Jacksons Auferstehung

Als er erwachte, stand ein ungenießbar aussehendes Frühstück auf seinem Nachttisch. Er hatte von Louise geträumt, zumindest schien es ein Traum gewesen zu sein. War sie hier gewesen? Jemand war da gewesen, eine Besucherin, aber er wusste nicht, wer. Nicht das Mädchen, das Mädchen saß jedes Mal, wenn er die Augen öffnete, am Bett und betrachtete ihn.

Im Traum hatte er sein Herz geöffnet und Louise eingelassen. Der Traum beunruhigte ihn. Tessa hatte in der Traumwelt nicht existiert, als wäre sie nie in sein Leben getreten. Das Zugunglück hatte einen Riss in seiner Welt verursacht, eine Erdbebenspalte, eine unüberbrückbare Distanz zwischen ihm und seinem Leben mit Tessa. Neue Frau, neues Leben. Er hatte ihr einen Antrag gemacht am Tag, nachdem Louise ihm gesimst hatte, dass sie heiraten würde; damals war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass die beiden Vorgänge etwas miteinander zu tun haben könnten. Aber andererseits war er nie besonders gut darin gewesen, die Anatomie seines Verhaltens zu analysieren. (Frauen dagegen hielten ihn für leicht durchschaubar.)

Er fragte sich, ob Tessa versuchte, sich mit ihm in Verbindung zu setzen? Machte sie sich Sorgen? Sie neigte nicht dazu. Jackson schon.

Natürlich war Tessa nicht in Northallerton in den Zug gestiegen. Sie war in Amerika, in Washington, auf irgendeiner Konferenz. »Bin am Sonntag zurück«, sagte sie, als sie aufbrach. »Ich hole dich ab«, sagte er. Er sah sie vor sich stehen am Mittwochmorgen – oder wann immer es gewesen war, er hatte jegliches Zeitgefühl verloren – in dem Schrank, den sie Küche nannte, in ihrer kleinen Wohnung in Covent Garden (ihre Wohnung, in die er gezogen war). Sie trank Tee, er trank Kaffee. Er hatte vor kurzem eine Espresso-Maschine gekauft, ein großes, glänzendes rotes Ungeheuer, das aussah, als hätte es während der industriellen Revolution eine kleine Fabrik mit Strom versorgt. Kaffeekochen war die eine Sache, die Tessa nicht konnte. »Um Himmels willen, ich wohne in Covent Garden«, sagte sie und lachte. »Ich kann keinen Stein werfen, ohne jemanden zu treffen, der mir eine Tasse Kaffee verkaufen will.«

Die Espresso-Maschine nahm die halbe Küche ein. »Tut mir leid«, sagte Jackson, nachdem er sie aufgebaut hatte. »Mir war nicht klar, dass sie so groß ist.« Doch eigentlich meinte er, dass ihm nicht klar gewesen war, wie klein die Küche war. Sie sprachen davon, in eine größere Wohnung zu ziehen, in eine weniger urbane Gegend und hatten sich in den Chilterns umgesehen. Obwohl Jackson es kaum glauben konnte, plante er nichtsdestotrotz, in einen Londoner Vorort zu ziehen. So verwandelte einen die Liebe einer guten Frau, sie kehrte einen von innen nach außen und machte einen zu einem anderen, den man kaum wiedererkannte, als wäre man schon immer wendbar gewesen und hatte es nur nicht gewusst. Die Chilterns waren schön, sogar das Eisen in Jacksons hartem nordischem Herzen schmolz ein wenig beim Anblick von so viel geschwungener grüner Leichtigkeit. »E.-M.-Foster-Land«, sagte Tessa. Sie war unheimlich belesen, Beweis einer teuren, umfassenden Ausbildung (»St. Paul’s Mädchenschule, dann Keble College«). Jackson fragte sich, ob es zu spät für ihn war, um noch anzufangen, Romane zu lesen.

Eine Polizistin, überhaupt nicht unscharf. »Haben Sie die Telefonnummer Ihrer Frau?« Sie lächelte ihn mitfühlend an. »Können Sie sich erinnern?«

»Nein«, sagte er. In seinem Kopf fiel die Antwort länger aus und lautete, dass er Tessa nicht anrufen und aufregen wollte, dass sie nicht früher aus den USA zuückkommen brauchte, weil er nicht länger tot war, aber mehr als ein »Nein« schaffte er nicht.

Das hieß nicht, dass er sie nicht bei sich haben wollte. Er versuchte, sich ihr Gesicht vorzustellen, doch er brachte nur einen verschwommenen, Tessa-förmigen Fleck zustande. Er konzentrierte sich auf das letzte Mal, als er sie gesehen hatte, in der Küche, wo sie ihre Tasse spülte und auf die Ablauffläche stellte (sie war sehr ordentlich, ließ nie etwas unerledigt). Das Haar hochgesteckt, kein Make-up, kein Schmuck außer der Armbanduhr (»Reiseoutfit«), schwarze Hose und beigefarbener Pullover. Der Pullover fühlte sich unglaublich weich an, als er sie in den Armen hielt. Er konnte sich besser an den Pullover als an Tessa erinnern.

Dann küsste sie ihn und sagte: »Ich muss zum Flughafen. Hoffentlich vermisst du mich.« Er wollte sie nach Heathrow fahren, aber sie meinte: »Sei nicht albern, ich fahre mit der U-Bahn nach Paddington und nehme von dort den Heathrow Express.« Er wollte nicht, dass sie U-Bahn fuhr, er wollte nicht, dass überhaupt jemand U-Bahn fuhr. Feuer und Unfälle und Selbstmordattentäter und Polizeischützen und Wahnsinnige, die einen mit einem kleinen Stoß in den Rücken vor einen Zug warfen – die U-Bahn war ein fruchtbarer Nährboden für Katastrophen. Früher dachte er nicht so, er hatte zwei Kriege und ein Leben voller entsetzlicher Ereignisse auf dem Buckel, aber irgendwo auf dieser einsamen Straße war er an dem Punkt vorbeigekommen, wo mehr Jahre hinter ihm als vor ihm lagen, und er hatte plötzlich begonnen, den zufälligen Horror der Welt zu fürchten. Der entgleiste Zug war die letzte Bestätigung.

»Ich bin sicher, sie wird Ihnen bald einfallen«, sagte die Polizistin. »Für Ihre Genesung ist es wahrscheinlich am besten, wenn Sie sich keine Sorgen machen.«

»Ich war früher Polizist«, sagte Jackson. Jedes Mal, wenn er in seinem existenziellen Labyrinth in eine Sackgasse geriet, schien er es für notwendig zu halten, dies festzustellen. Seine Identität mochte in Frage stehen, aber dieser Tatsache war er sich sicher.

Es war unwahrscheinlich, dass Tessa in Washington von dem Zugunglück erfuhr, in Europa musste schon etwas ziemlich Großes passieren, damit es ins amerikanische Bewusstsein sickerte. Schlimmstenfalls hätte sie ihm eine SMS geschickt und sich gewundert, warum er nicht antwortete, doch sie würde nicht sofort die Schlussfolgerung ziehen, dass er in Schwierigkeiten steckte, im Gegensatz zu seiner ersten Frau, Josie. Seine erste Frau, wie seltsam das klang, vor allem weil sie es amüsant fand, sich selbst mit Hallo, ich bin Jacksons erste Frau vorzustellen, als sie mit ihm verheiratet war.

Selbstverständlich hatte Tessa keine Ahnung, dass er in dem Zug gesessen hatte, sie wusste nicht, dass er nicht in London war, weil er es nicht erwähnt, weil er nicht zu ihr gesagt hatte: »Kaum bist du unterwegs zum Flughafen, fahre ich nach Norden, um meinen Sohn zu sehen.« Er hatte es ihr deswegen nicht gesagt, weil er ihr nie von Nathan erzählt hatte. Nicht wenige Sünden der Unterlassung, noch dazu in einer so jungen Ehe, in der es keine Geheimnisse geben sollte. Und selbst wenn sie gewusst hätte, dass er mit dem King’s-Cross-Zug fuhr, wäre es gleichgültig gewesen, weil er es ja nicht tat. Sie fahren in die falsche Richtung. Sein Kopf schmerzte. Zu viel Nachdenken macht aus Jackson einen dummen Jungen.

 

Seitdem sie sich kannten, waren sie kaum getrennt gewesen. Sie ging natürlich jeden Tag zur Arbeit, und sie trafen sich oft im British Museum zum Mittagessen. Manchmal schlenderten sie nach dem Essen durch das Gebäude, Tessa erzählte ihm etwas zu Ausstellungsstücken. Sie war Kuratorin, »Assyrisch hauptsächlich«, sagte sie, als sie sich kennenlernten. »Für mich ist das alles griechisch«, scherzte Jackson lahm. Der Assyrer brach ein wie ein Wolf in die Herde. Selbst die von ihr geführten Touren durch den assyrischen Teil machten ihn nicht viel klüger. Er war überzeugt, dass es ein besseres Wort als »Teil« gab. War »Abteilung« nicht das richtige Wort? »Die assyrische Abteilung« – das klang nicht richtig, es klang wie eine bürokratische Nische in der Unterwelt.

Trotz einiger sorgfältig formulierter Erklärungen von Tessa war er sich immer noch nicht ganz sicher, dass er das Wo/Was/Wann von Assyrien verstanden hatte. Er glaubte, dass es etwas mit Babylon zu tun hatte. An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Psalm 137. Wir gedachten an Zion, wir gedachten an unsere Lieder, denn hier durften wir nicht singen. Das Lied des Exils. War nicht jeder im Exil? Zuinnerst? War er rührselig? Wahrscheinlich.

Neue Informationen waren schwer zu behalten wegen der Menge nutzloser Informationen, die sein Gehirn zumüllten. Merkwürdig war, dass er aus der Schulzeit nur Gedichte erinnerte, wahrscheinlich waren das die Unterrichtsstunden, in denen er am wenigsten aufgepasst hatte. Ein schmutziger britischer Küstendampfer mit salzverkrustetem Schornstein.

In seiner Brieftasche bewahrte er ein Foto von ihr auf, neben dem von Marlee, aber seine Brieftasche wurde noch vermisst. Er konnte sich einzelne Züge vorstellen, die braunen Augen mit den langen Wimpern, die hübsche gerade Nase, ein schönes Ohr, aber nichts fügte sich zu einem Gesamtbild zusammen. Sie war eher ein Picasso als ein Vermeer. Er hätte Tessa eingehender betrachten, mehr Fotos von ihr machen sollen, aber sie war chronisch kamerascheu, kaum sah sie eine Linse, hielt sie eine Hand vors Gesicht, lachte und sagte: »Nein, nicht! Ich sehe schrecklich aus.« Sie sah nie schrecklich aus, selbst am Morgen, gleich nach dem Erwachen, schien sie makellos. Schwer zu glauben, dass sie sich von allen Männern der Welt ausgerechnet für ihn entschieden hatte. (»Sehr schwer zu glauben«, stimmte Josie ihm zu.)

Der objektive, des Lebens überdrüssige Teil von Jackson wusste, dass er von der Liebe verwirrt war, dass er sich noch in den berauschenden Frühlingstagen der Beziehung befand, wenn alles im Garten rosig blüht. Meine Liebe ist eine blutrote Rose. Nein, nicht Blut. Rot. Rote, rote Rose. »Du bist noch immer pubertär und unreif«, sagte Julia. »Unerfahren im Urteilen.« »Und was genau findet diese Musterfrau an dir?«, fragte Josie. »Abgesehen vom Geld natürlich.«

»Wie alt ist sie?«, fragte Julia, eine Schauspielermiene des Entsetzens im Gesicht.

»Vierunddreißig«, sagte Jackson vernünftigerweise.

»Das nennt man Mädchenraub, Jackson«, sagte Josie.

»Blödsinn«, sagte Jackson.

»Du weißt doch, dass Verliebtsein eine Spielart des Wahnsinns ist, oder?«, sagte Amelia. (»Dann muss es eine folie á deux sein«, sagte Tessa und lachte, als er es ihr erzählte.) Amelia war einst (haarsträubend sich daran zu erinnern) in Jackson verliebt gewesen. Er musste Julia anrufen und sich nach Amelias Operation erkundigen. War sie tot? Julia wäre untröstlich. Neben seinem Bett stand ein Telefon, aber um es zu benutzen, brauchte er seine Kreditkarte, und seine Kreditkarte war in seiner Brieftasche. Wenn er Andrew Deckers Brieftasche hatte, hatte dann Andrew Decker seine? In Andrew Deckers Brieftasche befand sich fast nichts, der alte Führerschein, ein Zehn-Pfund-Geldschein. Er reiste mit wenig Gepäck. Lag er irgendwo im Krankenhaus?

Das Foto in seiner Brieftasche war das einzige, das er von Tessa hatte, aufgenommen mit Jacksons Kamera von einem der unbekannten Trauzeugen nach der hastigen Hochzeit, und sogar bei dieser glückverheißenden Gelegenheit hatte sie versucht, sich abzuwenden. Jetzt hatte er nicht einmal mehr das. Keine Brieftasche, keinen BlackBerry, kein Geld, keine Kleider. Nackt geboren, nackt wiedergeboren.

»Wir kennen uns kaum«, sagte sie, als er ihr den Antrag machte.

»Dafür ist die Ehe da«, sagte Jackson, obwohl seine Erfahrungen mit der Ehe eher für das Gegenteil sprachen – je länger er mit Josie verheiratet war, umso weniger schienen sie sich zu verstehen.

Tessa behielt ihren Namen, sie habe sich nie als Mrs. Brodie gesehen, sagte sie. Auch Josie hatte seinen Namen nicht angenommen, als sie heirateten.

Die letzte »Mrs. Brodie«, die Jackson kannte, war seine Mutter gewesen. Jacksons Schwester, ein in jeder Beziehung altmodisches Mädchen, hatte es gar nicht erwarten können, zu heiraten und ihren Mädchennamen abzulegen und »Mrs. Jemand Anders zu werden«. Das war sie gewesen – ein Mädchen, eine Jungfrau, »die sich für Mr. Richtig aufsparte«. Jede Menge Jungen waren hinter ihr her, aber sie hatte noch keinen festen Freund, als sie vergewaltigt und ermordet wurde. In der untersten Schublade der kleinen Kommode in ihrem Zimmer lagen ordentliche Schichten von Geschirrtüchern und bestickten Deckchen und ein Edelstahlbesteck, zu dem sie jeden Monat ein Teil hinzukaufte. Alles für ein Leben, das nie kam. Es schien alles so lange her, nicht nur Niamh, sondern alle Mädchen, die bestickte Deckchen und Kästen mit Besteck sammelten. Wo waren sie jetzt?

Die meisten Menschen trugen ein paar Fotoalben durchs Leben, aber in Tessas Wohnung in Covent Garden hatte er kein einziges Foto gefunden. Ihre Eltern waren tot, bei einem Autounfall ums Leben gekommen, aber es gab keine Anzeichen, dass sie jemals existiert hatten. Nichts aus ihrer Kindheit, keine Andenken an die Vergangenheit. »In der Arbeit lebe ich in der Vergangenheit«, sagte sie. »Mein Leben möchte ich in der Gegenwart verbringen. Und Ruskin sagt, dass jeder übertriebene Besitz uns müde macht, und er hat recht.«

Das Spartanische an Tessas Make-up fand er attraktiv, besonders nach Julia, einer Frau mit einer Vorliebe fürs Rokoko, ein Thema, zu dem sie ihm einmal einen unterhaltsamen Vortrag gehalten hatte, inklusive Sex (typisch Julia). Julia war viel gebildeter, als sie sich anmerken ließ. Tessa wäre von Julia verwirrt gewesen, hätte sie sie gekannt. So wie die Dinge lagen, war sie indifferent, »deine Ex«, kein Interesse, keine Eifersucht (aber was, wenn sie von dem Baby wusste?). Tessa hatte etwas erfrischend Neutrales. Er hätte nie gedacht, dass er »neutral« bei einer Frau für eine positive Eigenschaft halten würde. Da sah man mal wieder.

Sie kannten sich seit vier Monaten, seit zwei Monaten waren sie verheiratet. Mit Josie war er über zwei Jahre verlobt gewesen, bevor sie heirateten, er hatte also keinen persönlichen Beweis, dass ein langes Werben die Grundlage einer langen Ehe war. (»Ach, ich glaube, wir waren lange genug verheiratet«, sagte Josie.) Dennoch war diese plötzliche, impulsive Heirat völlig untypisch für ihn. »Nein, war es nicht«, sagte Josie, »du warst schon immer der treuliebendste aller Männer.« »Nein, war es nicht«, sagte Julia, »du wolltest mich unbedingt heiraten, und stell dir vor, was für eine Katastrophe das gewesen wäre.« Denn ich bin immer lüstern und verbuhlt und kann nicht leben ohne Weib. Er war weder lüstern noch verbuhlt (das dachte er zumindest), aber die Ehe war ihm stets als idealer Zustand erschienen. Der Garten Eden, das verlorene Paradies.

»Du bist nicht wirklich ein guter Ehemann«, sagte Josie. »Du hältst dich nur für einen.« »Du bist ein Einzelgänger«, sagte Julia. »Du kannst es nur nicht zugeben.« Josie und Julia lebten unbehaglich in seinem Kopf, verschmolzen zu der Stimme seines Gewissens, Zwillingsengel, die sein Verhalten kommentierten. »Heirate in Eile«, sagte Josies Stimme. »Bereue mit Muse«, schloss Julia.

»Was für ein Tag ist heute?«, fragte er die Polizistin.

»Freitag.«

Tessa landete am Sonntagmorgen in Heathrow. Bis dahin, wenn nicht früher, wäre er zu Hause. Er würde sie wie versprochen vom Flughafen abholen. Es war gut, wenn ein Mann ein Ziel hatte, es war gut, wenn ein Mann wusste, wohin er wollte. Jackson wollte nach Hause.

 

Sie hatten sich auf einer Party kennengelernt. Jackson ging nie zu Partys. Es war die geringste aller Chancen, ein Zusammentreffen von Planeten, ein Kräuseln der Zeit.

Er war seinem alten Befehlshaber in der Militärpolizei über den Weg gelaufen, ausgerechnet in der Regent Street – wiederum kein endroit, an dem Jackson sich für gewöhnlich aufhielt. Die Schicksalsgöttinnen hatten seine Zeit genommen, als er die Regent Street überquerte, aber diesmal mit positivem Ausgang.

Sein alter Boss war ein etwas schurkenhafter Typ namens Bernie, den Jackson seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Außer der Arbeit hatten sie nie viel gemein gehabt, aber sie hatten sich gut verstanden, und Jackson war überrascht, dass er sich über diese unerwartete Begegnung so freute, und als Bernie sagte, »Hör mal, nächste Woche schauen ein paar Leute auf einen Drink vorbei, ganz entspannt, warum kommst du nicht auch?«, war er zuerst versucht gewesen, die Einladung anzunehmen, bis er schließlich doch absagte, woraufhin Bernie eine Charmeoffensive startete, die sich letztlich als unwiderstehlich erwies. Im Rückblick war ihm klar, dass es nicht so sehr die Freude gewesen war, Bernie zu treffen, als vielmehr die unerwartete Erinnerung an ein Leben, das jetzt verloren war, zwei Soldaten, die in Erinnerungen an die Vergangenheit schwelgten.

Zwei Dinge erstaunten ihn. Das erste war Bernies Wohnung in Battersea, die plüschig eingerichtet und voll war – Möbel, Nippes, Bilder, die sogar Jackson als »gut« erkannte. Bernie hatte erzählt, dass er »im Sicherheitsgeschäft« (was sonst?) war, aber Jackson hätte nicht vermutet, dass Sicherheit so gut dotiert sein konnte. Sein eigenes finanzielles Glück hatte Jackson nicht erwähnt.

Die zweite Überraschung waren Bernies Gäste. »Ein paar Leute auf einen Drink« waren, so hörte Jackson einen Gast es nennen, »eine von Bernies berühmten Soirées«. Jackson war noch nie zuvor auf einer »Soirée« gewesen.

Die Gäste waren gutgekleidete Londoner – Männer mit modischen Brillen und Frauen in hässlichen und extrem unbequemen Schuhen. Jackson war von Natur aus misstrauisch gegenüber gutgekleideten Männern – richtige Männer (Männer aus dem Norden) hatten weder Zeit noch Lust, Designerklamotten zu kaufen, und er war der Überzeugung, dass keine Frau Schuhe tragen sollte, in denen sie, falls nötig, nicht davonlaufen konnte. (Obwohl er ein paar Jahre zuvor gesehen hatte, wie eine junge Frau ihre Schuhe einfach wegwarf, um davonzulaufen, aber sie war Russin und verrückt gewesen, wenn auch besorgniserregend attraktiv. Er dachte bisweilen noch immer an sie.) Keine der Frauen bei Bernies »Soirée« sah aus, als wäre sie bereit, ihre Manolos oder Jimmy Choos wegzuwerfen, um rasch zu entkommen. Ja, er kannte die Namen von Designerschuhmachern, und nein, eigentlich sollten richtige Männer aus dem Norden so etwas nicht wissen, aber er musste letzten Sommer mit Marlee im Flughafen von Toulouse auf seinen Flug warten und war von ihr unbarmherzig aus den Seiten von Heat und OK! belehrt worden.

 

Bernie begrüßte ihn überschwenglich an der Tür und führte ihn in die schon etwas überhitzte Menge. Woher Bernie diese Leute kannte, war ihm ein Rätsel. Keiner von ihnen schien zu dem natürlichen sozialen Kreis eines fünfzigjährigen Exmilitärpolizisten zu gehören.

»Cocktail?«, fragte Bernie, und Jackson sagte, »Das kann ich mit meiner Religion nicht vereinbaren. Hast du Bier?«, und Bernie lachte, stieß ihn in den Arm und sagte: »Der gute alte Jackson.« Jackson glaubte nicht, dass er der gute alte Jackson war, er hatte sich mehrmals gehäutet (und sich mehrere neue Häute zugelegt), seitdem er Bernie das letzte Mal gesehen hatte, aber er sagte es nicht.

Jackson war nicht gut auf Partys. Er war unfähig zu Smalltalk. Hallo, ich heiße Jackson Brodie und war früher Polizist. Vielleicht hatte es tatsächlich etwas mit den Leben zu tun, die er gelebt hatte, zuerst Soldat und dann Polizist – beide Berufe begünstigten müßiges Geplauder nicht. Auf den ersten Blick wirkten die Menschen auf Bernies Party (Entschuldigung, Soirée) merkwürdig hohl, als wären sie angeheuert worden, um Feierlaune vorzuspielen. Jackson hielt sich am Rand der Versammlung auf wie ein Spätankömmling an einem Wasserloch, und fragte sich, wie lange er den Abend noch erdulden musste, bis er sich ruppig entschuldigen und gehen konnte.

Zu diesem Zeitpunkt tauchte Tessa neben ihm auf und flüsterte ihm ins Ohr: »Ist es nicht grässlich?« Jackson bemerkte erfreut nicht nur, dass sie ein schlichtes Leinenkleid trug, das im Kontrast zu der sonderbaren Kleidung einiger anderer Frauen noch attraktiver wirkte, sondern auch Sandalen mit niedrigen Absätzen, in denen sie leicht davonlaufen konnte. Sie rannte nicht, sondern blieb an seiner Seite. »Sie scheinen mir ein sicherer Hafen zu sein«, sagte sie.

Nach fünf Minuten aufgrund des Lärmpegels im Raum beschwerlicher Unterhaltung sagte er mutig zu ihr: »Wie wär’s, wenn wir hier verschwinden?« Und sie sagte: »Nichts lieber als das.« Sie gingen in eine Kneipe in Chelsea auf der anderen Seite des Flusses, nicht wirklich Jacksons Sorte von Kneipe, aber tausendmal besser als bei Bernie. Sie unterhielten sich bis zur Sperrstunde bei einer zivilisierten Flasche Cabernet Sauvignon, bis er sie zu Fuß bis zu ihrer Wohnung (»kleiner als eine Briefmarke«) in Covent Garden begleitete. Auf dem letzten Stück nahm er ihre Hand (»Schüchterne Jungs bringen’s nicht weit« – die Worte seines lange toten Bruders kamen ihm unerwartet in den Sinn), und vor ihrer Tür drückte er ihr einen festen, aber sittlichen Kuss auf die Wange und wurde dafür belohnt. »Sollen wir das wieder machen? Wie wär’s mit morgen?«, sagte sie.

Er hätte keine bessere Frau entwerfen können. Sie war fröhlich, optimistisch und lieb. Sie war lustig, manchmal sogar komisch und viel schlauer als er, aber im Gegensatz zu seinen früheren Frauen befand sie es nicht für nötig, es ihm ständig unter die Nase zu reiben. Sie war anmutig (»viel Ballett, als ich klein war«) und athletisch (»Tennis dito«), mochte Kinder und Tiere, war aber dabei nicht übermäßig sentimental. Sie liebte ihren Job, ließ sich von der Arbeit jedoch nicht überwältigen. Sie war fünfzehn Jahre jünger als er (»Du glücklicher Hund«, sagte Bernie, als er sich von Jackson »updaten« ließ), und hatte sich den glühenden Enthusiasmus der Jugend bewahrt und wirkte, als würde sie ihn nie verlieren. Sie hatte langes hellbraunes Haar mit einem dichten Pony, so dass sie aussah wie eine Schauspielerin oder ein Modell aus den sechziger Jahren (Jacksons bevorzugter Look bei Frauen). Sie war jemand, um den man sich nicht kümmern musste, der jedoch ungeheuchelt dankbar war, wenn man es tat. Sie konnte Auto fahren, kochen und sogar nähen, sie wusste, wie man einfache Reparaturen ausführte, war erstaunlich genügsam, konnte jedoch auch sehr großzügig sein (Beweis war die Breitling – ihr Hochzeitsgeschenk für ihn) und beherrschte mindestens zwei Beischlafpositionen, die Jackson noch nie zuvor ausprobiert hatte (von deren Existenz er nichts gewusst hatte, aber das behielt er für sich). Sie war, kurz gesagt, wie Gott Frauen geplant hatte.

Woher kannte sie jemanden wie Bernie? »Freund eines Freundes eines Freundes«, sagte sie vage. »Normalerweise gehe ich nicht auf Partys. Ich ende immer wie eine Stehlampe in einer Ecke. Ich kann nicht gut Smalltalk machen. Bis ich elf war, ging ich in eine Klosterschule, dort lernt man früh zu schweigen.« Jacksons Schwester Niamh war in eine Klosterschule gegangen. Mit dreizehn verkündete sie, dass sie Nonne werden wollte. Ihre Mutter, die zwar eine fromme irische Katholikin war, reagierte entsetzt. Sie hatte sich auf eine Zukunft gefreut, in der eine verheiratete Niamh kam und ging, Kinder im Schlepptau. Zu aller Erleichterung war Niamhs Begeisterung dafür, eine Braut Christi zu werden, von kurzer Dauer. Jackson war damals erst sechs, doch er wusste bereits, dass Nonnen ihr Leben eingesperrt und fern von ihren Familien verbringen, und die Vorstellung, dass ihm Niamh, die so voller Leben war, für immer genommen würde, ertrug er nicht.

Und dann passierte es doch.

Er spürte, wie seine Kopfschmerzen sich vermehrten, sich übereinander stapelten.

 

Als er wieder aufwachte, saß das Mädchen wieder da, blinzelte ihn an wie eine kleine Eule. Sie sprach Nonsens. »Dr. Foster ging nach Gloucester, nahm einen Weg quer durchs Tal.«

Im Flur hörte Jackson Kinderstimmen ziemlich schlecht Weihnachtslieder singen. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass sein Zimmer halbherzig mit grellem Weihnachtsschmuck dekoriert war. Er hatte Weihnachten ganz vergessen. Er fragte sich, ob das Mädchen etwas mit dem Kinderchor zu tun hatte. Sie sah so alt aus wie Marlee und betrachtete ihn konzentriert, als erwartete sie etwas Außergewöhnliches von ihm.

»Sie haben gesagt, dass Sie Soldat waren«, sagte sie.

»Das ist lange her.«

»Die Schwester hat gesagt, dass sie deswegen Ihre Blutgruppe wussten.«

»Ja.« Seine Stimme krächzte noch immer. Er war eine schwache Version seiner selbst, ein fehlerbehafteter Klon, alles funktionierte, aber nicht ganz richtig.

»Mein Vater war Soldat.«

Er kämpfte sich in eine sitzende Position, und sie half ihm mit den Kissen. »Ja? In welchem Regiment?«, fragte er und ließ sich erstaunlich bereitwillig auf dieses angenehme Thema ein.

»Royal Scots«, sagte sie.

»Warst du gestern auch hier?«, sagte er. »Der Tag vor heute«, stellte er klar. Er freute sich, dass er mit der Zeit allmählich wieder zurechtkam. Gestern, heute, morgen, so funktionierte das, ein Tag nach dem nächsten. Morgen, und morgen, und dann wieder morgen. Julia hatte im Birmingham Repertory Theatre eine wahnsinnige, blutrünstige Lady Macbeth gespielt. »Sie spielt mal wieder mit ihrem Haar«, schnaubte Amelia auf dem Sitz neben ihm. Jackson fand sie gut, jedenfalls besser, als er erwartet hatte.

»Nein«, sagte sie. »Ich habe Sie gerade erst gefunden.«

Er fragte sich, ob sie freiwillig Leute besuchte, die sonst niemanden hatten (denn offenbar hatte er niemanden), im Gefängnis zum Beispiel. Vielleicht hatte die Armee sie geschickt, wie ein Carepaket.

»Sie wären verblutet«, sagte sie. Sie schien sich sehr für sein Blut zu interessieren. In seinen Adern floss das Blut von Fremden, er fragte sich, ob das Auswirkungen hatte. Hatte er seine Immunität gegen Masern verloren? Hatte er eine Prädisposition für etwas anderes erworben? (Etwas, was im Blut lag.) Hatte er die DNS von Fremden in sich? Es gab eine Menge unbeantworteter Fragen rund um seine Transfusionen. War das Mädchen eine Blutspenderin? Sie war bestimmt zu jung dafür.

»Exsanguiniert«, sagte sie unter gewissenhafter Betonung jeder Silbe.

»Genau.«

»Exsanguiniert«, wiederholte sie. »Sangria hat dieselbe Wurzel, lateinisch für Blut. Blutroter Wein. Weindunkle See.«

»Kenne ich dich?«, fragte Jackson. Vielleicht war sie auch eine Überlebende des Zugunglücks. Sie hatte eine hässliche Beule auf der Stirn.

»Nicht wirklich«, sagte sie. Keine sehr hilfreiche Antwort. »Essen Sie den Toast?«, fragte sie und blickte zu dem unappetitlichen Essen, das noch immer vor ihm stand.

»Iss, so viel du willst«, sagte Jackson und schob ihr das Tablett hin. »Kennen wir uns?«, hakte er nach.

»Auf gewisse Weise«, sagte sie mit dem Mund voller Toast.

Die Kopfschmerzen, die er beim Erwachen erfreulicherweise nicht gehabt hatte, setzten pochend wieder ein.

»Sie erinnern sich nicht an mich, oder?«, sagte sie.

»Tut mir leid, nein. Im Augenblick erinnere ich mich an vieles nicht. Erzählst du es mir, oder muss ich raten? Ich glaube nicht, dass ich die Kraft zum Raten habe.«

»Sie würden’s nicht erraten. Sie würden ewig brauchen.« Diese Vorstellung schien ihr zu gefallen. Sie machte eine dramatische kleine Pause beim Kauen und sagte: »Ich habe Ihnen das Leben gerettet.«

Ich habe Ihnen das Leben gerettet. Was sollte das heißen? Er verstand es nicht. »Wie?«

»Mund-zu-Mund-Beatmung. Arterienkompresse. Beim Zugunglück. Neben dem Gleis.«

»Du hast mir das Leben gerettet«, sagte er.

»Ja.«

Endlich begriff er. »Du bist die Person, die mir das Leben gerettet hat.«

»Ja.« Sie kicherte über seine Begriffsstutzigkeit. Er stellte fest, dass er grinste, er konnte überhaupt nicht mehr aufhören zu grinsen. Er war seltsam dankbar, dass ihm ein kicherndes Kind und nicht ein stämmiger Sanitäter das Leben gerettet hatte.

»Sie haben auch ihren Teil geleistet«, sagte sie. »Aber ich habe Sie am Anfang gerettet.«

Sie hatte ihm Leben eingehaucht, buchstäblich. Sein Atem war ihrer. Da machte Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. Mehr auswendig Gelerntes von einem trüben Ort in seiner spirituellen Vergangenheit.

Was um alles in der Welt sollte er zu ihr sagen? Es dauerte eine Weile, aber schließlich fiel es Jackson ein.

»Danke«, sagte er. Er grinste immer noch.

»Und die Cornflakes? Essen Sie die?«

 

 

»Technisch gesprochen, gehören Sie mir.«

»Wie bitte?« Sie hieß Reggie. Ein Männername.

»Sie sind mein Leibeigener.« Sie schien entzückt von dem Wort »Leibeigener«. »Sie können sich nur durch Reziprozität befreien.«

»Reziprozität?«

»Wenn Sie mir das Leben retten.« Sie lächelte ihn an, und ihr kleines Gesicht strahlte. »Und bis dahin bin ich für Sie verantwortlich.«

»Bis dahin?«

»Bis Sie mir das Leben retten. Amerikanische Indianer glauben das. Ich habe es in einem Buch gelesen.«

»Bücher sind nicht, was daraus gemacht wird«, sagte Jackson. »Wie alt bist du?«

»Älter, als ich aussehe. Glauben Sie mir.«

Was meinte sie damit, dass er ihr gehörte? Vielleicht hatte er seine Seele doch verpfändet, nicht an den Teufel, sondern an dieses komische kleine schottische Mädchen.

Dr. Foster steckte den Kopf zur Tür herein, sah das Mädchen an, runzelte die Stirn und sagte: »Sprich nicht zu lange mit ihm, es macht ihn müde. Noch fünf Minuten.« Sie hob in einer emphatischen Geste die Hand, als müssten sie ihre Finger zählen, um zu wissen, was fünf war.

»Hast du mich verstanden?«, wandte sie sich ausdrücklich an Reggie.

»Total«, sagte das Mädchen. Zu Jackson sagte sie: »Ich muss sowieso gehen. Draußen wartet ein Hund auf mich. Ich komme wieder.«

 

Jackson merkte, dass es ihm viel besser ging. Er war gerettet worden. Er war für die Zukunft gerettet worden. Seine Zukunft.

Wenn man eine Zukunft hatte, konnten sich zwei Krankenschwestern zusammenrotten und einem ohne Betäubung, ja ohne Vorwarnung, den Katheter entfernen und einen zwingen, aus dem Bett aufzustehen und in einem dünnen, hinten offenen Krankenhaushemd auf die Toilette zu hoppeln, wo sie einen aufforderten, »allein zu pinkeln«. Jackson hatte nicht gewusst, dass eine grundlegende Körperfunktion so schmerzhaft und gleichzeitig so befriedigend sein konnte. Ich pinkle, also bin ich.

Er würde von nun an alles anders sehen. Das Wiedergeburtsding entfaltete seine Wirkung. Er war ein neuer Jackson. Halleluja.