ZUKUNFTSPLÄNE

Meine Ziele und Visionen für die Zukunft sehe ich klar vor mir. Ich möchte gerne 60 Prozent der Kinder aus Bukom herausholen. Diese und die nachwachsenden Generationen werden dann irgendwann in der Lage sein, die dortigen Verhältnisse zu ändern. Die Bukomer Bucht, aus der die Fischer morgens mit ihren Booten aufs Meer hinausfahren, liegt unglaublich idyllisch. Auf der einen Seite ist sie von einem steil abfallenden Felsen begrenzt, auf der anderen Seite von einem Leuchtturm. Warum sollte man hier nicht auch durch Tourismus Geld verdienen und aus dem Armenhaus Accras eine wahre Perle machen? Das ist nur eine von vielen Ideen, die mir durch den Kopf gehen. Bukom braucht Menschen mit Visionen, die sich nicht mit den jetzigen Zuständen abfinden.

Rund 40 Jahre ist es nun her, dass ich als Kind diese Armut erlebt habe, und bis heute hat sich an den Lebensbedingungen in Bukom nichts geändert. Es hat in diesem Viertel keinerlei Entwicklung gegeben und das liegt daran, dass die Bewohner niemals die Chance hatten, über den Tellerrand hinauszublicken. Weil sie nie die Gelegenheit erhielten, eine Schule zu besuchen und sich weiterzubilden, wissen sie auch nicht, auf welche natürlichen Ressourcen sie zurückgreifen können. Ich hoffe, dass »meine« Kinder Visionen entwickeln werden; African Angel wird ihnen das nötige Rüstzeug mitgeben. Was sie dann damit machen, bleibt ihnen selbst überlassen.

Ist der Neubau einmal fertiggestellt, möchte ich gerne ein zweites Grundstück mit Haus erwerben, um die Mädchen und Jungs räumlich noch mehr voneinander zu trennen. Da es mein Wunsch ist, die Zahl der Kinder bedeutend zu erhöhen, bietet sich eine solche Lösung geradezu an.

Eine weitere wichtige Vision ist die Gründung einer African-Angel-Universität. Schulabgänger mit guten Noten, aber schmalem Geldbeutel haben es in Ghana schwer, einen Studienplatz zu finden. Die Universitäten kosten eine Menge Geld, besonders die Abschlussexamina sind sehr teuer. Es kommt häufig vor, dass junge Menschen ihr Studium gerade noch irgendwie finanzieren, glänzende Noten haben, aber das Geld für die Abschlussprüfungen nicht aufbringen können. Dann ist alles umsonst gewesen.

Dieses Problem treibt viele Studentinnen in die Prostitution und Studenten auf die schiefe Bahn. Um das in Zukunft zu verhindern, muss eine weitsichtige Strategie entwickelt werden, die von Bestand ist.

Ich möchte daher eine Universität gründen, und zwar nicht nur für die Kinder von African Angel, sondern für alle begabten Abiturienten, die sich eine teure Hochschule nicht leisten können. Als Vorbild dienen mir hier die Schulen von SOS-Kinderdorf, die in Accra einen so guten Ruf genießen, dass auch reiche Eltern ihre Kinder unbedingt dorthin schicken wollen. Sie müssen hohe Schulgebühren bezahlen, die wiederum die Ausbildung von schlechter gestellten Schülern ermöglichen.

Diesem Modell soll auch die African-Angel-Universität folgen. Ich hoffe, in Europa Professoren dazu bewegen zu können, für einen bestimmten Zeitraum unentgeltlich an meiner Universität zu unterrichten. Auf diese Weise wird sie einen besonderen Ruf erlangen. Studenten reicher Eltern werden dann bereit sein, entsprechende Gebühren zu entrichten, während diejenigen, die sich ein Studium normalerweise nicht leisten könnten, Freiplätze erhalten.

Das ist natürlich heute noch Zukunftsmusik. Dennoch versuche ich den Vorstand zu überzeugen, dass wir uns, wenn die finanziellen Möglichkeiten es erlauben, bereits jetzt nach einem Grundstück für diese Universität umsehen sollten. Und zwar nach einem, das derzeit noch ein bisschen außerhalb liegt und darum günstig zu bekommen ist. Denn die Immobilienpreise steigen in Accra jährlich und die Stadt wächst kontinuierlich über ihre Ränder hinaus.

Ich weiß, für den Geschmack meiner Vorstandsmitglieder handle ich immer ein ganzes Stück zu schnell. Doch nur auf diese Weise lassen sich solche Großprojekte in die Tat umsetzen, und ich hoffe, dass sie das eines Tages einsehen werden. Wir müssen wie Unternehmer denken und in die Zukunft schauen, so wie ich damals in dem verwahrlosten Grundstück bereits das wunderbare Anwesen des »African-Angel-Cottage« sah und mich von dem immensen Arbeitsaufwand nicht abschrecken ließ, der zwischen dem damaligen Zustand des Objekts und meiner Vision lag.

Wir sollten daher schon jetzt an die Vision einer Universität glauben, die den Kindern von African Angel zugutekommen wird, die momentan auf der Warteliste stehen.

Darüber hinaus gibt es noch ein anderes Projekt, das mir am Herzen liegt und für das ich alle Einnahmen aus dem Verkauf dieses Buches verwenden werde. Im Vorstand ist einstimmig beschlossen worden, dass der Verkaufserlös für mich persönlich bestimmt ist. Doch was soll ich mit diesem Geld? Ich selbst benötige nichts. Aber ich werde mir einen Traum erfüllen, den ich habe, seit die größeren Mädchen von African Angel zu Teenagern herangewachsen sind.

Ich werde ein Haus bauen – genauer gesagt, eine elegante Villa. Und in dieser sollen »meine« Kinder einmal ihre Hochzeiten feiern können. Vor allem für die Mädchen ist das von großer Bedeutung, denn in Ghana können Standesunterschiede noch immer ein persönliches Glück zerstören. Es ist Sitte, dass die Brauteltern anlässlich einer Verlobung die Familie des Bräutigams in ihr Haus einladen. Bei dieser Gelegenheit wird sehr genau geschaut, aus welchem Haus das Mädchen kommt. Die Villa soll das Hochzeitshaus von African Angel sein, das ich den Eltern meiner Schützlinge für solche Anlässe zur Verfügung stelle.

Denn was nützt es unseren Mädchen, wenn sie eine fundierte Schulausbildung sowie ein tolles Studium vorweisen können, eine gute Arbeitsstelle bekommen, aber beim persönlichen Liebesglück doch wieder von ihrer Herkunft eingeholt werden? Was nützt ihnen all das, wenn eine Ehe mit einem jungen Mann aus der besseren Gesellschaft trotzdem unmöglich ist? So groß die Liebe zwischen zwei jungen Menschen auch sein mag, erfahren die Eltern, dass die Braut aus Bukom stammt, dann zerstören sie eine solche Beziehung. Darum möchte ich ein repräsentatives Haus bauen, das alle Kinder von African Angel als das Ihrige betrachten können.

Deutschen Lesern mag dieser Brauch altmodisch erscheinen, doch in Ghana kommt man an Gepflogenheiten wie diesen nicht vorbei. Mir ist am Glück »meiner« Kinder sehr viel gelegen, darum muss ich an alle Aspekte denken. Die Ausbildung ist mit Sicherheit der wichtigste Stützpfeiler, aber sie ist nicht alles. Auch das persönliche Glück muss auf einer guten Basis wachsen können.

Außerdem wird die Enge und Betriebsamkeit des »African-Angel-Cottage« für die Größeren, sobald sie sich dem Erwachsenenalter nähern, unerträglich werden. Auch dann wird die Villa für sie ein Rückzugsort sein, wo sie in Ruhe lernen und ihre Freunde einladen können, ohne sich schämen zu müssen. Zum Glück verfüge ich noch über ein kleines Familiengrundstück, auf dem ich diesen Traum verwirklichen kann.

Und schließlich gibt es noch etwas, das mich sehr bewegt und umtreibt: das Schicksal vieler afrikanischer Frauen in Deutschland. Denn ich habe feststellen müssen, dass mein Schicksal bei Weitem kein Einzelfall ist. Es gibt so viele Frauen, die voller Hoffnungen und Illusionen mit ihren Männern nach Europa kommen und ihnen dann, herausgerissen aus ihrem schützenden Familienverbund, völlig ausgeliefert sind. Selbst ich, die ich ziemlich selbstbewusst, resolut und durchaus in der Lage bin, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, brauchte damals so lange, um mich aus meiner albtraumhaften Ehe zu befreien.

Darum plane ich, möglichst bald einen zweiten Verein namens African Diva zu gründen. Er soll afrikanischen Frauen in Deutschland helfen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und sich gegen Misshandlungen und Unterdrückung durch ihre Ehemänner zu wehren. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Frauen in solchen Situationen das nötige Selbstwertgefühl fehlt. Die »Diva« im Vereinsnamen soll die Frauen daher an ihre Würde erinnern. »Diva« heißt übersetzt »Göttin«, und wenn wir uns darüber bewusst werden, dass jede von uns etwas Göttliches in sich trägt, lassen wir uns nicht so schlecht behandeln.

Zudem ist es wichtig, die Frauen über ihre Rechte zu informieren. Für meinen Verein möchte ich daher Anwältinnen gewinnen, die bereit sind, sich für dieses Projekt zu engagieren. Wenn Frauen richtig beraten und notfalls vor Gericht vertreten werden, dann haben sie einen ganz anderen Stand. Auf viele Männer wird das abschreckend wirken, sodass sie sich erst gar nicht mehr so viel herausnehmen werden.

Es gibt so viel zu tun. Ich hoffe, Gott schenkt mir ein langes Leben, damit ich all diese Pläne umsetzen und ihre positive Wirkung erleben kann.

BERNARD

Spreche ich darüber, was mir am Herzen liegt, dann steht natürlich mein Sohn an oberster Stelle. Unser Verhältnis ist viele Jahre lang nicht einfach gewesen und ich weiß, dass meine Abwesenheit während seiner Jugend dafür der Grund ist. Dieser Umstand allein wäre vielleicht gar nicht so schmerzlich für ihn gewesen, hätte meine Mutter nicht immer wieder ihren Finger in diese Wunde gelegt.

Wie bereits erwähnt, ist es in Afrika üblich, Kinder bei Verwandten aufwachsen zu lassen. Ich bin noch sehr jung gewesen, als Bernard auf die Welt kam. Die Umstände seiner Geburt waren nicht besonders glücklich und ich hatte geplant, meinen Sohn zu mir zu holen, sobald ich ein geordnetes Leben führen würde.

Doch so weit hatte es nicht kommen sollen. Mein damaliger Mann verfolgte andere Pläne mit mir, in denen Bernard nicht vorkam. Ich hatte nicht für immer in Deutschland bleiben, sondern nach meinem Studium nach Accra zurückkehren wollen. Weder aus meinem Studium noch aus meiner Rückreise ist etwas geworden. Aber ich hadere nicht mit meinem Schicksal, das ist nicht meine Art.

Ich bin fest davon überzeugt, dass Gott seine Pläne mit uns hat. Er wollte, dass ich nach Deutschland gehe. Er wollte auch, dass ich dort die Erfahrung machte, wie es ist, ganz unten zu sein. Er bürdet uns immer nur so viel auf, wie wir tragen können, und er weiß, dass ich eine Menge aushalte. Vielleicht hat er mir auch eine Lektion in Sachen Demut erteilt, ich weiß es nicht. Auf alle Fälle hatte ich als Klofrau in Deutschland letztlich viel mehr Möglichkeiten, meinen Kindheitstraum zu verwirklichen, als wenn ich in Ghana geblieben wäre – so paradox das klingen mag.

Es ist einfach, als erfolgreiche Computerfachfrau ein paar Kinder in Bukom zu finanzieren, so wie ich das schon in jungen Jahren gemacht habe. Aber als Reinigungskraft zusätzlich eine Stelle als Toilettenfrau anzunehmen und für jede 50-Cent-Münze dankbar zu sein, dafür muss man andere Kräfte mobilisieren. Und diese Kräfte strahlen auch nach außen und animieren die Menschen, ihren Beitrag zu leisten, sei er auch noch so klein. Mein Beispiel zeigt, dass man auch mit Kleinem Großes bewirken kann, und darum denke ich, dass Gott sich etwas dabei gedacht hat, als er mich diesen schwierigen Weg entlangführte.

Mein Sohn hat das lange nicht nachvollziehen können. Ich bin nicht für ihn da gewesen und andere Ziele waren wichtiger als er, ich habe ihn vernachlässigt – so hat es aus seiner Perspektive ausgesehen. Ich kann ihn verstehen. Wir haben erst wieder einen Zugang zueinander finden müssen, damit er begreifen konnte, wie alles gekommen war und wie sinnvoll meine Arbeit ist.

Bernard hat eine gute Schulausbildung erhalten und sein Abitur gemacht. Es war sein Wunsch, an der University of Ghana, der besten Universität unseres Landes, Medizin zu studieren. Bevor man dort für das eigentliche Medizinstudium zugelassen wird, muss man zwei Jahre in einer Art Vorstudium Punkte sammeln. Das erste Jahr hat er mit Bravour absolviert und die erforderliche Punktzahl erreicht. Dennoch hat er keinen Studienplatz bekommen und wird in der Ukraine studieren.

Inzwischen war meine Mutter von London nach Ghana zurückgezogen und wünschte sich, dass Bernard nicht mehr bei meinem Onkel, sondern bei ihr wohnen sollte. Sie drängte ihn geradezu und ließ ihm keine Ruhe. Mein Onkel und ich waren dagegen, weshalb es zu heftigen Auseinandersetzungen mit meiner Mutter kam. Bernard stand zwischen den Fronten, war total durcheinander und wusste nicht, was er wollte. Es fiel mir schwer, mich zurückzuhalten, aber ich wollte meinem Sohn nicht vorschreiben, wohin er gehen sollte. Ich durchschaute das Machtspiel meiner Mutter zwar und versuchte, ihm ihre Absichten klarzumachen. Bernard aber war unschlüssig.

Meine Mutter und meine Schwester umschmeichelten ihn, was seinem Ego guttat. Beide verwöhnten ihn mit teuren Geschenken, sie kauften ihm alles, was er sich nur wünschte. Das habe ich nie gemacht.

Wie viele Jugendliche verwechselte auch Bernard Geschenke mit echter Zuneigung und Liebe. Meiner Mutter und meiner Schwester kam es aber weniger darauf an, ihm eine wirkliche Hilfe zu sein, sondern sie benutzten ihn, um mich zu verletzen und aus seinem Herzen zu verdrängen. Wie subtil sie das versuchten und welchen Erfolg sie damit hatten, dafür gibt es viele Beispiele.

Meine Schwester, die weiterhin in London lebte, hatte sich in Accra ein Haus gebaut. Das zeigten sie Bernard, um anschließend zu meinem Grundstück zu fahren, das natürlich völlig verwildert dalag.

»Hier, das gehört deiner Mutter. Sag ihr, sie soll dir auch ein Haus darauf bauen, statt diese Bukom-Kinder zu unterstützen!«

Natürlich hatte Bernard kein Verständnis für mein Verhalten.

Das alles sah ich, wusste aber zugleich, dass mein Sohn seine eigenen Erfahrungen machen musste. Schließlich stellte ich ihn vor die Alternative: »Wenn du davon überzeugt bist, dass deine Tante und deine Oma es gut mit dir meinen, dann geh zu ihnen. Sie sollen sich dann um dich kümmern. Meine finanzielle Unterstützung erhältst du aber nur, wenn du bei meinem Onkel bleibst.«

Bernard entschied sich für meine Mutter und ich überließ ihn in dieser Zeit seinem Schicksal. Es zeigte sich sehr bald, dass ich richtig vermutet hatte: Es ging weder meiner Mutter noch meiner Schwester darum, Bernard auf seinem Weg ins Erwachsenenalter zu unterstützen, und prompt fiel er im zweiten Jahr des Vorstudiums durch seine Prüfungen und konnte nicht mit dem Medizinstudium beginnen. Zwei Jahre waren verloren.

Das war natürlich schlimm, aber Bernard tat so, als wäre das für ihn kein Problem. Er schrieb sich an der Uni im Fach Zoologie ein, als wäre das eine Alternative zur Medizin. Tatsächlich langweilte er sich aber zu Tode und verlor immer mehr den Spaß am Studieren. Meiner Mutter war es egal, ob er sich anstrengte oder nicht. Sie hat ihn weder motiviert noch unter Druck gesetzt. Alles schien egal und so warf Bernard sein Studium schließlich hin. Seine ehrgeizigen Pläne waren vergessen, er gab einfach auf.

Ich war entsetzt, aber wenn ich mit ihm am Telefon sprach, merkte ich, dass er noch immer nicht verstanden hatte, worum es eigentlich ging. Irgendwie, dachte er, würden sich die Dinge von allein wieder einrenken. Statt sich zu überlegen, wie es weitergehen könnte, ließ sich Bernard über ein Jahr lang einfach nur treiben und lebte in den Tag hinein. Eine Weile sagte ich zu all dem nichts. Ich hoffte, dass er früher oder später merken würde, dass etwas in seinem Leben schiefläuft.

Als ich wieder einmal in Ghana war, nahm ich Bernard mit zum »African-Angel-Cottage«. Es gefiel ihm dort. Auf einmal schien wieder Leben in ihn zu kommen. Er spielte mit den Kindern und unternahm mit ihnen Ausflüge. Ich merkte, wie froh er war, wieder etwas tun zu können, und sagte eines Tages zu ihm: »Bernard, es gäbe da ein paar Jobs zu erledigen. Hättest du Lust, zu helfen?«

Seine Augen leuchteten auf.

»Okay«, sagte er, darauf bedacht, cool zu wirken, »ich kann mir das ja mal anschauen.«

Trotz aller Coolness – er fand es toll, eine richtige Aufgabe zu haben und gebraucht zu werden. Ich wusste, dass ich es ihm nicht zu leicht machen durfte, und gab ihm nur unangenehme Jobs. Er musste richtig anpacken, schwere Sachen schleppen und auf dem Bau helfen. Das war er nicht gewöhnt. Er stöhnte, ich aber sagte ungerührt: »Na ja, du hast ja keine Ausbildung. So wie es aussieht, wirst du ein Leben lang so hart arbeiten müssen. Am besten gewöhnst du dich schnell daran. Oder du fängst nochmal neu an und lernst etwas.«

»Aber Oma sagt, es ist nicht schlimm, dass ich nicht studiere …«

»Wenn sie meint. Aber es ist dein Leben, nicht ihres! Kapierst du nicht, dass meine Mutter und meine Schwester nur mit dir spielen, weil sie eigentlich mich verletzen wollen?«

»Aber womit verletzen sie dich denn?«, fragte er erstaunt.  

»Weil sie wissen, dass du mein einziger Sohn bist und mein ganzer Stolz und ich sehr traurig bin, wenn du nichts aus deinem Leben machst.«

Da war er sprachlos. Das musste er erst einmal verdauen. Eine Weile ließ er sich so weitertreiben, kam ab und zu bei den Kindern vorbei, machte ein paar Jobs und verschwand wieder. Ich sah mir das ein Jahr lang an, dann sprach ich erneut mit ihm. Er schien nur darauf gewartet zu haben.

»Bernard, was würdest du denn am liebsten machen? Es muss ja nicht Medizin sein. Vielleicht habe ich dich zu sehr beeinflusst. Ich habe mir immer gewünscht, dass du als Arzt einmal bei African Angel mitarbeitest. Aber es ist dein Leben. Und du kannst selbst entscheiden, was du aus deinem Leben machen willst.«

»Nein«, widersprach Bernard, »du hast mich nicht gedrängt. Ich wollte schon immer Medizin studieren.«

»Bist du dir sicher?«

»Ja, absolut.«

»Dann musst du das nochmal versuchen! Du hast nicht ewig Zeit.«

»Ich weiß.«

»Dann weißt du aber auch, dass du zurück zu meinem Onkel gehen musst, wenn das mit dem Studium klappen soll.«

»Hm, ja vielleicht …«

»Also, pass auf: Ich unterstütze dich erneut für die Zeit deines Studiums. Aber nur, wenn du wieder bei deinem Großonkel einziehst. Entscheide dich: entweder Großonkel oder Oma, entweder Studium oder nicht.«

Er entschied sich für die Zukunft und das Studium und zog wieder bei meinem Onkel ein. An der Uni hatte er sich ein zweites Mal beworben und war – ausnahmsweise – angenommen worden. Er musste allerdings von vorn anfangen und kämpft nun wieder darum, die Punkte für das eigentliche Medizinstudium zu sammeln. Ein Jahr hat er schon geschafft und für das zweite sind wir zuversichtlich. Wenn es ihm gelingt, stehen ihm noch sieben Jahre Medizinstudium bevor.

Insgesamt hat er durch die Zeit bei meiner Mutter vier Studienjahre verloren. Ein teurer Spaß, denn in Ghana kostet ein Studium viel Geld. Aber ich will nicht sagen, dass diese Zeit für ihn vollkommen vergeudet gewesen ist. Er hat seine Erfahrungen gemacht und gesehen, dass ihm ohne eine gute Ausbildung ein hartes Leben droht. Er hat auch begriffen, dass meine Mutter und meine Schwester nur mit ihm gespielt haben und dass Menschen, die viele Geschenke machen, damit nicht nur Gutes im Sinn haben.

Die Zeit nach Bernards Entscheidung, einen zweiten Anlauf fürs Medizinstudium zu nehmen, ist für uns beide keine einfache gewesen. Es hat lange gedauert, bis er endlich verstand, warum ich nicht all mein Geld in ihn, meinen einzigen Sohn, investiere, sondern damit diesen Kindern aus Bukom helfe. Aber in den letzten beiden Jahren haben mein Sohn und ich durch meine Arbeit für African Angel in Ghana viel mehr Zeit miteinander verbringen können als jemals zuvor. Auch wenn ich nicht im Land bin, besucht Bernard regelmäßig die Kinder und hilft ihnen vor allem bei der Arbeit am Computer. Die Kinder lieben ihn und hängen sich in Trauben an ihn, wenn er auftaucht. Voller Freude habe ich beobachtet, dass auch er die Kinder immer mehr in sein Herz geschlossen hat. Vor Kurzem erzählte er mir, dass er sich an der Uni mit Freunden über ihre Familien unterhalten habe. Einer hatte drei, ein anderer fünf Geschwister.

»Und du?«, hatten sie meinen Sohn gefragt. »Wie viele Geschwister hast du?«

Und er, der immer ganz allein gewesen war, hatte geantwortet: »56!«

Zum Muttertag 2009 hat er mir eine SMS geschickt, die ich wie einen Schatz hüte. Er schrieb:

»Heute ist der Tag, an dem man Mütter feiern soll. Auch wenn es welche gibt, die sagen, sie hätten nie eine Mutter gehabt. Aber dir, Mum, sage ich an diesem Tag, dass es keine bessere Mum geben kann als dich. Eine Mutter sowohl für einen Sohn als auch für ein ganzes Universum. Ja, das ist die Art Mum, die du bist. Ich bin stolz auf dich. Ich fühle mich geehrt, dein Sohn zu sein.«

Ich bin unendlich glücklich, dass wir diese Nähe zueinander gefunden haben. Auch ich bin stolz auf ihn. Bernard wird ein guter Arzt werden, da bin ich mir sicher. Ich würde mich freuen, wenn er sich später dazu entschließen würde, bei African Angel mitzuarbeiten. Doch wie auch immer seine Entscheidung ausfallen wird, ich werde sie respektieren.

Bernard und sein Freund Philip tun heute schon so viel für die Kinder von African Angel. Die beiden sind wie Brüder und Philip ist für mich wie ein zweiter Sohn. Wenn ich in Ghana bin, steht er mir immer zur Seite, ob ich nun irgendwohin gefahren werden muss oder sonst ein Problem zu lösen habe. Auch er liebt die Kinder von African Angel, was auf Gegenseitigkeit beruht.

Manchmal, wenn es zwischen Bernard und mir mal wieder schwierig ist, wird Philip zum diplomatischen Vermittler. Wir haben beide unseren Dickkopf, mein Sohn und ich. Darum hat Gott uns Philip geschickt, damit er zwischen uns Dickschädeln ausgleichen kann.

FRIEDEN MIT DER VERGANGENHEIT

Vor ein paar Jahren entschloss ich mich, Anthony nach langem gegenseitigem Stillschweigen anzurufen. Ich fand, es war an der Zeit, Frieden zu schließen und den Kontakt wieder aufzunehmen. Schließlich habe ich in Accra ein Projekt aufgebaut, das ich nicht gefährden will. Anthony schien erfreut, nach all der Zeit von mir zu hören.

»Hey, ich habe dich im Fernsehen gesehen. Mein Gott, Harriet, du bist hässlich geworden! Bist gar nicht mehr das süße kleine Mädchen, das ich einmal so geliebt habe.«

»Ja«, sagte ich schmunzelnd, »wir werden eben älter.« Immerhin ist mein Exmann inzwischen Anfang 70.

»Aber dein Projekt«, fuhr Anthony fort, »das finde ich gut. Schade, dass wir nicht mehr zusammen sind. Wenn du willst, kannst du noch heute zu mir zurückkommen.«

Das war der heikle Punkt, auf den ich bereits irgendwie gewartet hatte.

»Warum sollte ich denn zurückkommen?«

»Weil ich nie eine Frau so geliebt habe wie dich.«

Ich wusste, wie charmant er sein konnte.

»Warum hast du mich dann so schlecht behandelt, als wir in Deutschland waren?«

Darauf hatte er keine Antwort.

Ich war trotzdem froh, mit ihm gesprochen zu haben. Seither telefonieren wir hin und wieder miteinander, allerdings nie, wenn ich in Ghana bin, sondern immer von Deutschland aus. Er soll nicht wissen, wann ich mich in Accra aufhalte.

Als ich damals gemeinsam mit Wolfgang nach Accra gereist war, wäre ich Anthony beinah in die Arme gelaufen. Wolfgang stöhnte unglaublich unter der Hitze und bat mich, einen angenehmeren Ort aufzusuchen, an dem es ein bisschen kühler war.

»Da weiß ich etwas«, sagte ich und fuhr mit ihm zu einem Biergarten, in dem es sogar Bier aus dem Fass gibt. Ein alter Freund aus meiner Jugend in Adabraka begleitete uns und sagte auf einmal: »Harriet, sieh dich jetzt bloß nicht um. Du hast keine Ahnung, wer direkt hinter dir sitzt!«

Mit den Lippen formte er stumm den Namen »Anthony«. Ich erstarrte. Ganz langsam standen wir auf und gingen. Mir klopfte das Herz bis zum Hals. Er hatte nichts bemerkt.

Bis heute möchte ich ein persönliches Treffen vermeiden, da ich nicht weiß, wie es verlaufen würde. Ich habe viel zu oft erlebt, dass aus dem vernünftigen, vornehmen Mann von einer Sekunde auf die andere ein Ungeheuer wurde. Immer noch sitzen mir Anthonys Drohungen im Nacken: »Wenn du je wieder einen Fuß auf Ghanas Boden setzt, bist du tot.« Oder wie er mir angekündigt hatte, er würde mich gleich nach meiner Ankunft am Flughafen verhaften lassen. Inzwischen ist in Ghana wieder die Partei an der Macht, der seine Familie angehört. Anthony hatte mir am Telefon erzählt, dass er selbst zu alt sei, um einen Regierungsposten zu übernehmen, aber verschiedene seiner Neffen bekleideten Ministerposten. Daher bin ich froh, mit ihm gelegentlich am Telefon freundschaftlich zu plaudern. Ich freue mich, wenn er stolz auf meine Arbeit ist. Neulich sagte ich ihm: »Es ist ja eigentlich deine Familie, die für Bukom zuständig ist. Siehst du, ich erledige also eure Aufgabe, wenn ich den Kindern helfe.« Das fand er gut.

Was geschehen ist, ist geschehen. Ich trage Anthony nichts nach. Zwar werde ich immer noch traurig, wenn ich daran denke, wie schön wir es miteinander hätten haben können. Aber es sollte nun einmal nicht so sein. Warum, das weiß Gott allein.

EUROPA UND AFRIKA:
PLÄDOYER FÜR
EINE GEMEINSAME ZUKUNFT

Durch mein Leben in zwei verschiedenen Welten, durch mein ständiges Hin und Her, durch das Vermitteln zwischen den unterschiedlichen Kulturkreisen gehen mir viele Gedanken durch den Kopf.

Ich wundere mich immer wieder, welches Bild viele Deutsche von Afrika haben. Auf der einen Seite übt dieser Kontinent auf die meisten eine enorme Anziehungskraft aus, auf der anderen Seite scheint Afrika für sie auf einem anderen Stern zu liegen. Afrika – das klingt nach Abenteuer und Wildnis, aber auch nach Armut und Krieg und Krankheit. »Da schlagen sich die Leute ständig gegenseitig die Köpfe ein!«, bekomme ich oft zu hören. Und: »Die sind doch alle korrupt, denen ist nicht zu helfen.« Eine gängige Meinung ist aber auch: »In Afrika, da hungern alle. Die kommen nie auf einen grünen Zweig.« Und vieles andere mehr.

Ich habe festgestellt, dass die Vorstellung vieler Europäer von Afrika ähnlich verrückt ist wie meine von Europa, bevor ich nach Deutschland gekommen war. In ein Land, in dem es meiner Meinung nach nur Hochhäuser statt Bäume gäbe, in dem die Sonne nie untergehen würde und Krankheiten ausgerottet wären. Afrika und Europa scheinen Lichtjahre voneinander entfernt, doch wenn ich erzähle, dass man von Düsseldorf aus in sechs Stunden in Accra ist, sind alle überrascht.

»Was? So nah ist das?«

Afrika und Europa sind nächste Nachbarn. Aber was genau heißt schon Afrika – jedes afrikanische Land ist anders und viele kann man überhaupt nicht miteinander vergleichen. Das wäre, als würde ein Afrikaner sagen: Ich weiß, wie es in Portugal zugeht, denn ich bin mal in Norwegen gewesen.

Ghana gilt als demokratischstes Land Afrikas. Hier herrscht ein gewisser Wohlstand und selbst die Armen sind besser gestellt als die Armen anderer afrikanischer Länder. Afrika ist riesig und doch tun viele Europäer so, als könne man alle Afrikaner über einen Kamm scheren. Dieser Kontinent geht sie überhaupt nichts an, scheinen sie zu denken. Dabei haben wir mehr gemeinsam, als sie vermuten. Wir sollten an einer gemeinsamen Zukunft bauen, denn Afrika braucht Hilfe – wenn auch nicht unbedingt die, die viele Europäer meinen. Dieser Kontinent ist auf Unterstützung angewiesen, hat aber auch viel zu geben. Andere Länder haben das bereits erkannt.

Mit Sorge sehe ich Chinas Engagement in Afrika. In Europa wird noch viel zu wenig wahrgenommen, wie sehr die Chinesen unsere Gesellschaften unterwandern. Gewieft erinnern sie die Afrikaner daran, was ihnen die Europäer während der Kolonialzeit angetan hätten. »Wir haben euch nichts getan«, pflegen sie dann zu sagen. »Wir bringen euch heute Geld.« Was sie dafür aber nehmen, davon sprechen sie nicht.

Kulturell liegen zwischen den Chinesen und den Afrikanern Welten, Europa ist uns viel näher. Einige Länder Europas blicken auf eine belastete Geschichte mit Afrika und halten sich darum in ihrem Engagement sehr zurück. Die Chinesen dagegen tun das nicht. Und ich frage mich besorgt, ob die Europäer nicht eines Tages aufwachen und feststellen werden, dass ihre Plätze in Afrika bereits von den Chinesen eingenommen worden sind. Afrika und Europa sind Nachbarn, wir sollten uns wie solche verhalten.

Eine andere Herzensangelegenheit ist für mich die Art und Weise, wie in Europa mit Afrikanern, ja, mit Einwanderern ganz allgemein umgegangen wird. Viel zu häufig wird vergessen, dass diejenigen, die nach Deutschland kommen, nicht nur nehmen wollen, sondern auch etwas mitbringen, zum Beispiel Wissen, Bildung, Erfahrung. Meine Geschichte ist ein gutes Beispiel. Ich bin nicht als Ungelernte nach Deutschland gekommen und habe mein Abitur, zwei Jahre Wirtschaftsschule, ein Jahr Computerschule und ein wenig Berufserfahrung als Programmiererin vorweisen können. Aber davon wollte man hier überhaupt nichts wissen. Und wenn mir jemand zuhörte, dann dachte er wahrscheinlich: »Computer? Ah ja. Haben die so was in Afrika überhaupt?«

Ich kam aus Afrika, hatte schwarze Haut, weshalb für mich nur die einfachste Arbeit blieb, die es gab. Und das erleben viele Einwanderer, die aus einem Land kommen, das vermeintlich ärmer als Deutschland ist. Dabei entgeht der deutschen Gesellschaft so viel. Es wäre klüger zu fragen: »Und was bringst du mit?«

Denn oft braucht es ganz wenig, etwa einen Sprachkurs und eine Fortbildung, und schon kann die Gesellschaft von dem Gast profitieren. Wer sagt denn, dass die Lebenserfahrungen eines aus einem anderen Kulturkreis stammenden Menschen nicht auch für die deutsche Gesellschaft von Nutzen sein können?

Jedes Kind, das auf die Welt kommt, trägt ein Geschenk Gottes in sich, eine ganz besondere Gabe, die unter bestimmten Umständen die Welt verändern könnte. Und diese Gaben müssen entwickelt und gefördert werden. Die Menschheit kann es sich meiner Meinung nach nicht leisten, überall auf der Welt so viel Potenzial zu vergeuden. Und genau das tun wir, wenn wir es zulassen, dass Kinder in Armut geboren werden und nicht die Möglichkeit haben, aus ihren Veranlagungen etwas zu machen.

Immer wieder kann man beobachten: Gibt man einem Afrikaner eine Chance, dann macht er etwas daraus. Aber es ist wichtig, ihn als Partner zu sehen und nicht ständig als Bittsteller. Wenn wir alle auf gleicher Augenhöhe miteinander umgehen, ist viel für die Zukunft gewonnen. Doch leider sind wir davon noch weit entfernt.

Wir sollten uns nicht auf den ersten Blick gegenseitig in eine Schublade stecken, aus der wir womöglich nie wieder herauskommen, sondern uns die Möglichkeit geben, uns zu überraschen. Wie oft habe ich das erlebt: Da sitzt eine schwarze Klofrau und zählt ihre Münzen. Wer denkt denn schon, dass sie mit diesen Münzen ein Kinderhaus in Ghana finanziert? Erst als jemand nachgefragt hat, ist mein Projekt langsam an die Öffentlichkeit gekommen.

Woher wissen Sie eigentlich, was die irgendwie islamisch aussehende Putzfrau in Ihrer Firma macht, wenn sie Feierabend hat? Oder der südeuropäische Taxifahrer?

Das Leben ist so viel reicher, als wir es uns vorstellen können. Und sicher gibt es noch andere Menschen, die in mehreren Welten gleichzeitig zuhause sind und stets auf Messers Schneide leben, so wie ich.