19

Ein abschließendes Geständnis

Flucht vor dem Feuerball

Der Lohn für Verrat

 

 

 

Sky Captain wusste, selbst wenn sie auf die Kisten und Fässer kletterten und selbst wenn Polly sich auf seine Schultern stellte, würden sie die Zündschnüre nicht erreichen können – zumindest nicht rechtzeitig. Die knisternden Flammen rasten weiter, fraßen die Zündschnüre, zischten auf das gestapelte Dynamit zu. Totenkopf hatte hier genug Sprengstoff angesammelt, um den halben Berg wegzublasen… was sie zweifellos in ein paar Minuten am eigenen Leib erfahren würden.

Sky Captain und Polly rannten zu der dicken Metalltür und hämmerten mit den Fäusten dagegen. »Kaji!«

Bei den Ausrüstungsgegenständen, die neben den Schießpulverfässern aufgestapelt waren, entdeckte Sky Captain eine rostige Spitzhacke mit einem verwitterten Griff.

Er packte sie und schwang sie dann in einem weiten Bogen. »Mach Platz, Polly!«

Polly wich zurück, und die Spitzhacke traf die Tür mit einem markerschütternden Scheppern. Sky Captain schüttelte den Kopf, um das Klirren im Schädel loszuwerden, dann hob er das Werkzeug von neuem und schlug wieder und wieder zu. Die Spitze verursachte nur ein paar flache Kratzer in der gepanzerten Tür – nichts, das man auch nur als Beule bezeichnen konnte. Dann bog sich die Spitze nutzlos nach oben.

Angewidert ließ Sky Captain die Spitzhacke los und kniete sich hin, um an den Seiten der Tür nach einer Ritze zu tasten. Er konnte mit den Fingerspitzen nichts finden, aber vielleicht würde er sein Messer in einen Riss stecken und es als Stemmeisen benutzen können.

Nichts.

Frustriert drosch er mit der Faust auf das Metall ein.

Polly hob die Laterne und schwang sie herum, damit sie die Wände, den Boden, die Decke besser sehen konnte. Sie hoffte, einen Luftschacht zu finden, eine Falltür, irgendeine Fluchtmöglichkeit, aber ihre Suche erwies sich als vergeblich. »Joe? Ich will nur eins wissen.«

Sky Captain entdeckte eine vereinzelte Dynamitstange, die neben den Schießpulverfässern lag. Er rannte auf sie zu und hob sie auf. Oben an der Decke brannten die Zündschnüre unaufhaltsam weiter.

»In Nanjing« – sie schluckte, unsicher, ob sie die Antwort wirklich hören wollte – »hast du mich mit jemandem betrogen, oder?«

»Nein, Polly.« Sky Captains Stimme war fest, obwohl er seine Aufmerksamkeit auf die Dynamitstange und das Messer, das er aus dem Gürtel gezogen hatte, konzentrierte. »Und jetzt ist wirklich nicht der Zeitpunkt, um über deine verletzten Gefühle zu reden.«

Polly lächelte erleichtert. Sie schien die Gefahr, in der sie sich befanden, vollkommen vergessen zu haben. Sie hätte ihn gerne umarmt, aber er arbeitete mit der Messerspitze am unteren Ende der Tür.

Es gelang Sky Captain, ein kleines Loch in das Eis nahe der Türschwelle zu bohren. »So. Das sollte tief genug sein.« Er drückte und drehte das Dynamit hinein, dann beschloss er, nicht die ganze Stange zu benutzen. Er brach sie in zwei Hälften und steckte eine davon ins Loch zurück. Anschließend benutzte er das Messer, um die Zündschnur zu verkürzen. Er trat zurück, schob Polly hinter sich und holte sein zuverlässiges Feuerzeug heraus.

Polly schreckte aus ihren Gedanken auf und erkannte, was er vorhatte. »Warte! Was machst du da? Als ob die da drüben nicht genügen würden – «

Mit der kleinen blauen Flamme zündete Sky Captain die kurze Zündschnur an. »Ich erkläre es dir später. Wir haben jetzt nur ein paar Sekunden.« Er packte sie und zog sie mit sich hinter einen Stapel von Holzkisten.

Polly sah, dass sie sich hinter weiteren Dynamitkästen versteckt hatten. »Oh wunderbar, wir sind in Sicherheit.«

Wider besseren Wissens legte er den Arm um sie, und beide wurden sehr still. Unausgesprochene Worte blieben ihm in der Kehle stecken, doch schließlich platzte er damit heraus: »Polly, hör zu, das hier ist vielleicht unser letzter Augenblick. Erinnerst du dich daran, was du darüber gesagt hast, mit deinem letzten Atemzug die Wahrheit zu sprechen? Es gibt etwas, das ich wissen muss.«

Polly beugte sich näher, froh, so nah bei ihm zu sein. Wie ein Schlangennest zischten die Zündschnüre und brannten sich weiter an die gewaltige Explosion heran. »Ja?«

»Hast du… hast du meine Treibstoffleitung durchtrennt?«

Polly wurde wütend. »Verdammt noch mal, Joe! Warum machst du dir zu einem Zeitpunkt wie diesem über so etwas Dummes Gedanken? Ich habe dein blödes Flugzeug nicht sabotiert.«

»Also gut.« Er klang immer noch so, als ob er ihr nicht glaubte.

»Unsere letzten Augenblicke im Leben, und mehr hast du mir nicht zu sagen?« Polly wandte sich von ihm ab, plötzlich so kalt wie die Gletscher des Himalaja.

Er seufzte tief. »Können wir vielleicht ein einziges Mal ohne die Streitereien zurechtkommen?«

Sie spähten auf beiden Seiten an den Kisten vorbei und sahen zu, wie die Zündschnur der Dynamitstange an der Tür abbrannte. Es war nur noch ein Zoll übrig. Gegen ihren Willen schauten Polly und Sky Captain einander an, dann rückten sie widerstrebend noch näher zusammen.

»Ich weiß nicht, ob es funktionieren wird«, sagte er. »Aber es ist wenigstens einen Versuch wert.«

»Ja, es ist einen Versuch wert.«

Sie hatten sich dem Gedanken ergeben, dass sie sterben würden, wenn die Zündschnüre abgebrannt waren. Als alles verloren schien, hörten sie plötzlich ein Geräusch an der dicken Metalltür. Dann drehte sich das Rad mit lautem Klicken, und die schwere Luke schwang auf.

Kaji stand in der Tür, hielt die Lampe hoch und grinste sie an.

»Ah, hier bist du, Captain Joe! Und Miss Perkins. Ich habe überall nach euch gesucht.« Er beugte sich nach drinnen. »Warum war die Tür abgeschlossen?«

Die halbe Dynamitstange, deren Zündschnur beinahe vollkommen verbrannt war, war aus dem Loch gerutscht und rollte Kaji nun vor die bestiefelten Füße. Der Sherpa schaute nach unten, starrte den Sprengstoff an, dann bemerkte er die anderen Funken sprühenden Zündschnüre und die Dynamitkisten überall. »Oje!«

Polly und Sky Captain sprangen auf und rannten um ihr Leben, wobei sie Kaji in der Tür beinahe umgerissen hätten.

»Lauf!« Sky Captain packte den Sherpa, und die drei eilten den Tunnel entlang.

Polly blieb plötzlich ruckartig stehen und fuhr herum. »Wartet! Meine Filme! Sie sind im Rucksack!« Sie setzte dazu an, wieder zurückzulaufen. Ihr Rucksack lag vor einer der Dynamitkisten.

Sky Captain packte sie am Arm und riss sie zurück, als zerrte er einen Fisch aus dem Wasser. »Lass das bleiben! Wir haben keine Zeit.« Er schob sie vor sich, und alle drei rannten weiter auf den Ausgang zu. Sie kamen an den Bohrmaschinen vorbei, den schattenhaften gefrorenen prähistorischen Tieren, den Kommunikationsschirmen und den Uranproben. Sky Captain war in seinem ganzen Leben noch nicht so schnell gerannt, und er war froh zu sehen, dass Polly und Kaji Schritt halten konnten. Blauer Himmel und kalte Luft lagen direkt vor ihnen.

In der Kammer erreichte die erste Zündschnur schließlich die Sprengstoffkisten. Sie zischte, dann war einen Augenblick nichts zu hören, und dann zündete die erste Explosion auch alle benachbarten Kisten. Innerhalb von Sekundenbruchteilen verzehrte die Flammenfront auch die Fässer mit Schießpulver und brachte sie zur Explosion. Die Kettenreaktion erzeugte ein wahres Inferno. Die Mine explodierte nicht einfach nur; die Eis- und Steinwände verdampften. Felswände und Decken stürzten ein. Der gewaltige Berghang begann, unter seinem eigenen, ungestützten Gewicht zusammenzusacken.

Ein riesiger Feuerball raste durch die Schächte und verbrannte alles in seinem Weg. Wie ein Tier bei einer Stampede schoss er den Schacht entlang, verschlang Wände, Gleise und umgekippte Loren.

Sky Captain, Polly und Kaji wurden von der Druckwelle durch die Luft geschleudert. Wie von einer Kanone abgeschossen flogen sie, bis sie Seite an Seite in einer Schneewehe landeten. Halb im Schnee vergraben, duckten sich die drei vor der großen Flammenwand, die über sie hinwegfegte.

Das Echo der Explosion hallte von den Felswänden des Himalaja wider und löste weit entfernt Lawinen aus, die in tiefe, unbewohnte Schluchten stürzten. Die langen Schatten des Zwielichts begannen das verbotene Bergtal zu überziehen.

Sky Captain konnte in dem trüben Licht kaum sehen… oder vielleicht hatten seine Augen oder sein Kopf Schaden genommen. Er setzte sich im kalten Schnee auf, und seine Ohren klirrten. War er halb blind? Das zornige Grollen ging weiter, Rauch und Flammen stiegen in die dünne Luft auf, und dann ließ der schlimmste Lärm nach.

Mit der Hand wischte er sich Blut und Ruß aus dem Gesicht und versuchte, sich zu orientieren. Neben sich sah er eine leblose weibliche Gestalt in der Schneewehe liegen. Er fürchtete das Schlimmste. »Polly!« Seine Stimme hörte sich sogar für ihn selbst merkwürdig an, als käme sie aus weiter Ferne.

Er blinzelte in die weißen Dunstschleier hinaus. Ihm war immer noch schwindlig, und er konnte seinen Pulsschlag an den Schläfen spüren. Das Tageslicht schien rasch zu vergehen. Er blinzelte weiter.

Aus dem trüben Licht tauchten flackernde Fackeln auf, auf und ab hüpfende Flammen, die von einer Prozession getragen wurden, die sich den Hang hinunterwand. Sky Captains Sicht wurde noch schlechter, und er erkannte nur mit Mühe eine Reihe seltsam aussehender Nepalesen, die sich vom windgepeitschten Horizont her näherten. Sie trugen dicke schwarze Gewänder, die mit seltsamen Symbolen bestickt waren. Tief ins Gesicht gezogene Kapuzen verbargen ihre Züge. Er nahm an, dass es sich um eine Halluzination handelte, die damit zu tun hatte, dass er sich den Kopf angeschlagen hatte.

Als er merkte, dass er das Bewusstsein verlieren würde, tastete Sky Captain nach Polly. Er krächzte ihren Namen, aber seine Stimme war kaum zu hören. Er strengte sich an, in dem weichen Schnee näher zu ihr zu kriechen, aber schließlich sank er ins Dunkel…

Mit hoch erhobenen Fackeln versammelten sich die seltsamen Gestalten um Sky Captain, Polly und Kaji. Ohne ein Wort hoben sie die drei hoch, legten sie auf behelfsmäßige Bahren und nahmen sie mit. Dann stapfte die Prozession wieder in die eisige Wildnis hinaus.

 

 

Hoch auf einem Felsvorsprung oberhalb der zerstörten Mine hielt sich die geheimnisvolle Frau verborgen. Sie spähte durch ihre dunkle Brille in den langsam nachlassenden Rauch und die Flammen und beobachtete, wie die Gruppe schwarz gewandeter Fremder ihre Gefangenen zu ihrer isolierten Bergfestung brachte.

Das alles interessierte sie nicht mehr. Sie schaute auf ihre schwarz behandschuhte Hand hinab, in der sie die beiden gestohlenen Reagenzgläser hielt. Sie umschloss sie fest mit der Faust, dann wandte sie sich wieder ihrer Flugmaschine zu, die gefährlich auf einem Bergsims balancierte. Es war Zeit zu gehen.

Ohne einen Blick nach unten stieg sie über die Leichen der beiden verräterischen Sherpas hinweg, die im blutigen Schnee lagen. Dolche waren ihnen mit solcher Kraft in den Rücken gestoßen worden, dass sie ihre Herzen durchbohrt hatten und aus der Brust wieder hervorgedrungen waren. Bald schon würden die eisigen Elemente ihre Leichen vernichten, oder die Vögel würden ihre Knochen sauber picken.

Die geheimnisvolle Frau stieg in die Flugmaschine, ließ die pfeifenden Motoren an und glitt davon.