Die Hunde, die sie zurückließen
Was meinte er damit, dass sie fort war? Fort? Fort wohin? Und warum? Um eine alte Tante zu besuchen, die krank ist, sagte er. Sie hatte nie erwähnt, dass sie eine Tante hatte, geschweige denn eine kranke Tante.
»Sie ist gerade erst krank geworden«, sagte Mr. Hunter ungeduldig, als wäre ihm Reggie lästig, als wäre sie es gewesen, die ihn um halb sieben Uhr morgens anrief. Vom Schlaf benommen, begriff sie nicht, warum Mr. Hunter am anderen Ende der Leitung sagte: »Du brauchst heute nicht zu kommen.« Einen Augenblick lang dachte Reggie, dass es etwas mit dem entgleisten Zug zu tun hatte, und dann – schlimmer –, dass Dr. Hunter und dem Baby etwas zugestoßen war – oder, am schlimmsten, dass Dr. Hunter und das Baby irgendwie von dem Zugunglück betroffen waren. Aber nein, er rief zu dieser unmenschlichen Stunde an, um ihr etwas von einer kranken Tante zu erzählen.
»Was für eine Tante?«, wunderte sich Reggie. »Sie hat nie eine Tante erwähnt.«
»Ich glaube nicht, dass Jo dir alles erzählt«, sagte Mr. Hunter.
»Es ist also alles in Ordnung mit Dr. Hunter und dem Baby?«, sagte Reggie. »Sie sind nicht krank oder so?«
»Natürlich nicht«, sagte Mr. Hunter. »Warum sollten sie krank sein?«
»Wann ist Dr. Hunter weg?«
»Sie ist gestern Abend runtergefahren.«
»Runter?«
»Nach Yorkshire.«
»Wo in Yorkshire?«
»Hawes, wenn du es genau wissen willst.«
»Haus?«
»H-a-w-e-s. Können wir jetzt mit der Fragerei aufhören? Mach ein bisschen Ferien, Reggie. Jo kommt in ein paar Tagen zurück. Dann wird sie sich bei dir melden.«
Warum hatte Dr. Hunter sie nicht angerufen, das war die Frage. Dr. Hunter hatte immer ihr Handy dabei, sie nannte es ihre »Rettungsleine«. Sie benutzte es fortwährend – das Telefon im Haus »gehörte Neil«, sagte sie immer. Aber vielleicht musste sie in zu großer Eile zu dieser mysteriösen Tante fahren, um anzuhalten und Reggie anzurufen. Andererseits war Dr. Hunter nicht die Sorte Person, die nicht anrief. Reggie kam sich vernachlässigt vor, ein bisschen wie ein Dienstmädchen. Wann war sie fort? »Gestern Abend«, sagte Mr. Hunter.
Es musste stockdunkel gewesen sein, als sie aufbrach. Reggie stellte sich vor, wie Dr. Hunter durch die Nacht und den Regen pflügte, das Baby schlief hinten im Kindersitz oder lenkte wach und quengelnd Dr. Hunter von der Straße ab, während sie in der Babytasche nach einem Keks kramte, um es zu beruhigen, und die Greatest Hits der Tweenies (die Lieblingslieder des Babys) das potenzielle Unfallrisiko weiter erhöhten. Es war merkwürdig, dass Dr. Hunter nach Yorkshire gefahren war, während zur gleichen Zeit der Zug, von Yorkshire kommend, in die Katastrophe, in Reggies Leben fuhr.
Reggie hatte eine Tante in Australien – die Schwester ihrer Mutter, Linda. »Wir standen uns nie nahe, Linda und ich«, sagte Reggies Mutter. Nach Mums Tod musste Reggie einen verlegenen Anruf von Linda über sich ergehen lassen. »Wir standen uns nie nahe, deine Mum und ich«, wiederholte Linda. »Aber mein Beileid für deinen Verlust«, als wäre es nicht auch ihr Verlust, sondern allein Reggies. Vor dem Anruf hatte Reggie sich gefragt, ob Linda sie nach Australien einladen würde, um dort zu leben oder zumindest ein paar Wochen Ferien zu machen (Oh, du armes Kind, komm her, ich werde mich deiner annehmen), aber an diese Möglichkeit hatte Linda eindeutig nicht gedacht (»Also, pass gut auf dich auf, Regina«).
Der Tag erstreckte sich plötzlich leer vor ihr. »Eine Weile freizuhaben wird dir Spaß machen«, sagte Mr. Hunter, aber es machte ihr überhaupt keinen Spaß, Reggie wollte nicht freihaben. Sie wollte Dr. Hunter und das Baby sehen, sie wollte Dr. Hunter von den Ereignissen der letzten Nacht erzählen – vom entgleisten Zug, von Ms MacDonald und dem Mann. Vor allem von dem Mann, wenn man darüber nachdachte, verdankte der Mann sein Leben (falls er noch am Leben war) nicht wirklich Reggie, sondern Dr. Hunter.
Die ganze Nacht – oder das wenige, was noch übrig war, als sie ins Bett ging – wälzte sich Reggie ruhelos in der unvertrauten Umgebung von Ms MacDonalds Gästezimmer, rekapitulierte die Ereignisse der Nacht und platzte nahezu vor Aufregung bei der Vorstellung, sie Dr. Hunter zu erzählen. Na ja, Aufregung war vielleicht das falsche Wort, schreckliche Dinge waren auf dem Gleis passiert, aber Reggie war beteiligt gewesen, eine Augenzeugin und eine Betroffene. Leute, die sie kannte, waren gestorben. Leute, die sie nicht kannte, waren gestorben. Drama – das war ein besseres Wort. Und sie musste jemandem von dem Drama erzählen. Genauer gesagt, sie musste Dr. Hunter davon erzählen, weil Dr. Hunter die einzige Person war, die sich nach Mums Tod für ihr Leben interessierte.
Dr. Hunter hätte sie in die Küche geführt, die Kaffeemaschine eingeschaltet, Reggie aufgefordert, sich an den schönen großen Holztisch zu setzen, und erst dann, wenn Becher mit Kaffee und ein Teller mit Schokoladenkeksen vor ihnen gestanden hätten (strenge Regel des Hauses, Reggie), hätte Dr. Hunter sie gespannt angesehen und gesagt: »Also gut, Reggie, erzähl mir alles«, und Reggie hätte tief Luft geholt und gesagt: »Haben Sie von dem Zugunglück gestern Abend gehört? Ich war dort.«
Und jetzt hatte sie wegen einer Tante, einer Tante, die in H-a-w-e-s lebte, niemanden, dem sie es erzählen konnte. Andererseits wäre Dr. Hunter natürlich schon in der Arbeit gewesen, wenn Reggie gekommen wäre, und es wäre nur Mr. Hunter da gewesen (Was ist deine Geschichte, Reggie?), der bestenfalls ein unzulänglicher Zuhörer war.
Reggie ging hinunter in Ms MacDonalds Küche, schaltete den Wasserkessel ein und löffelte Instantkaffee in einen »Ich glaube an Engel«-Becher. Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, schob sie ihre widerlichen Kleider von letzter Nacht in die Waschmaschine, danach nahm sie alte Weißbrotscheiben aus dem Brotkasten, machte einen Jenga-Turm aus Toast und Marmelade und schaltete gerade rechtzeitig den Fernseher ein, um die Sieben-Uhr-Nachrichten auf GMTV zu sehen.
»Fünfzehn Personen tot, vier in kritischem Zustand, viele Schwerverletzte«, sagte die Nachrichtensprecherin mit ihrer besten ernsten Miene. Dann übergab sie an den Reporter, der »live vor Ort« war. Der Mann trug einen Trenchcoat, hielt ein Mikrofon in der Hand und versuchte nicht so auszusehen, als würde er gleich erfrieren, als wäre er nicht durch die Nacht gerast wie ein Ghul, um nach Schottland zu gelangen, Unmengen Adrenalin im Blut angesichts der Katastrophe. »Während es hier hell wird, können Sie hinter mir einen Ort absoluter Verwüstung sehen«, intonierte er feierlich. Am unteren Rand des Bildschirms stand »Zugunglück in Musselburgh«.
Im Hintergrund, der von Bogenlampen erhellt wurde, bewegten sich Menschen in fluoreszierenden gelben Jacken durch die Wrackteile. »Das erste schwere Gerät trifft ein«, sagte der Reporter, »während die Ermittlungen der Unfallursache beginnen.« Die Geräusche hochtouriger Motoren und rasselnder Maschinen waren die gleichen, die Reggie in Ms MacDonalds Wohnzimmer hören konnte. Wenn sie sich am Schlafzimmerfenster auf die Zehenspitzen stellte, könnte sie wahrscheinlich den Reporter sehen.
Nach Mums Tod kam eine Journalistin in die Wohnung. Sie war wesentlich nachlässiger gekleidet und weniger forsch als die Journalistinnen, die man im Fernsehen sah. Sie hatte einen Fotografen dabei, »Dave«, sagte die Frau und deutete auf einen Mann, der im Treppenhaus lauerte, als wartete er auf das Stichwort, um die Bühne zu betreten. Er winkte Reggie verlegen zu, als könnte sogar er, ein in hundert örtlichen Tragödien der einen oder anderen Art kampferprobter Veteran, verstehen, warum ein Mädchen, das gerade seine Mutter verloren hatte, um acht Uhr morgens mit vom Weinen geröteten Augen nicht fotografiert werden wollte. »Verpissen Sie sich«, sagte Reggie und knallte der Journalistin die Tür vor der Nase zu. Mum wäre über ihre Ausdrucksweise entsetzt gewesen. Sie war selbst ziemlich entsetzt.
Die Journalistin schrieb die Meldung trotzdem. »Frau aus Edinburgh ertrinkt in spanischem Swimmingpool. Tochter zu mitgenommen, um Stellung zu nehmen.«
Banjo, der neben ihr auf dem Sofa lag wie ein geplatztes Kissen, wimmerte im Schlaf, seine Pfoten bewegten sich, als würde er im Traum Kaninchen jagen. Er hatte letzte Nacht nicht aufwachen wollen, hatte sich für nichts interessiert, und Reggie hatte ihn aufs Sofa gelegt, ihn mit einer Decke zugedeckt und selbst – weil sie ihn wohl kaum allein lassen konnte – in Ms MacDonalds ungastlichem Gästezimmer zwischen Laken aus Nylon-Velours unter einem dünnen, etwas feuchten Daunenbett geschlafen.
Zu Hause schlief Reggie jetzt in Mums Doppelbett, mit vielen daunenweichen Kissen, bezogen mit den rosa Laken mit Lochstickerei, die Mum am besten gefallen hatten, gereinigt von allen Spuren von Garys verschwitztem, haarigem Motorradfahrerkörper.
Vor Spanien hatte Reggie in dem Bett auf der anderen Seite der Wand gelegen, drei Kissen auf dem Kopf, um das kaum gedämpfte Gelächter und Knarren in Mums Zimmer nicht zu hören. Es war unglaublich peinlich gewesen. Keine Mutter sollte ihre jugendliche Tochter dem aussetzen.
Wenn sie im Dunkeln in Mums Bett lag, war es angenehm, dass draußen die Straßenlampe tröstlich brannte wie ein großes orangefarbenes Nachtlicht. Reggie hatte nur das Bett in Besitz genommen, weil ihr eigenes Schlafzimmer eine fensterlose Abstellkammer war. Der Rest des Zimmers gehörte noch Mum, ihre Kleider hingen im Schrank, ihre Kosmetiksachen standen auf dem Frisiertisch, ihre Hausschuhe unter dem Bett, wo sie geduldig auf ihre Füße warteten. Neues Glück von Danielle Steel lag noch auf dem Nachttisch, die Ecke von Seite 251 umgeknickt, wo Mum aufgehört hatte zu lesen, als sie nach Spanien flog. Reggie konnte es nicht von seinem letzten Ruheplatz entfernen. Mum hatte keine Bücher in den Urlaub mitgenommen. »Ich werde vermutlich keine Zeit zum Lesen haben«, sagte sie kichernd.
Mary, Trish und Jean hatten es aufgegeben, Reggie davon überzeugen zu wollen, Mums Sachen wegzugeben – sie hatten angeboten, alles einzupacken und »es loszuwerden«, aber Reggie kaufte selbst in Läden der Wohlfahrt und stellte sich vor, alte Taschenbücher und altdamenhaftes Porzellan durchzusehen und einen von Mums Röcken oder ein Paar ihrer Schuhe zu finden. Noch schlimmer – eine vollkommen fremde Person durchwühlte Mums Sachen. Wir gehen und lassen nichts zurück, sagte Dr. Hunter, aber das stimmte nicht, Mum hatte eine Menge zurückgelassen.
Banjo gab plötzlich einen merkwürdigen ächzenden Laut von sich, wie ihn Reggie nie zuvor gehört hatte. Die Telefonnummer des Tierarztes, geschrieben mit schwarzem Filzstift, klebte an der Wand neben dem Telefon. Reggie hoffte, dass nicht sie ihn würde rufen müssen. Sie streichelte gedankenverloren über den Kopf des Hundes, während sie ihren Toast aufaß. Sie hatte noch immer Heißhunger, als hätte sie mehrere Mahlzeiten ausgelassen. Es schien in einem anderen Leben gewesen zu sein, als sie mit Ms MacDonald am Esstisch saß und ihre »speziellen« Spaghetti aß. Reggie hatte bei dem Gedanken an Ms MacDonald ein flaues Gefühl im Magen. Sie würde nie wieder an dem Tisch sitzen, nie wieder Spaghetti essen, nie wieder überhaupt etwas essen. Sie hatte ihr letztes Abendmahl zu sich genommen.
Der Mann vor Ort sprach noch immer. »Die Aussagen, was genau gestern Abend hier geschehen ist, gehen auseinander, und die Polizei hat bislang weder bestätigt noch dementiert, dass zum Zeitpunkt des Unglücks ein paar hundert Meter von hier ein Auto auf den Schienen stand.« Auf dem Bildschirm tauchte das Bild von einer Brücke über dem Gleis auf. Ein Auto war offenbar von der Straße abgekommen, hatte die Mauer der Brücke durchbrochen und war auf die Schienen darunter gestürzt.
Der Reporter sagte nicht, dass der Wagen ein blauer Citroën Saxo gewesen war oder dass sich Ms MacDonald darin befunden hatte, mausetot. Die Fakten waren noch nicht bekannt gegeben worden, nur Reggie wusste es, weil die Polizei letzte Nacht ins Haus kam, nachdem Reggie vom Unglücksort zurückgekehrt war, und ihr eine Menge Fragen zur »Bewohnerin des Hauses« stellte – wo war sie und wann erwartete Reggie sie zurück? Es waren zwei uniformierte Polizisten, einer mit rotem Gesicht und in mittleren Jahren (»Wachtmeister Bob Wiseman«), der andere ein Inder, klein, gut aussehend, jung und offenbar namenlos.
Sie hatten etwas missverstanden und hielten Reggie für Ms MacDonalds Tochter. (»Hat dich deine Mutter allein zu Hause gelassen?«) Der hübsche junge indische Polizist machte ihr eine Tasse Tee und reichte sie ihr nervös, als wäre er unsicher, was sie damit tun würde. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt schon Hunger und dachte an die Karamellwaffeln von Tunnock’s, die sie in diesem Moment mit Ms MacDonald hätte essen sollen. Sie nahm an, dass es unangemessen wäre, Kekse anzubieten, nachdem der ältere Polizist gerade zu ihr gesagt hatte: »Es tut mir wirklich leid, aber wir glauben, dass deine Mutter leider tot ist.«
Einen Augenblick lang war Reggie verwirrt, Mum war seit über einem Jahr tot, und es schien ein bisschen spät, ihr das jetzt erst mitzuteilen. Ihr Gehirn war Brei. Sie war vom Zugunglück zurückgekommen, nass bis auf die Haut und mit Erde, Schmutz und Blut besudelt. Das Blut des Mannes. Sie hatte sich ausgezogen und eine Ewigkeit unter Ms MacDonalds lauwarmer Dusche gestanden, bevor sie ihren lavendelfarbenen Fleecebademantel anzog, der etwas unangenehm roch und Flecken aufwies, wo Ms MacDonalds nächtliche Malzmilch heruntergetropft war. Draußen heulten noch immer Sirenen und flogen Hubschrauber.
Sie hatten den Mann mit einem Helikopter weggebracht. Reggie hatte zugesehen, wie er von einer Wiese neben dem Gleis abhob. »Das hast du gut gemacht«, sagte der Sanitäter zu ihr. »Jetzt hat er vielleicht noch eine Chance.«
»Sie ist nicht meine Mutter«, sagte Reggie zu dem älteren Polizisten.
»Wo ist denn deine Mutter, Kind?«, fragte er und blickte besorgt drein.
»Ich bin sechzehn«, sagte Reggie. »Ich bin kein Kind mehr, ich sehe für mein Alter nur jung aus. Dafür kann ich nichts.« Beide Polizisten betrachteten sie zweifelnd, sogar der attraktive Inder, der wie ein Sechstklässler aussah.
»Ich kann Ihnen meinen Ausweis zeigen, wenn Sie wollen. Und meine Mutter ist schon länger tot«, sagte Reggie. »Alle sind tot.«
»Nicht alle«, sagte der Inder, eher als wollte er eine Fehlinformation berichtigen, als dass er freundlich sein wollte. Reggie sah ihn stirnrunzelnd an. Sie wünschte, sie hätte nicht Ms MacDonalds schäbigen Bademantel an. Er sollte nicht denken, dass sie sich freiwillig so anzog.
»Wir geben diese Informationen noch nicht an die Presse«, sagte der ältere Polizist. Er kam ihr bekannt vor, Reggie meinte, dass er einmal auf der Suche nach Billy bei ihnen gewesen war.
»Okay«, sagte Reggie und versuchte sich auf das, was er sagte, zu konzentrieren. Sie war so müde, müde bis in die Knochen.
»Wir wissen nicht genau, was passiert ist«, sagte er. »Wir glauben, dass Mrs. MacDonald von der Straße abgekommen und auf das Gleis gestürzt ist. Du weißt nicht, ob sie in letzter Zeit unter Depressionen litt?«
»Msss MacDonald«, korrigierte Reggie ihn um Ms MacDonalds willen. »Sie meinen, sie hat sich umgebracht?« Reggie war geneigt, über diese Idee nachzudenken – Ms MacDonald starb schließlich und hatte vielleicht beschlossen, schnell zu gehen statt langsam –, bis ihr Banjo einfiel. Sie würde den Hund nie allein zurücklassen. Wenn Ms MacDonald Selbstmord begehen wollte, indem sie von einer Brücke fuhr und vor einem Schnellzug landete, hätte sie Banjo mitgenommen, auf dem Beifahrersitz des Saxo wie ein Maskottchen.
»Nee«, sagte Reggie. »Ms MacDonald war eine miserable Autofahrerin.« Sie fügte nicht hinzu, dass Ms MacDonald entrückungsreif war, dass sie das Ende aller Dinge begrüßte und damit rechnete, ewig an einem Ort zu leben, der nach Scarborough klang, so wie sie ihn beschrieb.
Reggie stellte sich vor, wie Ms MacDonald erfreut dem Schnellzug 125 zunickte, der auf sie zuschoss, und sagte: »Das ist also Gottes Wille.« Oder war sie erstaunt, blickte auf die Uhr, um zu kontrollieren, ob der Zug pünktlich war, und sagte: »Jetzt doch noch nicht?« In der einen Sekunde da, in der nächsten fort. Es war eine komisch alte Welt.
Natürlich gab es auch die andere Möglichkeit, dass sie vor Panik außer sich war, als sie feststellte, dass der Tod mit hundertsechzig Stundenkilometern auf sie zudonnerte, dass sie zu verwirrt war, um etwas so Vernünftiges zu tun, wie auszusteigen und um ihr Leben zu laufen. Aber über dieses Szenario wollte Reggie lieber nicht nachdenken.
»Und sie hatte einen Gehirntumor«, sagte sie und vermied es, dem indischen Polizisten in die Augen zu schauen für den Fall, dass sie sich in Verlegenheit brachte, indem sie errötete. »Ich meine, vielleicht ist er, ich weiß nicht, einfach explodiert.«
»Wir brauchen jemand, der sie identifiziert«, sagte Wachtmeister Wiseman. »Meinst du, dass du das tun kannst?«
»Jetzt?«
»Morgen reicht.«
Und jetzt war morgen.
»Wir berichten weiter, sobald wir mehr wissen«, sagte der Reporter und schaute ernst in die Kamera. Dann folgte ein Schnitt zur Nachrichtensprecherin, deren Lächeln von der nahen Katastrophe nur wenig gemäßigt wurde. »Jetzt«, sagte sie, »freuen wir uns, im Studio die neueste Bewohnerin am Albert Square begrüßen zu dürfen, die in EastEnders bereits Wellen schlägt mit ihrer –« Reggie schaltete den Fernseher aus.
Ihr fiel auf, wie still es im Haus war, als hätte jemand ausgeatmet und nicht wieder eingeatmet. Reggie betrachtete Banjo. Seine Augen waren wässrige Schlitze, die Zunge hing ihm seitlich aus dem Maul. Seine alten kleinen Lungen atmeten nicht mehr. Tot. In der einen Sekunde hier, fort in der nächsten. Der Atem war das Entscheidende. Er war alles. Atmen war der Unterschied zwischen lebendig und tot. Sie hatte einem Mann Leben eingehaucht, sollte sie das Gleiche bei dem Hund versuchen? Nein, wirklich, wenn er ein Mensch gewesen wäre, würde in dem winzigen Fässchen an seinem Halsband ein Zettel stecken mit der Aufschrift: »Nicht wiederbeleben.« Manche Menschen gingen früh (eine Menge mit Reggie verwandter Menschen), aber andere Menschen (und Hunde) gingen zur rechten Zeit.
Eine große Blase von etwas wie Gelächter stieg in Reggies Brust auf, aber sie wusste, dass es Schmerz war. Sie hatte genauso reagiert, als sie von Mums Tod erfuhr – in einem Anruf von Sue (minus Carl) aus Warrington, weil Gary »zu bedrückt« war und nicht sprechen konnte. »Es tut mir leid, Liebe«, sagte Sue mit einer vom Rauchen heiseren Stimme. Sie klang, als würde sie es meinen, als läge ihr nach ein paar Tagen Bekanntschaft mehr an Mum als ihrer Schwester Linda nach einer gemeinsamen Kindheit.
Reggie wünschte, sie hätte eine Schwester, jemanden, der Mum gekannt und geliebt hatte, damit sie ihr Andenken nicht ganz allein bewahren musste. Es gab Mary, Trish und Jean, aber im letzten Jahr hatten sie aus Mum eine traurige Erinnerung gemacht, für sie war sie keine reale Person mehr. Und Billy lag nur etwas an Billy. Wenn Reggie starb, wäre das das Ende von Mum. Wenn Reggie starb, wäre das natürlich auch das Ende von Reggie. Reggie wollte ein Dutzend Kinder, damit sie alle zusammenkommen und über sie reden könnten, wenn sie tot wäre (Erinnert ihr euch noch, als …?), und keins von ihnen hätte das Gefühl, allein in der Welt zu sein.
Reggie hatte Dr. Hunter gefragt, ob sie noch mehr Kinder wollte, einen Bruder oder eine Schwester für das Baby, und sie zog ein komisches Gesicht und sagte, »Noch ein Baby?«, als wäre es eine abwegige Vorstellung. Und Reggie konnte sie verstehen. Das Baby war alles, es war der Eroberer der Welt, es war die Welt.
Reggie besuchte jede Woche Mums Grab und sprach mit ihr, und auf dem Rückweg von dieser Wallfahrt ging sie in die katholische Kirche und zündete eine Kerze für sie an. Sie glaubte nicht an diesen Hokuspokus, aber sie glaubte daran, die Toten lebendig zu halten. Jetzt müsste sie mehr Kerzen anzünden.
Sie wusste, dass es falsch war, aber der Tod des Hundes bekümmerte sie mehr als der Tod seines Frauchens. Reggie streichelte Banjos Ohren und schloss seine trüben Augen. Die Augen des toten Mannes, des Soldaten, gestern Abend waren halb geöffnet gewesen, doch Reggie hatte sie nicht geschlossen. Für solche Nettigkeiten war keine Zeit gewesen. Der indische Polizist irrte sich, alle waren tot. Es war, als wäre sie verflucht, als wäre sie in einem Horrorfilm. Carrie. Die vielen Menschen im Zug, vielleicht hatte sie sie auch auf dem Gewissen. »Gestörter Teenager oder Todesengel?«, sagte sie zum toten Hund. »Man muss sich schon fragen.« War der Mann auch tot? Vielleicht hatte sie ihn umgebracht, statt ihn zu retten, einfach indem sie in seiner Nähe war. Nicht der Odem des Lebens, sondern der Todeskuss.
Er war der zweite Mann, auf den sie stieß, als sie die schlammige Böschung halb hinunterrutschte und halb hinunterfiel. Der erste war der Soldat. Reggie richtete den Schein der Taschenlampe auf ihn und ging weiter. Sie nahm an, dass später noch Zeit genug wäre, darüber nachzudenken, wie er tot aussah. Der Lichtstrahl war schmal und zittrig. In Höhe der Oberschenkel, nicht in Augenhöhe. Mum hatte einst als Platzanweiserin im Dominion gearbeitet, wurde aber nach zwei Wochen gefeuert, weil sie Eis aß, ohne dafür zu zahlen.
Der zweite Mann hatte einen Puls, wenn auch einen ziemlich schwachen, aber ein Puls war ein Puls. Sein Arm sah übel zugerichtet aus, er blutete aus einer Arterie, und da sie nichts anderes hatte, zog sie ihre Jacke aus, rollte einen Ärmel zusammen und drückte damit auf den blutenden Arm, wie Dr. Hunter es ihr gezeigt hatte. Reggie rief nach Hilfe, aber sie befanden sich in einer Mulde, wo niemand sie sehen oder hören konnte. In der Ferne begannen die ersten Sirenen zu heulen.
Sie nahm noch einmal den Puls des Mannes, fand ihn aber nicht mehr. Ihre Finger waren glitschig von seinem Blut, vielleicht hatte sie sich geirrt? Sie spürte, wie Panik in ihr aufstieg. Sie dachte an Eliot, die Reanimationspuppe, die Dr. Hunter nach Hause mitgebracht hatte. Eliot war ganz anders als der Mann, dessen Leben plötzlich und unerwartet in ihren Händen lag. Sie wusste nicht, wie sie ihn beatmen sollte – ganz zu schweigen von der Herzmassage –, ohne den Druck von seiner blutenden Arterie zu nehmen. Es war wie ein Alptraumspiel Twister. Sie dachte an den spanischen Kellner, der versuchte, Leben in die Lungen ihrer Mutter zu hauchen. War er ebenso verzweifelt gewesen? Was, wenn er es ein bisschen länger versucht hätte, was, wenn ihre Mutter nicht tot gewesen war, sondern in einem wässrigen Schwebezustand und darauf wartete, ins Leben zurückgeholt zu werden? Der Gedanke rüttelte Reggie auf, und sie stemmte das Knie auf die improvisierte Kompresse und streckte sich dann wie eine große unbeholfene Spinne über den Körper des Mannes. Sie konnte es schaffen, wenn sie es wirklich versuchte.
»Bleiben Sie da«, sagte sie zu dem Mann. »Bitte, mir zuliebe.« Sie holte so tief wie möglich Luft und drückte ihren Mund auf seinen. Er schmeckte nach Chips mit Käse- und Zwiebelgeschmack.
Reggie fuhr von Ms MacDonald mit dem Bus nach Hause. Bevor sie aufbrach, wickelte sie Banjos Leiche in eine alte Strickjacke von Ms MacDonald und grub ein Loch für ihn in einem Blumenbeet. Ein kleines Päckchen Knochen. In Ms MacDonalds Garten war es wie an der Somme, und es war eine schreckliche Aufgabe, die kleine Leiche in das unfreundliche, schmutzige Loch zu legen. Nada y pues nada, hätten Hemingway und Ms MacDonald gesagt. Die ersten Dinge waren gut, die letzten nicht so sehr. Hätte Reggie gesagt.
Als Mum beerdigt, in ihr eigenes Loch in der Erde gelegt wurde, regnete es auch.
Es hatten sich einige Trauergäste eingefunden – Billy, Gary, Sue und Carl aus Warrington – was nett von ihnen war, wenn man bedachte, dass sie Mum kaum kannten –, ein paar von Garys Motorradfreunden, ein paar Nachbarn, Mary, Trish und Jean natürlich, ziemlich viele Kollegen aus dem Supermarkt, der Geschäftsführer persönlich mit schwarzer Krawatte und in schwarzem Anzug, obwohl er Mum noch einen Monat zuvor mit der Kündigung gedroht hatte wegen »durchgehend schlechter Erfüllung des Zeitsolls«. Sogar der-Mann-der-vor-Gary-kam tauchte auf, lauerte im Hinterland des Friedhofs. Billy machte eine obszöne Geste in seine Richtung, woraufhin der Pfarrer über seine Worte stolperte.
»Kein schlechtes Ergebnis«, sagte Carl, als wäre er ein professioneller Begräbnisinspektor.
»Arme Jackie«, sagte Sue.
In der Kirche hatten sie zuvor »Bleib bei mir, Herr« gesungen, ein Lied, das Reggie ausgewählt hatte, weil Mum weinte, wann immer sie es hörte, da es bei der Beerdigung ihrer Mutter gesungen worden war. Reggie hatte die Beerdigung mit Hilfe von Mary, Trish und Jean organisiert. Mum war keine Kirchgängerin gewesen, deswegen war schwer zu entscheiden, was ihr gefallen hätte. »In der Kirche getauft, verheiratet und verabschiedet, wie die meisten von uns«, sagte Trish, als gäbe sie eine Weisheit von sich. »Es muss etwas geben, wenn man drüber nachdenkt«, sagte Jean. Reggie sah nicht ein, warum es irgendetwas geben musste. »Wir sind ganz allein«, sagte Dr. Hunter einmal zu ihr. »Ganz allein und hilflos treiben wird durch die unendliche Weite des Raums« (dachte sie dabei an Laika?), und Reggie sagte: »Aber wir haben doch uns, Dr. H.«, und Dr. Hunter sagte: »Ja, das stimmt, Reggie. Wir haben uns.«
Im Bus hatten nicht wenige Leute Reggie aufgrund ihrer Kleidung komische Blicke zugeworfen, und zwei Mädchen, nicht älter als zwölf, mit glänzendem Lipgloss und unglaublich langweiligen Geheimnissen, kicherten ganz unverhohlen. Reggie hätte am liebsten gesagt: Versucht ihr mal in der Garderobe einer wiedergeborenen ehemaligen Lehrerin mittleren Alters etwas zu finden, was man in der Öffentlichkeit tragen kann, ohne Spott auf sich zu ziehen. Mangels anderer Optionen hatte sich Reggie für Ms MacDonalds unauffälligste Kleidungsstücke entschieden – einen cremefarbenen Pullover aus Viskose, einen braunen Nylonanorak und eine schwarze Polyesterhose, die sie in der Taille hundertmal umstülpte und mit einem Gürtel zusammenhielt. Soweit Reggie wusste, besaß (hatte) Ms MacDonald nicht ein Stück (besessen), das nicht aus Synthetik war. Erst als sie Ms MacDonalds Sachen anzog, begriff Reggie, wie groß und breit sie gewesen war, bevor sie in ihren Kleidern schrumpfte, so dass sie ihr vom Körper hingen, als wäre sie ein Kleiderbügel.
»Die Frau hat große Knochen«, sagte Mum, nachdem sie Ms MacDonald auf dem ersten Elternabend kennengelernt hatte. Reggie dachte an Mum, die sich in der schrecklichen piekfeinen Schule unsicher und unwohl gefühlt hatte, während Ms MacDonald von Aischylos quasselte, als hätte Mum die leiseste Ahnung. Jetzt waren beide tot (ganz zu schweigen von Aischylos). Alle waren tot.
Ms MacDonalds Unterwäsche zog Reggie nicht an, die großen Hosen und ausgeleierten grauen BHs gingen einen Schritt zu weit. Ihre eigenen Kleider trockneten noch auf dem Gestell in Ms MacDonalds Bad, außer der Jacke, die so getränkt war mit dem Blut des Mannes, dass man sie nicht mehr retten konnte. »Fort, verdammter Fleck«, sagte sie zu der Mülltonne, als sie die Jacke hineinwarf. Sie hatten Macbeth in der Mittelstufe durchgenommen. Aber wer hätte gedacht, dass der alte Mann noch so viel Blut in sich hätte? Er war nicht so alt. Alt genug, um ihr Vater zu sein. Er hieß Jackson Brodie. Sein Blut war auf ihren Händen gewesen, warmes Blut in der kalten Nacht. Sie war mit seinem Blut gewaschen.
Als er auf die Trage gehoben wurde, hatte sie die Hand in seine Jackentasche gesteckt in der Hoffnung, einen Ausweis zu finden, und eine Postkarte mit einem Bild von Brügge darauf herausgezogen, auf der Rückseite seine Adresse und der Text – Lieber Dad, Brügge ist sehr interessant, es gibt eine Menge hübscher Häuser. Es regnet. Habe ganz viel Pommes und Schokolade gegessen. Vermisse Dich! Liebe Dich! Xxx, Marlee.
Die Postkarte war noch in ihrer Tasche, schmutzig und blutig und zerknittert. Sie hatte jetzt zwei Postkarten, deren heitere Botschaften der Tod berührt hatte. Vermutlich sollte sie die des Mannes abgeben. Sie wollte sie dem Mann zurückgeben. Wenn er noch lebte. Der Arzt vom Hubschrauber hatte gesagt, dass sie ihn ins Royal Infirmary bringen würden, aber als sie heute Morgen dort anrief, hatten sie keine Unterlagen von einem Jackson Brodie. Reggie fragte sich, ob das bedeutete, dass er gestorben war.