Kapitel 28

 

Seit Maurice und Aliénor abgereist waren, fand Valentine keine Ruhe. Niemals hätte sie gedacht, solche Sehnsucht zu empfinden. Es machte sie schier verrückt, nicht zu wissen, ob die beiden gut angekommen waren und wann sie zurückkehren würden. Seit seiner kurzen SMS hatte Maurice sich nicht mehr gemeldet.

Drei Tage und Nächte waren mittlerweile vergangen, und auch Frédéric schaffte es kaum, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Mit jedem weiteren Abend sah er unausgeschlafener und unzufriedener aus, gab mürrische knappe Antworten und starrte während des Essens schweigend vor sich hin. Sofern er überhaupt etwas zu sich nahm. Nicht einmal Magdalena, die unbeschwert mit Tiziana und Olivier über ihr früheres Leben plapperte, schaffte es, ihn einzubeziehen und abzulenken.

»Sollen wir ein wenig trainieren?«, fragte Frédéric am Ende des Mahls, nachdem die anderen sich verabschiedet hatten. »Ich komme mir gerade ziemlich überflüssig vor.«

Seine Offenheit und das Wissen, dass es ihm nicht besserging als ihr, waren auf gewisse Weise wohltuend. Ein Schwert- oder Degengefecht würde sie beide für eine Weile ablenken und ihre unterdrückten Frustrationen bekämpfen. Sie nickte. Es machte keinen Sinn, sich über die Unterlagen zu setzen und zu arbeiten, wenn sie Konzentrationsschwierigkeiten hatten.

Wenig später betraten sie gemeinsam den Dojo des Schlosses. Frédéric nur mit einer weiten Kampfhose bekleidet, Valentine mit einem schwarzen Top und einer eng anliegenden Lederhose, beide barfuß. Je nachdem, mit welcher Waffe sie gegeneinander antreten würden, würde sich die passende Schutzkleidung ergeben.

Sie durchquerte den Raum und gab auf einem in die gegenüberliegende Wand eingelassenen Tastenfeld eine Zahlenkombination ein. Mit einem kaum wahrnehmbaren Klick öffnete sich eine der großen Holzplatten der Wandtäfelung und fuhr hinter die daneben liegende zurück, um die Sicht auf die beachtliche Waffensammlung freizugeben.

Valentine machte eine ausschweifende Handbewegung und sah ihren Bruder auffordernd an. Durch ihn hatte sie mit dem Breitschwert, japanischen Schwertern, Degen, britischen Langbogen, aber auch Schusswaffen kämpfen gelernt, was für eine Dame ihres Standes in der Vampirgesellschaft vollkommen unüblich war. Frédéric hatte beizeiten erkannt, dass seine Schwester einen Ausgleich zu ihrer Stubenhockerei benötigte. Durch die Konzentration auf das Wesentliche — Bewegung, Atmung, vollkommene Kontrolle — hatte sie allmählich innere Ruhe und Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten wiedergewonnen, ohne die sie sich vor kurzem bestimmt nicht allein aus dem Schloss getraut hätte. Gerade jetzt, in dieser angespannten Situation des Wartens, würden ihnen die vertrauten, über Jahrhunderte in Fleisch und Blut übergegangenen Bewegungen helfen, ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden.

Frédéric deutete auf zwei schlanke, leicht gebogene asiatische Schwerter. Jede dieser Klingen hatte einen unermesslichen Wert. Sammler würden dafür ein Vermögen bezahlen. Nur würde ihr Bruder niemals eine dieser Waffen veräußern. Jede einzelne hatte ihre eigene Geschichte. Auch dies war ein Grund, warum Frédéric sich irgendwann entschlossen hatte, diesen gut gesicherten Schrank für ihre Aufbewahrung erbauen zu lassen.

Valentine wusste, dass sie, wenn er diese Schwerter auswählte, ohne Schutzkleidung kämpfen würden. Umso konzentrierter und umsichtiger würden sie gegeneinander antreten, fast wie in einem Schaukampf. Keiner von ihnen hatte dabei jemals eine Verletzung davongetragen.

Gerade hatten sie mitten im Raum Stellung bezogen und klirrend zum ersten Mal die Klingen gekreuzt, als die Melodie von Frédérics Handy ertönte. Beide erstarrten in ihrer Bewegung, im Blick des anderen gefangen. Frédéric löste sich als Erster und trat einen Schritt zurück, ehe er sein Schwert senkte, eine Verbeugung andeutete und sein Telefon aus der Hosentasche holte. »Verzeih.«

Stirnrunzelnd sah Valentine ihm zu. Wieso hatte er es nicht wie sonst in seinem Zimmer zurückgelassen, um nicht abgelenkt zu werden? Zumal Aliénor bestimmt nicht anrufen würde, da sich im Elfenland keine Verbindung aufbauen ließ.

»Oui?«

Seinem freudigen Gesichtsausdruck entnahm Valentine, dass es sich bei dem Anrufer aber doch um Aliénor handelte. Neugierig verfolgte sie, wie sein Mienenspiel zwischen Erleichterung und Anspannung wechselte. Vor jedem anderen hätte er seine Empfindungen verborgen.

»Aliénor, wann?«

Sie erwiderte etwas, und obwohl Valentine nicht verstand, was die Elfe sagte, hörte sie, dass ihre Schwägerin überaus schnell und aufgeregt sprach. Frédéric nickte stumm, als könne sie es sehen.

»Ist deine Mutter sich sicher, dass sie es so haben will?« Wieder horchte er.

»Natürlich, wir werden da sein. Bis gleich, mon amour.«

Er legte auf, ging zurück zum Schrank, wischte Klinge und Griff mit einem weichen Tuch ab und hängte das Schwert an seinen Platz zurück.

»Sagst du mir bitte, was los ist?«, fragte Valentine voller Ungeduld.

»Wir treffen uns in zwei Stunden am Kölner Dom zu einer Beerdigung.«

 

Nur selten in ihrem Leben hatte Valentine so unschlüssig vor ihrem Kleiderschrank gestanden. Dabei spielte es gar keine Rolle, was sie anzog. Für die Beerdigung dieses verfluchten Vampirjägers war selbst ein Lumpen zu schade. Würde es sich nicht ausgerechnet um Maurice Vater handeln, hätte sie sich geweigert mitzugehen. Um seinetwillen würde sie daran teilnehmen, um ihn mental zu unterstützen, und nur für Maurice wollte sie die Schönste weit und breit sein.

Es war lächerlich. Seit wann machte sie sich Gedanken darüber, unbedingt gefallen zu wollen, sich von ihrer besten Seite zu zeigen? Wenn er dieselbe Sehnsucht empfand wie sie, spielte Kleidung überhaupt keine Rolle. Er würde es vermutlich nicht einmal wahrnehmen, sondern sie sofort küssen … Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Seit sie wusste, dass sie sich in Kürze wiedersehen würden, nahm der lustvolle Schmerz in ihrem Körper in einem beinahe unerträglichen Maße zu. Sie fühlte seine Hände, wie sie zärtlich über ihre Haut glitten, und seine Küsse, die brennende Male hinterließen. Niemals, nach all den Jahren der Enthaltsamkeit und Angst vor sexueller Berührung, wäre sie auf die Idee gekommen, dass dieses körperliche Bedürfnis wundervoll und drängend sein könnte.

Nein, es handelte sich um die Beerdigung seines Vaters, an etwas anderes würde ihr Geliebter sicherlich nicht denken. Auch wenn diese Vater-Sohn-Beziehung nicht ideal verlaufen war, so war es immerhin sein Vater, den er zu Grabe trug. Noch dazu durch eigene Schuld.

Valentine fühlte sich selbst ebenfalls nicht unschuldig dabei. Hätte sie sich nicht mehrfach mit Maurice getroffen, würde sein Vater noch immer eine Gefahr für alle Vampire darstellen! Schluss jetzt mit dem Grübeln! Ihre Gefühle schwankten zwischen Schuld und Wut. Es war nun mal so, wie es war. Ein Vampirjäger weniger bedeutete mehr Sicherheit für sie und andere paranormale Wesen. Geoffrey Boux war bewusst ein Risiko eingegangen und hatte verloren.

Prüfend starrte Valentine ihr Spiegelbild an und merkte nicht, wie ihr Bruder eintrat, bis er hinter ihr auftauchte und ihre Blicke sich im Spiegel trafen.

»Wow! Die Liebe macht dich noch schöner, Schwester.« Wie zärtlich seine Stimme dabei klang.

Hitze flammte in Valentines Unterleib auf, und ihr Gefühl schwankte zwischen Maurice und Frédéric hin und her. Sie liebte ihren Bruder über alles. Aber sie liebte ihn als Bruder, nicht als Mann. Trotzdem brachte sie dieser Moment inniger Nähe kurzzeitig vollkommen aus der Fassung, und sie traute sich nicht, etwas zu erwidern. Aus Angst, sich zu verraten.

»Du siehst fantastisch aus«, ergänzte Frédéric mit einem Lächeln, während er zurücktrat und sie mit Kennerblick von oben bis unten musterte.

Das hautenge Lederbustier, unter dem sie eine schwarze Spitzenbluse trug, betonte ihre Brüste und ihre schlanke Taille. Die Spitze begann schmal, wurde nach oben breiter, schmiegte sich ihr Dekolleté entlang und ging im Nacken in einen hohen Stehkragen über. Eine uralte, fein gearbeitete Goldkette ihrer Mutter mit einem Anhänger aus Lapislazuli schmückte ihren Ausschnitt. Zu Bluse und Bustier trug sie einen langen Rock, der über Hüfte und Po in Minirocklänge aus Leder gearbeitet war und sich nach unten in fließendem, schwarzem Stoff fortsetzte. Bestimmt würde sie in diesem Outfit auffallen, obgleich Großstadtmenschen schon vieles gewöhnt waren und sie vermutlich für eine Gothic-Anhängerin hielten.

Problemlos materialisierten sich die Geschwister und schritten Seite an Seite auf die Wartenden zu, die mit Jeans, Pullover und Jacke zeitgemäß bekleidet warteten. Selbst Aliénor, die von Aldin gelernt hatte, ihre Flügel zu verbergen, wirkte unauffällig normal. Nur wer genau hinsah, entdeckte die zwei Schlitze im Rücken ihrer Jacke, die sich leicht aufblähten. Impulsiv reckte sie sich Frédéric entgegen, schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn hingebungsvoll.

Valentine fühlte sich in der Gegenwart der anderen und Chantals Trauer zu gehemmt, um Maurice so herzlich zu begrüßen, wie sie es gerne getan hätte. Als er ihr die Entscheidung abnahm und sie in seine Arme zog, um sie innig zu küssen, gab sie nach und vergaß für Sekunden, wer und wo sie war. Sein Kuss war viel zu lustvoll, um davon unberührt zu bleiben. Jeder Zweifel, ob er sie wohl vermisst hatte, verlor dabei an Bedeutung. Sein Körper war warm und drängte sich gegen ihre Brüste. Ihre Brustwarzen reagierten darauf, indem sie sich gegen die Enge des Bustiers wölbten und so lustvoll prickelten, dass Valentine sich nur mit Mühe beherrschen konnte, nicht vor Wonne zu seufzen.

»Du siehst toll aus«, flüsterte Maurice an ihrem Ohr, ehe sie sich aufgewühlt voneinander lösten. »Ich verblasse neben dir.« Ein Poet war er also auch? Unpassend in diesem Augenblick oder auch nicht, er empfand dieselbe Sehnsucht wie sie. Das war das einzig Wichtige für sie.

Maurice ergriff ihre Hand. Diese einfache Berührung genügte, um dem Pulsieren in ihrem Schoß Nahrung zu geben. In der Dunkelheit würde es niemand bemerken, wie sehr ihre Wangen glühten.

Chantal wirkte traurig, aber gefasst und begrüßte jeden mit einem auf die Wange gehauchten Kuss. Dann hob Maurice die Tasche hoch, in der sich die Urne befand, und ging Hand in Hand mit Valentine voraus.

Nach komplizierten unterirdischen Arbeiten war vor einigen Jahren ein neuer Eingang für die Turmbesteigung geschaffen worden, um dem jährlichen Ansturm der Hunderttausende von Besuchern gerecht zu werden. Valentine öffnete mit magischer Kraft die Tür zum Treppenabgang, der sie zunächst zu den mittelalterlichen Fundamenten hinabführte, dann über einen Tunnel durch die Fundamentmauer des Südturms. Anschließend gelangten sie zu der Wendeltreppe, die sie über fünfhundertneun Stufen hinaufführen würde.

»Hier, haltet mal«, bat Aliénor, ehe sie aufstiegen, und reichte jedem eine weiße Kerze, die sie aus einem Beutel hervorholte.

»Das war Aldins Idee, dass wir Kerzen mitnehmen sollten«, erklärte Chantal.

Ehe sie darum gebeten wurde, entflammte Valentine mit ihren Gedanken die Dochte. Den Aufstieg im Dunkeln, Wände und Stufen nur vom warmen Kerzenschein beleuchtet, empfand selbst sie als Geschöpf der Nacht mystisch. Als Vampire hätten sie und Frédéric sich natürlich am liebsten auf den Turm materialisiert. Aber das wäre unfair den anderen gegenüber gewesen, und so schritten sie Stufe um Stufe mit hinauf, bis zur Plattform in fast hundert Metern Höhe.

»Sind wir bald da?«, keuchte Chantal.

Auch Maurice und Aliénor schnauften von der ungewohnten Anstrengung des Aufstiegs. Als sie nach draußen traten, schlug ihnen ein eisiger Wind entgegen, der sofort die Kerzen ausblies. Alle zogen ihre Jacken zu. Der Wind zerzauste Valentines und Aliénors langes Haar.

Am Stadtrand braute sich eine dunkle Gewitterfront zusammen. Valentine entging nicht das kurze Stirnrunzeln, als Frédéric den Himmel in der Ferne musterte, um zu sehen, was da schnell näher kam.

»Lasst uns um die Ecke gehen, sonst fliegt uns die Asche entgegen.« Er schrie gegen den Wind an, um sich verständlich zu machen.

Alle folgten ihm. Während Maurice die Urne hielt, schraubte Frédéric den Deckel ab. Sofort griff der Wind in das geöffnete Gefäß, saugte einen Teil der Asche heraus und wirbelte ihn wie in einem Trichter in die Luft empor. Chantal hielt schützend ihre Hände über die Urne, nahm eine Hand voll Asche, wandte sich der Brüstung zu und hielt die Hand ins Freie.

»Ruhe in Frieden, Geoffrey. Möge Gott dir deine Taten verzeihen.« Ihre Stimme erstarb in einem Schluchzen, während Aliénor und Maurice leise »Amen« anfügten.

Plötzlich dröhnte der Turm vom Klang einer Glocke. Chantal griff erschrocken nach Valentines Arm, da sie ihr am nächsten stand.

»Heiliger Sankt Peter«, stieß sie atemlos hervor. Ihr Gesicht zeigte sich noch blasser als zuvor.

Dr decke Pitter, wie die Sankt-Peters-Glocke im Volksmund liebevoll genannt wurde, war eine der acht Glocken des Kölner Doms und die größte, frei schwingende Kirchenglocke der Welt. Nur zu besonderen Festtagen erhob sich ihr sonorer Klang über die Dächer der Stadt. Das wusste jeder. Valentine hätte dies gern als Zufall abgetan, aber die Glocke schlug mit solcher Wucht, dass das Mauerwerk bebte.

Dessen ungeachtet schüttelte Maurice die restliche Asche aus der Urne. Der Wind zerrte an seinen Armen, als könne er es kaum erwarten, die Überreste von Geoffreys Körper hinaufzutragen, zu verwirbeln und auseinanderzureißen, nur um sie noch einmal zusammenzublasen und dann endgültig aufzulösen.

Ein letzter, fast wütender Schlag der Glocke erschütterte den Turm. Dann kündeten langsamer und leiser werdende Töne davon, dass die Glocke allmählich an Schwung verlor und der Klöppel sein Ziel nicht mehr traf. Dafür gewann die finstere Wolkenfront an Konsistenz und kam mit atemberaubender Geschwindigkeit näher.

Valentine befiel ein Frösteln. Ihre Instinkte schlugen Alarm. Das Wetter hatte überhaupt keine Gewitterbildung begünstigt. Nichts, was in diesem Moment geschah, war normal. Hier waren dämonische Kräfte am Werk.

Mit einem Taschentuch tupfte Chantal sich ein wenig umständlich die Tränen von den Augen und verlor unter dem Windstoß, der sie in den Rücken traf, fast das Gleichgewicht. Maurice ergriff geistesgegenwärtig ihren Arm und stützte sie, ehe sie gegen die Brüstung taumelte. Der Turm wurde so heftig umtost, als wolle der Wind ihn aus dem Fundament reißen. Die Kleidung aller wurde aufgebläht, und ihre Füße standen alles andere als fest auf dem Boden. Wäre Valentine allein gewesen, hätte sie sich an einen sicheren Ort transformiert.

»Weg hier, wir müssen wieder runter, sofort!«

Frédéric schob Aliénor und Chantal energisch Richtung Tür. Als sie zurück um die Ecke biegen wollen, schlug ihnen der Sturm so heftig entgegen, dass es Minuten zu dauern schien, bis sie endlich den Ausgang erreichten. Innen im Turm war es eiskalt, die Stufen mit einer glatt gefrorenen Schicht bedeckt.

Es war Chantal anzusehen, dass diese unerwarteten Veränderungen sie ängstigten. »Maurice, was geht hier vor

Frédéric ging voraus. »Gib mir deine Hand, wir alle zusammen schaffen das.«

Der Sturm rüttelte wie ein wütendes Ungeheuer am Turm. Lautes Krachen und Poltern war von draußen zu hören. Ein kalter Schauer erfasste Valentine. Der Turm würde doch wohl nicht ausgerechnet heute, nach so vielen überstandenen Jahrhunderten, in sich zusammenstürzen? Ein Zittern raste von unten die Stufen herauf, zwischen ihre Beine hindurch und spaltete die Stufen entzwei. Aliénor und Chantal schrien erschrocken auf.

»Keine Sorge. Der Turm ist so stabil, der hält sogar ein Erdbeben der Stärke 6 auf der Richterskala aus«, versicherte Frédéric und eilte unbeirrt von all dem weiter die Stufen hinunter, wobei er Chantal mit stützender Hand hinter sich herzog.

Und wenn sich die Experten irren, die den Dom als relativ erdbebensicher einstufen? Wer will das schon so genau wissen?, zweifelte Valentine.

»Weiter«, drängelte Maurice.

Mehr rutschend als gehend schlitterten sie die Treppe hinunter und stießen sich an den Wänden. Einzig Chantal, dank Frédérics Hilfe, und Aliénor, die ihre Flügel zu Hilfe nahm, kamen unbeschadet unten an. Endlich hatten sie es geschafft. Diesmal nahmen sie den kürzeren und bequemeren Weg durch das Kirchenschiff und rannten durch einen Seiteneingang hinaus.

Der Platz um den Dom war mit Bruchstücken des gotischen Maßwerks übersät, das von den Türmen, dem Dach und der Fassade herabgestürzt war. Ein Trümmerfeld ohnegleichen. Sirenengeheul erfüllte die Luft, und Menschen liefen in Panik schreiend hin und her.

Es gab keine Zweifel. Die Erfüllung der Prophezeiung rückte in immer schnellerem Tempo näher. Hand in Hand machten sie sich hastend auf den Weg zum Auto, das Maurice in einem Parkhaus abgestellt hatte. Mit festem Griff, als könne er sie sonst verlieren, nahm er Valentines Hand in seine, und sie erwiderte den Druck seiner eiskalten Finger. Obwohl auch er nicht aufzuhalten vermochte, was geschehen würde, war ihre Erleichterung groß, ihn in ihrer Nähe zu wissen. Es war, als ströme seine Liebe direkt von seiner Hand in ihren Körper und brachte ihn zum Schwingen. Die alles andere als sinnliche Stimmung verhinderte keineswegs das Sehnen, das seit dem Wiedersehen in ihren Adern brannte. Und wenn sie ihren Bruder anschaute, wusste sie, es erging ihm nicht anders.