VIERTES KAPITEL
Als ich aufwachte, hockten Dinah und Rodenstock längst in der Küche und frühstückten.
»Der Kripobeamte Kremers, der in Daun stationiert ist, hatte anscheinend engen Kontakt zu Ole«, sagte ich. »Sie trafen sich im belgischen Supermarkt vor Losheim.«
»Steht das ohne Zweifel fest, daß Ole diesen Kremers traf?« fragte Rodenstock.
»Schappi erzählte das heute nacht. Und ich glaube ihm.«
»Gibt es Fotos von Kremers?« fragte Dinah.
»Die müßte es geben. Sartoris vom Trierer Volksfreund müßte welche haben, das Blatt zitiert den Bullen öfter. Ich glaube, er heißt Dieter mit Vornamen.«
»Das erledige ich«, murmelte Dinah. »Und zwar jetzt. Wir müssen es beweisen, oder? Sonst glaubt uns kein Mensch. Kremers wird niemals bestätigen, daß er Ole traf.«
»Wir brauchen das Foto«, nickte Rodenstock. »Gute Reise.«
Sie verschwand, und ich versuchte mittels Kaffee wach zu werden. »Wir müssen heute noch an die Gerlinde Prümmer ran, diese Freundin von Betty. Die Gute scheint es ja streckenweise ziemlich schlimm getrieben zu haben. Da fällt mir ein: Ole fuhr einen Mitsubishi Pajero. Das ist ein Jeep. Wo ist der eigentlich?«
»Kann man klären«, meinte Rodenstock. »Ich rufe die Staatsanwaltschaft an.« Er verschwand ebenfalls, und ich begrüßte in Ruhe meine beiden Katzen, die um meine Beine strichen. »Hallo, ihr Schönen. Weihnachten ist vorbei, der Alltag hat uns wieder, alles geht von vorne los.«
Sie schnurrten und schienen das normal zu finden.
Nach einer Weile kam Rodenstock zurückgeschlurft und nörgelte: »Die Staatsanwaltschaft ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Pajero? fragte der Mensch.
Pajero? Pajero? Und dann sagte er: Vielen Dank für den Hinweis. Nein, der ist uns noch nicht untergekommen. Mit anderen Worten, sie haben Öles Auto vergessen, oder besser gesagt, sie haben gar nicht daran gedacht, sich danach zu erkundigen. Ich habe dann auch noch Öles Familie in Jünkerath angerufen. Die sagen, der Pajero sei nicht da, und sie hätten gedacht, die Polizei hätte ihn längst sichergestellt.«
»Es stimmt mich heiter, daß andere Leute auch nur Menschen sind. Mit anderen Worten, das Vehikel ist weg.«
»Richtig«, lächelte er. »Wahrscheinlich geklaut. Es ist meine wilde Hoffnung, daß das der entscheidende Fehler ist, den die Täter begingen. Ein Alleintäter scheidet sowieso aus. Nicht bei zwei Leichen, bei Heroin und einem Brand.«
Er begann, das Frühstücksgeschirr abzuräumen, und ließ Spülwasser einlaufen. »Ich denke, wir sollten diesen Kremers anrufen. Und zwar jetzt, und zwar mit Tonaufzeichnung. Einverstanden?«
»Klar.«
Ich stellte den Telefonapparat auf Aufzeichnung, rief dann Rodenstock zum Mithören und wählte die Nummer der Polizei in Daun. »Dieter Kremers, bitte«, verlangte ich.
»Kremers hier. Was kann ich für Sie tun?« Er hatte eine für einen Mann ungewöhnlich hohe Stimme.
»Mein Name ist Siggi Baumeister, ich bin Journalist. Sie haben doch normalerweise nichts mit Drogen zu tun, oder?«
»Nicht die Spur«, bestätigte er fröhlich. »Das machen die Kollegen in Wittlich.«
»Nun wird aber gemunkelt, Herr Kremers, daß Sie den Kleindealer Ole, mittlerweile eine Leiche, häufig getroffen haben. Stimmt das?«
Ohne eine Sekunde zu zögern, antwortete er mit nicht nachlassender Fröhlichkeit: »Das stimmt natürlich nicht. Wer behauptet denn das?«
»Ich schütze meine Informanten. Aber Sie kennen beziehungsweise kannten Ole doch, oder?«
»Selbstverständlich. Jeder auf dieser Wache kennt Ole.«
»Nun sagt meine Informantin aber, daß sie persönlich diese Treffen zwischen Ihnen und Ole beobachtet hat. Präzise gesagt, im und am belgischen Supermarkt vor Losheim.«
»Es ist also eine Frau«, bemerkte Kremers aufgeräumt. »Ich kenne den belgischen Supermarkt in Losheim natürlich. Aber ich habe dort niemanden getroffen, bestenfalls Kaffee gekauft. Das trifft aber für jeden dritten Einwohner im Kreis Daun zu, oder?«
»Das ist richtig«, gab ich zu. »Wenn Sie es nicht waren, muß das also eine Reinkarnation von Ihnen gewesen sein, oder jemand hat Sie geklont.«
»Mal eine Frage, Herr Baumeister«, sagte er. »Wie oft soll ich denn diesen Ole getroffen haben?«
»Mindestens viermal«, log ich.
Kremers seufzte. »Du lieber Himmel, da hat Sie aber jemand aufs Kreuz gelegt. Sagen Sie mir den Namen der Frau, und ich bringe das in Ordnung.«
»Das geht nicht. Informantenschutz«, entschied ich.
»Können wir keinen Handel abschließen? Sie sagen mir den Namen, und ich gebe Ihnen einen bisher unveröffentlichten Bericht über Betrügereien und Einbruch mit Hehlerei im Kreis Daun.«
»Nein, danke«, lehnte ich ab.
»Sie wissen ja, es wird viel geredet, wenn der Tag lang ist«, kalauerte er.
»Es war ja nur eine Frage«, sagte ich. »Vielen Dank denn auch.« Ich hängte ein.
»Du hast ihn unruhig gemacht«, überlegte Rodenstock. »Er wird versuchen herauszufinden, welche Frau ihn verpfiffen hat. Aber im Grunde taugt seine Aussage nicht, um irgend etwas darauf aufzubauen.«
Mein Handy schrillte, und eine kräftige Männerstimme sagte bedächtig: »Hier ist Grundmann vom Krankenhaus in Daun. Könnten Sie schnell herkommen?«
»Irgendwas mit Mario?« fragte ich ängstlich.
»Mit dem auch. Er ist heute morgen operiert worden. Der Fuß war nicht zu retten. Es ist etwas anderes passiert, Sie sollten wirklich kommen.«
Ich kannte das. Dieser totale Abbruch der gewohnten Rhythmen im Leben, diese Hilflosigkeit angesichts all der Brutalitäten machte Menschen zu äußerst präzise arbeitenden Informanten. Es war so, als könnten sie durch ihre Informationen den Fall schneller zum Abschluß bringen, als sei nichts wichtiger, als alles vergessen zu können.
»Ich komme«, sagte ich und wandte mich an Rodenstock. »Es gibt Arbeit, du bist keine kleine Hausfrau mehr.«
»Was ist?«
»Sie haben dem Mario den rechten Fuß amputieren müssen. Heute morgen. Und der Arzt hat was für uns.«
»Das ist ja furchtbar«, murmelte er. »Der Junge wirkte so aufgeweckt, richtig helle.«
»Laß uns fahren«, forderte ich.
Dr. Grundmann stand beim Pförtner und sah schmal und blaß aus. »Es ist etwas ganz Verrücktes passiert.«
»Das ist mein Freund Rodenstock«, sagte ich. »Absolut ein Freund.« Sie reichten sich kurz die Hand.
»Wir gehen am besten in mein Büro«, schlug Grundmann vor. Er ging mit weit ausholenden Schritten voran, sein Büro war ein kleines Kabuff, in dem kaum Platz war für uns drei.
»Ich erzähle Ihnen den Fall und muß Sie gleichzeitig um absolute Diskretion bitten. Ich habe mich entschlossen, Sie einzuweihen, weil ich vermute, daß das alles irgendwie mit Mario zusammenhängt und den Gerüchten über Drogen hier im Landkreis.« Er setzte sich umständlich und murmelte plötzlich: »Ich werde eine Zigarette rauchen.« Er beugte sich über ein Fach seines Schreibtisches. »Hier müssen doch welche liegen. Ah ja, da sind sie.« Es waren Gauloises.
Ich nahm die Zenta von Georg Jensen und stopfte sie mir.
»Wir sind hier natürlich nicht auf Drogen spezialisiert«, begann er. Er paffte, er konnte gar nicht rauchen. »Aber immerhin haben wir bei Drogenfällen Aufnahmepflicht, und wir haben junge Ärzte gezielt zur Weiterbildung geschickt. Wir wissen also, was zu tun ist, wenn ein Drogenfall eingeliefert wird. Und die Fälle häufen sich in der letzten Zeit in einem bedrohlichen Umfang. Nun zu dieser Sache jetzt. Ein Sproß einer sehr bekannten, sehr wohlhabenden Familie aus Gerolstein hängt seit Jahren an der Nadel. Heroin. Eigentlich ist er ein Polytoxikoman, er nimmt also alles, was ihn an- und abtörnt ...«
»Halt, stop«, sagte Rodenstock schnell, »wie alt ist der Knabe?«
»Sechsundzwanzig.«
»Seit wann süchtig?«
»Das wissen wir nicht. Er selbst spricht von drei Jahren, ich nehme an, es sind mindestens sechs.«
»Können wir den Klarnamen haben?« fragte ich.
Grundmann schüttelte den Kopf. »Das geht nicht, aber ich gebe Ihnen Hinweise. Der junge Mann ist auf dringende Bitten seines Vaters freiwillig zunächst in das Krankenhaus nach Gerolstein gegangen. Zur körperlichen Entgiftung. Er hatte versprochen, anschließend nahtlos in eine stationäre Therapie nach München zu verschwinden. Nur dann macht ein solches Verfahren Sinn. Aber dann passierte etwas, das nicht eingeplant war: der junge Mann bekam dermaßen viel Besuch, daß der Kollege in Gerolstein die Verantwortung nicht mehr übernehmen wollte. Er hatte Angst, daß einer dieser Besucher seinem Patienten irgendwelche Stoffe mitbringen würde. Die erste kritische Phase der körperlichen Entziehung war zu dem Zeitpunkt abgeschlossen. Der Kollege aus Gerolstein rief also mich an und bat, ob wir den jungen Mann aufnehmen könnten. Ich sagte selbstverständlich unsere Hilfe zu, aber ich stellte eine Bedingung: Der Kollege in Gerolstein sollte jedermann die Auskunft erteilen, der Patient sei auf eigenen Wunsch nach Süddeutschland verlegt worden und der Name der Klinik sei aus Datenschutzgründen nicht zu nennen.
Nun gut, der Patient wurde also mitten in der Nacht hierher verlegt.«
»Wann war das?«
»Vorgestern«, sagte der Arzt tonlos, und ich ahnte Böses. »Gestern nun passierte folgendes: morgens gegen elf Uhr tauchte ein Besucher bei der Stationsschwester auf und sagte, er sei Drogenberater bei der Behörde und wolle den Patienten besuchen. Der Mann war ungefähr dreißig Jahre alt, trug einen Anzug, Krawatte, sehr ordentlich, ein richtiger Beamter. Die Stationsschwester hielt das alles für völlig normal und zeigte dem Mann das Zimmer des Patienten. Der Mann bedankte sich und ging hinein. Ungefähr eine Stunde später kontrollierte die Stationsschwester routinemäßig vor dem Mittagessen den Patienten. Sie fand ihn nahezu bewußtlos, und er war voll mit Stoff. Ich weiß nicht, ob Sie jemals erlebt haben, wie Heroin bei Entzug wirkt. Der Körper des Patienten wird von wilden Zuckungen erschüttert. Buchstäblich so, als hätte er ein Schlangennest im Magen. Wir wissen nicht, ob er durchkommt, es ist mehr als kritisch.«
»Heiliger Strohsack!« hauchte ich »Und es ist Heroin?« fragte Rodenstock.
Grundmann nickte. »Kein Zweifel.« Er war aufgeregt, wütend und traurig. »Vielleicht war es ein Dealer, vielleicht ein Freund. Wir wissen es nicht, wir konnten ihn bisher nicht identifizieren. Kremers von der Kripo hat uns versprochen, die Sache unauffällig und sofort zu untersuchen.«
»Dieter Kremers?« fragte ich.
»Ja. Er wußte von mir, daß wir den Patienten übernommen hatten. Er mußte es wissen, er wollte den Mann nämlich verhören, sobald der einigermaßen gesund war.«
»Sieh an«, murmelte Rodenstock.
»Offene Frage«, bolzte ich los. »Warum erzählen Sie uns das?«
»Es ist wegen Mario. Sie haben doch gesagt, sein Unfall war kein Unfall und steht in Zusammenhang mit der Drogenszene hier im Landkreis. Und mein Patient ist heroinabhängig und wird im Krankenhaus unter Stoff gesetzt. Deshalb.«
»Danke«, sagte ich und meinte es so.
»Ist der Patient noch hier?« fragte Rodenstock.
»Selbstverständlich nicht. Wir haben ihn nach Mainz in die Uniklinik fliegen lassen. Sie sagen, es ist kritisch, aber da sie gut sind, hoffe ich, daß sie ihn durchkriegen. Ich frage mich fassungslos, wie diese Leute herausgefunden haben, daß der Patient hierher verlegt worden ist. Gewußt hat es in Gerolstein nur der behandelnde Arzt, nicht einmal seine Schwestern hat er informiert. Gewußt hat es außerdem die Besetzung des Krankenwagens vom Deutschen Roten Kreuz. Aber die schwören, kein Sterbenswörtchen gesagt zu haben. Hier wußte ich davon und die Stationsschwester, sonst niemand. Nicht einmal die stationäre Aufnahme von der Verwaltung, weil die an den Weihnachtstagen selbstverständlich gar nicht gearbeitet haben. Hat also etwa der reiche Papi, der Chemieunternehmer, geschwätzt? Sowas ist doch unvorstellbar, oder etwa nicht?«
»Bleibt noch der Kriminalbeamte«, erinnerte Rodenstock.
»Gut, habe ich auch schon dran gedacht, aber das erscheint mir abenteuerlich, denn der unbekannte Besucher hatte Heroin in einer Spritze bei sich. Schickt Kremers einen Dealer mitsamt Heroin?«
»Unwahrscheinlich«, murmelte ich und kratzte meine Pfeife aus, sie zog nicht.
Rodenstock wollte etwas sagen, schwieg dann aber.
»Sie sollten das wissen«, murmelte Grundmann. »Machen Sie damit, was Sie wollen, aber sagen Sie niemandem, daß Ihr Wissen von mir stammt.«
»Wir versprechen es«, nickte Rodenstock. »Ist ... ist Mario schon vernehmungsfähig?«
»Nein. Er liegt noch im Tiefschlaf, und wir wollen diese Phase ausdehnen. Das wird noch schwer genug.«
Wir gingen. Im Aufzug meinte ich: »Kremers hat eine Schweinerei am Bein.«
»Das ist das Phantastische an der Situation eines Beamten«, schimpfte Rodenstock aufgebracht. »Er kann alles abstreiten bis zum Abwinken, er braucht keinerlei Auskunft zu geben. Er sagt, er hat mit Drogen nichts am Hut, er kennt Ole nicht persönlich. Er hat den Gesetzgeber und seinen Staatsanwalt vollkommen hinter sich, wenn er alles abstreitet, im Gegenteil: Er muß es geradezu abstreiten. Verstehst du seinen paradiesischen Zustand?«
»Ja, natürlich«, sagte ich betroffen. »Ich verstehe, was du sagen willst. Aber hältst du die Sache nicht für komisch?«
»Sie ist nicht nur komisch, sie stinkt geradezu«, seufzte er. »Das ist es, was mich so wütend macht. Und wer bitte ist diese Chemie-Sippe?«
Ich mußte grinsen. »Das ist die typische Eifler Art, höchst wichtige Informationen weiterzugeben, ohne Namen zu nennen. Es ist klar, wen er meinte. Und was machen wir jetzt?«
»Halt, stop. Wer ist denn der Süchtige nun? Hat der einen Namen?«
»Hat er. Jonny. Und jetzt?«
»Wir kümmern uns ganz nebenbei um meinen Kollegen Dieter Kremers«, sagte er leichthin.
Wir fuhren nicht direkt nach Hause, sondern nahmen den Weg über Gerolstein und fielen im Poseidon ein, um Gouwezi zu essen, geschmortes Schweinefleisch mit dicken Bohnen.
»Was macht dieser Chemievater eigentlich?« fragte Rodenstock.
»Ich weiß nicht genau«, sagte ich. »Die Sippe gilt als sehr reich und steckt mit ihrem Kapital in allen möglichen Unternehmen der Eifel. Der Sippenälteste gilt als autoritär und absoluter Herrscher. Wenn er sagt, daß morgen früh die Sonne nicht über der Eifel aufgehen soll, wird der liebe Gott sich danach richten.«
»Haben wir einen Kontakt in diese Richtung?«
»Ja«, nickte ich. »Melanie heißt die Dame. Sie ist hübsch, langbeinig und absolut ohne Moral. Sie lacht dreckig, hat eine Gauloises-Stimme und säuft Schnaps wie andere Leute Geroisteiner. Sie ist ein ganz besonderes Schätzchen. Jonny hat sie in Köln aufgegabelt.«
»Nimm dein Handy und ruf sie an.«
Ich gehorchte. »Melanie, Schöne, ich grüße dich. Der Siggi Baumeister braucht dich mal eine halbe Stunde.«
»Wozu?« fragte sie und lachte.
»Zum Reden«, sagte ich.
»Wann?«
»In einer halben Stunde«, bestimmte ich. »Wo?«
»In meinem Apartment«, schnurrte sie. »Das ist ...«
»Ich weiß, wo das ist«, entgegnete ich.
So wurde das Gouwezi nur eine kurze Erholung, weil wir wegen des Termins sehr schnell schlingen mußten. Der Wirt sah besorgt zu und fragte: »Schmeckt es nicht?« Wir versicherten, es sei köstlich, und verschwanden beinahe im Laufschritt.
»Diese Eifel bringt mich noch mal um«, keuchte Rodenstock.
»Alle Leute behaupten, hier ist nichts los«, sagte ich triumphierend.
Melanie war eine weißblonde Schönheit von etwa einem Meter achtzig. Wie sie da in ihrer Apartmenttür stand, wirkte sie locker wie zweieinhalb Meter. Sie trug grüne Leggins zu einem fatal ausgeschnittenen hemdartigen Oberteil, und ihre Beine hörten überhaupt nicht auf. »Hallo!« sagte sie. Dann sah sie hinter mir Rodenstock und grinste: »Aber es wäre doch nicht nötig gewesen, gleich den Papi mitzubringen!«
»Das freut mich aber«, murmelte Rodenstock und reichte ihr die Hand.
Ich wurde umarmt und bekam einen Kuß auf die Wange gehaucht. »Kommt rein, setzt euch, was zu trinken?«
»Nix«, sagte Rodenstock.
»Was liegt an?«
Ich wußte, daß sie arbeitslos gemeldet war, und ich wußte auch, daß sie auf diesen Zustand meistens stolz war. »Wer bezahlt dir denn die Hütte?«
»Das Sozialamt«, erklärte sie und lächelte allerliebst.
»Und wer bezahlt dein Auto? Versicherung? Sprit?«
»Heh, Baumeister, bist du unter die Bullen gegangen? Das ist doch ein Verhör.«
»Quatsch«, widersprach ich. »Ich war zu Besuch bei einem gemeinsamen Freund. Bei einem, der Heroin mochte und jetzt runterkommen will.«
»Ach so«, sagte sie begierig, »jetzt verstehe ich. Wie geht es Jonny?«
»Phantastisch«, sagte ich. »Ich schätze, er schafft es wirklich. Bezahlt er deine Karre?«
»Natürlich. Das Apartment hier gehört ihm, das weißt du doch.«
»Das weiß ich«, bestätigte ich. »Sag mal, Weib, kiffst du, oder hast du irgendeinen anderen Stoff am Bein?«
Sie hatte einen funkelnagelneuen Wohnzimmerschrank aufgebaut, ein erschreckendes Möbel. Es war tiefschwarz lackiert und hatte das Aussehen einer neogotischen Kathedrale im Stil einer mißlungenen Laubsägearbeit. Auf dem Möbel und hinter seinen Glasscheiben hockten, standen und lagen Puppen herum, die meisten vom Typ Pierrot, schwarz-weiß gekleidet und mit einer dekorativen Träne unter dem rechten Auge.
Sie schüttelte ganz sanft den Kopf. »Nicht die Spur. Kann ich mir nicht erlauben. Was sagt Jonny denn so? Wann kommt er wieder?«
»Weiß er selbst nicht. Kommt auf die Therapie an. Hast du ihn hier in Gerolstein im Krankenhaus besucht?«
»Na sicher doch. Aber da ist er ja nicht mehr. Wo ist er, Baumeister? Sie haben im Krankenhaus gesagt, er war in einer Klinik in Süddeutschland. Aber sie sagen nicht, wo.«
»Das werde ich auch nicht verraten, ich hab's versprochen. Sag mal, kennst du einen Dieter Kremers von der Polizei in Daun?«
Sie überlegte. »Nein, keine Ahnung. Was macht der? Drogen?«
»Ja und nein«, mischte sich Rodenstock ein. »Was würden Sie sagen, wenn ich behaupte, daß Kremers hier in diesem Apartment war? Wenn ich das definitiv weiß.«
Sie lächelte augenblicklich. »Dann würde ich denken, die wissen sowieso schon alles, und antworten: Stimmt, er war hier. Aber er hat gebeten, darüber zu schweigen.«
»Wann war er denn hier?« fragte ich.
»Zweiter Weihnachtstag abends gegen elf Uhr«, ergänzte sie schnell. »Damit ihr nicht weiter zu fragen braucht: er wollte wissen, von wem Jonny das Heroin bekommt. Ich habe gesagt, ich hätte keine Ahnung.«
»Und? Hast du keine Ahnung?« fragte ich.
»Natürlich habe ich Ahnung. Es kommt meistens aus Köln, aber die Leute, die es bringen, habe ich nie gesehen. Jonny kriegt einen Anruf, dann fährt er immer allein zu irgendeinem Treff.«
»Was heißt, daß das Heroin meistens aus Köln kommt?« fragte Rodenstock. »Kam es auch schon mal woanders her?«
»Ja. Die letzten dreimal oder so kam es von Leuten, die hier leben.«
»Von Ole und Betty aus Jünkerath«, sagte ich sehr sicher.
»Stimmt«, nickte Melanie. »Ich habe Jonny gesagt, er soll vorsichtig sein, denn diese kleinen Pinscher könnten ihn leicht erpressen. Aber sie erpreßten ihn nicht, ich lernte sie kurz kennen. Sie waren ziemlich cool drauf. Und jetzt sind sie verbrannt.«
»So isses«, bestätigte Rodenstock. »Sagen Sie mal, Melanie, hat dieser Kremers Ihnen denn etwas versprochen? Ich nehme nicht an, daß er gekommen ist, nur um mit Ihnen einen Schluck zu trinken.«
»Er hat nichts versprochen.« Sie zog die Beine hoch. »Mehr kann ich dazu nun wirklich nicht sagen, weil ich die Männer, die das Heroin aus Köln brachten, überhaupt nie gesehen habe. Das schwöre ich. Komisch war nur, daß Kremers genau wußte, daß Ole und Betty die letzten Male als Lieferanten aufgetreten sind.«
»Genau das wollte ich wissen«, murmelte Rodenstock mit tiefer Befriedigung.
»Was ist?« fragte ich. »Bist du exklusiv für Jonny da?«
Sie nickte. »Na sicher doch. Sein Vater hat angerufen und gesagt, er bezahlt mich weiter und will, daß ich nur für Jonny da bin. Das ist ein toller Zustand, oder? Ich werde bezahlt und muß nichts tun.«
»Sehr gut«, nickte ich.
»Sie sind also quasi bei der Familie angestellt?« fragte Rodenstock erstaunt.
»Korrekt«, murmelte sie.
»Und den Vater bedienst du nicht?« erkundigte ich mich.
»Oh nein«, sie lachte. »Der Gute ist impotent, total impotent. Seitdem sitzt der nur noch im Wald bei seiner Jagd.«
»Wann hast du denn das letzte Mal mit Jonny gesprochen?«
»Gestern, ziemlich früh, bevor er dann nach Mainz weggeflogen wurde«, sagte sie leichthin. Dann zuckte sie zusammen und hauchte: »Verdammte Scheiße!«
»Wenn Sie das auch wissen, was wissen Sie noch?« fragte Rodenstock eindeutig höhnisch.
Sie nickte, sagte nichts, sie war sehr blaß und atmete sehr hastig.
»Laß es raus, Melanie«, forderte ich.
»Ich will nichts mehr sagen«, sie schien plötzlich zu frieren, sie schauerte zusammen.
»Es wäre aber besser«, sagte Rodenstock eindringlich. »Wir könnten sonst auf die Idee kommen, die Staatsanwaltschaft anzurufen.«
»Bloß das nicht«, sagte sie hastig. »Die wissen doch davon gar nichts. Das lief nur zwischen Kremers und Jonny.«
»Was lief da?« fragte ich.
Sie starrte an uns vorbei auf die kleine Terrasse hinaus. »Ich muß wohl«, seufzte sie matt. »Also, soweit ich weiß, hat Kremers Jonny absolute Straffreiheit zugesagt, wenn Jonny seine Lieferanten an Kremers verpfeift und als Zeuge auftritt. Kremers sollte dafür die Bahn freimachen für den Entzug im Krankenhaus und die beste Therapie besorgen, die man in Deutschland haben kann. Das lief alles korrekt ab. Bis gestern. Da kam irgendein Typ und hat Jonny vollgepumpt. Kremers sagte mir eben am Telefon, er hätte keine Ahnung, wer das war, aber er würde das schon herauskriegen. Ich soll einfach den Mund halten und niemandem was sagen. Ich weiß aber, daß Kremers auch bei Jonnys Vater gewesen ist. Und zwar vorgestern. Ich weiß aber nicht, was da besprochen worden ist.«
Ich sah Rodenstock an, und er nickte.«Das reicht erst mal. Ich würde dir raten, dich da rauszuhalten. Das riecht alles ziemlich schmutzig. War Kremers eigentlich sauer, daß das Krankenhaus in Daun Jonny sofort ausgeflogen hat?«
»Er war stinksauer«, nickte sie. »Er hat rumgeschrien, das wäre doch gar nicht nötig gewesen.«
»Sieh einer an«, murmelte Rodenstock.
Wir verabschiedeten uns und gingen.
»Es kann sein, daß Kremers in dieser Sache einen Sonderauftrag hatte«, spekulierte Rodenstock.
»Und wie willst du das herausfinden?«
»Fragen«, sagte er lapidar. »Fragen kostet nichts.«
»Kannst du einem Durchschnittsgehirn bitte dieses Chaos erklären? Du siehst so unverschämt allwissend aus. Das macht mich ganz krank.«
Rodenstock blieb draußen am Portal des Apartmenthauses stehen. »Was wissen wir von Kremers? Wir nehmen mit Sicherheit an, daß er mit Ole zusammengetroffen ist. Wir wissen nicht, warum, weil er abstreitet, daß es so war. Er hat seinen Segen gegeben, daß Jonny von Gerolstein nach Daun verlegt wurde, das heißt, er wußte davon. Er hat Jonny Straffreiheit zugesichert, wenn der die Dealer an Kremers ausliefert. Das ist doch ein eindeutiges Bild, oder?«
»Ich verstehe euch Bürokraten nicht. Was, bitte, ist ein eindeutiges Bild?«
»In diesem Fall ist ein eindeutiges Bild, daß Kremers entschieden abstreitet, überhaupt etwas mit Drogen zu tun zu haben. Tatsächlich aber beherrscht er Jonny, tatsächlich beherrscht er Melanie, tatsächlich mischte er bei Ole mit. Er versuchte auch, Mario zum Spitzel zu machen. Bürokratisch heißt das: Entweder hat er den Spezialauftrag eines Staatsanwaltes, oder aber ... sag mal, kommst du nicht drauf?«
»Nein, verdammt noch mal.«
Rodenstock kratzte sich am Kinn. »Also gut, du Greenhorn. Das heißt, Kremers macht einen Alleingang. Er weiß, daß die Polizei auf dem Drogensektor wegen fehlender Leute praktisch nichts erreichen kann. Also sagt er sich: Ich ziehe ein dickes Ding allein durch. Schafft er das und liefert einen Drogenring ab, dann bekommt er eine Belobigung und wahrscheinlich seine Beförderung. Das wiederum bedeutet, daß man ihn möglicherweise auf einen Chefsessel in Sachen Drogenbekämpfung setzt. Jetzt klar?«
»Glasklar. Aber wie sollen wir das beweisen?«
Er sah mich mit schmalen Augen an: »Vielleicht wäre es am einfachsten, es gar nicht zu beweisen, sondern einfach vorauszusetzen.«
»Mit anderen Worten: mein Freund Rodenstock glaubt, daß Kremers den jetzigen Zustand der Szene im Landkreis hergestellt hat.«
»Das könnte sein«, nickte er. »Bisher stolpern wir beide durch diese Szene und mutmaßen. Jetzt, zum erstenmal, kriegen wir Fakten. Und immer hat dieser Kremers sie hergestellt.«
»Das bedeutet, daß Kremers mit Dealern zusammenarbeitet?«
»Es wäre nicht das erste Mal in der deutschen Drogenszene.«
»Aber warum sollte er das tun?« fragte ich drängend.
»Er will eine Generalstabsarbeit liefern, um seine Karriere zu beschleunigen.«
»Und was macht er dann bei dem reichen Mann, beim Vater von Jonny?«
»Das sollten wir den fragen«, entgegnete Rodenstock ruhig.
»Verdammt noch mal, woraus schließt du denn das alles?« Ich glaube, ich brüllte fast.
»Du hast doch gehört, was Melanie ganz nebenbei durchsickern ließ«, seine Stimme war sehr nachsichtig, als habe er ein Kleinkind vor sich. »Es ist etwas schiefgegangen. Dieser Dr. Grundmann hat blitzschnell begriffen, daß Jonny im Dauner Krankenhaus nicht sicher ist. Er ließ einen Hubschrauber kommen und den Patienten wegfliegen. Normalerweise müßte nun Kremers für dieses Manöver des Dr. Grundmann dankbar sein, denn das war die einfachste Möglichkeit, Jonny am Leben zu erhalten. Aber ist Kremers dankbar? Nein, im Gegenteil. Er flucht herum und erklärt Melanie, das Ausfliegen mit dem Hubschrauber sei eine völlig unnötige Sache gewesen. Warum wohl?«
»Du lieber Gott, er wollte ...«
»Wahrscheinlich!« nickte Rodenstock. »Kremers wollte nicht, daß Jonny überlebt, denn Kremers ist im Grunde der Einzige, der diesen merkwürdigen Sozialarbeiter mit Spritze und Heroin ins Krankenhaus schicken konnte.«
»Das ist doch alles total verrückt, um sehr viele Ecken gedacht«, stöhnte ich.
»Da hast du recht«, gab er zu. »Wir sollten uns die Köpfe nicht heiß machen lassen, wir sollten geduldig und solide vorwärts arbeiten. Wir müssen nach Holland, Baumeister.«
»Wir müssen erst zu Gerlinde Prümmer«, berichtigte ich. »Du lieber Himmel, du hast mich besoffen gequatscht.«
»Das tut mir aber leid«, log er.
Dinah war erst nicht zu entdecken, bis wir sie im Bad trällern hörten. Sie hockte in der Wanne, genußvoll, ausgiebig und fast schon sauber, wie sie versicherte. Ich durfte sie besuchen.
»Hast du ein Foto von Dieter Kremers?«
»Habe ich. Liegt drüben im Schlafzimmer auf deinem Kopfkissen. Es zeigt ihn bei einem Vortrag in einer Grundschule. Das Thema war ,Der fremde Onkel', oder so ähnlich. Er sieht übrigens aus wie ein erfolgloser Zuhälter.«
»Wie, um Gottes willen, sieht ein erfolgloser Zuhälter aus?«
»Das weiß ich auch nicht«, gab sie zu. »Aber Kremers sieht eben so aus, wie ich mir im Augenblick einen erfolglosen Zuhälter vorstelle. Baumeister? Könntest du vielleicht in die Wanne steigen?«
»Die läuft über.«
»Und wenn?«
Ich ging also ins Schlafzimmer und zog mich gemächlich aus. Kremers war ein blonder, dicklicher Mann, vielleicht 175 Zentimeter groß, um die Vierzig. Sein Gesicht war rund wie ein zufriedener Vollmond, und da er lachte, sah ich, daß er schlechte Zähne hatte. Erfolgloser Zuhälter? dachte ich.
Ich stieg zu Dinah in die Wanne, und tatsächlich schwappte etwas Wasser über den Rand.
»Ist es wahr, daß es aus physikalischen Gründen unter Wasser nicht geht?« fragte sie.
»Ich weiß sowas nicht«, sagte ich.
»Wir versuchen es«, meinte sie eifrig.
Eine Stunde später hockten wir alle zusammen am prasselnden Kamin und telefonierten erneut. Dinah meldete uns bei Gerlinde Prümmer an, Rodenstock versuchte bei der Staatsanwaltschaft herauszufinden, wo denn der Mitsubishi Pajero von Ole abgeblieben sei, und ich sprach mit dem Oberstudienrat Werner Schmitz, mit dem ich gelegentlich schwätzte, wenn mir die Welt zum Hals heraushing.
»Was treibst du so?« fragte er gutgelaunt.
»Ich recherchiere die Geschichte in Jünkerath«, sagte ich griesgrämig.
»Und die macht dir keinen Spaß?« Er lachte.
»Nicht sehr. Was sagen deine Flüstertüten in bezug auf die Drogenszene im provinziellen Landkreis?«
Er wurde ernst, machte »hm, hm«, zögerte. »Komisch, daß du das mich fragst. Wenn du den Fall Jünkerath bearbeitest, müßtest du doch genau wissen, was hier gebacken wird.«
»Eigentlich weiß ich es auch, aber das Leben wäre schöner, wenn ich gar keine Ahnung hätte. Also, was reden deine Kundschafter?«
»Sie sagen, die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Im Ernst, die meisten Jugendlichen sind clean, die halten sich raus. Auf der anderen Seite steigt aber die Zahl derer, die es mit Alkohol, Tabletten, Haschisch, Ecstasy, Kokain und so weiter versuchen. Hast du andere Informationen?«
»Nein. Auf jeden Fall haben die Konsumenten den Markt hier ziemlich kostbar gemacht. Kostbar genug, daß ein paar Leute Krieg führen. Was macht dein kostbarer Sohn?«
»Sky? Der droht siebzehn zu werden und hat eine Menge Probleme zur Zeit. Erstens hat seine Freundin ihn verlassen, zweitens hängt er nur noch rum, drittens hat er eigentlich von all seinen angeblichen Freunden die Schnauze restlos voll. Er sagt, die hängen nur noch lallend ab.«
»Was, bitte, heißt das?«
»Das heißt, daß die sich jeden Tag treffen. Jeden Tag woanders und immer im elterlichen Haus oder der elterlichen Wohnung. Dann wird erst einmal eine geraucht, also gekifft. Dabei wird Musik gehört, dann läuft der Fernseher. Wenn sie Pillen haben, schmeißen sie die zusätzlich ein. Dazu wird Bier getrunken und meistens noch ein paar Schnäpse oben drauf. Jeden Tag.«
»Und das regt deinen Sky auf?«
»Der Junge ist vollkommen verunsichert, weil er natürlich weiß, daß diese Zustände zu nichts führen außer zur Auflösung der Persönlichkeit. Aber auf der anderen Seite sind das Kumpel, die er braucht, um nicht ganz allein zu sein. Er sagt, er haßt diesen Zustand. Er gibt zu, daß er ab und zu raucht. Er meint aber, das sei überhaupt nicht sein Problem. Sein Problem sei, daß spätestens eine halbe Stunde nach Beginn des Treffens die ganze Clique benebelt ist. Sky ist ziemlich am Ende.« Schmitz wirkte jetzt bekümmert.
»Hast du Sky mal gefragt, wie lange das dauert, bis eine Lieferung Drogen in Daun ankommt?«
»Das kannst du selbst ausrechnen. Das Zeug kommt von Koblenz, Trier oder Köln. Anderthalb Stunden, nachdem es bestellt wurde, ist es in Daun. Manchmal fahren die Jungen auch selbst, einer mit Führerschein ist ja immer dabei ist. Sie verabreden sich in einer der Großdiskos: Wittlich, Trier, Koblenz und so weiter. Auf dem Parkplatz läuft der Deal, und anschließend geht die Post ab. Das Ganze ist sehr brutal geworden. Das siehst du an Jünkerath, oder?«
»Stimmt«, bestätigte ich. »Was tun die Schulen?«
»Nichts. Die halten sich raus. Und wenn ruchbar wird, daß ein Kind Drogen nimmt, sind die Eltern schuld. Die Eltern schieben die Schuld auf die Schule. Beide Parteien sagen, die Polizei versagt. Die Polizei meint: Wir haben keine Beamten, wir können wegen der Personalnot nicht ermitteln.«
»Und die Jugendämter?«
»Die sind überfordert und können nur warnen. Eltern müssen mehr tun, Schulen müssen mehr tun, die Polizei muß mehr tun. Mit anderen Worten: Die Leistungsgesellschaft zeigt sich in all ihrer kalten Pracht. Stimmt es, daß diese tote Betty sowas wie eine kleine Nutte war?«
»Das wissen wir noch nicht genau«, nuschelte ich. »Sie war auf jeden Fall eine Seele von Mensch, ein guter Kumpel. Und sie wäre ein paar Monate später bestimmt eine gute Mami geworden.«
»Habt ihr denn schon einen Verdacht, wer diese furchtbare Geschichte angerichtet hat?«
»Nein.«
»Und die Staatsanwaltschaft? Weiß die mehr?«
»Ich fürchte, ebenfalls nein. Sag mal, war dieser Ole nicht mal in deiner Schule?«
»War er. Ich kann mich gut erinnern. Hochintelligent. Leider mit Eltern gesegnet, die absolut keine Vorstellung davon haben, weshalb man ein Gymnasium besuchen sollte und was in einer Schule überhaupt vor sich geht.«
»Weshalb ist er denn abgegangen?«
»Wir haben versucht, ihn zu halten, weil er wirklich intelligent war. Er war einfach gut in Deutsch, Geschichte, Sprachen. Aber der Vater meinte wie ein Bullerkopp: Was soll der Jung auf dem Gymnasium? Der faulenzt doch nur. Und um den Hof zu führen, braucht er kein Gymnasium. Es war nichts zu machen. Ich erinnere mich, daß Ole auf dem Lokus vor einem Pissoirbecken stand und weinte. Er weinte hemmungslos und konnte kein Wort sagen. Ich habe dann die Eltern noch einmal besucht. Die Mutter hatte absolut kein Mitspracherecht, und der Vater betonte, alle Eltern seien absolut bildungssüchtig, neurotisch und lebensblind, und er würde diesen Zirkus auf keinen Fall mitmachen.«
»Weißt du, ob Ole einen Erwachsenen hatte, dem er vertraute?«
»Ja, hatte er. Wenigstens damals war das so. Den Pfarrer Hinrich Buch. Aber ich weiß nicht, ob das für die letzte Zeit noch galt.«
»Ich kann ihn fragen«, sagte ich. »Und ... danke dir.«
»Schon gut«, sagte er trocken. »Wir haben eine beschissene Situation, und ich kann die nicht schönreden. Aber bei der Gelegenheit kann ich dich auf einen Punkt aufmerksam machen, der unseren Kindern großen Kummer macht: die Polizei ist angesichts der wachsenden Szene und fehlender Beamter dermaßen unter Druck, daß sie zuweilen völlig wahllos die mit Drogen gefaßten Jugendlichen auffordert, als V-Männer tätig zu sein. Sie verspricht dafür eine besonders faire Behandlung – was immer das heißt. Manchmal verspricht sie auch Geld. Sie züchtet damit einen Stamm möglicher Verräter heran, denn die Kinder urteilen eindeutig: das ist Verrat.«
Ich dachte an Mario. Er hatte diesen Verrat nicht mitmachen wollen und dafür bezahlen müssen. »Du hast recht, das ist eine miese Situation.«
»Und noch etwas sollten wir nicht außer acht lassen. Mein Sky sagt mir immer wieder: wenn Erwachsene über Drogen reden, geht es ausschließlich um Jugendliche. Dabei wissen wir, daß die Jugendlichen zwischen 14 und 18 von der Gesamtzahl der Konsumenten nur ein Viertel ausmachen. Eigentlich sind die Erwachsenen unser Problem. Die Kids wissen das genau, und sie hassen uns für diese Verlogenheit.«
»Kennst du eigentlich den Kripobeamten Dieter Kremers?«
»Ja«, sagte Schmitz sofort. »Bekannt. Sei vorsichtig, der Junge ist link. Mischt der mit?«
»Es sieht so aus. Woher kennst du ihn?«
»Parteiarbeit. Er hat gerade ein Grundstück gekauft, angeblich für einen lächerlichen Preis. In Gerolstein. Er baut, er baut ziemlich groß für einen kleinen Bullen.«
»Gerolstein?« fragte ich. »Und der Verkäufer des Grundstücks ist der Vater von Jonny, der reiche Chemiemann?«
»Du hast ein Wasserschloß am Niederrhein gewonnen«, murmelte er trocken. »Mach es gut, mein Alter, ich muß jetzt los, ich habe keine Zeit mehr.«
Dinah und Rodenstock hatten bereits ungeduldig gewartet, daß ich das Gespräch beendete. »Wir können gleich zur Gerlinde Prümmer«, sagte Dinah. »Sie wartet auf uns. Ihr Mann wird dabei sein.«
»Und der Pajero von Ole ist nicht aufzutreiben«, berichtete Rodenstock. »Was hast du da eben gesagt vom Kremers?«
»Jonnys Vater hat ihm ein Grundstück verkauft. Äußerst billig.«
»Schau, schau«, murmelte Rodenstock. »So trifft man sich wieder.« Er wollte nicht mit zu der jungen Frau. »Drei Leute verwirren sie nur«, erklärte er.
Im Wagen meinte Dinah: »Ich mache mir Sorgen, Baumeister. Ole und Betty sind tot. Melanie wurde eingekauft, Kremers hat den Jonny als Hauptzeugen gegen irgendwelche Dealer. Ich frage mich, wann Leute auftauchen, um uns einzuschüchtern. Mario kann doch nur der Anfang gewesen sein, oder?«
»Das frage ich mich auch«, gab ich zu. »Auf der anderen Seite wäre es ganz hilfreich, wenn jemand sich zu erkennen gibt. Dann würden wir nicht mehr so im Nebel schwimmen.«
»Das ist im Prinzip richtig«, entgegnete sie hell. »Vorausgesetzt, man ist anschließend fähig, noch zu sprechen.«
Die Prümmers wohnten in einem scheußlichen Reihenhaus, das mit Eternit-Platten verkleidet war und einen trostlosen Eindruck machte. Offensichtlich war Gerlindes Mann ein Bastler. Rechts vom Haus standen zwei Uraltautos, links drei. Als ich schellte, erklang das Läutwerk von Big Ben.
»Irre!« hauchte Dinah.
Gerlinde Prümmer öffnete die Tür und war offensichtlich erfreut. »Kommen Sie rein. Wir haben die Kinder zu den Großeltern gebracht, damit wir in Ruhe sprechen können.« Sie ging vor uns her in ein niedriges, kleines Wohnzimmer, das vollkommen von einem riesigen Fernseher und einer Musikanlage beherrscht wurde. Auf einem kleinen Sofa hockte ein schmaler Mann mit einem Dreitagebart. Er stand auf und reichte uns die Hand: »Prümmer, angenehm. Bitte, setzen Sie sich doch.« Er hatte stechende Augen und trug einen Trainingsanzug, der eine fatale Ähnlichkeit mit einer überdimensionierten Strampelhose hatte. »Bier? Oder Kognak? Oder lieber was anderes?«
»Lieber Kaffee«, bat ich.
»Machste mal?« sagte er in Richtung seiner Frau, und sie verschwand – ein guter dienstbarer Geist, offenbar einer, der die Chance zum Widerspruch vertan hatte. Aber was zum Teufel ging mich das an? Sie hatte ihn doch wahrscheinlich freiwillig geheiratet.
»Ich habe Urlaub«, erklärte er. »Der Betrieb hat zwischen den Tagen dichtgemacht.«
»Das ist schön«, murmelte ich. »Sagen Sie mal, kannten Sie eigentlich auch Ole und Betty?«
Er lächelte leicht. »Ja und nein. Also ich mochte die nicht. Ich weiß nicht, warum, aber ich mochte die einfach nicht. Klar, wenn man in einem Dorf lebt, kennt man sich. Ich war ja zusammen mit Ole in der Grundschule. Die beiden hielten sich immer für was Besonderes. Ole sagte immer, er wäre der größte Bauer im Dorf. Mit dem war nicht zu reden, der trug die Nase unheimlich hoch. Und Betty war später genauso, weil sie eben mit Ole zusammen war. Irgendwie war das nie meine Kragenweite.«
»Haben Sie denn auch davon gehört, daß die beiden mit Drogen handelten?« fragte Dinah.
»Na ja, gehört hat man manches, aber man wußte ja nicht, was stimmt. Man redete und redete, und man wußte, daß manches stimmte, aber man wußte nicht genau, was.«
Da war es, dieses zauberhafte ,man/. Man weiß, man ahnt, man sagt, man glaubt – niemals ich, immer man. Eifel live.
»Anders gefragt«, sagte ich leichthin. »Glauben Sie die Geschichte mit den Drogen?«
»Aber sicher, glaube ich das. Aber darüber redet man doch besser nicht, oder?«
»Warum denn nicht?« sagte Dinah. »Sie sind tot.«
»Na ja, schon. Aber man weiß ja auch, daß Öles Vater ... na ja, also er ist ein Dreschflegel. Wenn er hört, man redet über seinen Ole, schlägt er zu. Es ist sogar behauptet worden, daß Öles Vater versucht hat, mit Betty ... also, daß er ihr Gewalt antun wollte.«
»Wer hat das behauptet?« fragte Dinah schnell nach.
Prümmer wurde unsicher. »Man hat das so gesagt. Ich weiß nicht, wer das war. Man hat ja auch gesagt, Ole hätte sich die Scheune ausgebaut, weil er sich mit seinem Vater nicht vertrug.«
»Aber was ist dagegen zu sagen?« fragte ich. »Wenn Vater und Sohn sich nicht gut verstehen, ist es doch vernünftig auseinanderzuziehen.«
»Könnte man so sehen«, gab er zu. »Aber, wie gesagt, ich komme mit der Sippe nicht klar. Ole hat ja übrigens nicht mal abgestritten, Haschisch zu rauchen. Er stand manchmal in der Kneipe am Tresen und sagte: Ich rauche meinen Joint, ihr sauft euer Bier. Und ich gehe mit meiner Gesundheit besser um. Was das sollte, verstand hier kein Mensch. Aber er sagte dauernd so verrückte Sachen. Und dann erst das Gerede über Betty ...«
»Was war damit?« fragte Dinah.
Er kam um eine Antwort herum, weil seine Frau mit einer Thermoskanne kam und den Kaffee eingoß. »Ich stelle ein paar Plätzchen dazu«, murmelte sie sanft. Schließlich setzte sie sich und sah Dinah freundlich an. »Und Sie arbeiten auch als Journalistin?«
»Ich bin eine«, erklärte Dinah genauso scheißfreundlich. »Können wir mal Tacheles reden? Also, mich würde interessieren, wie das Liebesleben von Ole und Betty aussah. Ich meine, mich interessiert nicht, ob sie die Missionarsstellung bevorzugten oder streng nach dem Kamasutra geturnt haben. Ich will was über die Gefühlslage erfahren.«
Ich hatte ihren Mann angesehen, die maßlose Verblüffung über Dinahs rüde Formulierungen entdeckt. Er war erschrocken, es stieß ihn ab, mit solchen Frauen konnte er nicht umgehen.
»Ich verstehe schon«, begann Gerlinde Prümmer gedehnt.
»Dazu kann hier niemand was sagen«, ging ihr Mann schnell dazwischen. »Dann wird irgend etwas veröffentlicht, und wir kriegen ein Schreiben von einem Rechtsanwalt, weil wir angeblich was gesagt haben, was nicht stimmt.«
»Wir schützen unsere Informanten!« betonte Dinah scharf.
»Wir geben niemals Namen preis«, setzte ich hinzu.
»Mag ja sein«, sagte er. »Trotzdem spricht sich sowas rum, und schon ist es passiert.«
Ich roch etwas, es roch streng. »Wie könnten wir denn dieses Problem beseitigen?«
»Wenn wir Ihnen was erzählen«, erklärte er, »müssen wir irgendwie abgesichert sein.«
»Wieviel?« fragte ich.
»Ich dachte an tausend«, sagte Prümmer.
»Die Hälfte in bar, und das jetzt.« Ich bemerkte, wie Gerlinde Prümmer große Augen bekam. Ihr Mann hatte ihr nichts davon gesagt, sie schwamm in Peinlichkeit.
Nach unendlichen Sekunden, nickte er. »Also gut. Fünf Lappen hier und jetzt.«
Dinah sah mich wütend und fassungslos an. Wie hatte ich ihr erklärt? »Bezahle niemals für Informationen! Geld macht jede Aussage möglich!« Das hatte ich gesagt, und nun kaufte ich ein. Ich blinzelte ihr schnell zu, nahm meine Brieftasche und blätterte fünf Hundertmarkscheine hin. »Ich brauche eine Quittung«, bat ich. Ich schrieb eine aus, und Prümmer unterschrieb.
Dinah raspelte zuckersüß: »Und da die Aussagen von der Ehefrau kommen, gehört ihr das Honorar.« Sie legte die Hand auf die Geldscheine und schob sie vor Gerlinde Prümmer. Deren Peinlichkeitsgefühle wuchsen ins Unermeßliche, und sie murmelte: »Och, wir haben sowieso immer eine gemeinsame Kasse.« Dann schob sie das Geld ihrem Mann zu.
»Na, fein«, sagte Dinah, und es hätte sicher nicht viel gefehlt, und sie hätte sich die Hände gerieben. »Reden wir also über den Verkehr der Geschlechter. Wer mit wem, seit wann, wie oft, warum, mit welchen Folgen?«
»Ach, du lieber Gott!« kicherte Gerlinde Prümmer.
»Also Intimes wissen wir sowieso nicht«, sagte ihr Mann.
»Sicher weiß ich Intimes«, widersprach seine Frau, und er bekam vor Wut schmale Augen.
»Dann hinein in die Intimitäten!« forderte Dinah. »Wie lief diese Geschichte zwischen Betty und Ole ab?«
Gerlinde Prümmer lehnte sich zurück, machte es sich bequem. »Für alle, die nichts wußten, war das eine völlig normale Geschichte«, begann sie. »Es wurde viel geredet, aber geredet wird immer und besonders dann, wenn gar nix passiert. Also Ole, das wollte jeder genau wissen, hatte jede Menge Frauen, und das ist ja auch in Ordnung.« Sie bekam einen ganz schmalen Mund. »Die Männer dürfen eben mit so vielen Frauen schlafen, wie sie wollen. Das ist normal. Wenn eine Frau, die einen festen Freund hat oder verlobt ist, auch nur länger mit einem anderen redet oder vielleicht sogar mit dem essen geht, ist das eine Sauerei, sowas wie eheliche Untreue. Das kennt man ja, und Sie wissen, wie ich das meine.«
»Wie war das bei Betty und ihrem Vater?« fragte Dinah.
»Tja, das war eine furchtbare Geschichte. Der Mann trank viel, er trinkt übrigens immer noch. Und dann passierte es. Betty hat übrigens behauptet, ihre Mutter hätte das alles genau gewußt und natürlich gedeckt, weil man sich schließlich in der Nachbarschaft nicht blamieren wollte. Hier in der Eifel passiert ja viel, was nicht diskutiert wird, weil die Nachbarschaft und deren Meinung wichtiger ist als die Klärung solcher Dinge.«
»Wer hat diesen Vater angezeigt?«
»Betty selbst. Sie hat gesagt, sie hält das nicht mehr durch, sie stirbt dran, sie bringt sich um. Sie ist zur Staatsanwaltschaft nach Wittlich und hat Anzeige erstattet. Die wollten die Anzeige erst nicht entgegennehmen, weil sie Betty nicht glaubten oder für verrückt hielten. Aber sie bestand drauf. Der Vater stritt natürlich alles ab. Jedenfalls in der ersten Zeit. Später stellte er sich auf den Standpunkt, daß seine Tochter schließlich volljährig wäre und sich frei entschieden hätte. Da könnte ihm keiner reinreden. Na ja, er wurde jedenfalls verurteilt. Ich weiß noch, daß ich Betty gefragt habe, wie sie es eigentlich geschafft hätte, das Gerichtsverfahren zu ertragen. Sie meinte damals: Ich habe jetzt Ole, und Ole hat gesagt, ich muß da durch, sonst kriege ich nie meine Ruhe. Als sie mit Ole zusammen war, krempelte der ihr ganzes Leben um. Sie war ... man sagt, sie war im siebten Himmel.«
»Das ist schon ein paar Jahre her«, warf ich ein, um die Geschichte zeitlich einordnen zu können.
»Richtig«, sagte sie.
»Seit wann spielten Drogen eine Rolle?« fragte Dinah.
»Von Anfang an, das weiß ich sicher. Ole qualmte Hasch und schmiß auch schon mal LSD und sowas. Das tat Betty dann auch und behauptete, sie würde das alles spielend beherrschen. Ole war schon arbeitslos gemeldet, hatte schon schweren Stunk mit dem Vater, weil er den Hof nicht machen wollte. Ja, Drogen waren schon immer im Spiel. Aber sie haben noch nicht damit gehandelt, das kam später, also erst in den letzten zwei, drei Jahren. Eins ist jedenfalls klar: es war für beide die große Liebe.«
»Woher willst du denn das wissen?« fragte ihr Mann aggressiv.
»Es wird viel geredet, wenn die Haare lang sind«, entgegnete die Prümmer. »Klar, Betty war kein Kind von Traurigkeit, sie hatte mit vielen Männern was gehabt, aber das hörte so ziemlich auf, als Ole da war.«
»Was heißt denn so ziemlich?« hakte ich nach.
»Das ist die Frage«, nickte sie. »Ich denke mal ... nein, ich will das anders erklären. Da gab es zum Beispiel einen Jungen namens Mario. Der war noch unschuldig, ich meine, er hatte noch nie mit einer Frau geschlafen.
Also ist Betty hingegangen und hat ihm gezeigt, wie das geht. Ich habe ihr gesagt: Bist du wahnsinnig?, aber sie hat nur geantwortet: Du lieber Gott, was ist schon dabei, mir geht doch nichts verloren!«
»Hatte sie auch was mit diesem Holländer?«
»Das weiß ich nicht genau. Manchmal konnte man meinen, ja, manchmal wieder nicht. Erzählt hat sie davon nichts.«
»Können Sie sich an ihren letzten Satz erinnern, den sie zu Ihnen sprach?«
Gerlinde Prümmer nickte: »Oh ja. Das muß rund zwei Monate vor Weihnachten gewesen sein, Ende Oktober oder so. Da sagte sie: Wir können ganz ruhig in die Zukunft sehen, wenn ich es schaffe, Ole von dem Scheiß abzubringen. Dann setzte sie noch hinzu: Der macht so eine Art Selbstmord.« Sie strich sich ein paar Haare aus der Stirn. »Ich konnte damit gar nichts anfangen. Also fragte ich: Was soll das denn? Und sie sagte nur: Ach, das erzähle ich dir später, wenn alles vorbei ist.«
Ihr Mund begann zu zucken, dann weinte sie. »Jetzt ist später, und sie ist tot, verdammte Scheiße.«
Dinah nickte. »Eine entscheidende Frage, Frau Prümmer: hat Ole je erfahren, daß Betty auch mal mit anderen Männern schlief, zum Beispiel mit dem Mario?«
»Das weiß ich nicht genau. Jedenfalls stand für Ole fest, daß sie mit dem Holländer schlief. Ole war nämlich auch vor Weihnachten hier, um sich die Haare schneiden zu lassen. Und bei der Gelegenheit sagte er, er könne Betty manchmal nicht verstehen, jedenfalls nicht bei einem so alten und faltigen Knacker wie dem Holländer. Ich denke, das ist doch eindeutig, oder?«
»Das ist eindeutig«, bestätigte ich.
»Außerdem sagte er noch«, fuhr sie fort, »daß er sich mit diesem Holländer etwas überlegen müsse.«
»Aber er sagte nicht, was?« fragte Dinah.
»Nein, das nicht.«
»Von wem kauften die beiden welchen Stoff?«
»Ich weiß nur, daß sie einen Lieferanten für alles hatten. Den trafen sie irgendwo, dann kam der Deal Stoff gegen Bares, und das war es dann. Zuletzt, da bin ich sicher, waren es Leute aus Köln.«
»Hat Betty Namen erwähnt?«
»Nur einmal sprach sie von einem Typen vom Eigelstein, das ist wohl die Puffgegend in Köln. Sie nannte ihn Smiley, aber ich kann mich auch verhört haben. Jedenfalls so ähnlich wie Smiley«
Dinah hob den Zeigefinger wie eine Schülerin, die sich meldet. »Und Sie sind sich wirklich sicher, daß das zwischen Ole und Betty die große Liebe war?«
»Absolut«, nickte sie. »Absolut.«
»Haben sie denn dann auch alles gemeinsam durchgezogen? Also, waren sie unzertrennlich wie siamesische Zwillinge?«
»Nein, das nun nicht. Ole meinte, er wäre für die Deals zuständig und es wäre besser, wenn er sie allein macht, dann könnten die Bullen nicht an Betty heran. Na klar, sonst waren sie meistens zusammen.«
»Hatte Ole eigentlich einen Freund, einen Vertrauten?« fragte ich.
»Ist mir nicht bekannt«, sagte sie.
»Noch etwas«, sagte Dinah. »Haben Sie eine Idee, wie wir an den kleinen Schappi herankommen können?«
»Überhaupt nicht«, schaltete sich Prümmer schnell wieder ein, mit einem kleinen nur mühsam unterdrückten Triumph. »Der Kleine hat dem EXPRESS-Reporter aus Köln einen Riesenblödsinn erzählt, und die haben das veröffentlicht. Der Vater hat den Kleinen jetzt unter Verschluß.«
»Was hat denn der Kleine erzählt?« fragte ich.
»Er hat gesagt, der Mörder käme aus Köln, denn da wäre am Heiligen Abend ein Auto aus Köln auf dem Hof gewesen.«
»Ja, und?« fragte Dinah.
»Na ja, das ist doch Kindergeschwätz.«
»Wir sollten vielleicht Kinder gelegentlich ernster nehmen«, sagte ich weise und stand auf. »Wir danken Ihnen schön.«
Gertrude Prümmer brachte uns an die Tür. »Das mit dem Geld ist mir peinlich«, sagte sie. Sie drückte Dinah ein kleines Buch aus Plastik in die Hand, wie man es Kleinkindern schenkt. »Da drin sind Fotos von Betty. Ich denke mal, Sie brauchen so etwas. Aber das mit dem Geld wäre wirklich nicht notwendig gewesen.«
»Er wollte es so«, winkte ich ab.
Im Wagen fragte Dinah hinterhältig: »Warum hast du den Mann gekauft?«
Ich überlegte eine Weile, ob ich die Wahrheit sagen oder ausweichen sollte. »Ich mag den Mann nicht, ich mochte ihn keine Sekunde lang. Vor allem, als er sie in die Küche scheuchte, da ...«
»... da hast du ihr zeigen wollen, was für einen Arsch sie geheiratet hat.«
»Richtig.«
»Das ist aber ekelhaft, Baumeister.«
»Ich bin manchmal ein Ekel.«
»Und was tun wir jetzt?«
»Wo wir schon mal hier sind,« sagte ich, »fahren wir doch zu Öles Eltern. Mehr als rausschmeißen können sie uns nicht.«
Sie warfen uns nicht hinaus. Öles Mutter war vollkommen stumm, stand wie ein schwarzer, kleiner Berg in der Haustür, nickte nur und ging voraus. Es war ein großes Wohnzimmer, eingerichtet in den sehr typischen Bauernfarben der Eifel: nahezu alles war dunkelbraun.
»Ich hole meinen Mann«, sagte Frau Mehren tonlos und verschwand.
Plötzlich stürmte Schappi herein und rief: »Hallo, Baumeister.«
»Hallo, Schappi! Wie geht's denn so?«
»Gut.«
»Das hier ist meine Freundin, die Dinah.«
»Tag, Schappi«, grüßte Dinah.
Er hockte sich auf eine Sessellehne. »Hier ist dauernd Polizei.«
»Das denke ich mir«, nickte ich. »Kannst du dich denn nun an die Kölner Nummer von dem Mercedes erinnern? Von dem Mercedes am Heiligen Abend.«
»Habe ich nicht drauf geachtet«, sagte er und wiederholte damit, was er schon einmal gesagt hatte. »Fahrt ihr so mm und fragt Leute aus?«
»Das tun wir«, lächelte Dinah.
»Das würde ich auch gern machen«, meinte er verlegen.
Seine Mutter kam wieder herein und sagte: »Schappi, raus mit dir. Das ist nur was für Erwachsene.«
»Darf ich denn mal mitfahren?« fragte er.
»Wenn deine Mutter es erlaubt, immer«, versprach ich.
Er nickte ernst und ging dann hinaus.
»Er trauert sehr«, sagte seine Mutter.
Öles Vater kam herein. Er trug Pantoffeln zu einem Blaumann, wahrscheinlich war er gerade im Stall gewesen. Er begrüßte uns kurz, setzte sich hin und nickte seiner Frau zu. Sie nickte zurück, drehte sich herum und ging hinaus.
»Was kann ich für Sie tun?« fragte er.
»Das wissen wir nicht genau«, sagte Dinah. »Sie wissen ja, Herr Baumeister wohnt praktisch gleich um die Ecke, und er interessiert sich für diesen Fall.«
»Jeder, der damit Geld verdient, ist an uns interssiert«, entgegnete Mehren voller Hohn. »Wissen Sie denn mehr als andere?« Er sah mich an.
»Natürlich«, sagte ich. »Natürlich wissen wir mehr als andere. Ich kann Ihnen zum Beispiel berichten, daß Ole sich bei mir angemeldet hatte, um mit mir seine Probleme zu besprechen.«
»Wie bitte?« Er wirkte verunsichert. »Wann war denn das?«
»Das spielt doch keine Rolle. Zu dem Treffen ist es nicht mehr gekommen. Ich möchte Sie um eine Antwort auf die Frage bitten, welche Rolle Jörn van Straaten im Leben von Ole und Betty spielte.«
»Das Schwein, der Holländer«, sagte er leise. »Tatsache ist ja wohl, daß diese angebliche Freundin meines Sohnes mit dem Holländer ins Bett ging. Wann sie wollte, wann er wollte. Ich habe sie zehn Meter entfernt von der Scheune im Gras liegen sehen. Splitternackt. Ich habe Ole gewarnt: Junge, du machst dich unglücklich, du rennst mitten rein in dein Verderben. Schieß die Frau ab, schieß sie um Gottes willen ab. Aber ... na ja, ich weiß: Er war ihr total hörig.«
»Was heißt das?« fragte Dinah sanft.
»Was das heißt? Na, hören Sie mal: das heißt, sie trieb es mit jedem. Hauptsache Schwanz. Sie war durch und durch verdorben.« Er wurde jetzt lauter, seine Handbewegungen wurden heftiger und schlagender. »Glauben Sie vielleicht, mein Sohn hätte jemals mit Drogen was zu tun gekriegt, wenn diese Frau nicht gewesen wäre? Niemals hatte der was mit Drogen. All diese furchtbare Scheiße, diese Sittenlosigkeit, das fing doch erst an, als diese Hure hier bei ihm einzog.« In seinem linken Mundwinkel erschien ein Tröpfchen Schaum. Mehren stand auf und begann, vor den Fenstern hin und herzulaufen. »Diese Frau war ... sie war eine Sau, sie machte es mit jedem. Sie ist die Person, die meinen Sohn dazu brachte, sein Erbe abzulehnen.«
»Das ist nicht wahr«, widersprach ich. »Das hatte er doch schon abgelehnt, als er mit Betty noch gar zusammen war.«
Öles Vater starrte mich an, und er war in dem Augenblick weiß vor Zorn. »Was wissen Sie denn schon von uns? Gar nichts wissen Sie, alles nur Klugscheißerei. Dieses Weib hat ihn fertiggemacht. Er hatte doch keinen eigenen Willen mehr, er war vollkommen abhängig.« Jetzt schrie er. »Sie ließ die Titten raushängen, und er zitterte. So war es. Sie war ein Schwein. Oh, mein Gott, war die ein Schwein!« Er hatte nun in beiden Mundwinkeln Schaum, und es schien so, als habe er uns vergessen. »Von Anfang an hat sie Ole betrogen, richtig betrogen. Und der Junge war so naiv, das gar nicht zu merken ...«
Ich unterbrach ihn schnell, ich wollte etwas klären, ehe er vollkommen ausflippte. »Der Herr Kremers von der Kripo war doch auch mal hier auf dem Hof. Was wollte der denn?«
Mehren bekam vor Erstaunen große runde Augen und hielt einen Moment inne. »Das ist mal ein netter Mann, der kann mich verstehen. Der hat mir gesagt, Herr Mehren, diese Frau war der Untergang für Ihren Sohn. Wie die schon hier herumlief. Wackelte nur mit dem Arsch. War doch wie eine Einladung für alle. Jeder durfte mal drüber. Und Ole begriff das alles nicht, mein Junge war viel zu gut für diese Welt. Der liebe Gott im Himmel weiß, daß mein Junge für diese Welt zu gut war.« Er war schneeweiß, Schweiß lief ihm in die Augen, er zitterte stark; ein paarmal knickten seine Beine weg, und er hielt sich lächerlicherweise am Vorhang vor dem rechten Fenster fest. Die Vorhangstange fiel von oben herab, und Mehren wischte sie beiseite wie eine lästige Fliege.
Dinah riskierte erneut Einspruch. »Aber Sie haben ihm doch das Gymnasium verboten, und Sie haben zugelassen, daß er sich die Scheune ausbaute.«
»Ja und? Er war doch völlig verrückt nach dieser Hure. Ich habe unseren Pfarrer gebeten, Ole ins Gewissen zu reden. Half alles nichts. Den Sex hat sie ihm gebracht und die Drogen. Und dafür ist er dann gestorben. Ich ... ich weiß nicht, was ich tue ...» Er ging plötzlich in die Hocke, als habe er Furcht umzufallen.
Ich mußte ihn stoppen: »Sie sollten sich nicht so ereifern, Herr Mehren. Und Sie sollten nicht so tun, als sei Ole die Unschuld in Person gewesen. Das wäre Ole gar nicht recht. Außerdem gibt es eine Menge Leute im Dorf, die behaupten, Sie hätten auch mal mit Betty im Heu gelegen. Nur hatte Betty sehr viele Gründe, Sie gar nicht zu mögen.« Ich stand auf, Dinah ebenfalls, und ich ging hinter ihr her zur Tür. »Habe die Ehre«, verabschiedete ich mich in sein vollkommen entsetztes Gesicht. Die Wut in meinem Bauch war wie ein heißer kleiner Ball.
Auf dem Hof meinte Dinah: »Er versucht, seine Welt schönzureden.«
»Er ist aber erwachsen«, entgegnete ich wütend. »Und Erwachsene sollten genauer hinsehen. Trauer hin, Trauer her, er hat seinen Sohn und dessen Freundin aus seinem Leben ausgegrenzt, er hat sie brutal aus der sogenannten guten Gesellschaft rausgeschmissen. Laß uns fahren, Öles Idee mit Kanada war sehr richtig.«
»Aber du bleibst in der Eifel«, sagte sie sanft.
»Na sicher. Ich mag das Land, und ich mag die Leute. Arschlöcher gibt es eben überall. Es gibt überall Prümmers und Mehrens und Kremers und Jonnys und Melanies und Marios.«
»Übrigens Melanie«, seufzte Dinah. »Was spielt die denn eigentlich für eine Rolle.«
Ich nahm die Linkskurve in Birgel mit zu hoher Geschwindigkeit und bremste quietschend ab. Ich mußte grinsen. »Thomas Mann hat ihre Rolle beschrieben, das ist eigentlich Frühkapitalismus pur. Da hat der Sohn eines reichen Mannes etwas zum Spielen, eine Art Edelnutte. Die wird gegen ein monatliches Fixum beschäftigt. Das funktioniert natürlich nur so lange, wie diese Frau für den Sohn attraktiv bleibt, sonst ist sie blitzschnell draußen ...«
»Aber Melanie träumt davon, geheiratet zu werden, oder?«
»Das glaube ich nicht«, sagte ich. »Eine echte Chance hat sie nicht. Sie wird immer eine Art unterbezahlte Nebenfrau bleiben. Das, was mit Jonny passiert ist, gibt Melanie allerdings Auftrieb. Sie weiß nämlich ekelhaft viel über diesen rauschgiftsüchtigen Sohn, und das ist ein enormes Kapital. Deshalb bezahlt der Vater sie auch weiter und kann es sich eigentlich nicht erlauben, sie rauszuschmeißen. Er fürchtet, daß sie sonst auspackt, zu einer Zeitung rennt, ihre Geschichte erzählt.«
»Das ist doch Erpressung.«
»Natürlich ist das Erpressung. Aber in dem Punkt bin ich fies: Ich gönne das solchen Kapitalisten aus tiefstem Herzen. Sie sollen für Melanie bezahlen. Wenn sie clever ist, legt sie in ihrer guten Zeit ein paar Sparbücher an.«
Die Scheinwerfer warfen gleißende Reflexe auf den Schnee. Kurz vor Wiesbaum hockte ein Fuchs im Graben und machte sich nicht die Mühe zu flüchten. Seine Augen schillerten wie Bernstein, dann grün wie Jade.
Zu Hause fanden wir einen Zettel von Rodenstock: Ich habe mir ein Taxi genommen und bin nach Daun ins Krankenhaus gefahren. Zu Mario.
»Rodenstock ist etwas ganz Seltenes«, murmelte Dinah. »Trinkst du einen Kaffee mit?«
»Ja, danke. Da gibt es einen katholischen Pfarrer namens Heinrich Buch. Angeblich hat Ole ihm sehr vertraut und viel mit ihm geredet. Ich möchte ihn treffen.«
»Nicht mehr heute«, bestimmte sie. »Du siehst schon ziemlich mitgenommen aus, Baumeister. Und da wir schon über ein Baby gesprochen haben, muß ich dir sagen, daß du in diesem Zustand nicht mal eines zeugen könntest.«
»Du unterschätzt mich, meine Liebe.« Aber sie hatte recht. Ich war müde und fühlte mich faltig wie ein alter Kartoffelsack.