«
»Na ja, der Mann ist ja auch tot. Das kann ich
schon verstehen.«
»Tuckman glaubt, dass jemand mehr
Geistererscheinungen fabriziert als vom Projekt beabsichtigt. Aber
wenn dieses Klopfen echt ist, dann irrt er sich vielleicht. Wenn
das also nicht künstlich hervorgerufen wurde, dann stellt sich doch
die Frage, was wirklich los ist. Du hättest sehen sollen, was
gestern in diesem Raum passierte. Das war wesentlich
eindrucksvoller als die paar Klopfgeräusche.«
»Du hältst es also für echt? Oder meinst du, sie
erfinden das alles?«
»Ich weiß es einfach nicht.«
»Na gut. Dann schauen wir uns doch einmal an, was
sie sonst noch so draufhaben, bevor du deine Entscheidung fällst.«
Er drückte auf eine Taste, und die Aufzeichnung lief weiter.
Auf dem Bildschirm wirkte Mark Lupoldi noch immer
überrascht. Der Rest der Gruppe nickte. Die blonde Frau mittleren
Alters fuhr fort, dem Geist Fragen zu stellen. »Bist du mit Jimmy
zu einem Baseball-Spiel gegangen?«
Für einen langen Moment herrschte vollkommene
Stille. Dann folgte zwei Mal zögerliches Klopfen.
Ich sah Quinton an. Er drückte wieder auf Pause und
öffnete das Sound-Fenster, sodass es den ganzen Monitor ausfüllte.
Vergrößert konnte man die Wellenformen gut erkennen. Es handelte
sich wieder um zwei Kleine Tümmler, die mit Schnauze und Schwanz
miteinander verbunden waren und am Ende einen einzelnen kleinen
Knall aufwiesen.
»Das ist interessant«, meinte Quinton. »Die beiden
sind miteinander verbunden, und der Anstieg beim zweiten Geräusch
ist kürzer, obwohl es eine Pause dazwischen gibt. Vielleicht
braucht man weniger Energie, um einen weiteren Ton zu schaffen,
sobald man ihn erst einmal produziert hat.«
»Und der Knall ist erst am Ende der beiden
Geräusche zu hören«, fügte ich hinzu.
»Hier haben wir nur sehr wenige Daten, und wir
können uns nicht wirklich sicher sein, aber ich glaube, du hast
recht.« Er warf einen Blick auf die Zeitanzeige auf dem Bildschirm.
»Mist, ich muss los. Ich bin um acht mit jemandem
verabredet.«
»Es ist aber gerade mal halb sieben«, protestierte
ich lautstark.
»Ja, schon, aber ich muss noch ein paar
Vorbereitungen treffen und außerdem vorher etwas abholen. Aber du
weißt ja jetzt, wie das funktioniert. Außerdem sollte ich nicht in
alles Einblick gewinnen, sonst könnte dein Klient vielleicht
denken, dass es zu einem Vertrauensbruch kommt.«
In gewisser Weise hatte er recht, aber ich ließ ihn
nur widerstrebend gehen. Es war so erholsam, endlich einmal mit
jemandem zu sprechen, den ich nicht belügen oder vor dem ich mich
nicht in Acht nehmen musste. Mein Sozialleben war nie besonders
exzessiv gewesen, doch seit meinem Sturz in das Grau war es kaum
noch vorhanden. Meistens machte mir das nichts aus – ich gehörte
eher zum Typ Einzelgänger -, aber manchmal bekam ich dann doch
einen Rappel und spürte plötzlich die Leere um mich herum. Es war
wohl kein Zufall, dass solche Anfälle häufig mit einem Anruf von
Will zusammenfielen.
Ich schnitt ein Gesicht. »Du hast recht. Ich sollte
dich nicht länger aufhalten. Und diese Aufnahmen haben nun wirklich
nicht gerade Oscar-Qualität.«
Quinton grinste. »Ich würde schon gerne
herausfinden, wie sie dieses Geräusch machen. Sobald du es weißt,
musst du es mir sagen.«
»Gerne«, erwiderte ich und sah ihm dabei zu, wie er
Rucksack und Mantel nahm und aus dem Büro eilte.
Ich wandte mich wieder den Séance-Aufnahmen zu,
auch wenn es mir jetzt schwerer fiel, mich darauf zu konzentrieren.
Die Gruppe befragte Celia noch eine ganze Weile zum Thema Baseball.
Je länger das Gespräch dauerte, desto entschlossener klangen die
Klopfgeräusche. Der Tisch wackelte mehrmals hin und her, wobei ich
vermutete, dass es sich dabei um Erscheinungen handelte, die von
Tuckman, Terry oder Mark ausgelöst wurden.
Die Sitzung gab nicht viel mehr her, denn die
Mitglieder wurden nach einer Weile müde und hörten vorzeitig auf.
Bei der Nachbereitung waren sie allesamt von den Klopfgeräuschen
begeistert und hofften, dass sich die Erscheinungen bald verstärken
würden.
Mir fiel auf, dass Mark nur sehr wenig sagte,
nachdem das Klopfen begonnen hatte. Auch im Gespräch danach war er
schweigsam. In der Akte konnte ich nachlesen, dass er Tuckman
versichert hatte, nach dem ersten Klopfen nichts mehr gemacht zu
haben. Außerdem stand darin, wie sich Tuckman trotz der Hoffnungen
der Teilnehmer auf ein Zunehmen der Phänomene besorgt dazu geäußert
hatte. Er befürchtete, dass zusätzliche Tischmanipulationen zu
schnell und zu heftig sein würden und verlangte deshalb von Mark
und Terry, mit den Effekten zurückhaltend zu sein, bis er ihnen
Bescheid gab.
Sie waren seinen Anweisungen gefolgt. In den
nächsten sechs Sitzungen wurde das Klopfen allmählich ganz normal.
Der Tisch bewegte sich nur dann, wenn Tuckman und seine Assistenten
ihn dementsprechend manipulierten.
Einen Monat nach Celias erstem Klopfen begann der
Tisch jedoch selbstständig zu handeln. Er machte zum Beispiel einen
derartig wilden Satz, dass einige der Séance-Teilnehmer von ihren
Stühlen fielen. Der Sprung war mehrere Zentimeter höher, als das
durch die magnetischen Impulse möglich gewesen wäre. Auf den
Infrarot-Aufzeichnungen war eine deutliche Lücke zwischen Tisch und
Boden zu erkennen.
Weder Mark noch Terry waren dafür verantwortlich.
Nach diesem Zwischenfall hatte die Gruppe begonnen, nicht mehr um
den Tisch zu sitzen, sondern zu stehen. Je mehr Aufzeichnungen ich
mir ansah, desto leichter fiel es mir, Namen und Akten den
richtigen Gesichtern zuzuordnen. Immer wieder machte ich mir
Notizen, um nicht zu vergessen, in welcher Beziehung die einzelnen
Teilnehmer zueinander standen.
Die Phänomene wurden mit der Zeit ausgeprägter, und
die Gruppe begann, den Tisch als Celias Hauptmanifestation
zu betrachten. Celia entwickelte durch die Klopfgeräusche und
Tischbewegungen eine ziemlich eindeutig auszumachende
Persönlichkeit. Sie mochte zum Beispiel Swing und brachte den Tisch
manchmal dazu, auf eine ungeschickte, tölpelhafte Weise durch den
Raum zu tanzen. Er hob drei Beine und drehte sich auf dem vierten
oder sprang mit allen vier Beinen gleichzeitig in die Luft.
Es gelang ihr auch, die bunten Lämpchen im Takt zur
Musik aufflackern zu lassen, wenn sie dazu gerade in der richtigen
Laune war. Celia liebte Kino und war ein großer Fan von Tyrone
Power. Allerdings mochte sie auch neuere Filme. Der junge weiße
Mann – er hieß Ian und saß immer neben der asiatischen Frau Ana –
schlug Celia vor, sich doch einfach einmal in ein Kino zu
schmuggeln. Schließlich bräuchte sie ja keine Eintrittskarte. Alle
lachten. Celia ließ einige Sekunden lang die Tischplatte wackeln,
was die Gruppe als ihr Gelächter interpretierte.
Wenn die Teilnehmer glaubten, eine Geste einmal
richtig gedeutet zu haben, hielten sie entschlossen daran fest und
ließen sich nicht mehr davon abbringen.
Celias Vorlieben für bestimmte Filme oder Musik
änderten sich je nachdem, welche Gruppenmitglieder anwesend waren.
Sie hatte außerdem die Tendenz, zu versuchen, den Frauen ihre
Taschen oder ihren Schmuck wegzuschnappen. Mehrmals verfing sich
Anas Haar in ihren baumelnden Ohrringen und musste von Ian wieder
befreit werden.
Besonders interessant war eine Sitzung, zu der Ken,
der junge Inder, ein Portrait mitbrachte, das er von Celia auf
seinem Computer angefertigt hatte. Es ähnelte dem Bild der Frau,
das ich im Séance-Zimmer gesehen hatte, außer dass ihre Haare
dunkler waren und das Portrait den ganzen Oberkörper zeigte. Sie
trug ein aufreizendes schwarzes
Kleid. Der Tisch war in dieser Sitzung vor lauter aufgeregten
Klopfgeräuschen kaum zur Ruhe gekommen und hatte sich unruhig auf
dem Teppich hin und her bewegt.
Irgendwann zog Ken ein Blatt Papier aus der Tasche
und legte es auf den Tisch. Dieser wurde augenblicklich still und
regungslos. Er schien sich auf einmal ganz schwer zu machen, als ob
ihn die Magnete herunterziehen würden, auch wenn die
Infrarotmessung nichts dergleichen anzeigte.
Ken fiel das nicht weiter auf. Er sah die einzelnen
Mitglieder der Gruppe an und richtete dann den Blick auf das Blatt
Papier. »Was hältst du davon? Gefällt es dir, Celia?«, fragte
er.
Nichts geschah.
»Es gefällt dir nicht.«
Der Tisch ließ zwei laute Schläge erklingen, die
weder von Mark noch von Terry stammten.
Ken runzelte die Stirn und knabberte an seiner
Unterlippe. Er sah etwas beunruhigt aus. »Es gefällt dir also
wirklich nicht?«
Zwei weitere laute Klopfgeräusche ertönten.
»Okay, ich verstehe. Und was gefällt dir nicht
daran? Die Haare?«
Die Mitglieder der Gruppe begannen nun allesamt
Fragen über Celias Aussehen zu stellen, während Ken versuchte, mit
einigen Buntstiften das Bild so lange zu verändern, bis der Geist
zufrieden war. Die antwortenden Klopfgeräusche kamen stets ohne
Zögern.
Obwohl die Gruppe sich nicht sicher war, wie Celia
aussah, so schien Celia es hingegen sehr genau zu wissen. Die Haare
waren ihr zu dunkel, das Kleid zu sexy, und sie war auch nicht mit
den üppigen Kurven einverstanden, die Ken ihr verpasst hatte. Die
waren ihr zu übertrieben.
Am Ende der Sitzung zeigten sich alle überzeugt,
dass Celia wirklich existierte. Die Leute verließen das Zimmer
beschwingter als sonst, aber auch nachdenklicher.
Als Ken in der kommenden Woche mit einem neuen
Portrait ankam, sprang und hüpfte der Tisch begeistert auf und ab.
Der Künstler war zufrieden, ja erleichtert, als er diese Antwort
erhielt. Von diesem Zeitpunkt an wurde der Tisch immer aktiver und
schien sich besonders auf Ken zu konzentrieren. Manchmal jagte er
ihn wie ein freundlicher Hund durch das Zimmer, wobei klar war,
dass die Kontrollfunktionen der Kabine solche Bewegungen nicht
hervorrufen konnten.
Ken schien die ganze Angelegenheit auch etwas
ernster zu nehmen als zuvor. Immer wieder sah man ihn mit
konzentriertem Blick und nachdenklich auf seiner Unterlippe kauend
am Tisch sitzen.
Tuckman versuchte Ken zu isolieren, um
herauszufinden, ob er vielleicht für die veränderten Phänomene
verantwortlich war. Der Tisch gab zwar auch dann Zeichen von sich,
wenn Ken einmal nicht anwesend war, aber er wirkte wesentlich
zurückhaltender. Wenn die Gruppe aus weniger als vier Mitgliedern
bestand, meldete sich Celia überhaupt nicht. Dann war weder ein
Klopfen noch ein Flackern der Lichter zu sehen, wobei es
anscheinend ganz egal war, welche Gruppenmitglieder anwesend waren
und welche nicht.
Professor Tuckman probierte alle möglichen
Kombinationen aus. Einmal mussten sogar Terry und Denise, die
Institutssekretärin, anwesend sein. Doch ganz gleich, welche Leute
präsent waren – der Tisch blieb regungslos und die Lichter
erloschen, solange sich weniger als vier Menschen im Raum
aufhielten. Erst wenn es mehr wurden, konnte
man wieder darauf zählen, dass sich der Geist in unterschiedlicher
Heftigkeit meldete.
Die Stärke der Erscheinungen schien nicht davon
abzuhängen, wie viele Teilnehmer genau im Raum waren – solange es
sich um mehr als vier handelte. Das Einzige, was auffiel, war die
Tatsache, dass sich der Tisch verstärkt auf Ken konzentrierte und
zwar eine ganze Weile lang. Terry und Denise hingegen ignorierte er
zum Beispiel völlig.
Nachdem ich mir mehrere Stunden lang die DVDs
angesehen und noch immer nicht alle durch hatte, konnte ich mich
nicht mehr länger konzentrieren. Es war sowieso schon spät. Ich gab
auf und fuhr nach Hause.
Auf der Fahrt nach West Seattle dachte ich über das
Projekt nach. Ich konnte gut verstehen, warum Tuckman die
ungewöhnlich starken psychokinetischen Reaktionen, die von der
Gruppe ausgingen, beunruhigend fand. Es war ziemlich schwer zu
verdauen, wenn man sich überlegte, dass es eines ziemlich
willensstarken menschlichen Geistes bedurfte, um überhaupt einen
Gegenstand zu bewegen – von einem zwanzig Kilo schweren Tisch
einmal ganz abgesehen. Quinton hatte mir bewiesen, dass die
elektronische Ausrüstung in den Räumen nicht die Stärke besaß, das
Möbelstück derart heftig in Bewegung zu bringen, wie ich das
miterlebt hatte. Wenn mir nicht jemand anders zeigte, wie man so
etwas mechanisch schaffte, musste ich annehmen, dass der Tisch sich
von selbst bewegte – oder zumindest durch die mentalen Kräfte der
Gruppe dazu gebracht wurde.
Außerdem beschäftigte mich die Tatsache, dass die
Energieleitung, die ich im Grau entdeckt hatte, offensichtlich
nicht Teil des normalen Netzwerks war, sondern sich aus eigener
Kraft dorthin begeben zu haben schien. Normalerweise verliefen
Verbindungen dieser Größenordnung unten
am Boden. Ich verstand nicht, warum es in diesem Fall nicht so
war. Warum schwebte dieser Ball unter dem Tisch? Möglicherweise
verschaffte die Netzwerkverbindung den Phänomenen ja auch
zusätzliche Energie, sodass sie heftiger werden konnten.
Falls es der Gruppe gelungen war, die Netzleitung
zu bewegen, war das bereits für sich genommen eine unvorstellbare
Leistung, auch wenn ich bezweifelte, dass Tuckman überhaupt
begreifen würde, wovon ich sprach.
Keine dieser Überlegungen brachte mich jedoch im
Fall von Mark Lupoldi weiter. Sein Tod war sowieso nicht meine
Angelegenheit, und ich war mir sicher, dass Solis es nicht schätzen
würde, wenn ich mich da einmischte. Trotzdem musste ich immer
wieder daran denken. Mark war tief in Tuckmans Projekt verstrickt
gewesen. Und wenn ich daran dachte, was Phoebe mir erzählt hatte,
war dieses Projekt zudem so wichtig geworden, dass es auch sein
Leben außerhalb des Instituts zu beeinflussen begonnen hatte. Vor
seinem Tod hatte er offenbar übernatürliche Erscheinungen – Duppys
oder Poltergeister oder was auch immer – verstärkt angezogen. Die
Art, wie er ums Leben gekommen war, war zudem wirklich eigentümlich
und hatte selbst Solis, der schon viel Schreckliches gesehen haben
musste, beinahe sprachlos gemacht.
Ich lief die Treppe zu meinem Appartement hoch.
Noch immer in Gedanken versunken, öffnete ich die Wohnungstür und
sah mich einem unvorstellbaren Chaos gegenüber. Alle Bücher waren
aus den Regalen gerissen, und ein Daunenkissen lag aufgeschlitzt
auf dem Boden. Die Federn hatten sich im ganzen Raum verteilt.
Meine Schuhe hatte man aus dem Schlafzimmer geholt und wild durch
die Gegend geworfen. Ein blauer Turnschuh – am gepolsterten
Knöchelteil
bereits stark angeknabbert – hatte sich der Täter zu einem
gemütlichen Bett auserkoren. Dort schlief er, und man konnte sein
Frettchen-Schnarchen deutlich hören.
Fassungslos sah ich mich um. Immer wieder war ich
zutiefst verblüfft, wie ein frustrierter Nager, der kaum ein Kilo
wog, es schaffte, ein solches Durcheinander anzurichten!
Ich hatte nicht einmal mehr genug Kraft, um laut zu
fluchen. Stattdessen holte ich Chaos einfach aus dem Schuh und trug
ihn zu seinem Käfig. Entweder hatte ich diesen nicht richtig
verriegelt, oder er hatte sich in meiner Abwesenheit Daumen
zugelegt. Für einen Moment schnarchte er lauter, wachte aber nicht
auf. Mir blieb nichts anderes übrig, als aufzuräumen.
Natürlich war es meine eigene Schuld, so nachlässig
gewesen zu sein, aber ich ärgerte mich trotzdem geschlagene zwei
Stunden lang, während ich wieder Ordnung schaffte. Für den Berg
Wäsche, der sich während der Woche angesammelt hatte, war ich
danach zu müde. Ich kroch erschöpft ins Bett. Die Wäsche konnte bis
zum nächsten Morgen warten, der sowieso nur noch wenige Stunden
entfernt war.