NEUNTES KAPITEL
Emma war mittlerweile auch ausgeflogen, und Rodenstock und ich starrten uns etwas dümmlich an. Sie hatte auf einen Zettel geschrieben: Bin mit dem Taxi zu Dinah!
»Was will sie da?« fragte Rodenstock.
»Vielleicht war ihr langweilig«, antwortete ich.
Als gegen Abend statt zwei Frauen drei zurückkamen, mußte ich diese Ansicht korrigieren. Dinah stürmte in das Haus und jubelte: »Wir haben die beste Karte unseres Lebens gezogen.«
Hinter ihr war Emma und nickte: »So könnte es klappen.«
Dann folgte eine dritte Frau, und ich war so verwirrt, daß ich anfangs dachte, ich leide unter Halluzinationen. »Das ist ja Betty«, sagte ich verblüfft.
»Nicht Betty«, stellte Emma richtig. »Ihre jüngere Schwester Monika. Neunzehn Jahre. Und sie weiß ziemlich viel. Wir dachten, wir spielen sie an van Straaten heran. Sie soll wie die Möhre vorm Esel wirken.«
»Das klappt nie«, sagte ich erregt.
»Der ist viel zu clever«, brummelte Rodenstock.
»Da bin ich nicht sicher«, strahlte Emma. »Wir sollten es versuchen. Denkt dran, beide Leichen waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Vielleicht ist zusammen mit Ole eine andere Frau umgekommen?«
»Aber sie ist blond, nicht rothaarig wie Betty«, wandte ich ein. Dann betrachtete ich dieses hübsche, ja fast schöne Wesen eingehend und merkte, wie verwirrt sie war. »Sie müssen denken, wir sind verrückt«, sagte ich und reichte Monika die Hand. »Ich bin Baumeister. Und das ist mein Freund Rodenstock.«
»Das ist ja sehr höflich«, tönte Dinah spitz. »Wir haben die Idee des Jahrhunderts und machen sie Monika schmackhaft. Und dann hockt ihr hier wie die Spießer und macht die Idee und Monika madig.«
Rodenstock sah Emma an. »Wie stellst du dir das vor?« fragte er.
»Oh, wir streuen eine Zeitungsmeldung«, strahlte sie im Zustand vollkommener Unschuld. »Und dann servieren wir Monika in s'Hertogenbosch.«
»Ist der Beschiß denn nicht zu gewaltig?« fragte ich zaghaft.
»Gewaltig ist er schon«, nickte Dinah, »aber auch schön. Wer könnte sie herrichten?«
»Jutta Näckel aus Kelberg«, sagte ich. »Die hat das drauf.«
»Was wissen Sie denn über die Geschichte?« fragte ich Monika.
»Du kannst sie duzen, das macht es familiärer«, schlug Dinah vor.
Monika Sandner trug weinrote Leggins aus einem plüschartigen Stoff. Darüber einen dicken irischen Rollkragenpullover. Sie war wirklich eine schöne Frau, und sie war es vor allem, weil sie nicht den Hauch von Schminke benutzte.
»Betty war ... sie war so eine Art Vorbild für mich. Wenn sie ganz gut und wenn sie ganz schlecht drauf war, erzählte sie mir von Ole und von ihrer Art zu leben. Wie das in der Scheune so lief. Was sie taten, wen sie kannten und trafen und so.«
»Ole war wirklich ihre große Liebe?« fragte ich.
Sie nickte.
»Warum hat sie dann mit diesem Holländer geschlafen?«
»Sie sagte, das sei ihre Eintrittskarte. Ole hatte keinen Beruf, sie hatten beide keine abgeschlossene Ausbildung. Irgendwie ist sie an den Holländer gekommen. Sie haben ihn getroffen. Und er hat sie dann angerufen und sie gefragt, ob sie nicht Lust hätte, für ihn zu arbeiten. Na sicher, hat sie gesagt, aber sie wußte ja noch nicht, worauf das hinauslief. Aber das war Betty schon egal. Sie wollte viel Geld verdienen, um dann mit Ole abzuhauen. Nach Kanada. Ich glaube, es war ihr egal, was sie dafür tun mußte. Im Herbst hat sie mal gesagt, wenn sie bereit wäre, mit nach Wiesbaden zu gehen, wäre Ole gerettet. Aber der Preis sei zu hoch.«
»Was heißt denn das?«
»Das hängt mit dem Kremers zusammen. Der war völlig von der Rolle, der wollte nur noch mit ihr schlafen und mit ihr Zusammensein.«
»Oh, nicht auch das noch«, rief ich abwehrend. »Hat sie etwa auch mit dem geschlafen?«
»Ja«, erwiderte Monika schlicht. »Ich glaube, das mußte sie schon deshalb tun, um Ole die Gerichtsverhandlung wegen der Sache mit dem LSD zu ersparen. Sie hat mir erzählt, Kremers hätte sie glatt erpreßt.« Sie schaute uns der Reihe nach an und war sehr unsicher. »Na klar, eine Heilige war sie nicht, meine Schwester. Auf jeden Fall muß Kremers ihr angeboten haben: Wenn sie mit ihm nach Wiesbaden geht und mit ihm da lebt, würde Ole hier in Jünkerath nichts passieren ...«
»Moment mal«, sagten Rodenstock und ich gleichzeitig. Rodenstock war eine Hundertstel schneller: »Öles Vater sagt, Ole hätte sich bereit erklärt, Betty zu verpfeifen. Also, was nun? Ole Betty oder Betty Ole?«
Monika biß sich auf die Unterlippe. »Das hat Dinah mir auch schon erzählt. Ich verstehe das alles nicht.«
»Aber ich«, murmelte Rodenstock. »Langsam schält sich ein Muster raus. Aber wieso kauft Kremers ein Grundstück und ein Haus in Gerolstein?« Er schlug heftig mit der flachen Hand auf den Tisch. »Du lieber Himmel, er wollte das Haus nicht für sich. Er wollte es seiner Frau in den Rachen schieben und sich verdünnisieren. Des Spießers Rache.« Rodenstock grinste wölfisch, er hatte richtig Spaß. »Das ist ja wirklich ein Hammer: Stopft der Ehefrau das Maul mit einem neuen Haus und verschwindet nach Wiesbaden.«
»Ich verstehe nur noch Bahnhof«, stöhnte Dinah.
Rodenstock kicherte albern. »Wiesbaden heißt, daß er wahrscheinlich einen Posten im Bundeskriminalamt anstrebte. Und um diesen Posten zu kriegen, mußte er zunächst den hiesigen Drogenmarkt aufmischen und an sich ziehen, mußte absoluter Chef im Ring sein. Kommt man irgendwie an Leute heran, die über seine Ehe Auskunft geben können?«
»Betty hat gesagt, das ist keine Ehe. Sie meinte, die sind seit fünfzehn Jahren nicht mehr miteinander ins Bett gegangen. Als das Verfahren wegen des LSD lief, hat sie Kremers wohl sogar versprochen, sie würde es sich ernsthaft überlegen, mit ihm zu gehen. Sie mußte das tun, sie mußte ihn in Sicherheit wiegen.«
»Also ist Kremers Position deshalb so stark, weil er für das Bundeskriminalamt ermittelt hat?« fragte ich.
»Ja«, nickte Rodenstock. »Und ich wette, die Staatsanwaltschaft in Trier war ihm sogar dankbar. Denn sie hat kein Personal, um sich um Drogen zu kümmern. Deshalb decken sie ihn. Letzten Endes arbeitet er vollkommen unkontrolliert. Wenn Kremers etwas tut, das seinen direkten Vorgesetzten in Trier mißfällt, halten sie den Mund, denn wahrscheinlich handelt er ja auf Weisung aus dem Bundeskriminalamt – und umgekehrt. Ein hübsches Arrangement.«
»Wie paßt van Straaten da hinein?«
»Ziemlich einfach«, mischte sich Emma ein. »Van Straaten kannte hier sicher alle, die mit kleinen Mengen dealen. Aus deren Reihen schöpft er seine Mitarbeiter. Also mußte er zwangsweise auf Kremers stoßen. Ich denke, van Straaten lieferte Kremers das Kokain für den Verrat an Melanie, Mehren beziehungsweise Betty und Mario. Niemand, nicht einmal ein Lockvogel der Kripo deponiert an drei verschiedenen Stellen hochwertiges Kokain im Wert von rund dreimal 75.000 Mark. Das heißt, auf den Stoff kam es nicht an, nur auf das Ergebnis.«
»Sehr viele Ideen, keine Beweise«, stellte ich scharf fest. »Und wieso soll jetzt van Straaten auf Monika reagieren? Und, nehmen wir einmal an, er reagiert. Was heißt das, was besagt das, was beweist das? Na los, ihr Genies, erklärt es mir!«
»Das ist doch simpel«, meinte Emma. »Schau mal, Siggi. Wir locken van Straaten mit Hilfe von Monika nach Deutschland. An einem Ort, wo wir absolute Sicherheit haben, daß wir die Kontrolle behalten werden, stellt sie ihm zwei oder drei entscheidene Fragen. Wenn er antwortet, ist er im Eimer ... Entschuldigung, drückt man das auf deutsch auch so aus?«
»Und das willst du machen?« fragte ich Monika.
»Ja«, nickte sie. »Das bin ich Betty schuldig. Warum also nicht?«
»Sie geht phantastisch in die Vollen!« schwärmte Dinah.
»Vorher würde ich gerne noch einbrechen«, überlegte ich. »Ich müßte ...«
»Nichts gegen ein Gesetz!« schnaubte Rodenstock.
Ich antwortete nicht, zuweilen ist es einfach besser, zu schweigen und zu handeln. Also tat ich beleidigt.
»Kannst du dann diese Jutta anrufen?« bat Emma. »Sie muß schließlich noch arbeiten.«
»Mach ich«, sagte ich und rief Jutta Näckel in Kelberg an. Wahrscheinlich bekam ihr Sohn Max gerade sein Abendessen und mochte es nicht, denn sein Geschrei im Hintergrund war gewaltig.
»Baumeister hier. Ich wollte dich um einen Gefallen bitten, Jutta. Da kommen gleich drei mehr oder weniger kriminelle Damen. Eine von ihnen soll so hergerichtet werden, daß sie einer anderen jungen Dame ähnlich sieht. Hast du so etwas schon mal gemacht?«
»Nein, aber etwas hat immer Premiere.« Sie lachte. »Aber ungesetzlich ist da nichts?«
»Nein. Machst du es?«
»Jetzt?«
»Jetzt. Wir müssen es versuchen.«
»Her damit«, sagte sie.
»Ihr könnt fahren«, teilte ich den Frauen mit. »Emma, was ist mit den Zeitungen?«
»Richtig«, nickte sie munter. Sie wählte eine sehr lange Nummer und schien jemanden mit dem Namen Piet erreicht zu haben. Sie sprach niederländisch, sehr schnell. Dann unterbrach sie die Verbindung und strahlte uns an. »Van Straaten wird es beim Frühstück lesen.«
Ich versuchte, gleiches beim Trierer Volksfreund zu erreichen. Ich erwischte den Anzeigenleiter, einen Mann namens Blass, der mir schon einmal wegen großer Sachkenntnis aufgefallen war. »Ich habe ein Problem. Wir haben recherchiert, daß möglicherweise in Jünkerath bei dem Doppelmord die tote junge Frau nicht etwa Betty Sandner ist, sondern eine Frau, die noch gar nicht identifiziert ist.«
»Ein scheußlicher Fall«, entgegnete Blass.
»Könnten Sie auf die Eifelseite 1 eine dementsprechende Meldung legen?«
»Das geht, wenn ich mit einer kleinen Anzeige auf die 2 gehe. Zehn Zeilen?«
»Das würde reichen«, bestätigte ich. »Ich muß aber fairerweise zugeben, daß die Meldung eine Ente ist. Es ist ein Gerücht, aber ein sehr wichtiges Gerücht.«
»Wollen Sie den Baum schütteln?«
»Das will ich«, sagte ich erleichtert. »Machen Sie es?«
»Schon passiert«, antwortete er. »Geben Sie mir den Text. Am besten per Fax, dann sind Hörfehler auszuschließen.«
Ich formulierte: Jünkerath. Der Doppelmord in der Drogenszene macht nach wie vor Schlagzeilen. Wie gut Informierte gestern sagten, besteht durchaus die Möglichkeit, daß es sich bei der weiblichen Leiche nicht um die Lebensgefährtin des Ole Mehren handelt, sondern um eine andere, bisher nicht identifizierte junge Frau. Auf Anfrage lehnte die Staatsanwaltschaft jeden Kommentar ab.
Die Frauen fuhren nach Kelberg, Rodenstock und ich blieben mit dem hohlen Gefühl zurück, eine riskante Aktion vor uns zu haben, die wir durchaus nicht beherrschten.
Endlich polterte Rodenstock: »Scheiß drauf, wir ziehen es durch. Wir haben doch gar keine Wahl.«
»Glaubst du, daß Dieter Kremers und Jörn van Staaten mit so einer Art Code verkehren?«
»Keine Ahnung. Glaube ich aber nicht. Denn sie werden sich treffen und nie am Telefon über irgendwelche Aktionen sprechen. Warum?«
»Es wäre doch schön, wenn es gelänge, den Kremers in unser Kaffeekränzchen einzubeziehen.«
»Du bist ein Sauhund«, grinste er. »Und wie willst du ihn locken?«
»Mit Jimmy. Wenn Jimmy in Not ist, muß Kremers kommen. Jimmy ist nämlich seine neue Nummer eins.«
Rodenstock hockte sich vor den Fernseher und zappte sich durch die Programme. Er erwischte einen Derrick und strahlte: »Das habe ich gern, das ist absoluter Durchschnitt. Das ist richtig deutsch. Bei dem bluten nicht mal die Leichen.«
»Ich fahre mal eben zu einem Kumpel«, informierte ich ihn.
Es schneite schon wieder, aus Ost kam ein scharfer, kalter Wind. Aus einer Stimmung heraus wählte ich den Weg an der Adler- und Wolfsburg in Pelm vorbei. Heute kommt es mir so vor, als habe ich mich nach Gerolstein einschleichen wollen, wenngleich kaum Fahrzeuge auf der Strecke waren und schon gar keine Fußgänger, die man wegen ihrer Seltenheit in der Eifel unter Naturschutz stellen sollte. Wo sich im Sommer Abertausende von Touristen tummeln, herrschte heute tiefste Einsamkeit, der Schnee dämpfte die Rollgeräusche der Reifen, es war geradezu unheimlich still. Ich stellte mir all die Adler und Eulen und Raubvögel vor, die jetzt auf ihren Stangen in dem alten Gemäuer hockten und wahrscheinlich schliefen. Wie können sie bei dieser Kälte schlafen, ohne zu sterben? Die Straße führte am Restaurant vorbei in die erste scharfe Rechtskurve hinunter in das Tal der Kyll. In Pelm stand eine Gruppe Jugendlicher vor dem Häuschen der Bushaltestelle und langweilte sich zu Tode. Einer von ihnen zeigte mir drohend den ausgestreckten Mittelfinger, und wahrscheinlich war er noch stolz darauf. »Van Straaten würde sich freuen«, murmelte ich. »Ihr seid alle gute Kunden.«
Ich zog die Talstraße entlang, rechts befand sich das Gelände von Geroisteiner, links die unsäglich häßliche Rückfront der eigentlich so schönen Fußgängerzone.
Ich fuhr nicht auf den Parkplatz des Apartmenthauses, sondern parkte unten in einer kleinen Seitenstraße und bummelte dann gemächlich den Hügel hinauf zum Eingang. Ich hoffte, daß irgendein Eingang nicht abgeschlossen war.
Natürlich war die Haupthaustür verschlossen. Ich starrte an der Fassade hoch. In vier Apartments brannte Licht. Ich überlegte, einfach zu klingeln, hineinzugehen und abzuwarten, als ein Lichtstreifen schnell und huschend über die Vorhänge in Melanies Apartment blitzte. Ich dachte ganz automatisch: Kremers! und lief die paar Schritte bis zur Ecke des Gebäudes.
Er erschien nicht im Haupteingang, er kam an der Seite heraus und bewegte sich vollkommen gelassen und ruhig, summte sogar vor sich hin. Er ging ein paar Schritte die Straße hinunter, machte dann bei einem Opel-Kombi halt und stieg ein. Dann rollte er davon.
Ich schlich an der rechten Seite des Hauses entlang und entdeckte die Tür. Es handelte sich um eine Metalltür, und sie war nicht verschlossen. Wahrscheinlich eine Absprache unter den Mietern, sicherheitshalber einen Eingang geöffnet zu lassen. Ich erreichte einen Kellergang, grellweiß getüncht, dann eine weitere Metalltür, die in das Treppenhaus führte. Ich wußte, daß die Eingangstür zu Melanies Wohnung versiegelt sein würde, und fragte mich, ob Kremers es riskiert hatte, das Siegel zu brechen.
Das Siegel war zerrissen, und Kremers hatte einen Schlüssel gehabt, natürlich. Ich überlegte einen Augenblick, ob ich es riskieren sollte, und stemmte dann den breiten Schraubenzieher meines Schweizer Messers neben dem Türschloß in den Spalt und drückte die Tür auf. Es roch muffig.
Ich hielt mich nicht auf, ging sofort in das Badezimmer, knipste das Licht an und schraubte das Kachelgeviert an der Badewanne auf. Es war so, wie ich vermutet hatte: Das Kokain war noch da. Das war sehr logisch, daß Kremers es dort gelassen hatte. Die böse, Kokain verkaufende Melanie mußte auch nach ihrem Tod die böse Melanie bleiben. Kremers war konsequent.
Ich machte mich auf den Rückweg und hockte zwei Minuten später schon wieder in meinem Auto. Der Wind hatte nachgelassen, der Schnee fiel in großen Flocken in die schweigende Welt. Ein paar Autos kamen mir entgegen, und sie fuhren unverschämt schnell. Wahrscheinlich junge Leute auf dem Weg zu einer Party oder in eine Disko. Wahrscheinlich versuchten sie herauszufinden, an welchem Punkt sie aus der Kurve getragen würden.
Ich hörte im Geiste Kremers mit seiner unangenehm metallenen Stimme formulieren: »De mortuis nihil nisi bene – nichts Übles über die Toten, meine Damen und Herren. Aber wir können nicht verschweigen, daß Melanie davon lebte, ein Rauschgift zu verkaufen, ein schreckliches Rauschgift, Kokain. Es kann tödlich sein, meine Damen und Herren, und sehr häufig ist es tödlich. Es zerstört das Leben unserer Kinder, das dürfen wir nie vergessen ...« Die Sehnsucht nach ein bißchen Sonne und Wärme überfiel mich, und ich wünschte mir, der Sommer möge für ein paar Stunden zurückkehren. Ich könnte mich unter meine Birke legen und in den Himmel blinzeln.
»Wo warst du?« fragte Rodenstock.
»Ich habe Kremers getroffen. Er ist in Melanies Apartment eingedrungen, um festzustellen, ob das Kokain noch vorhanden ist. Es ist vorhanden.«
»Und du? Bist du auch eingedrungen?«
»Sicher. Ich mußte mich überzeugen.«
»Das war leichtsinnig«, lächelte er.
»Nicht leichtsinniger, als aus Monika Betty zu machen«, antwortete ich, und er gab mir recht.
Die Frauen kamen erst nach Mitternacht zurück, und sie waren müde und schweigsam. Monikas Anblick war verblüffend. Ich hockte mich vor sie, ließ sie sich drehen und hinsetzen und gehen, en face, im Profil. Dabei starrte ich dauernd auf Bettys Fotos.
»Das ist wirklich gut«, sagte ich. »Weißt du, ob deine Stimme Ähnlichkeit mit der von Betty hat?«
»Nicht total«, erwiderte Monika. »Aber es müßte für ein paar Sätze reichen. Man hat uns am Telefon sehr oft miteinander verwechselt.«
»Bist du sehr aufgeregt?«
»Ja.« Sie stockte und lächelte. »Ich stelle mir immer vor, dieser Holländer sieht mich und will unbedingt und sofort mit mir schlafen.«
»Dann mußt du passen«, meinte ich.
»Und wie«, murmelte sie. »Weißt du, es hört sich immer so an, als hätte es Betty nie etwas ausgemacht. Aber es hat ihr etwas ausgemacht. Jedesmal, wenn sie so etwas tun mußte, hat sie hinterher geweint. Manchmal stundenlang. Aber das will ja keiner mehr wissen. Alle denken, die Frau war eine Hure. Einmal Hure, immer Hure. Und sie denken auch, daß Ole das arme Schwein war und sexuell total abhängig von ihr. Nichts stimmt, wirklich nichts. Was mache ich denn nur, wenn er mit mir schlafen will?«
»Er wird keine Zeit dazu haben«, beruhigte ich. »Er wird jede Sekunde brauchen, um seinen Kopf zu retten. Er wird nicht an seinen Schwanz denken.«
Sie wurde rot, und ich entschuldigte mich. Ich dachte etwas fiebrig: Hoffentlich steht sie es durch. Wenigstens zwei, drei Minuten. Was ist, wenn sie es nicht schafft? Würde er sie töten?
»Du kannst neben Dinah schlafen«, sagte ich. »ich hau mich hierhin. Wir müssen früh starten.«
»Ich werde nicht eine Minute schlafen«, vermutete Bettys Schwester.
»Das ist gut so«, befand ich. »Dann siehst du richtig edel krank aus, wenn er dich sieht.«
Sie überlegte, und grinste dann breit. Wenig später gingen Dinah und sie nach oben, und noch nach zwei Stunden hörte ich ihr schläfriges Gemurmel.
Rodenstock und Emma kamen auf ein letztes Glas Wein zu mir. »Weißt du schon, wo der Showdown stattfinden soll?« fragte er.
»Ich hätte eine Idee. Ole war der Sohn eines Bauern, also inszenieren wir doch Ferien auf dem Bauernhof«, sagte ich. »Der Mann heißt Adolphi. Ich kümmere mich drum. Jetzt zur Technik: Wollen wir abhören, oder wollen wir auch filmen?«
»Wir wollen auch filmen«, sagte Emma schnell. »Auf jeden Fall.«
»Wer verhaftet, wenn es wen zu verhaften gibt?«
»Meine Leute«, entschied sie. »Wir können deutsche Beamte in dieser Sache nicht gebrauchen, weil wir nicht wissen, wer noch außer Kremers involviert ist. Nach dem Schengener Abkommen dürfen wir unter diesen Umständen verhaften, wenn keine andere Möglichkeit gegeben ist. Es reicht, die deutschen Behörden erst dann zu informieren, wenn wir mit ihm in Holland sind. Ich bin mir nicht im klaren, wie wir mit Kremers verfahren sollen. Ich würde aber sicherheitshalber raten, Kremers mit nach Holland zu transportieren. Wie holst du Kremers ran?«
»Erledige ich gleich per Telefon. Ist euch bewußt, daß es möglicherweise Tage, ja sogar Wochen dauern kann, bis van Straaten etwas unternimmt?«
»Das übliche Los des Kriminalisten«, seufzte Rodenstock. »Warten, warten, warten.«
Emma blieb kühl und sachlich. »Was glaubst du, wieviel Leute brauche ich bei diesem Adolphi?«
»Ich denke, fünf sind ideal. Das Gelände ist ziemlich übersichtlich.«
»Ich schicke jemanden mit technischem Gerät. Körpermikrofon, Richtmikrofon, Knopflochkamera, Aufzeichnungsgeräte und so weiter.«
»Gut so«, nickte ich. »Es bleibt also nur noch, uns viel Glück zu wünschen.«
Ich legte mir Orange and Blue von AI di Meola auf und hörte eine Weile zu, ehe ich Jimmy anrief. Ich hatte bei dem ersten Treffen mit ihm Dieter Kremers nicht erwähnt, jetzt mußte ich ihn einsetzen.
Jan Melier war sofort dran, diesmal polterte kein Vater.
»Hören Sie, Baumeister noch einmal. Wir haben ja nun die erste Begegnung hinter uns gebracht, und freundlicherweise waren Sie so nett, die Verbindung zu van Straaten zuzugeben. Ach übrigens, ehe ich es vergesse: Haben Sie inzwischen mit Dieter Kremers gesprochen?«
»Nein. Wieso? Meinen Sie den Mann bei der Kripo?«
»Na sicher meine ich den Kripomann, wen sonst? Bis jetzt bin ich ziemlich zurückhaltend gewesen, aber jetzt muß ich mal Tacheles reden. Falls Sie Kremers doch angerufen haben, sollten Sie das jetzt sagen. Falls ja, müssen Sie nämlich abtauchen, weil Ihr Leben in Gefahr ist.
Mit anderen Worten, der Spaß ist zu Ende, und der Ernst fängt an. Also?«
Eine Weile schwieg er, dann murmelte er kläglich: »Ich wollte anrufen, ich habe es nicht getan, weil Kremers gesagt hat, er haßt Zoff, egal wie der aussieht.«
»Sie geben also zu, daß Sie nicht nur für van Staaten arbeiten, sondern auch für Kremers. Das ist sehr vernünftig von Ihnen.« Ich hatte auf den Knopf gedrückt und zeichnete das Gespräch auf. »Lassen Sie mich mal ein bißchen träumen. Kremers hat Ihnen gesagt, Sie sollen jeden Kontakt mit Kunden notieren, mit Namen, mit Autokennzeichen, mit Wohnort, mit Alter, mit Kindern, warum und wieviele. Das ist doch so, oder?«
»Na ja, klar. Er will die Szene im Landkreis trockenlegen. Und deshalb braucht er den totalen Überblick.«
»Was zahlt er Ihnen?«
»Den Sprit, klar, dann kriege ich tägliches Bewegungsgeld von einhundert Mark. Garantie im Monat zweitausend.«
»Was ist mit dem Stoff, den Sie weiterverkaufen?«
Er wollte nicht antworten.
»Hören Sie, Jimmy, machen wir uns nichts vor, die Sache fliegt sowieso auf. Also, was machen Sie mit Ihren Gewinnen?«
»Die kann ich behalten«, gestand er tonlos.
»Passen Sie auf«, hämmerte ich ihm ein, »Business as usual. Seien Sie normal erreichbar, notieren Sie jeden Kontakt, verhalten Sie sich normal, steigen Sie auf jeden Kunden ein, auf jede Bestellung. Falls van Straaten anruft, dann ...«
»Der ruft nie an. Kremers auch nicht. Wir treffen uns immer.«
»Regelmäßig?«
»Nein, nach Bedarf. Wenn ich ihn sehen will, rufe ich in seinem Büro an und bestelle schöne Grüße von seiner Frau, er soll mal zu Hause anrufen. Dann treffen wir uns.«
»Wo?«
»Auf der Straße von Dreis-Brück nach Heyroth. Da gibt es einen Waldweg nach links in einer scharfen Kurve. Kann ich mal was fragen?«
»Sicher können Sie das.«
»Wird Kremers verhaftet?«
»Mit absoluter Sicherheit«, sagte ich.
»Können Sie denn meinem Vater ... ich meine, wenn mein Vater das erfährt, schmeißt er mich zu Hause raus.«
»Sie müssen es ihm sagen, da führt kein Weg daran vorbei. Sie werden ein wichtiger Zeuge sein. Jetzt passen Sie auf! Wenn ich mich das nächste Mal melde, dann nur kurz. Sie müssen anschließend Kremers zu einem Treffen bitten. Aber nicht auf dem Waldweg, sondern auf einem Bauernhof. Schreiben Sie das ruhig auf. Die Leute heißen Adolphi mit ph. Sie müssen Kremers einen Grund dafür angeben. Sagen Sie, Sie haben enormen Krach mit Ihrem Vater, und Adolphi ist Ihr Fluchtpunkt. Glauben Sie, das wird gehen?«
»Ich hoffe es, ja, es wird gehen«, sagte er. »Muß ich dann dort hinfahren?«
»Na sicher«, sagte ich. »Er muß dort Ihr Auto stehen sehen.«
»Hoffentlich geht das gut«, seufzte Jimmy.
»Das hängt auch von Ihnen ab«, erwiderte ich.
Um zwei Uhr tauchte Emma in einem sehr kostbar wirkenden Morgenmantel auf und stöhnte: »Ich kann nicht schlafen. Und Rodenstock schläft auch nicht. Dinah und Monika sind auch noch wach.«
»Ich habe sowieso noch eine Frage. Die Antwort ist nicht so wichtig, aber in s'Hertogenbosch wolltest du uns erzählen, wie van Straaten Menschen ausnützt. Und wir haben dich aus dem Thema geschmissen. Wie macht er es denn?«
»Legal, sehr legal«, sie lächelte und hockte sich auf die Sofakante. »Er macht es brutal und rücksichtslos, wie harte Manager es machen sollen. Er hat auf dem Antiquitätensektor Mitbewerber aus dem Weg gedrückt, indem er in kritischen Phasen anonyme Anzeigen gegen sie laufen ließ. Meistens wegen Steuerhinterziehung. Er hat sich in Familien von Konkurrenten hineingeschlichen, bis er alles über ein bestimmtes Geschäft wußte. Dann hat er einen günstigen Augenblick abgewartet und das Geschäft übernommen. Er hat laufend angebliche Schwarzkonten in Liechtenstein oder der Schweiz, in Luxemburg oder sonstwo auf der Welt anonym angezeigt. Da sowohl Polizei wie Steuer auf diese Anzeigen eingehen müssen, verschaffte er sich Konkurrenten gegenüber einen zeitlichen Vorsprung. In einem Fall in Hongkong, als es um die Einrichtung eines ganzen Luxushotels ging, hat er unserer Meinung nach einen Mitbewerber töten lassen. Wir sind da ziemlich sicher, aber zu beweisen war wie immer nichts. Bist du unsicher? Denkst du, er kann vielleicht doch ein netter Kerl sein?«
»Nein, nach Ole und Betty denke ich das nicht mehr.« Um drei Uhr verschwand sie, um einen weiteren Schlafversuch zu unternehmen, und ich legte mich auf das Sofa und starrte in das tintenschwarze Fenster zum Garten hin. Um sechs Uhr morgens wurde der Trierer Volksfreund ausgetragen. Unsere Meldung stand auf der Eifelseite 1. Der Countdown hatte begonnen.