WIE ALLES BEGANN

Die Gäste im »Einhorn« waren von meinem Projekt begeistert. Eines Tages kam ein besonders netter Stammgast und fragte mich, ob ich schon daran gedacht hätte, einen Verein zu gründen.

»Einen Verein? Wozu einen Verein?«

»Dann kannst du für deine Kinder noch besser Geld sammeln.«

»Was genau ist denn überhaupt ein Verein?«, wollte ich neugierig wissen.

Er erklärte es mir. Ehrlich gesagt habe ich nur die Hälfte verstanden.

»Dann kannst du Spenden einnehmen und die Leute können das von der Steuer absetzen«, meinte ein anderer.

Das klingt gut, dachte ich.

»Und Patenschaften«, hörte ich sagen. »Dann übernehmen die Spender für ein bestimmtes Kind das Schulgeld. Wenn das 100 machen, kannst du 100 Kinder aufnehmen.«

Mir schwirrte der Kopf, aber die Idee gefiel mir. So ein Verein schien eine wirklich gute Sache zu sein. Ich hatte nur nicht die geringste Ahnung, wie ich einen Verein gründen sollte.

»Du musst dein Projekt registrieren lassen«, erklärte mir wieder jemand. »Da gibt es strenge Vorschriften und bestimmte Bedingungen, die erfüllt sein müssen.«

»Und man braucht einen Namen«, warf ein weiterer Gast ein.

»Einen Namen hab ich schon«, sagte ich. »›African Angel‹. So hat Jörg mich mal genannt. Ich finde, das ist ein guter Name.«

Darin waren sich alle einig: Es war wirklich ein toller Name für ein tolles Projekt. Dann ging jeder wieder seiner Wege und ich blieb zurück und zerbrach mir den Kopf, wie ich einen Verein gründen könnte.

Ich bekam Hilfe. Jörg brachte die Satzung eines anderen Vereins mit, die ich abtippte und an der ich die nötigen Änderungen vornahm.

Und nun? fragte ich mich. Ich kam nicht weiter.

Die Satzung verschwand in der Schublade. Ich kam sowieso kaum zum Nachdenken. Meine beiden Jobs sorgten dafür, dass ich nachts oft nur wenige Stunden Schlaf bekam. Im Übrigen wusste ich ohnehin nicht, wie ich diese Vereinsgründung anpacken sollte.

»Wir brauchen sieben Gründungsmitglieder«, erklärte mir Jörg.

»Machst du mit?«, fragte ich ihn.

»Ich bin dabei. Dann brauchen wir also noch fünf.«

Doch ich wagte es nicht, die anderen Gäste des »Einhorn« darauf anzusprechen. Sie wussten schließlich, dass ich einen Verein gründen wollte, und hätten sich von selbst melden können. Aber wahrscheinlich dachten sie alle: Das kriegt die Harriet bestimmt nicht hin.

Es gab da einen Stammkunden im »Einhorn« namens Helge, der mein Projekt ganz besonders unterstützte. Oft legte er einen großen Schein in meinen Teller; manchmal wollte er Wechselgeld, manchmal auch nicht.

Eines Tages sagte Helge zu mir: »Harriet, du glaubst doch an Gott, oder?«

»Ja. Natürlich.«

»Dann musst du beten, denn ich bin an einer ganz großen Sache dran. Und wenn daraus was wird, dann hab ich etwas für dich.«

Doch was genau das war, verriet Helge nicht.

Als alles unter Dach und Fach gewesen war, erfuhr ich, dass Helge sich um die Konzession für »Les Halles« beworben und sie glücklicherweise erhalten hatte. Daraufhin bot er mir ausgezeichnete Jobs an, damit ich für »meine« Kinder noch mehr Geld verdienen könnte. Viele waren damals an den Putzjobs interessiert, vor allem die Toilette war begehrt. Doch Helge sagte: »Nein, das macht die Harriet.«

Er übertrug mir die Aufsicht über das gesamte Putzpersonal im »Les Halles«. So engagierte ich für die Wochentage, an denen ich selbst auf der Messe arbeitete oder abends im »Einhorn« war, Afrikanerinnen, die sich unter meiner Leitung die Schichten teilten. Samstags, wenn ich frei hatte, übernahm ich selbst den Toilettendienst von morgens sechs bis abends sechs Uhr. Es war Helges Idee, dass ich im »Les Halles« Plakate aufhängen sollte, damit die Leute erfuhren, wofür ich diese Arbeit machte. Auf diese Weise wurden viele Gäste auf mein Projekt aufmerksam und ich konnte noch mehr Geld für die Bukom-Kinder einnehmen.

Nachdem Helge noch eine Diskothek aufgemacht hatte, durfte ich dort als Garderobenfrau arbeiten. »Meine« Kinder verdanken diesem Mann eine Menge, ohne ihn wäre Vieles nicht möglich gewesen.

Die Idee, einen Verein zu gründen, ließ mich einfach nicht los. Eines Tages hatte ich beschlossen, in der Rheinischen Post eine Anzeige zu schalten. »Mitstreiter zwecks Gründung eines Vereins zur Unterstützung afrikanischer Kinder gesucht.«

Ich erhielt tatsächlich Zuschriften, die ich immer wieder las. Doch ich hatte einfach keine Ahnung, was ich als Nächstes tun sollte. So verlief die Sache im Sand.

Ein paar Monate später rappelte ich mich erneut auf und wiederholte die Anzeigenaktion. Mir wurden drei Briefe geschickt: Eine Frau wollte ein Nähprojekt mit Afrikanerinnen aufziehen und deren Produkte in Deutschland verkaufen. Die beiden anderen schrieben, sie hätten grundsätzlich Interesse. Was ich denn vorhabe, wollten sie wissen.

Und wieder war mir unklar, wie ich auf diese Briefe reagieren sollte. Ein Nähprojekt kam für mich nicht infrage. So wurde auch aus diesem Anlauf zur Vereinsgründung nichts.

Eines Tages musste ich nach Bonn zum Ghanaischen Konsulat, um meinen Pass verlängern zu lassen. Eine glückliche Fügung wollte es, dass ich dort den Konsulatsmitarbeiter James Sarpong kennenlernte. Ihm habe ich gleich von dem Hilfsprojekt und meinen Plänen erzählt.

»Und«, fragte er, »was hast du bisher unternommen?«

Als ich ihm von den Briefen und meiner Ratlosigkeit berichtete, lachte er.

»Was du machen sollst? Na, antworten natürlich. Du musst den Interessenten erklären, was genau du erreichen willst und wofür sie sich engagieren, wenn sie mit dir einen Verein gründen.«

Das leuchtete mir ein. Wir sprachen darüber, was ich mit einem Verein alles erreichen könnte. Ich verstand die Zusammenhänge auf einmal viel besser.

»Du musst einen Ort haben, an dem ihr euch treffen könnt«, erklärte er mir. »Das kann natürlich nicht bei dir zuhause sein, ein öffentlicher Raum wäre gut, vielleicht ein seriöses Lokal. Hast du eine Idee? Und dann gibst du eine neue Anzeige auf – aller guten Dinge sind drei. Den Leuten, die sich melden, musst du einen Brief schicken. Allen denselben, aber mit persönlicher Anrede …«

»Aber ich habe keinen Computer«, erwiderte ich kleinlaut, »und einen Brief auf Deutsch zu schreiben …«

»Weißt du was«, schnitt er meine Bedenken ab, »lass uns einen Termin machen. Dann helfe ich dir dabei.«

Gemeinsam mit James entwarf ich einen Brief, der keine Frage offenließ. Im »Les Halles« fragte ich Helge, ob ich für die Gründungssitzung meines Vereins einen Tisch reservieren durfte. Natürlich erlaubte er es. Und wurde neugierig: Harriet gründete jetzt tatsächlich einen Verein?

Auf die dritte Annonce, die ich in der Rheinischen Post aufgegeben hatte, erhielt ich 26 Zuschriften. An all diese Menschen schickte ich den Brief, den ich mit James verfasst hatte, und lud sie auf einen bestimmten Abend ins »Les Halles« ein.

Ich muss gestehen, dass ich vollkommen mutlos war, als sich dieser Tag näherte. Ich glaubte nicht daran, dass auch nur ein einziger Interessent kommen würde. Ja, wenn ich ehrlich bin, hatte ich sogar vor, zu kneifen und gar nicht erst bei dem Treffen zu erscheinen. Doch ich lese jeden Morgen in meiner Bibel, und am 15. September 2002 schlug ich zufällig diese Verse auf: »Ich bin dein Gott, der mit dir angefangen hat / und ich werde mit dir bis zum Ende gehen.« Das ist ein Zeichen, dachte ich. Wenn Gott dich begleitet, wird alles gut.

Am Abend waren wir genau sieben Leute. Exakt so viele, wie zur Gründung eines Vereins benötigt werden. Jörg, Anwalt und Stammgast im »Einhorn«, hatte Wort gehalten, er war dabei. Sonst sah ich lauter fremde Gesichter.

An jenem Abend wurde African Angel e.V. gegründet. Nun ging es darum, den Verein eintragen zu lassen. Dass wir genügend Personen waren, um einen Vorstand zu bilden, hatte mir neuen Mut gegeben, weshalb ich beim Amtsgericht einen Termin vereinbarte. Und was ich bis zuletzt nicht zu hoffen gewagt hatte, wurde schließlich wahr – ich, Harriet Bruce-Annan aus Ghana wurde die Erste Vorsitzende eines deutschen gemeinnützigen, eingetragenen Vereins.

EIN MUTIGER SCHRITT

Natürlich verband ich mit der Vereinsgründung viele Hoffnungen. Alle hatten gesagt, mit einem Verein ginge es viel schneller. In meiner Fantasie sah ich mich aus Bukom schon Hunderte von Kindern herausholen.

Kurz nach der Eintragung von African Angel ins Vereinsregister im Frühjahr 2003 flog ich nach Ghana. Bei dieser Gelegenheit besuchte ich meine Verwandten in Bukom, wo meine Großtante im Family House, das einst meiner Oma gehört hatte, eine Versammlung der Nachbarn einberief.

Ich erzählte ihnen von meinen Plänen. Als sie hörten, dass ich ihre Kinder unterstützen und ihnen eine Schul- und Berufsausbildung ermöglichen wollte, fielen sie alle über mich her. Ich würde sie belügen. In Wirklichkeit wollte ich ihre Kinder verkaufen, sie zu Prostituierten machen und Schlimmeres. Ich erinnerte sie daran, dass ich mit ihnen aufgewachsen war, dass ich eine der Ihren sei und mir schon als Kind das vorgenommen hatte, was ich bald in die Tat umsetzen würde.

»Diejenigen«, sagte ich, »die an mich glauben, deren Kinder werden die Chance haben, etwas Besseres aus ihrem Leben zu machen. Ich komme wieder. Bis dahin könnt ihr euch die Sache überlegen.«

Ich kehrte nach Deutschland zurück und machte mich an die Arbeit. Mit dem Verein African Angel kommt die Sache endlich voran, dachte ich. Doch zunächst schien es mir, als würde ich auf der Stelle treten.

Nicht, dass sich die Begeisterung für das Projekt gelegt hätte. Ich hatte gehofft, durch die Plakate, die ich im »Les Halles« aufhängen durfte, neue Mitglieder zu gewinnen, aber das war nicht der Fall. Alle waren zwar sehr angetan, spendeten auch mehr Geld, als sie sonst einer Toilettenfrau gegeben hätten, aber sich selbst engagieren wollten sie nicht.

Auch mit den Patenschaften ging es schleppend voran. Der Erste, der als Pate ein Kind übernommen hatte, war mein Pastor. Aber sein Beispiel machte leider nicht die Runde.

Schließlich brachte mich ein Freund auf die Idee, mit ihm gemeinsam eine Broschüre zu gestalten, die über das Projekt informieren und Fotos der Kinder zeigen würde. Vereinsmitglieder könnten sie dann an Freunde weitergeben und verschicken.

Damals habe ich mit allen Mitteln versucht, African Angel bekanntzumachen. Ich hatte von einem Afrika-Markt in Duisburg erfahren und stellte dort unseren Stand mit Plakaten und Flyern auf, legte die Broschüren aus und sprach ohne Unterlass mit Hunderten von Besuchern. Da kam eine Frau auf mich zu und strahlte mich herzlich an.

»Hey, ich habe deine Broschüre schon in meiner Kirche gesehen. Seitdem will ich dich unbedingt kennenlernen. Eine Freundin hat dich hier entdeckt und mich sofort angerufen, damit ich komme. Ich heiße Anni. Dein Projekt finde ich super.«

So stieß Anni also zu uns. Wir hatten uns gesucht und gefunden. Sie erzählte mir, dass sie sich schon seit Jahren für Afrika interessiert und engagiert habe. Anni hat uns viel Schwung, Ideen und sogar ein paar neue Mitglieder gebracht.

Volker hatte die Idee, im »Einhorn« afrikanische Partys zu veranstalten mit Cocktails in Kalebassen, afrikanischer Musik und weiteren landestypischen Besonderheiten. »Saufen für Afrika« hieß der Slogan, der in Düsseldorf gut ankam – je mehr die Gäste tranken, desto mehr Geld kam für die Kinder in den Spendentopf.

So tat zwar jeder, was er konnte, und doch ging mir alles viel zu langsam. Es sollte endlich etwas Entscheidendes passieren. Darum ergriff ich schließlich die Initiative.

Eineinhalb Jahre nach der Gründung des Vereins hatten wir 5000 Euro eingenommen. Ich berief eine Versammlung ein und schlug vor, mit diesem Geld nach Ghana zu fliegen und ein Haus anzumieten, um endlich neue Kinder aufnehmen zu können. Alle hielten mich für verrückt.

»Das reicht doch vorne und hinten nicht«, war die einhellige Meinung. »Bevor wir nicht 30000 Euro beisammen haben, brauchst du gar nicht erst runterzufliegen.«

Aber ich war davon überzeugt, dass ich mein Vorhaben auch mit dem umsetzen würde, was wir hatten. Und das waren nun einmal 5000 Euro.

Mein Jahresurlaub betrug damals drei Wochen, die ich immer in Ghana verbrachte. In diesem Jahr musste mein Urlaub ausreichen, um ein passendes Haus ausfindig zu machen, es anzumieten und einzurichten sowie neue Kinder aufzunehmen und Schulplätze für sie zu finden.

Ich flog daher nach Accra und begann sofort damit, mir Häuser anzusehen.

Die Begeisterung der Deutschen gewöhnt, bekam ich in Ghana einen gehörigen Dämpfer verpasst. Die Hausbesitzer waren nicht davon entzückt, dass Slum-Kinder in ihren tollen Häusern wohnen sollten. Es war immer dasselbe: Sahen sie mich, waren sie eifrig und beflissen. Dass ich aus Europa kam, erkannten sie schon von Weitem. Bereitwillig zeigten sie mir ihre Häuser und priesen sie in den höchsten Tönen an. Aber kaum erzählte ich, für welche Zwecke ich das Haus mieten wollte, da war die Sache entweder gestorben oder die Vermieter verlangten horrende Summen, weil sie dachten, ich hätte gleich die ganze Deutsche Bundesbank mitgebracht.

So vergingen zwei der drei Wochen, die ich zur Verfügung hatte, erfolg- und ergebnislos. Mir wurde klar, dass ich meine Strategie ändern musste, wollte ich nicht unverrichteter Dinge nach Deutschland zurückfliegen.

Von nun an gab ich vor, ein Haus für mich und meine Kinder zu suchen. Niemand fragte, wie viele es seien. Auf diese Weise fand ich endlich eine geeignete Unterkunft und unterschrieb den Mietvertrag. Der Besitzer verlangte die Miete für drei Jahre im Voraus, was in Ghana üblich ist. Da ich so viel Geld nicht hatte, machte ich ihm klar, dass eine Jahresmiete in diesem Fall ausreichen müsse. Er war einverstanden. Ich atmete auf.

So blieb noch eine Woche, um das Haus einzurichten. Ich hatte beschlossen, für den Anfang 24 Kinder aufzunehmen. Also ließ ich bei einem Schreiner zwölf Stockbetten anfertigen und trieb ihn zur Eile. Es gab schöne Einbauschränke im Haus, für Stauraum war daher schon gesorgt.

Nun kam der Teil, der mir Herzklopfen bereitete: Waren die Frauen in Bukom noch immer der Meinung, ich wollte ihre Kinder verkaufen? Ich mietete einen Kleinbus und fuhr mit ihm nach Bukom. Auf den winzigen Platz vor dem Haus meiner Oma stellte ich mich hin.

»Da steht ein Bus«, sagte ich. »Die Eltern, die an mich glauben, können mir jetzt ihre Kinder anvertrauen. 24 kann ich aufnehmen. Wer diese Chance für seine Kinder nutzen will, kann sie jetzt in den Bus setzen.«

Der Bus war im Handumdrehen voll. Es gab auch Kinder, die selbst hineinkletterten, doch von ihren Eltern wieder herausgeholt wurden. Ich machte eine Liste, verabschiedete mich und fuhr mit den Kindern zuallererst in eine Klinik, wo sie von Kopf bis Fuß durchgecheckt wurden.

Drei Kindern haben wir damit das Leben gerettet. Es stellte sich heraus, dass sie eine Infektion hatten, die tödlich verlaufen wäre. Mit der richtigen Behandlung wurden sie bald wieder gesund. Als ich am Ende des Tages die Klinikrechnung bezahlte, erlebte ich eine Überraschung. Es handelte sich nämlich nicht um 24 Kinder, wie ich geglaubt hatte, sondern um 26. Zwei hatten sich heimlich dazugemogelt. Anhand der Liste, die ich in Bukom geschrieben hatte, konnte ich gleich feststellen, dass es sich um Straßenkinder handelte, die keine Familie hatten. Sie durften natürlich bleiben. Die Identität dieser beiden »blinden Passagiere« habe ich bis heute geheim gehalten. Sie sollten in meinem Haus nicht wie Kinder zweiter Klasse aufwachsen, sondern dazugehören wie alle anderen auch. Darum haben damals alle Kinder reihum im Wechsel eine Woche auf dem Boden schlafen müssen. Schließlich hatte ich nur zwölf Stockbetten bestellt und das Haus bot auch wirklich nicht Platz für eines mehr. Den Kindern machte das nichts aus, sie waren ohnehin nichts anderes gewöhnt.

Da ich jetzt wusste, wie alt die Kinder waren, begab ich mich nun auf die Suche nach einer Schule, die sie aufnehmen würde. Das erwies sich als schwieriger, als ich gedacht hatte. Natürlich war es für jeden Schulleiter und Lehrer eine Herausforderung, Slum-Kinder, die noch nie eine Schule von innen gesehen hatten, in eine Klasse zu integrieren. Unter meinen Schützlingen befanden sich 14-Jährige, die weder lesen noch schreiben konnten. »Das geht nicht«, war die knappe Antwort, die ich von den Pädagogen erhielt.

Ich klapperte jede Schule im Umkreis ab und wurde überall abgewiesen. Das Haus, das ich gemietet hatte, lag in einer vornehmen Gegend und die Lehrer bekamen bei der Vorstellung Schüttelfrost, ihre aus Ministerialbeamten-, Ärzte- und Juristenkindern bestehenden Klassen mit Slum-Kindern zu mischen. Aber es half nichts, ich musste eine Schule für sie finden. Während der Fahrten von einer Adresse zur nächsten betete ich inbrünstig: »Herr, lass die Sache nicht an der Arroganz der Lehrer scheitern.«

Er erhörte mich. Der Leiter der allerletzten Schule im Stadtteil erkannte die Herausforderung als Chance. Er war von meinem Projekt begeistert und beschloss, mich und die Kinder zu unterstützen.

Er stellte für die Bukom-Sprösslinge zunächst eigene Klassen zusammen, damit sie gemeinsam die Grundlagen erlernen konnten. Später wurden sie dann je nach ihrer Entwicklung in bestehende Klassen integriert.

Die älteren Kinder machten rasch Fortschritte und die meisten »meiner« Kinder gehören heute sowieso zu den Klassenbesten. Damals sind sie noch echte Wildfänge gewesen und haben ihre Lehrer mitunter auf harte Proben gestellt. Ich bin diesem Kollegium noch heute dankbar, dass sie sich auf dieses Abenteuer eingelassen haben.

Alle Kinder, die von African Angel aufgenommen worden sind, wissen ganz genau, welch einzigartige Chance sie erhalten haben und was sie verlieren würden, sollten sie diese verspielen. Sie kommen aus einem harten Leben, sie kennen Mangel und Not, seit sie auf der Welt sind, und für die meisten ist das Leben im Kinderhaus von African Angel wie ein Traum. So schwer es für einige von ihnen auch gewesen ist, den Umgang mit ihren Aggressionen zu lernen, und auch wenn einige Heimweh nach ihren Familien haben – keines der Kinder will zurück. Natürlich besuchen sie ihre Familien, sie leben schließlich weiterhin in derselben Stadt und ich habe nicht das geringste Interesse daran, sie ihren Verwandten zu entfremden. Ganz im Gegenteil.

Während meines Jahresurlaubs 2004 meldete ich die Kinder also in der Schule des verständnisvollen Direktors an, bezahlte die Schulgebühren und schickte die Kinder vorläufig wieder zu ihren Familien zurück, weil noch Ferien waren. Da merkten auch die misstrauischsten Eltern, dass ich nicht vorhatte, ihre Sprösslinge an Bordelle zu verkaufen.

Sechs Kinder waren noch nicht im Schulalter. Für sie fand ich in der Nähe des Hauses einen vornehmen Kindergarten. Ich hatte noch etwas von den Spendengeldern übrig, machte mich eines Morgens elegant zurecht und fuhr zu diesem Kindergarten. Die Direktorin war in der Ferienzeit nicht da, dafür aber ihre Sekretärin.

»Ich möchte gerne meine Kinder anmelden.«

»Gerne«, meinte sie und zog die Schublade mit den Anmeldeformularen auf. »Wie viele sind es denn?«

»Sechs«, sagte ich selbstbewusst und hoffte, dass sie nicht stutzig werden würde. Denn welche Mutter hat schon gleich sechs Sprösslinge im Kindergartenalter? Doch ihr fiel gar nichts auf. Sie zählte sechs Anmeldeformulare ab und reichte sie mir. Ich beeilte mich mit dem Ausfüllen und legte dann das Geld für die Gebühren für ein Jahr im Voraus auf den Tisch. Sind die Kinder erst einmal angemeldet und die Plätze bezahlt, dann können sie sie nicht so leicht wieder hinauswerfen, dachte ich.

Mein Plan ging auf. Als ich später mit den sechs Bukom-Kindern anrückte, fiel die Direktorin fast in Ohnmacht. Ich glaube, sie hätte ihre Sekretärin am liebsten umgebracht. Aber die Kinder waren ordnungsgemäß angemeldet. Ich war unendlich stolz, »meine« Kids mitten unter diesen vornehmen Oberschichtkindern zu wissen. Die Erzieherinnen hatten allerdings kein leichtes Spiel mit ihnen: Die Bukom-Kinder verprügelten anfangs ihre reichen Kameraden und heizten ihnen ordentlich ein, sodass diese gar nicht wussten, wie ihnen geschah.

Mein Urlaub reichte gerade noch aus, um einen Hausmeister und zwei Frauen anzustellen, welche die Kinder im Haus betreuten. Helena, eine von ihnen, ist heute noch bei African Angel. Ich bin ihr sehr dankbar, denn sie hat einiges mit mir mitgemacht.

Wieder in Deutschland, hatte ich keine Ruhe. Nach zwei Wochen bat ich um unbezahlten Urlaub, lieh mir noch ein bisschen Geld und flog zurück nach Accra. Dort musste ich mich noch um unzählige Details kümmern. Unter anderem gründete ich den Verein African Angel Ghana, stellte das neue Personal ordnungsgemäß an, sorgte dafür, dass die Kinder eingeschult wurden und stattete das Haus mit allem Nötigen aus.

Damit hatte ich das erste Kapitel der Vereinsgeschichte geschrieben. Es ist ein Kraftakt gewesen, aber es hat funktioniert. Ich habe gelernt, dass nichts von allein geschieht. Handelt man erst, wenn die Bedingungen optimal erscheinen, zieht das Leben womöglich ungenutzt vorbei.

EINE BITTERE ERFAHRUNG

Das durch African Angel finanzierte und unter der Aufsicht von Mama Helena stehende Kinderhaus lief parallel zu dem Projekt, das ich schon Jahre zuvor im Haus meiner Mutter privat ermöglicht hatte. Da ich dieses aus eigener Kraft am Leben halten konnte, wollte ich mit den Spendengeldern von African Angel eine neue Initiative starten – das Kinderhaus.

Ich engagierte mich also einerseits für den Verein, während ich andererseits aus meinen Einnahmen als Toilettenfrau nach wie vor die Ausbildung für die 51 Kinder bezahlte. Das benötigte Geld schickte ich meiner Mutter, was insgesamt zwei Jahre gut ging. Jedenfalls glaubte ich das.

Während meiner arbeitsintensiven Besuche in Accra sah ich natürlich auch meine Mutter und führte viele Gespräche mit ihr. Lange wollte ich nicht wahrhaben, dass zwischen uns tatsächlich eine Entfremdung stattgefunden hatte; Auslöser war wahrscheinlich meine Schwangerschaft gewesen. Die Jahre, die meine Mutter im Haus meiner ältesten Schwester verbracht hatte, schienen uns zusätzlich voneinander entfernt zu haben. Doch auch die Schicksalsschläge hatten meine Mutter verändert. Zu meinem Schrecken bemerkte ich, dass sie inzwischen auf eine bedenkliche Art fromm geworden war und allen möglichen windigen Predigern hinterherrannte. Sie war ihnen in gewisser Weise hörig und gab ihnen all ihr Geld.

Ich musste feststellen, dass während meiner Abwesenheit in Ghana zahlreiche christliche Freikirchen und Sekten aus dem Boden geschossen waren. Meiner Meinung nach stecken hinter vielen dieser vermeintlichen Kirchen findige Voodoo-Priester, die erkannt haben, dass sich die Menschen eher zum Christentum hingezogen fühlen, die afrikanische Spiritualität aber nicht missen wollen. So entstand eine ganze Armee falscher Priester, die noch heute nur ein Ziel haben: den Leuten so viel Geld wie möglich aus der Tasche zu ziehen.

Ich habe solche sogenannten Gottesdienste erlebt und bin währenddessen aus dem Staunen nicht herausgekommen. Wie bei Auktionen kann man dort sein Heil erkaufen. Die Prediger sind richtige Einheizer, was sich dann so anhören kann: »Dieser Mann hat soeben 1000 Dollar gespendet. Und wie viel spenden Sie?« Die Spender werden der Gemeinde namentlich als leuchtendes Beispiel vorgestellt und ernten Dank und Ehre. Meine Mutter wollte da natürlich nicht zurückstehen. Diese Entwicklung beobachtete ich mit Sorge.

Dann, im Jahr 2006, machte ich eine schlimme Entdeckung: Ohne mich darüber zu informieren, hatte meine Mutter irgendwann aufgehört, die Schulgebühren zu bezahlen. Ich erfuhr, dass sie das Geld anderweitig verwendet hatte – wahrscheinlich für ihre falschen Prediger. Bei der Schule war ich daher inzwischen im Rückstand und den Kindern drohte der Rausschmiss. Ich war entsetzt.

Es war nicht einfach, mit meiner Mutter über diese Dinge zu reden. Sprach ich sie auf das Schulgeld an, sagte sie zum Beispiel: »Ich war in Bukom und die Eltern von diesen und jenen Kindern haben mich nicht gegrüßt. Also zahle ich für die auch kein Schulgeld mehr.«

Ich versuchte ihr zu erklären, dass es mir nicht um die Eltern gehe und auch nicht darum, wer sie ihrer Meinung nach mit wie viel oder wie wenig Respekt behandle, sondern dass ich den Kindern mit dem hart erarbeiteten Geld den Schulbesuch ermöglichen wolle. Aber meine Mutter hatte ihre ganz eigene Sicht auf die Dinge und fand es nur natürlich, dass sie selbst über das von mir verdiente Geld entschied.

Sie hatte sich mittlerweile mit der Schuldirektorin angefreundet und überbrachte mir einen Vorschlag zur Lösung des Problems. Sollte ich der Schule einen Bus kaufen, würde sie mir die Gebühren erlassen. Ich rechnete aus, dass ich damit sogar ein bisschen Geld sparen könnte, willigte ein und arbeitete hart, um das Geld zusammenzubekommen. Aber ich verdiente bei Weitem nicht genug, um einen Bus kaufen zu können. Daher löste ich einen persönlichen Sparvertrag auf, den ich seit ein paar Jahren laufen hatte und der eigentlich für meine Altersversorgung gedacht war. Endlich hatte ich das Geld für den Bus zusammen, den ich kaufte und nach Ghana verschiffen ließ. Meiner Mutter schärfte ich ein, dass sie sich um die Abholung im Hafen von Accra kümmern müsste. Aber das hat sie nicht getan. Der Bus stand so lange im Hafen herum, bis ihn die Regierung beschlagnahmte.

Ich war grenzenlos enttäuscht und wütend zugleich. Nun waren all meine Ersparnisse dahin, die unbezahlten Schulgebühren jedoch waren geblieben. Meine Mutter spürte keinerlei Unrechtsbewusstsein. Ich verstand das einfach nicht, sie war doch immer eine so kluge Geschäftsfrau gewesen. Erst später sah ich ein, dass sie schlichtweg nicht hatte begreifen können, was ich für diese armen Kinder tat, deren Eltern es noch nicht einmal für nötig hielten, vor meiner Mutter auf die Knie zu fallen, wenn sie sich in Bukom zeigte. Vielleicht ist auch alter, uneingestandener Neid im Spiel gewesen, denn immerhin hatte ihr die eigene Tante den Schulbesuch damals nicht finanziert.

Unaufhörlich versuchte meine Mutter, mich davon zu überzeugen, dass ich mein Geld sparen und für mich verwenden sollte. Wie meine Schwester sollte ich mir ein prächtiges Haus bauen und nicht meinen ganzen Besitz in diese Bukom-Kinder investieren.

Hier prallten zwei grundsätzlich verschiedene Lebenseinstellungen aufeinander und tun dies noch immer. Meine Mutter lebt die afrikanische Lebensweise, der zufolge jeder zuerst für sich und seine Familie sorgt, aber niemals für völlig Fremde. Sie will einfach nicht begreifen, dass ich das anders sehe. Schon als Kind hatte ich empfunden, dass diese Bukom-Kinder meine eigentliche Familie sind – daran hat sich bis heute nichts geändert. Im Gegensatz zu meiner Mutter, die ihre Bukom-Wurzeln gerne überspielt, stehe ich zu meiner Zeit im Armenviertel und vielleicht ist es das Erbe meiner Großmutter, das ich auf diese Weise fortführe. Denn irgendwie sind diese Kinder im Haus meiner Mutter auch mit uns verwandt gewesen.

Eines Tages hatte ich kapitulieren müssen. Nach dem Verlust des Busses war ich nicht mehr in der Lage gewesen, die Sache zu retten. Es geschah das, was ich auf alle Fälle hatte vermeiden wollen: Die Kinder mussten die Schule verlassen und zurück zu ihren Familien gehen.

Ich könnte heute noch weinen, wenn ich daran denke. Es war einfach zu viel für mich geworden, ich hatte das Ganze nicht mehr stemmen können. Um die Schulden in der Schule zu bezahlen, musste ich sogar einen Kredit aufnehmen und mühselig wieder abstottern. Mir blutet nach wie vor das Herz, wenn ich an diese Kinder denke, und ich hoffe inständig, dass ihr Aufenthalt in der Schule nicht ganz umsonst gewesen ist.

Bei einem Besuch in Bukom habe ich neulich eines dieser Mädchen getroffen. Sie hat inzwischen ein Baby, einen süßen kleinen Jungen. Hätte meine Mutter das Projekt nicht ruiniert, wäre das sicherlich nicht so früh geschehen. Aber ich werde dieser jungen Frau und ihrem Sohn auch weiterhin helfen, ihr eine Ausbildung ermöglichen, je nach ihren Wünschen als Friseurin oder Schneiderin. Und wenn sie will, wird ihr Junge in ein paar Jahren im Kinderhaus von African Angel aufgenommen werden. Ich gebe nicht auf – auch harte Rückschläge können mich nicht von meinem Ziel abbringen.

DER DURCHBRUCH

Nachdem mein Pastor die erste Patenschaft übernommen hatte, erschien in der Rheinischen Post ein kleiner Artikel über African Angel, der uns den zweiten Paten bescherte. Ein ehrenamtlicher Helfer erstellte uns kostenlos eine Website und übernahm die dritte Patenschaft. Und dabei blieb es dann auch für eine lange Zeit. Wir kamen einfach nicht vorwärts.

Bald hatte ich das Problem erkannt: Auf unserer Homepage und in unserem Informationsmaterial hatten wir als Kontaktmöglichkeit meine private Telefonnummer angegeben. Aber außer für ein paar Stunden Schlaf in der Nacht war ich nie zuhause anzutreffen, und viele Leute sprechen nicht gern auf einen Anrufbeantworter. Ich war mir sicher, dass an African Angel Interessierte keine Chance hatten, uns zu erreichen. Während ich vor den Toiletten saß und Geld sammelte, lag die Verwaltung des Vereins im Argen.

»Wir brauchen ein Büro«, sagte ich bei der nächsten Mitgliederversammlung.

Harriet spinnt mal wieder, war die einhellige Meinung. Ein Mitglied formulierte es besonders deutlich: »Du kannst noch nicht mal Kinder unterstützen und jetzt willst du dich für ein Büro verschulden?«

Ich ließ mich nicht beirren und sah mir immer wieder Büros an. Einmal hatte ich schon fast einen passenden Raum gefunden, als mir vermutlich jemand aus den eigenen Reihen einen Strich durch die Rechnung machte, indem er beim Vermieter anrief und sagte: »Das Mädchen kann das nicht bezahlen.«

Jeder Verein erreicht in seiner Geschichte sicherlich mindestens einmal den Punkt, an dem alle Beteiligten das Gefühl haben, dass nichts mehr geht. Damals waren wir an einem solchen Punkt angelangt. Wir traten auf der Stelle, der Schwung war raus. Keines der deutschen Vereinsmitglieder hatte Lust, mit mir nach Ghana zu fliegen und mit eigenen Augen zu sehen, was dort mithilfe der Spendengelder entstanden war und weiterhin entstand. Es ist schon etwas anderes, sich aus sicherer Entfernung für ein afrikanisches Projekt zu engagieren, als sich unmittelbar und persönlich auf diese unbekannte Welt einzulassen. Die anfängliche Begeisterung für meine Person und African Angel schien abgekühlt zu sein. Für mich war besonders bitter, dass ausgerechnet der Mitstreiter, der mir damals die Idee mit der Vereinsgründung nahegelegt hatte, nicht mehr an mich glaubte. Wenn der schon aufgab, wie sollte ich dann mit dem Verein jemals Erfolg haben?

Und dann geschah doch wieder etwas, das dem Projekt neuen Schwung verlieh. Wolfgang, ein Stammkunde des »Einhorn« und »Les Halles«, sagte auf einmal, er wolle mit mir nach Ghana fliegen. Das konnte ich zunächst gar nicht glauben.

»Buche zwei Flüge! Die Kosten für dein Ticket übernehme ich.«

Diese Reise wurde für die Entwicklung von African Angel zu einem wichtigen Meilenstein. Wie Wolfgang erging es allen, die nach ihm den Mut besessen haben, das Kinderhaus von African Angel in Accra zu besuchen. Er war hingerissen von den Kindern, von ihrer Freude und Unbeschwertheit, ihrer Wissbegierde und dem Charme, der afrikanischen Kindern seit jeher eigen ist – vorausgesetzt, sie sind glücklich. Wolfgang engagierte sich, arbeitete mit, machte sich nützlich und spielte mit den Kindern. Schließlich sagte er: »Harriet, ich kann nicht mehr. Ich bin fix und fertig. Jetzt machen wir mal eine Woche Urlaub.«

Ich lachte. Das Klima in Accra machte ihm zu schaffen, das konnte ich sehen. In dieser Stadt kann es bei hoher Luftfeuchtigkeit sehr heiß werden, sodass nicht nur den Besuchern aus Europa von morgens bis abends der Schweiß über die Haut rinnt. Im Gegensatz zu Wolfgang war ich daran gewöhnt.

»Urlaub?«, fragte ich. »Den kann ich mir nicht leisten.«

Doch Wolfgang bestand darauf, mich einzuladen. Er interessierte sich für meine Familiengeschichte und machte den Vorschlag, gemeinsam in die alte Heimat meines Vaters, ins Ashanti-Land, zu reisen.

»Dort bin ich seit meiner Kindheit nicht mehr gewesen«, meinte ich nachdenklich.

»Dann wird es Zeit, dass du dich dort wieder blicken lässt.«

Wir fuhren nach Agogo-Hwidiem und es wurde eine wunderbare Woche. Meine Familie nahm uns freundlich auf und ich merkte bei dieser Gelegenheit, wie wenig ich von diesem Teil der Familie wusste. Meine Mutter hatte den Kontakt zu ihr immer subtil untergraben und als Kinder hatten wir ihre Voreingenommenheit übernommen. Jetzt sah ich, wie viel mir dadurch entgangen war.

Ich bin Wolfgang nach wie vor sehr dankbar dafür, dass er damals mit mir nach Ghana geflogen ist und mir diese Erfahrungen ermöglicht hat. Wenn ich nach Accra reise, dann werde ich vom ersten bis zum letzten Tag vollständig von African Angel vereinnahmt, sodass für Ausflüge oder Urlaubsreisen keine Zeit bleibt. Im Grunde kenne ich gar nicht viel von meinem Land und es sieht nicht so aus, als sollte sich dies in naher Zukunft ändern. Die Arbeit für die Kinder ist wichtiger.

Zurück in Deutschland, wollten alle unbedingt wissen, was Wolfgang erlebt hatte. Er zeigte ihnen viele Fotos und beschrieb seine Erlebnisse in den schillerndsten Farben. Ich erkannte, wie wichtig es war, dass nicht immer nur ich, sondern auch einmal ein anderer, ein Deutscher, von dem Projekt berichtete. Selbst wenn er dasselbe erzählte, machte es doch einen anderen Eindruck.

Auf diese Weise konnte ich das Vertrauen der Vorstandsmitglieder zurückgewinnen, die nun eher bereit waren, meine in ihren Augen riskanten Unternehmungen zu unterstützen. Ich verstehe und schätze, dass viele meiner Mitstreiter auf Sicherheit bedacht sind und jeden Schritt sorgfältig geplant und abgewogen wissen wollen. Wenn man allerdings ausschließlich so verfährt, kann es meiner Meinung nach keinen Fortschritt geben. Wer die Zustände in Bukom gesehen hat, der versteht, warum ich es eilig habe.

Aufgrund von Wolfgangs Berichten stieß ich mit meiner Bitte nach einem Büroraum innerhalb des Vereins auf offenere Ohren. In dieser Phase kam es zur Trennung von alten Mitstreitern, die sich inzwischen zu weit von der Idee entfernt hatten. Ich bedauerte diese Entwicklung, doch offenbar gehört auch dies zum natürlichen Lauf der Dinge. Mitunter stellt man erst nach einer gemeinsam beschrittenen Wegstrecke fest, dass die Visionen doch nicht dieselben sind. Natürlich ist meine Motivation für African Angel eine ganz andere als die meiner deutschen Mitarbeiter, denn ich stamme aus Afrika, während die meisten Deutschen nie dort gewesen sind. Auf sie übt dieser Kontinent eine Faszination aus, die sie schwer beschreiben können.

Inzwischen hatte ich die Idee, eine Bürogemeinschaft zu gründen, wovon ich allen Leuten erzählte, die mir über den Weg liefen. Schließlich war ich erfolgreich: Über fünf Ecken hatte ich Gundi kennengelernt, die mit einem Mann aus Gambia befreundet ist. Gundi und Astmann konnten in ihrem Büro für Online-Marketing einen Raum entbehren, den sie uns günstig untervermieteten. Gundi ist heute sogar Vorstandsmitglied bei African Angel.

Wir hatten endlich ein Büro. Jetzt brauchte ich nur noch jemanden, der ehrenamtlich bereit war, bestimmte Bürozeiten zu übernehmen, denn ich war ja weiterhin tagsüber auf der Messe und abends im »Einhorn« oder im »Les Halles« beschäftigt, um Geld für die Kinder zu verdienen. Dieser Jemand musste zudem zuverlässig und in der Lage sein, am Telefon kompetent Auskunft zu erteilen. Alle Anläufe, eine geeignete Person zu finden, schlugen fehl. Wer kann es sich schon leisten, seine Zeit kostenlos einem Verein zur Verfügung zu stellen?

Ich ließ schließlich eine Anzeige schalten, auf die sich ein gewisser Peter meldete. Als er Details von unserem Projekt gehört hatte, sagte er: »Davon muss die ganze Welt erfahren.«

Er meinte es ernst. Es erwies sich als Glücksfall für uns, dass Peter nicht nur das Büro hervorragend verwalten kann, sondern auch ausgezeichnete Kontakte zur Presse hat. Er erreichte, dass die Neue Rhein Zeitung einen großen Artikel über African Angel brachte. Die Journalistin, die ihn geschrieben hatte, war eine Praktikantin und der Zufall wollte es, dass ihre beste Freundin gerade ein Praktikum beim WDR absolvierte und während einer Redaktionssitzung vorschlug, einen Fernsehbericht über uns zu drehen. Nach dem Artikel in der Neuen Rhein Zeitung haben auch andere Zeitungen über uns geschrieben und jeder Beitrag hat uns Spenden und neue Patenschaften gebracht. Es zeigte sich, wie wichtig es war, dass das Büro immer besetzt ist und die Anrufer in Peter einen kompetenten Gesprächspartner finden.

Die Sache war auf einmal in Fahrt geraten. Der WDR interessierte sich tatsächlich für meine Arbeit und drehte zunächst einen kurzen Film. Und dann erreichte mich aus Ghana plötzlich die Nachricht, dass der Eigentümer des Kinderhauses die kleinen Bewohner auf die Straße setzen wollte. Er hatte erfahren, dass ich aus seinem Haus ein Kinderheim gemacht hatte, und fühlte sich betrogen.

Ich bat um Urlaub und flog von einem Tag auf den anderen nach Accra, wo ich vom Flughafen direkt ins Büro des Eigentümers ging und vor ihm auf die Knie fiel:

»Ich weiß, ich habe damals nicht die Wahrheit gesagt. Und das war nicht gut. Aber hätten Sie mir das Haus vermietet, wenn Sie meine eigentlichen Pläne erfahren hätten?«

Er überlegte einen Moment.

»Nein«, sagte er, »bestimmt nicht. Und wenn ich gewusst hätte, dass die Eltern dieser Kinder in den USA leben, dann hätte ich auf alle Fälle mehr Miete verlangt.«

So kam heraus, dass ich von einer eigenen Mitarbeiterin, der ich während meines letzten Besuchs in Accra aufgrund von Unstimmigkeiten gekündigt hatte, angeschwärzt worden war. Sie hatte Lügen verbreitet, unter anderem auch die, dass die Kinder in Amerika reiche Eltern hätten.

Ich schilderte dem Vermieter, wie es wirklich war. Er kannte Bukom und wusste, dass Kinder dort keine Chance haben. Als ich ihn inständig bat, diese Kinder nicht auf die Straße zu setzen, ließ er sich erweichen. Natürlich nicht, ohne die Miete gewaltig zu erhöhen. Doch in diesen sauren Apfel musste ich beißen.

Das Schlimmste war abgewendet, aber ich ahnte, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis wir uns eine andere Unterkunft suchen müssten. Der Vermieter hatte auf einmal allerhand auszusetzen und verbot den Kindern, die von ihm fest eingebauten Möbel zu benutzen, sie würden sie kaputt machen. Alle paar Monate erhöhte er die Miete. Um einen Vorwand war er dabei nie verlegen. Er hatte begriffen, dass ich von ihm abhängig war.

Mitte 2007 erklärte er mir, dass er den Mietvertrag nicht mehr wie sonst üblich um ein Jahr, sondern nur noch um sechs Monate verlängern würde. Sein Sohn heiratete demnächst und bräuchte das Haus. Ich musste also dringend etwas Neues finden.

Mir war klar, dass wir als Mieter immer schlechte Karten haben würden. Es wäre daher das Beste, ein Haus zu kaufen.

Wieder machten meine Mitstreiter große Augen. Kaufen? Ein Haus? Von welchem Geld denn?

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie entsetzt Peter war, als er erfahren hatte, dass wir binnen sechs Monaten das Haus räumen mussten.

»Um Gottes willen, was machen wir denn jetzt?«

Ich fing an zu lachen.

»Harriet, das ist ein ernstes Problem. Wie kannst du da bloß lachen?«

Heute kennt er den Grund: Ich lachte, weil ich einen Gott habe, an den ich glaube. Ich war mir sicher, dass Gott uns helfen würde, einen Weg zu finden.

Seit Sommer 2007 hatten wir also dieses Problem, im September wurde der Film des WDR ausgestrahlt. Die Resonanz darauf war unglaublich. Und mit einem Mal erhielten wir viele Spenden.

Als wir 38000 Euro auf dem Konto hatten, sagte ich dem Vorstand:

»So, und mit diesem Geld kaufe ich jetzt in Accra ein Haus.«

Wieder glaubten sie nicht daran.

»Wie willst du mit 38000 Euro ein Haus kaufen? Dafür brauchen wir doch mindestens die dreifache Summe.«

»Die haben wir aber nicht«, sagte ich, »und darum mache ich es mit diesem Geld.«

Ich flog also wieder nach Accra und vereinbarte Termine mit Maklern sowie mit unserer Bank, bei der wir ein Konto eingerichtet hatten. Zusammen mit Helena besichtigte ich Häuser. Schnell war klar: unter 150000 Dollar war nichts zu bekommen.

Auf der Bank verhandelte ich um einen Kredit. Die Konditionen waren schlecht. Ich erkundigte mich bei anderen Banken, handelte, feilschte. Schließlich näherten wir uns an, aber sie verlangten als Sicherheit unglaublich viele Papiere.

Danach wieder Häuser, Häuser, Häuser. Wir sahen schöne, wir sahen schäbige und wir fanden eines, das Helena ganz und gar nicht gefiel. Es war seit vielen Jahren unbewohnt und total heruntergekommen. Der Müll lag meterhoch im Hof. Alles war mit Dornenhecken überwuchert. Aber es gab zwei Gebäude auf dem Grundstück, was meinen Vorstellungen sehr entgegenkam. Immer hatte ich mir gewünscht, die Mädchen und Jungs in getrennten Häusern unterbringen zu können. Helena aber rümpfte die Nase.

Wir sahen uns weitere Häuser an. Darunter waren einige, die meiner Freundin ausnehmend gut gefielen. Die Renovierungsarbeiten wären bei diesen Objekten zwar überschaubar gewesen, für unsere Zwecke waren sie jedoch ungeeignet.

»Helena, wir ziehen nicht mit einer Familie dort ein. Wir haben 26 Kinder und ich möchte, dass es bald doppelt so viele sind.«

Helena riss die Augen auf. Ich bat sie, mit mir noch einmal zu dem verwahrlosten Anwesen zu fahren. Ich konnte fühlen, wie es in ihr kochte.

Die beiden Häuser brauchten wirklich eine gründliche Sanierung. Von den Stromleitungen bis zur Wasserversorgung – alles war kaputt. Auf dem Grundstück stank es entsetzlich. Wir traten ständig in Glasscherben.

»Das ist doch nicht dein Ernst«, meinte Helena.

Doch, es war mein Ernst. Das Grundstück war dreimal so groß wie das der anderen Objekte, die wir besichtigt hatten. Statt einem Gebäude standen hier zwei und es gab jede Menge Platz, um anzubauen. So heruntergekommen das Grundstück auch war, es lag in einer guten Gegend.

»Wenn du das wirklich tust«, kündigte Helena beleidigt an, »dann lasse ich mich nicht mehr mit dir blicken.«

»Aber Helena«, versuchte ich sie zu besänftigen, »du kannst mich doch jetzt nicht im Stich lassen.«

Sie ließ sich nicht erweichen.

Ungeachtet davon begann ich, mit dem Besitzer zu feilschen. Er wollte 150000 amerikanische Dollar, nach vielen und zähen Diskussionen hatte ich ihn auf 100000 Dollar heruntergehandelt. Das Problem aber war: Ich besaß keine 100000 Dollar, sondern nach den neuesten Spendeneingängen gerade mal 75000 Dollar. Da der Besitzer den Kaufpreis bereits so stark reduziert hatte, wollte er das Geld auf einmal haben. Wir vereinbarten einen Termin beim Notar, bis dahin sollte ich die Summe überweisen.

Ich überwies aber nur 70000 Dollar. Die restlichen 5000 Dollar wollte ich für die Renovierung zurückbehalten und mehr hatte ich einfach nicht. Als der Hausbesitzer das merkte, flippte er aus. Ich aber sagte: »Beruhigen Sie sich. Sie werden Ihr Geld natürlich bekommen. Aber zuerst ziehe ich in das Haus ein und schau nach, ob auch alles so ist, wie Sie es behaupten.«

Ich habe mich selbst gewundert, dass ich damit durchkam.

»Ich will jetzt die Schlüssel«, fuhr ich selbstbewusst fort. »Die restlichen 30000 Dollar bekommen Sie nächste Woche.«

»Ganz sicher?«

»Ja, ganz sicher.«

In Wahrheit hatten wir kein Geld mehr. Wir zogen ein, begannen mit der mühevollen Säuberung des Grundstücks und mit dem Umbau. Die Tage vergingen und ich konnte vor lauter Sorgen nicht schlafen. Ich betete ununterbrochen: »Herr, lass ein Wunder geschehen. Ich brauche 30000 Dollar, und zwar schnell.« Als die Woche fast um war, rief ich Peter in Deutschland an.

»Wie sieht es auf unserem Konto aus?«, fragte ich mit zitternder Stimme.

»Harriet«, sagte Peter fröhlich, »es sind ein paar dicke Spenden eingegangen. Stell dir vor, wir haben 30000 Euro auf dem Konto. Dieser Film vom WDR wirkt echte Wunder.«

Gott ist es, der dieses Wunder bewirkt hat, dachte ich, und sandte ein stummes Dankesgebet. Am letzten Tag der Frist überwies Peter die fälligen 30000 Dollar.

Wieder einmal war es im letzten Augenblick gut gegangen. Ich konnte also auch unserer erstaunten Hausbank mitteilen, dass wir den Kredit nicht benötigten.

Heute sagt Helena: »Ich habe damals die Gegenwart gesehen. Harriet sah die Zukunft.« Sie sah die viele Arbeit. Ich sah das Potenzial. Und wir hatten beide recht. Es ist eine echte Plackerei gewesen. Allein für die Säuberung des Grundstücks haben wir Wochen gebraucht. Die Zeit rannte uns davon: Bis Weihnachten musste das Haus bezugsbereit sein.

Gegen Ende schlief ich auf der Baustelle und die Bauarbeiter trugen meine Matratze täglich an eine andere Stelle, wo sie gerade nicht im Weg war.

Die Mühe lohnte sich. Als das Grundstück gesäubert und die Elektrik in beiden Gebäuden erneuert war, schaute der ehemalige Hausbesitzer vorbei. Er staunte nicht schlecht über die Veränderungen.

»Sie haben mich über den Tisch gezogen«, sagte er schließlich. »Das hier ist viel mehr wert, als ich je verlangt habe.«

»Heute schon«, gab ich zurück. »Aber Sie dürfen nicht vergessen, wie viel wir investieren mussten. Das Grundstück stand viele Jahre lang zum Verkauf. Niemand hatte die Vision, dass es einmal so aussehen könnte. Auch Sie nicht.«

Er gab mir recht.

»Ihre Kinder müssen sich keine Sorgen machen«, sagte er zum Abschied. »Mit einer Fürsprecherin wie Ihnen sind sie fein raus.«

Wir hatten Glück. Inzwischen war auch die Auslandsredaktion des WDR auf unser Projekt aufmerksam geworden. Sie schickte ein Fernsehteam nach Ghana, um mit mir vor Ort zu drehen. Das Echo auf diesen Film war grandios. So viele Menschen interessierten sich für African Angel, übernahmen Patenschaften, machten Geld- und Sachspenden. Die Begeisterung war so groß, dass bald darauf ein zweiter Teil gedreht wurde, der die letzte Phase des Umbaus und den Umzug in das neue Haus dokumentierte.

Mit vereinten Kräften hatten wir es gerade so geschafft. Nachdem unser Vermieter erfahren hatte, dass wir tatsächlich ausziehen würden, und zwar in ein eigenes, noch nicht ganz bezugsfertiges Haus, erlaubte er stillschweigend, dass wir zwei Monate länger als vereinbart blieben. Miete verlangte er dafür nicht. Anfang Februar 2008 packte ich schließlich die Kinder samt Hund, der inzwischen auch zu uns gehörte, in einen Bus und los ging es ins neue Heim. Die Kinder hatten es vorher noch nie gesehen und waren wahnsinnig gespannt. Den gesamten Weg vom alten zum neuen Haus sangen sie aus Leibeskräften. Der Bus war von Vorfreude und Gesang erfüllt. Als wir beim neuen Haus ankamen, brach ein unbeschreiblicher Jubel aus. Die Kinder purzelten aus dem Bus und nahmen das ganze Grundstück in Windeseile in Besitz.

»Müssen wir hier nie mehr ausziehen?«, fragte mich die kleine Mary.

»Nein«, sagte ich. »Es gehört African Angel. Es gehört uns.«

Sie konnten es kaum glauben. Plötzlich hatten sie dreimal so viel Platz zur Verfügung. Es gibt wie gesagt zwei Häuser, wobei das der Mädchen über ein großes Wohnzimmer verfügt, das auch die Jungs mitbenutzen. Zudem gibt es einen großen Hof zum Spielen, zwei Veranden, um sich in den Schatten zurückzuziehen, und hinter dem Mädchenhaus liegt ein großes Küchenareal. Denn obwohl ich eine europäische Küche mit allem Drum und Dran eingebaut habe, kochen Mama Patience und Mama Dora, die inzwischen ebenfalls zu unserem Haus gehört, am liebsten auf afrikanische Art draußen in den großen Kesseln über Holzkohle. Es ist viel zu heiß, um drinnen zu kochen, und die Kessel haben gerade die richtige Größe, um für die anwachsende Kinderschar ausreichend viele Mahlzeiten zuzubereiten. In diesem rückwärtigen Bereich, der die meiste Zeit des Tages schön im Schatten liegt, essen die Kinder auch und machen ihre Hausaufgaben.

Es gab noch eine Menge zu tun, bis das »African-Angel-Cottage«, wie ich das Anwesen getauft hatte, fertig war. Aber was heißt in diesem Zusammenhang schon fertig: Die Reparatur- und Ausbesserungsarbeiten gehen weiter. Im Hof haben wir Palmen angepflanzt, die heute noch mit Holzgerüsten vor den scharfen Pässen unserer Nachwuchsfußballer geschützt und in ein paar Jahren wunderbaren Schatten spenden werden. Eine Mauer sorgt für Sicherheit und am Eingang habe ich ein großes Metalltor anbringen lassen. Neben diesem befindet sich ein kleines Wachhaus, das Tag und Nacht besetzt ist. Ursprünglich hatte ich geplant, sowohl als Hauspersonal wie auch für den Sicherheitsdienst ausschließlich Frauen anzustellen. Doch es hat sich herausgestellt, dass in diesem Metier in Ghana keine Frauen zu bekommen sind, weshalb ich zwei zuverlässige Männer ausgewählt habe, die sich mit ihrem Dienst abwechseln.

Nachdem dies so weit geregelt war, zeigte sich, dass die gesamte Straße, die nicht geteert ist, über ein unzureichendes Abwassersystem verfügte und sich infolgedessen regelmäßig in eine stinkende Schlammpiste verwandelte. Ein unhaltbarer Zustand, dachte ich und finanzierte schließlich die Abwassersanierung der gesamten Straße. Ich ließ sie in ihrer ganzen Länge aufgraben und vernünftige Abwasserrohre verlegen. Die Nachbarn profitierten davon und mussten ihren eigenen Haushalt nur noch an die Straßenableitung anschließen. Die Nachbarschaft weiß das bis heute zu schätzen und ist uns seitdem wohlgesonnen.

Ich bin eine Respektsperson im Viertel, in dem hauptsächlich gut situierte Familien wohnen, aber auch arme Haushalte zu finden sind. Einen aus einem solchen Haus stammenden Jungen haben wir in unser Programm integriert. Er ist groß, höflich und hat ein ansteckend strahlendes Lächeln, konnte aber nicht einmal Englisch.

»Warum nicht?«, fragte ich.

Er blickte beschämt. »Weil ich nicht zur Schule gehen kann.«

»Was?! So ein hübscher und kluger junger Mann geht nicht zur Schule?«

Ich sprach mit seinen Eltern, die sich das Schulgeld tatsächlich nicht leisten können. Da habe ich mit ihnen vereinbart, dass der Junge zwar zuhause wohnen bleibt, aber gemeinsam mit »meinen« Kindern zur Schule geht. So wie er bin ich sehr stolz auf seine Fortschritte. Alle Kinder strengen sich in der Schule an und er ganz besonders.

Über die Kinder von African Angel gäbe es so viel zu erzählen. Von Matilda, die ihr Gegenüber den ganzen Tag mit Fragen löchern kann und nie genug Antworten bekommt. Von Veronica, die anfangs als lernbehindert galt und inzwischen zu den Besten ihrer Klasse gehört. Von Deborah, die Schauspielerin werden will, und von Priscilla, die – wie ich einst – einmal als Pilotin Flugzeuge durch die ganze Welt fliegen möchte. Der 15-jährige Nee Ayesu spart sein bisschen Taschengeld, um es seiner Mutter zu geben, die außer seinen Geschwistern noch seine alte und kranke Oma versorgen muss. Und von James, der fließend Französisch spricht und ein wahres Mathematikgenie ist. Die älteste unserer drei Marys ist die Klügste von allen Kindern. Einmal hat sie einem Besucher aus Deutschland versprochen, bei seinem nächsten Besuch fließend Deutsch zu sprechen, und übt nun jeden Tag mit Kassetten. So hat jedes Kind seine eigene Geschichte.

Viele wundern sich, dass »meine« Kinder trotz ihres anfänglichen Rückstands so gut in der Schule sind. Ich habe da meine eigene Theorie: Sind die Menschen in Bukom auch bitterarm, so ernähren sie sich doch von frühester Kindheit an überwiegend von Fisch und anderen Meerestieren. Das in ihnen enthaltene Eiweiß und die ungesättigten Fettsäuren sorgen für einen optimalen Aufbau des Gehirns.

Ich habe herausgefunden, dass eine Menge berühmter und erfolgreicher Ghanaer, die in Politik, Wirtschaft und Forschung eine führende Rolle spielen, ihre Wurzeln in Bukom und den Absprung aus dem Slum geschafft haben. Gelingt es also jemandem, Bukom und dem Negativkreislauf zu entkommen, dann scheinen ihm alle Möglichkeiten offenzustehen. Mit den Kindern von African Angel verhält es sich da nicht anders. Ich bin sicher, dass wir in Zukunft noch von ihnen hören werden.

Ich werde immer wieder gefragt, warum ich die ganze Arbeit überhaupt mache. Weshalb ich nicht auf meine Mutter höre, mir in Accra ein schönes Haus baue und die Tage gemütlich angehe. Die Antwort ist: Diese Kinder haben mir das Leben gerettet. Diejenigen, die immer nur für sich sorgen, wissen nicht, wie reich und glücklich es macht, anderen zu helfen. Es geht mir nicht darum, mich auf einen Sockel zu stellen und zu sagen: »Hey, seht mal, wie toll ich bin.« Zumal das nicht den Tatsachen entsprechen würde. In Wirklichkeit bekomme ich von den Kindern nämlich ein Vielfaches von dem zurück, was ich ihnen gebe.

Die wichtigsten Dinge im Leben sind mit Geld nicht aufzuwiegen. Wir bringen nichts mit, wenn wir in diese Welt kommen, und nehmen nichts mit, wenn wir gehen. Wenn ich sehe, dass die Kinder unbeschwert lachen können, richtig fröhlich sind und miteinander in Liebe umgehen, ist das für mich die schönste Belohnung, dann haben sich der Stress, die harte Arbeit und die vielen bitteren Rückschläge ausgezahlt.

Wenn die Bukom-Kinder lernen, was Zufriedenheit ist und dass sie nicht mit diesen Ungerechtigkeiten zwischen Arm und Reich leben müssen, werden sie aktiv in ihre Welt eingreifen können. Ich demonstriere ihnen täglich, dass nichts unmöglich ist.

Denn es geht ständig weiter. Beim Umbau der alten Häuser habe ich meine ersten Erfahrungen als Bauherrin gemacht. Diese kommen mir jetzt zugute und ich lerne täglich Neues dazu. Ich habe große Pläne – Pläne, die meinen Vereinsvorstand mitunter zum Schwitzen bringen.

In den beiden Häusern des »African-Angel-Cottage« haben wir mehr Platz als in dem zuvor gemieteten Kinderhaus, doch auch dieser reicht schon lange nicht mehr aus. Inzwischen sind auch diejenigen von dem Projekt überzeugt, die mich anfangs so geschmäht und verdächtigt hatten. Heute wollen fast alle Eltern, dass ich ihre Kinder aufnehme. Wir haben eine Warteliste, auf der 600 Namen stehen.

Im Moment ist es unmöglich, so viele aufzunehmen. Bei jedem zurückgewiesenen Kind blutet mir das Herz. Was bringt in diesem Alter schon eine Warteliste? Kostbare Jahre der Prägung, die Zeiten, in denen ein Kind am leichtesten lernt, gehen verloren. Ich habe zu jedem Kind auf der Liste ein Foto, sodass ich mit jedem Namen auch ein Gesicht verbinden kann. Ich sehe mir die Bilder immer wieder an, was mir Kraft zum Weitermachen gibt. Inzwischen wohnen 56 Kinder bei uns und das ist bei Weitem nicht genug.

Damit mehr Kinder die Möglichkeit einer Schulbildung erhalten können, hatte African Angel 2008 beschlossen, auf dem Grundstück in Accra ein zusätzliches Haus zu errichten. Das Erdgeschoss und die beiden oberen Stockwerke stehen bereits im Rohbau da. Im Sommer 2009 habe ich diesen wichtigen Bauabschnitt persönlich überwachen können. Mein Ziel, die Betondecke über dem zweiten Stockwerk fertigstellen zu lassen, Türen und Fenster einzubauen und im Erdgeschoss bereits das neue Büro zu beziehen, habe ich erreicht. Auch die Elektrik und die Wasserleitungen sind verlegt worden. Wie immer ist es bis zuletzt eine Zitterpartie gewesen.

Im Jahr 2011 soll das neue Haus bezugsfertig sein, das uns die Möglichkeit geben wird, weitere 100 Kinder aufzunehmen. Dann soll es um ein drittes Stockwerk erweitert werden. Für unsere Besucher werden zwei schöne Gästezimmer mit eigener Dusche und Toilette entstehen. Wer heute zu uns kommt, schläft entweder im Wohnzimmer auf dem Sofa oder muss sich in ein außerhalb liegendes Gästehaus einmieten.

Für das Erdgeschoss sind eine Bibliothek und ein großer Computerraum geplant. Bereits jetzt erhalten unsere Kinder Computerunterricht und jeden Nachmittag kommt ein Nachhilfelehrer, der mit ihnen den Stoff des Vormittags nochmals durchgeht und vertieft. Sie arbeiten mit speziellen Lernprogrammen, bei denen sie auf jede Frage eine Antwort erhalten. Wissen ist wertvoll, das sage ich ihnen immer wieder.

Das gilt auch für mich in meiner Rolle als Bauherrin. Wie viel Sack Zement brauche ich für die Zwischendecke des Neubaus? Und was kosten sie? Wie viel Meter Elektrokabel muss man pro Stockwerk einrechnen? Reichen 200 m2 Fliesen oder soll ich lieber ein paar Kartons mehr nehmen? Wenn ich kleine Mengen nachkaufen muss, bezahle ich den doppelten Preis. Und so weiter und so fort.

Es fällt mir immer schwer, meinem Vorstand zu erklären, warum das bewilligte Geld mal wieder nicht gereicht hat. Aber in Afrika muss man mit vielen Unwägbarkeiten rechnen. Da ist etwa der schwankende Umrechnungskurs. Durch die Inflation, die zwar nicht mehr so horrend ist wie noch vor ein paar Jahren, kann ich vorher nie genau sagen, wie viel Geld ich für das Baumaterial ausgeben muss. Oft muss ich spontan entscheiden und handeln und auch Geld auf den Tisch legen, will ich verhindern, dass die Arbeiter am nächsten Tag nicht mehr erscheinen.

Bei den Handwerkern bin ich inzwischen berüchtigt und dafür bekannt, dass ich nichts durchgehen lasse und auch den kleinsten Pfusch sofort bemerke. Ich verlange von ihnen Qualitätsarbeit und Leistung, faule Arbeiter haben bei mir nichts verloren. Doch wider alle Vorurteile gegenüber Afrika gibt es hier durchaus eine Menge verlässlicher und gut ausgebildeter Kräfte. Ich muss ihnen nur zeigen, dass ich auch als Frau in der Lage bin, meine Interessen zu verteidigen.

Dass ich das kann, ist inzwischen hinlänglich bekannt. Es macht mir nichts aus, auf der Baustelle auch mal laut zu werden, wenn es nicht so läuft wie es soll. Aber ich lobe auch und erkenne eine gute Arbeit an. Die Männer brauchen beides. Und Gott sei Dank habe ich Freunde, die mich bestens beraten, den Fachhandwerkern zwischendurch auf die Finger sehen und kontrollieren, ob das von mir bezahlte Baumaterial auch tatsächlich für das »African-Angel-Cottage« verwendet wird. Darüber hinaus sprechen sie Empfehlungen für zuverlässige Facharbeiter aus.

Dass dies alles möglich ist, verdanke ich den treuen Mitstreitern von African Angel und den unzähligen Spendern. Auch den Redakteuren und Journalisten der verschiedenen Zeitungen und Sender, die dabei helfen, unser Projekt publik zu machen. Denn mit meinem Gehalt als Klofrau allein wäre ein Vorhaben wie der oben genannte Neubau unmöglich. African Angel kann nur wachsen, wenn viele Menschen bereit sind, einen Beitrag beizusteuern.