17
Ein gefährlicher Weg
Ein weißer Fleck auf der Landkarte
Eine gefrorene Basis
Zunächst war der Schneefall täuschend leicht, aber er wurde immer dichter, als der Wind zunahm und die Wolken sich fester an die Gipfel des Kanchenjunga-Gebirges schmiegten. Sky Captain, Polly, Kaji und die beiden anderen Sherpas stiegen in einer langsamen Karawane den Berg hinauf, warm eingepackt und mit vollen Rucksäcken. Verklumpter Schnee und rutschige Steine machten jeden Schritt gefährlich. Die Temperatur schien jede Minute weiter zu sinken.
»Gibt es hier wirklich einen Weg?«, fragte Polly, den Kopf in den Wind gebeugt.
»Es gibt keinen«, sagte Kaji. »Wir suchen uns selbst einen.«
»Die meisten Leute bauen keine Asphaltstraßen in ein verbotenes Land«, stellte Sky Captain fest und pumpte sich die Lunge voll mit der dünnen, eisigen Luft. »Nicht einmal Doktor Totenkopf.«
Kaji stapfte in seinen fellbesetzten Stiefeln vor ihnen her, ohne sich zu beschweren. Hinter ihnen folgten die beiden finsteren Sherpas, die sich leise über den heulenden Wind hinweg auf Nepalesisch unterhielten.
Im Lauf der nächsten Stunden, während der Sturm sie immer mehr einhüllte und ihnen keine Atempause ließ, schaffte das kleine Grüppchen das schier Unmögliche: Erst gingen, dann stiegen sie den weißen Hang des isolierten Gebirgszugs hinauf. Sky Captain passte gut auf Polly auf, aber er brauchte ihr nur drei- oder viermal das Leben zu retten; sie wichen Lawinen aus, er holte sie von einer zusammenbrechenden Eisbrücke und packte rechtzeitig ihre Hand, als sie von einem Vorsprung rutschte. Er nahm an, es hätte ihn ohnehin nur verlegen gemacht, wenn sie ihm zu viel Dankbarkeit gezeigt hätte.
Der Schnee häufte sich wie gefrorener Treibsand, und die Luft wurde auf den Felsen hoch über dem Basislager dünner und dünner. Wie gute Arbeitspferde wurden die drei Sherpas trotz des gefährlichen Geländes nicht langsamer, aber Sky Captain und Polly bemerkten, dass ihre eigenen Füße immer schwerer wurden. Der Wind peitschte ihnen Schnee ins Gesicht. Sky Captain konnte kaum mehr Kajis weiß verkrusteten Rücken sehen, obwohl der Sherpa direkt vor ihm ging.
Auf halbem Weg den Berg hinauf führte der Sherpa die Prozession über ein schmales Sims am Rand einer tiefen Schlucht. Polly klammerte sich an die raue, eisige Bergflanke und warf einen ängstlichen Blick in den Abgrund. Die gähnende Kluft schien den Himalaja von Indien bis nach Tibet zu durchziehen. Ein falscher Schritt, und sie würde nicht wissen, in welchem Land ihre zerschlagene, gefrorene Leiche zur Ruhe gebettet würde.
Als würde schon dieser Gedanke den Weg noch gefährlicher machen, bröckelte der brüchige Fels unter ihren Füßen ab, und Polly geriet ins Rutschen. Sie schlug heftig um sich, als ein Windstoß sie über den Rand zu wehen drohte, aber Sky Captains Schnelligkeit rettete sie. Er packte sie am Arm und zog sie in Sicherheit.
»Das ist heute schon das fünfte Mal«, sagte er.
»Das vierte Mal«, widersprach sie. »Übertreib nicht.«
Die beiden verdächtigen Sherpas hinter ihnen sahen, dass Polly beinahe gestürzt wäre, und erkannten ihre Chance. Der mit der Hakennase nickte seinem Begleiter schweigend, aber bedeutungsvoll zu und begann, einen gebogenen Dolch aus seiner warmen Schaffellkleidung zu ziehen. Der Sherpa mit den dichten Augenbrauen jedoch machte eine Geste, die seinen Freund innehalten ließ. Auf Nepalesisch sagte er rasch: »Hab Geduld.« Beide Männer wussten, dass sie auf dem langen, gefährlichen Weg nach Shangri-La noch viele Gelegenheiten erhalten würden.
Als die kleine Gruppe sich schließlich auf einen schmalen, den Elementen ausgesetzten Grat hochzog, stach der Bergwind sie wie mit Messern. Polly und Sky Captain mussten sich aneinander festhalten, um auf den Beinen zu bleiben.
Der Schnee ließ nach, und eilige Sturmwolken huschten direkt unter ihnen vorbei, was ihnen einen klaren Blick auf eisige Gipfel gab, die sich in weiter Ferne erhoben. Die beiden Sherpas stapften weiter, denn sie wollten nicht neben den drei anderen lagern. Stirnrunzelnd schaute Polly ihnen hinterher.
Sky Captain hockte sich neben Kaji, der auf die Berge hinausschaute, ungerührt von der eisigen Temperatur. Der Sherpa streckte eine Hand aus und zeigte auf die zerklüfteten Gipfel: »Dort endet jede Zivilisation, Captain Joe. Vor uns liegt ein weißer Fleck auf der Landkarte.« Er zog sich die Mütze und die Handschuhe zurecht. »Von jetzt an müssen wir vorsichtig sein.«
Polly sah Kaji schaudernd an. »Ich dachte, wir hätten bis jetzt auch vorsichtig sein müssen.«
»So wenig das auch genutzt hat«, murmelte Sky Captain.
Von dem Felsvorsprung aus, auf dem sie stehen geblieben waren, begannen die beiden Sherpas aufgeregt zu rufen. Kaji spitzte die Ohren, lauschte den nepalesischen Worten, dann bedeutete er Sky Captain, ihm zu folgen. »Kommt, beeilt euch!«
Polly nahm ihre letzten Energiereserven zusammen und eilte hinter ihrem Führer her, der ohne sichtliche Anstrengung die letzten paar Fuß zu dem Vorsprung hinaufkletterte. Von dort oben konnten sie über den Kamm hinwegschauen.
Das Letzte, was sie zu sehen erwartet hätte, war ein unmöglich hoher Sendemast, der sich aus dem tiefen Bergtal erhob. Der Stahlturm ragte über die höchsten Felsspitzen seiner Umgebung hervor, während sein Fuß in Schnee begraben war.
Sky Captain starrte den Turm an und wusste, dass es nur eine Person gab, die eine solche Einrichtung hätte bauen können. »Totenkopf.«
Polly kam keuchend neben ihm zum Stehen. »Von hier aus kann er seinen Robotern überall auf der Welt Befehle senden!«
»Und genau das hat er wahrscheinlich auch getan. Bis hierher hat Dex das Signal zurückverfolgt.«
Als der Wind kurz abflaute, konnten sie von dem riesigen Turm her ein leises elektrisches Summen vernehmen. Ein trübes Licht blinkte hin und wieder an seiner Spitze, obwohl Sky Captain wusste, dass kein Flugzeug versuchen würde, das gefährliche Kanchenjunga-Gebirge zu überqueren. Mit neuer Energie stapfte er voran, kletterte den steilen, felsigen Pfad hinab. »Kommt schon. Wir sind jetzt ganz in der Nähe.«
»Vielleicht haben sie da unten heißen Kaffee«, murmelte Polly leise und folgte ihm.
»Eher Tee, aber das glaube ich auch nicht«, sagte Kaji.
Als sie den Fuß des Turms erreichten, standen sie knietief im Schnee. Sky Captain hielt verblüfft inne, als die Größe der Basis deutlich wurde, die der wahnsinnige Wissenschaftler hier errichtet hatte. Der hohe Sendemast war nur die Spitze von Totenkopfs Anlage.
Der Turm nahm sich eher klein aus angesichts des Umfangs der riesigen Minenstadt vor ihnen. Gewaltige, klotzige Kraftwerke standen wie geometrische Wachtposten zu beiden Seiten eines klaffenden Eingangs, der groß genug war, dass man mit mehreren Warhawks gleichzeitig hätte hineinfliegen können. Transformatoren, kegelförmige Zusatzaggregate und summende Energiespeicher bildeten einen technologischen Müllplatz rings um die nackten Felsen. Speerähnliche Eiszapfen hingen von dem den Elementen ausgesetzten Metall.
Sky Captain nahm ein Fernglas aus seinem Rucksack und sah sich um, wobei er wegen des blendend hellen Schnees die Augen zusammenkneifen musste. Er konnte einen schimmernden Irrgarten von Tunneln erkennen, die tief in das Eis einer Gletschermasse gebohrt und mit Stahlträgern verstärkt worden waren. Andere Schächte führten in dunkle Seitenkammern im Felsen. Verlassene Erzloren standen auf ihren Schienen.
»Was ist denn?« Polly betrachtete alles ehrfürchtig und konnte es kaum erwarten, das Fernglas selbst zu benutzen. » Lass mich sehen.«
Aber Sky Captain gab das Fernglas nicht her. »Es sieht aus wie eine Bergbauanlage.« Aus dem verwitterten Zustand der Generatoren, die mit Eis und Schnee überzogen waren, den fest gefrorenen Loren und den Schneeverwehungen am Rand des Hauptschachts schloss er, dass die Mine schon lange nicht mehr ausgebeutet wurde. Gewaltige Maschinen waren der Witterung überlassen und nicht instand gehalten worden, und nun waren sie schwer mitgenommen.
Kaji kniff ebenfalls die Augen zusammen, stützte die Hände auf die breiten Hüften und starrte diese Schrecken erregende Anlage an. »Hier ist etwas Schlimmes passiert.«
Mit dem Fernglas folgte Sky Captain einer Gleisbrücke, die direkt zum Eingang der unheimlichen Mine führte. Trotz des Bergwinds lag eine unheimliche Stille über der Basis. »Sie sieht verlassen aus.« Er wandte sich Kaji zu. »Sag deinen Männern, wir gehen runter. Ich will es mir näher ansehen.«
Kaji nickte nervös. »Ja, Captain Joe. Aber das hier ist… kein guter Ort.«
»Na ja, Shangri-La habe ich mir tatsächlich anders vorgestellt«, sagte Polly.
Der Sherpa wandte sich ihr zu. »Nein. Das hier ist nicht Shangri-La. Nicht hier.«
Vorbei an den riesigen Generatoren, die den klaffenden Eingang zur Mine flankierten, gingen sie langsam in die gewaltige Höhle hinein. Das eisige Stöhnen des arktischen Windes hallte von den Schluchtwänden hinter ihnen wider.
»Zumindest sind wir hier geschützt«, stellte Sky Captain fest.
»Es ist trotzdem nicht gerade meine Vorstellung von, äh, gemütlich«, sagte Polly.
Staunend ging sie tiefer in die fantastische Höhle hinein. Hoch über ihr hingen riesige Eisstalaktiten an den Eisenträgern, die das Labyrinth durchzogen. Gewaltige Bohrmaschinen, schwere Bagger, Schienen und Loren füllten die Haupthöhle, und nichts davon bewegte sich.
Polly war die Erste, die das Wappen mit dem grinsenden, eisengeflügelten Schädel auf einer der Maschinen entdeckte. »Es ist tatsächlich Totenkopf.«
In dem Durcheinander fand Kaji mehrere alte Laternen und zündete sie an. Er reichte Polly eine, eine weitere Sky Captain, der von seiner Neugier getrieben voranging. »Dex!«, rief er einmal. Die Echos, die die gefrorene Stille erschütterten, ließen ihn zusammenzucken.
Während sie langsam durch die massive Eishöhle zogen, reflektierten die zerklüfteten Eismauern blitzend das Laternenlicht. Polly konnte nun die dunklen Schatten seltsamer Gestalten tief im dicken Eis erkennen – prähistorische Geschöpfe, Fossilien aus der letzten Eiszeit, von Totenkopfs Bergleuten ausgegraben.
Kaji, der sie begleitete, schien sich nicht für die surreale Umgebung begeistern zu können. Er zog die Nase kraus. »Es riecht hier nach Tod, Captain Joe.«
Die fünf schwärmten aus und erforschten die Höhlen weiter. Polly ging an einer der riesigen, still stehenden Bohrmaschinen entlang. Sie wischte eine dicke Schicht von Dreck und Staub weg. »Wo sind sie alle?« Der Klang ihrer eigenen Stimme kam ihr unheimlich vor.
Sie bemühte sich angestrengt, in der bedrückenden Kälte die Hände ruhig zu halten, und hob die Kamera, um ein Foto der gewaltigen Maschine zu machen. Aber bevor sie dazu kam, bemerkte sie, dass der Sherpa mit der Hakennase sich von den anderen entfernt hatte. Der Mann glaubte sich unbeobachtet und verschwand verstohlen in einem dunklen Seitengang…
Sky Captain und Kaji fanden ein kompliziertes Steuerpult neben einer Reihe von Prüfgeräten an einer Höhlenwand. Ein nun leerer Schirm hatte wohl der Kommunikation gedient. Alle Lichter des Steuerpults waren dunkel. Sky Captain bediente ein paar Schalter, aber nichts passierte. Auf einem Regal hinter dem Pult fand der Captain ein gebundenes Hauptbuch. »Vielleicht hat Totenkopf auch ein paar Dinge auf die altmodische Art getan.« Er zog die Handschuhe aus, klappte das Buch auf und begann, die brüchigen Seiten, die mit handschriftlichen Einträgen gefüllt waren, umzublättern. »Seltsam. Der letzte Eintrag wurde… vor fünfundzwanzig Jahren vorgenommen.«
Der Sherpa sah sich eine Reihe von Glasbehältern an, in denen sich Erzproben befanden. Er griff nach einem der staubigen Gläser, schüttelte es und drückte beinahe die Nase daran, um den Inhalt zu betrachten. »Steine. Wonach hat euer Feind gesucht?«
Beunruhigt von dem, was er in dem Buch gelesen hatte, klappte Sky Captain das alte Logbuch wieder zu. »Nach Uran. Einer sehr reinen, ergiebigen Ader.« Dann sah er, dass Kaji das Glas in der Hand hielt. »Ich würde das lieber nicht berühren.«
Der Sherpa betrachtete das Glas in seiner Hand mit weit aufgerissenen Augen, dann stellte er es rasch wieder auf das Regal zu den anderen. Er wischte sich die Hand an der Schaffelljacke ab.
Sky Captain wandte sich von dem Buch und dem Schirm ab und fand direkt neben dem Steuerpult einen Spind. Er rüttelte am Riegel, und mit einigem Kraftaufwand konnte er den alten Griff bewegen. Die Tür öffnete sich quietschend. Drinnen fand er weite weiße Schutzanzüge mit Glashelmen. »Gegen die Strahlung. Totenkopf ist offenbar kein Risiko eingegangen.«
Auf einem Regal über den Anzügen entdeckte Sky Captain ein kleines Gerät mit einer Anzeige. Er packte den Griff an der Oberseite des Kästchens, schaltete das Gerät ein und beobachtete, wie die Nadel an der Anzeige sofort in die gefährliche, Unheil verkündend rot markierte Zone schwang. Ein vertrautes Knattern erklang aus einem blechernen Lautsprecher.
Kaji fuhr erschrocken zu ihm herum. »Was ist das, Captain Joe? Was ist das für ein Lärm?«
»Das hier ist ein Geigerzähler.« Sky Captain schwang das Gerät herum und zeigte mit dem Detektorende in eine andere Richtung, aber das Geräusch wurde nur noch lauter und steigerte sich zu einem anhaltenden Prasseln. »Und der Lärm zeigt die Strahlung an. Jede Menge davon. Die ganze Mine ist verseucht.«
Er sah sich weiter um, aber der Geigerzähler fand keine Stelle, die nicht radioaktiv gesättigt war.
»Wir dürfen nicht hier bleiben.«
Besorgt blickte er auf und merkte plötzlich, dass die anderen verschwunden waren. Er konnte keinen von ihnen sehen oder hören. Er starrte Kaji an. »Wo ist Polly?«