Kapitel 17
Außer sich vor Wut und Enttäuschung rannte Valentine die Treppe der Dombibliothek hinunter, auf der sie sich materialisiert hatte, und hinaus auf die Straße. Es war kaum zu glauben, was ihr passiert war. Offenbar hatte die lange Zeit, die sie nur auf Schloss Bonville verbracht hatte, ihre Instinkte getrübt. Sonst hätte sie rechtzeitig erkannt, welche Absichten Maurice wirklich verfolgte, statt seinem Charme zu erliegen. Erst etliche Straßenzüge später hatte ihr aufgewühlter Geist sich so weit beruhigt, dass es ihr – in einem Hauseingang verborgen – gelang, sich ein zweites Mal zu dematerialisieren und heimzukehren.
In ihrem Herz stach es permanent schier unerträglich. Niemals hätte sie Maurice diese Niederträchtigkeit zugetraut. Sie war einem Vampirjäger auf den Leim gegangen, wie peinlich war das denn! Wahrscheinlich hatte er nur eines im Sinn gehabt, sie in sein Bett zu bekommen und dann … Sie wagte es nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken.
Dennoch hatte sie gezögert, ihren Verfolger vor den Augen von Maurice zu erschießen. Sie verstand nicht, was sie davon abgehalten hatte. Glücklicherweise war der Streifschuss nicht nennenswert. Nur der Riss im Ärmel war verdächtig, und sie hoffte, dass er niemandem auffallen würde.
Ihr Handy vibrierte. Frédéric hatte den Klingelton ausgeschaltet, damit sie unterwegs nicht in Schwierigkeiten geriet. Auf dem Display war ein Name zu lesen: Maurice. Sie steckte es wieder in die Tasche und hoffte, es würde von allein verstummen.
Am besten verkroch sie sich erst mal in ihrem Zimmer. Gefühle waren gefährlich, sie verwirrten den Kopf und beeinflussten die Handlungsweise. Das könnte tödlich enden. Bis zum nächsten Sonnenuntergang musste sie sich beruhigt haben und wieder in der Lage sein, klare Gedanken zu fassen. Es gab da eine Sache, die sie nicht verstand. Wenn Maurice selbst ein Vampirjäger war, wieso hatte er dann den anderen erschossen und sie laufen lassen? Stand er in Konflikt mit seinem Job und der Liebe zu ihr?
Hätte sie geahnt, in welche Komplikationen sie verwickelt werden würde, hätte sie das Schloss nicht verlassen! Niemals!
Eilig durchquerte sie das Foyer. Je eher sie über diese Schmach hinwegkam, umso besser. Es war nicht nötig, dass jemand ihr ihren Kummer anmerkte.
»Madame La Duchesse?«
Die sanfte Stimme des Butlers zwang sie innezuhalten. Er stand mitten auf der Treppe, die zum oberen Stockwerk führte.
»Ja, Bertrand?«, versuchte sie, ruhig und gefasst zu antworten.
»Wisst Ihr, wo sich Monsieur Frédéric aufhält, Madame La Duchesse?«
Wenn Frédéric nicht vor ihr heimgekehrt war, versuchte er demzufolge noch, Aliénor zu finden. Ein aussichtloses Bemühen. Vampiren war es nicht möglich, sich auf die Seite der Seelen zu transformieren.
Valentine hatte ihren Bruder nur einmal in ihrem Leben so aufgewühlt und verzweifelt erlebt wie in dem Augenblick, als sie ihm alles erzählt hatte. Er war in den Ballsaal gestürzt und hatte wie ein Verrückter auf den Spiegel eingeschlagen, als ob das etwas ändern würde. Fast befürchtete sie, der alte Kristallspiegel würde daran zerbrechen. Wie durch ein Wunder hielt er jedoch stand.
Sie machte sich Vorwürfe. Wäre sie nicht so verblendet und verliebt gewesen, hätte sie sich um Frédéric gekümmert und versucht, ihm irgendwie beizustehen.
»Nein, Bertrand. Ich hatte gehofft, mein Bruder wäre längst zurück.«
Möglicherweise bat Frédéric den Hüter um Hilfe. Da die Welt der Geister und Verstorbenen ein ganz eigenes, von allen anderen abgeschottetes Reich darstellte, würde dieser ihm vermutlich nicht helfen können. Mit Sicherheit wusste sie dies jedoch nicht.
Bertrands betroffenes Gesicht rief danach, ihn zu trösten, obwohl sie doch selbst des Trostes bedurfte, auch wenn sie sich nichts anmerken lassen wollte.
»Madame, darf ich Euch etwas zeigen?« Mitfühlend und treu bis in den Tod, war Bertrand als Angehöriger einer niederen, mit Menschengenen vermischten Vampirkaste seit langem in den Diensten der de Bonville. Niemals würde er diese Frage stellen, wenn es nicht von extremer Bedeutung wäre.
»Ja, was denn?« Valentine sehnte sich danach, endlich allein zu sein. Falls Frédéric bis zum Morgengrauen nicht zuhause wäre, würde sie ihm eine SMS schicken.
Der Butler wies auf der Treppe nach oben. »Bitte, Madame La Duchesse, im Ballsaal.«
Er ging voraus, hielt ihr die Tür auf und führte sie dann bis vor den Spiegel, der so viel tragische Bedeutung erlangt hatte.
Dieser unheilvolle Ballsaal. Valentine stockte der Atem. In krakeliger Schrift stand dort quer über den Spiegel in grau-metallic schimmernden Buchstaben geschrieben, als wäre es von der Rückseite in Spiegelschrift hineingekratzt worden: »Sorgt euch nicht, alles in Ordnung. Aliénor«
»Bertrand, du glaubst …« Valentine schwankte zwischen Hoffnung und Ungläubigkeit. »Eine Botschaft von Aliénor. Das ist immerhin etwas. Gut, dass du es mir gezeigt hast.«
Bertrand deutete eine Geste an, die ausdrückte, dass dies für ihn selbstverständlich sei.
Sie zückte ihr Handy. Vielleicht war dieses neumodische Gerät wenigstens für irgendetwas nützlich. Sie tippte eine kurze SMS – mit einem Stift schrieb sie eindeutig schneller – und hoffte, diese würde Frédéric bald erreichen. Egal, wo er sich befand.
»Euer Ärmel, Madame …«
Valentine winkte ab. »Es ist nichts. Nur ein Riss, den Roxanne bestimmt flicken kann.«
»Kann ich noch irgendetwas für Euch tun, Madame La Duchesse?«
Am liebsten viel Alkohol, damit ich meinen Schmerz ertränken kann, dachte Valentine grimmig. Für einige Stunden über nichts nachdenken zu müssen, das Gehirn betäuben, das wäre ein Traum. Andererseits, es wäre nicht mehr als eine Auszeit. Die vielen Probleme würden sich dadurch nicht in Luft auflösen.
»Nein danke. Sag mir Bescheid, wenn mein Bruder heimgekehrt ist.«
Es war bereits weit nach Mittag. Valentine fand keinen Schlaf. Seit Stunden grübelte sie abwechselnd über das Phänomen Maurice, nach wie vor fassungslos darüber, dass sie ihn nicht sofort als Schwindler entlarvt hatte, und ob es Aliénor gelingen würde, aus der Welt hinter den Spiegeln zurückzukehren. Falls nicht – es wäre nicht auszudenken, was Frédéric tun würde.
Bei nüchterner Betrachtung ihres Erlebnisses im Domarchiv drängte sich ihr mehr und mehr eine neue Schlussfolgerung auf, die ihren Zorn schwächte, ihre Verzweiflung jedoch neu schürte: Falls Maurice nicht zu den Vampirjägern gehörte, wie er beteuert hatte, dann hätte sie ihm Unrecht getan. Woher kannte er diese Männer? Wie groß war die Chance, dass er die Wahrheit gesprochen hatte?
Verdammt. Wütend über ihre Gedanken, die sich ohne Lösung im Kreis drehten, warf Valentine ein Kissen gegen die Wand und setzte sich auf. Am besten ging sie in den Trainingsraum und machte ein paar Übungen mit dem Schwert, das brachte oftmals den inneren Unfrieden ins Reine.
In diesem Moment klopfte es.
»Herein«, rief sie wenig begeistert über die Störung.
Frédéric trat ein. Er sah müde und verzweifelt aus. Dunkle Ringe unter den Augen und eine Stirnfalte, die sie bei ihm noch nie bemerkt hatte, zeugten von seinem Kummer.
»Wann bist du zurückgekommen?«
Frédéric trat näher und strich fahrig über seine Haare. »Gerade eben.«
»Mach keine Witze«, erwiderte Valentine.
»Wieso? Die Sonne ist vor zehn Minuten untergegangen.« Er musterte sie prüfend.
So weit war es schon gekommen, dass ihr Zeitgefühl versagte.
»Was ist mit dir los? Du bist schon die ganze Zeit so merkwürdig.«
Valentine winkte ab. »Nicht wichtig. Erzähl mir lieber, was du gemacht hast. Hast du Aliénor gefunden?«
Frédéric sank in einen Sessel und schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Danke für deine SMS, aber ich bin mir nicht sicher, ob die Nachricht am Spiegel von ihr selbst geschrieben wurde.«
Wenn nicht sie, dann konnte es nur der Geist eines Verstorbenen gewesen sein. Diese Möglichkeit zog Valentine eigentlich nicht in Betracht.
»Und wo warst du den ganzen Tag?«
Er zuckte mit den Schultern und blieb ihr die Antwort schuldig. »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich tun soll. Wie konnte Aliénor nur so unvernünftig sein und dieses Risiko auf sich nehmen?« Er seufzte. »Wir kennen keinen einzigen Fall, wo jemand aus den Spiegeln heimgekehrt ist. Ich ertrage den Gedanken nicht, sie vielleicht nie wiederzusehen.« Seine Hände verkrampften sich in den Armlehnen des Sessels.
Sein trauriger Gesichtsausdruck rührte Valentines Herz. Für den Schmerz, der in seinem Inneren tobte, wirkte er relativ gefasst. Sie war sich sicher, dass dieser äußere Anschein trog. Die kleine Elfe war die Liebe seines Lebens, und wenn ihr etwas zustieße …
»Aliénor ist eine starke Persönlichkeit. Wenn jemand es schaffen kann, dann sie«, erwiderte Valentine und hoffte, dass sie nicht nur überzeugend klang, sondern auch Recht behalten würde. »Sie kommt zurück!«
»Ich hoffe, du hast Recht. Ich wüsste nicht, was ich sonst machen sollte.« Er starrte vor sich hin.
Valentine sprach ihn nicht an. Ihr fehlte jegliche Idee, ihn aufzumuntern, glaubte sie doch selbst nicht an einen guten Ausgang. Sie waren zwei Pechvögel in Sachen Liebe und Beziehung. Wahrscheinlich hatte das Schicksal anderes für sie vorgesehen. Oder sie büßten für Vergehen, deren sie sich nicht bewusst waren.
»Grübeln bringt uns nicht weiter«, befand Frédéric mit bitterem Unterton. »Erzähl mir endlich, was dich zurzeit beschäftigt.«
Schade, sie hatte gehofft, er würde die Sache auf sich beruhen lassen.
»Du bist seit Tagen völlig verändert. Und behaupte nicht, dass ich mir das einbilde.«
Sie kannten sich einfach zu gut, um sich etwas vorzumachen. »Nun …«
Auf einmal schien es Valentine ganz einfach und sehr befreiend, über alles zu reden. Frédéric hörte ihr aufmerksam zu. Überraschung spiegelte sich auf seinem Gesicht wider, als sie von ihrer ersten Begegnung und den nachfolgenden Treffen mit Maurice erzählte – ohne zu sehr ins Detail zu gehen.
»Wow«, ein Lächeln spielte um seine Lippen. »Du hast dich verliebt. Das ist toll. Und er heißt Maurice?«
Valentine nickte. Zu gerne hätte sie gesagt, dass sie nicht verliebt wäre, aber das hätte Frédéric ihr nicht abgenommen.
»Und wie weiter? Wie ist sein Nachname?«
»Ähm, Devereux, warum?«
»Nur so«, winkte er ab. »Der Vollständigkeit halber. Erzähl weiter.«
Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen. Seine Miene war mit einem Mal sehr nachdenklich geworden. Bestimmt dachte er gerade an Aliénor.
Wenn sie schon dabei war, ihm von Maurice zu erzählen, warum nicht die ganze Wahrheit. Als sie von der Begegnung mit den Vampirjägern sprach und wie sie entkommen war, ballte er die Rechte zur Faust.
»Verdammt. Ich habe es dir gleich gesagt, du solltest nicht allein unterwegs sein, Valentine. Es ist einfach zu gefährlich.«
Sie versuchte, die Situation mit einem Lächeln zu entspannen. »Ist ja noch mal gutgegangen.«
»Dieses Mal. Wirst du ihn wiedersehen und mit ihm über alles reden?«
»Keine Ahnung. Irgendwie fühle ich mich von ihm hintergangen. Eigentlich will ich gar nicht wissen, woher er die Vampirjäger kennt, falls er selbst keiner von ihnen ist.«
Frédéric nickte, ohne ihr seine Meinung dazu zu verraten.
»Und was machen wir beide jetzt?«
Das Klingeln seines Handys schreckte sie auf.
»Oui?« Sekundenlang hörte Frédéric nur zu, und seine Züge wurden dabei Stück für Stück ernster. Er setzte sich aufrecht hin, seine Augen wanderten unruhig umher. Am Schluss erwiderte er knapp: »Merci. Ich bin Ihnen etwas schuldig«, dann legte er auf und sah Valentine mit eigenartigem Ausdruck an.
»Was ist? Wichtige Neuigkeiten?«
»Jaaa«, antwortete er gedehnt. »Es geht um deinen Maurice.«
»Er ist nicht mein Maurice!«, widersprach sie patzig. Am besten hielt sie sich von Männern fern, Vampiren wie Menschen. Beide brachten nur Probleme in ihr Leben.
»Sicher? Ich denke, du liebst ihn?«
Was sollte das? Wollte er sie wütend machen? »Einen Vampirjäger? Nein, jetzt, wo ich die Wahrheit kenne, ist das vorbei.«
Um Frédérics Lippen spielte ein eigenartiges Lächeln. »Er ist also doch ein Vampirjäger?«
Was war daran denn lustig? Seine Miene wurde wieder ernst. Jetzt verstand sie gar nichts mehr.
»Nun, wenn du ihn nicht wiedersehen willst, dann wird es dich wohl nicht interessieren, dass Maurice der Sohn des Mannes ist, den er vor deinen Augen getötet hat.«
Es war ihr, als gäbe ihr jemand mit einem harten Gegenstand einen Schlag auf den Kopf. Maurice hatte, um sie zu retten …
»Was?«
»Du hast mich richtig verstanden.« Seine Stimme klang sehr einfühlsam und besorgt. »Maurice hat seinen eigenen Vater erschossen, um dich zu retten.«
Valentine schluckte. Was für eine Katastrophe. Es wurde immer komplizierter. Selbst für den Fall, dass Maurice seinen Vater nicht besonders gemocht hatte, musste sich das grauenvoll für ihn anfühlen.
»Das ist noch nicht alles.«
In ihrem Kopf setzte ein teuflisches Summen ein.
»Er heißt nicht Devereux, sondern Boux.«
»Boux?« Wer zum Hüter hieß … Chantal hieß Boux mit Nachnamen. Nein, das durfte nicht sein. Ihr schwindelte.
»Der Tote war Geoffrey Boux, der berühmteste Vampirjäger Europas. Er hat bestimmt nicht damit gerechnet, dass Maurice abdrücken würde. Sonst hättet ihr alle beide keine Chance gehabt.«
Wie schrecklich. Und das alles nur ihretwegen.
»Woher weißt du das? Wer hat dich eben angerufen?«, presste sie mit letzter Kraft hervor.
»Ryad d’Or, der andere Vampirjäger, der dabei war.«
Valentine wollte nicht glauben, was er sagte. »Du kennst …«
Frédérics Mund verzog sich zu einem verlegenen Lächeln. »Ja, wir kennen uns. Er ist stutzig geworden, als Maurice dir etwas zugerufen und dabei deinen Namen genannt hat.«
Ein Zittern überzog ihren Körper. »Moment, wenn Maurice der Sohn von«, sie schluckte den Namen hinunter, »ist, dann ist er …« Nein, das konnte nicht sein.
»Doch, Valentine. Er ist Aliénors Cousin und Chantals Sohn.«
Vor ihren Augen drehte sich alles. Dann brach sie in Tränen aus.