Entrückungsreif
Alle ignorierten geflissentlich den betrunkenen Mann, der vollkommen reglos auf dem Boden lag, und Jackson hatte Gewissensbisse. Er hatte einmal jemanden verhaftet wegen Trunkenheit und Ruhestörung, doch der Mann hatte aufgrund einer Gehirnerschütterung eine Gehirnblutung und wäre in der Arrestzelle beinahe gestorben. Das hatte er nicht vergessen, und er kniete sich hin, um die liegende Gestalt auf dem Abteilboden zu inspizieren.
Seine Stellung gestattete ihm einen Blick aus der Nähe auf die Füße der Frau in Rot, die in einem Paar grausam hoher Stöckelschuhe steckten, Schuhe, die halb Fetisch, halb Waffe waren. Eine Todesfee von Frau hatte ihn einmal mit dem Absatz ihres Schuhs attackiert, als er versuchte, einen außer Kontrolle geratenen weiblichen Polterabend aufzulösen, und dem Ausdruck »Killer Heels« eine ganz neue Bedeutung verliehen. Die Mutter der Braut, so glaubte er sich zu erinnern, war die Besitzerin des Schuhs gewesen. Er versuchte sich daran zu erinnern, in welcher Kneipe in Cambridge das gewesen war, während er gleichzeitig die Lebenszeichen des betrunkenen Mannes überprüfte (wer behauptete, Männer wären nicht in der Lage, gleichzeitig mehrere Dinge zu tun?), als der Zug einen Satz machte und dann in rascher Folge noch mehr Sätze, jeder schlimmer als der vorherige. Der Zug beschleunigte, was unter den gegebenen Umständen nicht angebracht schien. Es roch nach Verbranntem – Gummi und etwas unangenehm Chemisches –, begleitet von einem lauten kreischenden Geräusch, als würde Metall über Metall kratzen. Jackson spürte, wie der Zug schwankte, als versuchte er, das Gleichgewicht zu bewahren.
O Gott, das war’s, dachte er. Dieser Zug fuhr nicht nach London, nicht in die Herrlichkeit, er fuhr in die Hölle.
Die Leute schrien, einschließlich der Frau in Rot. Jackson wollte die Hand ausstrecken, um sie zu beruhigen (oder sie zumindest zu veranlassen, mit dem Schreien aufzuhören), aber der Waggon neigte sich zur Seite, und sie rutschte außer Sichtweite.
Jackson hoffte, dass sich Engel in der Fahrerkabine befanden, er hoffte, dass der Lokomotivführer kaum atmen konnte vor Flügelfedern in der Luft und dass ihm Gabriel höchstpersönlich zur Seite stand. Unnötig zu erwähnen, dass Jackson nicht an Engel glaubte, aber in extremis war er stets willens, an alles zu glauben. Ja, er hoffte, dass der berüchtigte Landstreicher, der Angel of the North, in Gateshead zugestiegen war und jetzt seine rostige Herde auf den Schienen hielt.
Das Lied »Jesus Take the Wheel« ging ihm durch den Kopf, und er dachte, dass er nicht ganz so weit gehen würde, aber er hätte nichts dagegen, wenn die Jungfrau Maria den Fuß von der Totmannschaltung nehmen und den Zug abbremsen würde.
Der Waggon richtete sich plötzlich wieder auf, und Jackson war gerade zu dem Schluss gekommen, dass alles wieder in Ordnung käme, als er sich erneut schräg legte, doch diesmal legte er sich um neunzig Grad auf die Seite. Der Zug endet in Waverley, hatte die alte Frau gesagt, aber sie hatte sich getäuscht. Er endete hier.
Gegen einen entgleisenden Zug kann man sich nicht wehren. Menschen und Gepäck flogen ohne Unterschied in einem grotesken Durcheinander herum, beleuchtet nur von funkensprühendem Metall und dem gelegentlichen unangenehmen Licht, das etwas kurzgeschlossenes Elektrisches über ihren Köpfen erzeugte. Instinktiv versuchte Jackson den betrunkenen Mann zu schützen, indem er sich auf ihn warf. Hätte die Zeit für eine wohlüberlegte Entscheidung gereicht, hätte er eine andere Person gerettet (Babys, Kinder, Frauen, Tiere, in dieser Reihenfolge). Aber es spielte keine Rolle, weil ein entgleisender Zug die Wahl, wohin man sich wandte oder was man tat, deutlich einschränkte. Und sich irgendwo festzuhalten war sinnlos, wenn sich alles in einem desaströsen, chaotischen freien Fall befand. Der Krach war furchterregend, schlimmer als alles, was er bislang (sogar im Krieg) erlebt hatte, und er schien nicht zu enden, während der Zug oder zumindest der Waggon, in dem sie sich befanden, auf der Seite weiterrutschte. Er nahm an, dass sich die Zeit wie bei allen Unfällen dehnte, aber wie lange konnte es so weitergehen? Was, wenn der Zug immer weiterfuhr? Was, wenn das die Hölle war? War er tot? Tat alles so weh, wenn man tot war?
Schließlich stoppte er. Es war stockdunkel, und eine Sekunde lang war es totenstill, als wäre die Zeit stehengeblieben. Einen unheimlichen Augenblick lang fragte sich Jackson, ob alle anderen tot waren. Dann begannen die Leute zu weinen, zu stöhnen und laut zu schreien. War das vielleicht die Hölle? Dunkelheit, Brandgeruch, Kinder, die nach ihren Müttern riefen, Mütter, die nach ihren Kindern riefen, allgemeines Wehklagen und Weinen. Nach Jacksons Ansicht konnte man der Hölle nicht viel näher kommen.
Jemand in der Nähe wimmerte wie ein Hund, der Schmerzen hatte. Eine Frau, sie klang wie die Frau in Rot, sagte immer wieder »Nein«. Ein Handy klingelte, der Klingelton war unpassenderweise die Erkennungsmelodie von High Chaparral. Eine Männerstimme murmelte: »Hilfe, bitte, hilft mir jemand.« Jackson, der Hirtenhund, reagierte immer wie ein Pawlowscher Hund auf Hilferufe, doch er begriff nicht, aus welcher Richtung die Worte kamen – es gab kein Oben und Unten, kein Vorne oder Hinten mehr. Er spürte etwas Warmes, Nasses, das vielleicht Blut war, aber er hatte keine Ahnung, ob sein eigenes oder fremdes. Er war von dunklen Formen umgeben, die Koffer oder Körper sein konnten, unmöglich zu sagen. Überall um ihn herum waren Glasscherben, und als er sich vorsichtig bewegte, hörte er einen leisen Schmerzensschrei. »Entschuldigung«, murmelte er.
Er versuchte, sich im Abteil zu orientieren. Er war sich ziemlich sicher, dass der Waggon nur zur Seite gestürzt war, deswegen sollten Fenster sein, wo das Dach gewesen war. Der Brandgeruch wurde stärker, es gab keine Notbeleuchtung, aber in der Ferne sah er ein mattes Glühen, das nichts Gutes verhieß, und es stank nach einem elektrischen Feuer. Der Zug musste in null Komma nichts evakuiert werden.
Er beschloss, sich dorthin zu manövrieren, wo er glaubte, dass das Dach war (mehrere »Entschuldigung« im Schlepptau), weil er meinte, sich von dort besser zu einem Fenster hochhieven zu können.
»Helfen Sie mir«, sagte die Stimme wieder, und Jackson wurde klar, dass sie jemandem gehörte, über den er kletterte. O Gott. Steig über Sitze, steig über Menschen, vergiss alles, was dir deine Mutter über Manieren beigebracht hat, aber so funktionierte es in Wirklichkeit nicht. (In der anderen Zeitdimension, in der er existierte, in der das Leben normal weiterging und er nicht jeden Augenblick damit rechnete zu sterben, wollte er sich setzen und der Nachwelt, das heißt Marlee, eine Notiz hinterlassen: Du wirst anderen helfen wollen. Tu’s nicht.)
Jackson verlagerte so weit wie möglich das Gewicht. »Okay, Kumpel«, sagte er, ein verletzter Soldat zum anderen. »Ich bring dich hier raus.« Niemanden zurücklassen. Er tastete vorsichtig, schob die Arme um den Brustkorb des Mannes, als wollte er ihn vorm Ertrinken retten, ihn ans Ufer ziehen. Er hievte und zerrte ihn dahin, wo er glaubte, dass das Dach war. Hätte er logisch gedacht, hätte er in Betracht gezogen, dass es das Risiko einer Rückgratsverletzung barg, wenn man jemanden wie einen Sack Kohlen schleppte, aber im Chaos gibt es keine Logik. Einer nach dem anderen, dachte er. Ich hole sie einen nach dem anderen raus.
Und dann, ohne Vorwarnung, fielen sie beide ins Nichts. Jackson klammerte sich an den Mann, tanzte mit ihm einen verrückten Walzer in den Abgrund, Butch und Sundance, die über die Klippe stürzten. Ein Teil von Jacksons Gehirn dachte, Was zum Teufel?, während ein anderer sich fragte, wo sie aufschlagen würden. Ein weiterer paranoiderer Teil seines Gehirns sorgte sich, dass sie überhaupt nicht aufschlagen würden. Ich bin nicht außerhalb, dies hier ist Hölle. (Und er verfluchte Julia, weil sie im unpassenden Moment zitierte.)
Dann war es vorbei. Sie landeten mit einem Übelkeit erregenden dumpfen Aufprall, Fallschirmspringer ohne Fallschirm, und rollten eine steile Böschung hinunter, bevor sie endgültig liegen blieben. Er schlug sich den Kopf so fest an, dass ihm vor Schmerz fast schlecht wurde. Er lag auf dem Rücken, versuchte zu atmen, manchmal war atmen alles, was man zustande brachte. Manchmal reichte atmen. Er erinnerte sich, wie er nach dem Showdown mit dem Schaf am Nachmittag (wirklich erst an diesem Nachmittag?) auf der Straße gelegen und zum bleichen Himmel emporgeblickt hatte. Es gab Tage, deren Verlauf einen wirklich überraschte.
Der Regen, der auf sein Gesicht fiel, belebte ihn etwas, und er kämpfte sich in eine sitzende Position. Er zitterte vor Kälte und dem einsetzenden Schock. Irgendwo waren Lichter, und ihm wurde klar, dass sie nicht mitten im Nirgendwo waren, neben dem Gleis standen Häuser, und er hörte Stimmen, als die ersten Leute zum Unfallort kamen, Zivilisten, keine Profis, er hörte ihre Verwirrung, als sie auf eine ganz neue Definition von Alptraum trafen.
Jackson begriff jetzt, was passiert war. Er hatte versucht, das Dach des Waggons zu finden, aber da war kein Dach mehr – es war abgerissen wie der Deckel einer Sardinendose, und Jackson und sein unglücklicher Gefährte waren aus dem Zug und eine Böschung hinunter gefallen und in einem Graben gelandet. Der Mann (Helfen Sie mir) lag in ein paar Meter Entfernung reglos da, das Gesicht im Dreck. Jackson schleppte sich zu ihm. Er hatte nicht die Kraft, ihn umzudrehen, er schien sich beim Sturz den Arm verletzt zu haben, doch er drehte sein Gesicht zur Seite, damit er nicht erstickte. Der Bruder seines Großvaters fiel ihm ein, gestorben an der Somme, im Schlamm erstickt in Passchendaele.
Oben auf der Böschung tauchte ein Licht auf, eine Taschenlampe, die genügend Licht warf, damit Jackson das Gesicht seines Gefährten sehen konnte. Aus irgendeinem Grund hatte er angenommen, dass es entweder der junge Betrunkene oder der schlaffe Anzug war, und er war überrascht, als er einen der Soldaten wiedererkannte. Er schien ziemlich tot. Überlebe einen Krieg, in dem der Tod hinter jeder Ecke lauert, und stürze dann aus einem Zug der East-Coast-Linie.
Jackson hatte angenommen, dass die Taschenlampe Rettung signalisierte, aber das Licht verschwand so schnell wieder, wie es aufgetaucht war, und Jackson rief »He«, seine Stimme ein heiseres Krächzen. Er versuchte die Böschung hinaufzuklettern. Er musste mehr Leute aus dem Zug holen. Vorzugsweise Leute, die noch am Leben waren. Auf halber Höhe musste er innehalten, plötzlich war alle Kraft aus ihm gewichen. Irgendetwas stimmte nicht, er war irgendwie verletzt, aber er wusste nicht, wo. Ihm dämmerte ganz unerwartet, dass es schlimm war. Kampfverletzung. Er musste aus medizinischen Gründen vom Schlachtfeld gebracht werden. Er rutschte die Böschung wieder hinunter.
Er spürte, wie seine Lebensgeister nachließen. Bei den wenigen früheren Gelegenheiten, als Jackson dem Tod ins Gesicht gesehen hatte, hatte er sich ans Leben geklammert, weil er sich für zu jung zum Sterben hielt. Jetzt ging ihm auf, dass das nicht mehr wirklich der Fall war, er fühlte sich alt genug dafür.
Ich schneide dir zulieb in meinen Arm, mit meinem Blut verschreibe meine Seele ich dem Satan. Er würde sich zu Tode zitieren, wenn er nicht aufpasste. O Gott, sein Arm blutete wirklich, pumpte das Zeug raus, als gäbe es kein Morgen. Es gäbe kein Morgen, oder? Er war schließlich doch von der Straße abgekommen. Du bist weit weg von zu Hause, Jackson, dachte er.
Er schloss die Augen, wenn er eine Minute schlafen könnte, schaffte er es doch bis nach oben. Eine lästige leise Stimme in seinem Kopf versuchte, ihn daran zu erinnern, dass es vielleicht der große, der letzte Schlaf wäre, wenn er jetzt schliefe. Er wog diesen Gedanken kurz ab und beschloss, dass es ihm gleichgültig wäre, wenn er nicht mehr aufwachte. Er war überrascht, er hatte damit gerechnet, dass er am Ende kämpfen würde, aber es war eine Erleichterung, die Augen zu schließen.
Er war so müde. Seine Gedanken kehrten kurz zu der im Tal schlendernden Frau zurück. Er hatte um ihre Sicherheit gefürchtet, als er sich Sorgen um sich selbst hätte machen sollen. So endete also die Welt. Diese eine Nacht, diese eine Nacht, alle und jede Nacht, Feuer und Sturm und Kerzenlicht, und Christus empfang deine Seele. Oder der Teufel. Er würde es vermutlich bald herausfinden. Er mühte sich, die rätselhafte schlendernde Frau aus seinen Gedanken zu verscheuchen und statt ihrer Marlees Gesicht zu sehen (Vermisse Dich! Liebe Dich!) Er wollte, dass ihr Gesicht das Letzte wäre, was er sah, bevor er in den schwarzen Tunnel ging.