Wie alle Afrikaner hatte auch ich von Europa nahezu märchenhafte Vorstellungen. Ich weiß, es klingt seltsam, das von einer jungen modernen Frau zu hören, die es gewohnt war, mit Computern umzugehen. Aber in Afrika kursieren seit Jahrzehnten so unglaubliche Geschichten über Europa, dass man gar nicht anders kann, als diesen im Vergleich zu Afrika so winzigen Kontinent zu verklären.
Ich dachte zum Beispiel allen Ernstes, dass es in Europa niemals dunkel würde. Auch glaubte ich, dass es dort keine Bäume, sondern stattdessen überall nur Hochhäuser gäbe. Krankheiten, davon war ich überzeugt, wären in Europa schon lange verschwunden. Schließlich gibt es doch genügend Ärzte, die dafür sorgen, dass die Menschen gesund bleiben. Auch Behinderte konnte es auf einem so wundervollen und fortschrittlichen Kontinent nicht geben; Behinderungen werden in Europa einfach wegoperiert. Außerdem gab es in meiner Vorstellung in Europa keine armen Menschen, alle waren wohlhabend.
Ja, das ist das hartnäckigste Gerücht, das noch heute fast jeder Afrikaner felsenfest glaubt. Selbst wenn Berichte nach Afrika dringen, denen zufolge es auch in Europa gesellschaftliche Unterschiede gibt, bleibt man dabei: Sogar ein armer Europäer ist für afrikanische Verhältnisse unermesslich reich.
Im letzten Moment habe ich dann doch von unserer Abreise erzählt. Wie hätte ich einfach so verschwinden können, ohne den Menschen, die mit mir das tägliche Leben teilten, einen Ton zu sagen? Das war unmöglich. So begleitete uns ein kleines Gefolge zum Flughafen: mein sorgenvoll blickender Onkel, der mich immer unterstützt hatte, Mama Patience und meine besten Freundinnen. Meine Großmutter war zu krank. Ich hatte nicht mehr die Zeit gefunden, mich von ihr zu verabschieden. Außerdem wollte ich sie nicht in Sorgen stürzen. Mama Patience weinte.
»Ich komme bald wieder«, beruhigte ich meine zurückbleibenden Verwandten und auch ein bisschen mich selbst.
Und dann ging es los.
Der Flug von Accra nach Düsseldorf dauert sechs Stunden. Ich war müde, aber doch voller Neugier auf das, was kommen würde. Nie zuvor war ich im Ausland gewesen, geschweige denn geflogen. Alles war neu und aufregend für mich, was ich in vollen Zügen genoss.
Wir verließen das Flugzeug und gelangten durch eine Gangway in den Terminal. Es war kalt in Deutschland. Dezember. In Accra hatte das Thermometer bei meiner Abreise auf 35 Grad im Schatten gestanden, die Luftfeuchtigkeit hatte rund 60 Prozent betragen. Ich war nicht darauf gefasst gewesen, Temperaturen anzutreffen, die bei uns zuhause lediglich im Kühlschrank herrschten. Feuchtkalte 5 Grad über null. Wieso hatte mir Anthony nichts über die kalte Jahreszeit erzählt?
In meinem dunkelblau-weiß gemusterten Leinenkleid und den hochhackigen Schuhen war ich eine der elegantesten Reisenden, die in Düsseldorf auf ihr Gepäck warteten. Mir war kalt. Und mein Koffer würde auch nur Sommerkleider enthalten. Doch meine gute Laune ließ ich mir davon nicht nehmen.
Auch nicht von dem Bild der jungen Klofrau, auf die Anthony mich hinwies. Ich hatte beschlossen, in Deutschland mein Glück zu machen. Da ließ ich mich nicht von einem fremden Schicksal ablenken, das mit meinem, davon war ich überzeugt, nicht das Geringste zu tun hatte. Wir fuhren mit dem Zug zum Hauptbahnhof. Inzwischen zitterte ich vor Kälte. Noch nie zuvor hatte ich Schnee gesehen. Nie zuvor hatte ich so gefroren.
Anthony erkundigte sich in der Touristen-Information am Bahnhof nach einem Hotel für uns. Ich wunderte mich. Hatte er nicht gesagt, er hätte bereits alles für unsere Ankunft arrangiert? Eine schlecht gelaunte Angestellte gab uns ein paar Adressen und wir landeten schließlich im »Hotel Manhattan«, das ein paar Straßen vom Hauptbahnhof entfernt lag.
Es war keine besonders gute Gegend. Auf dem kurzen Weg dorthin entdeckte ich Sex-Shops, schmuddelige Kinos und Discounter. Ich war überrascht, dass es im Wunderland Deutschland so heruntergekommene Orte überhaupt gab. Doch das Hotel war vornehm. Fürs Erste sollte es genügen.
»Wir bleiben doch nicht lange hier?«, fragte ich, nachdem wir das Zimmer bezogen hatten.
»Mal sehen«, antwortete Anthony, »wie es sich entwickelt.«
Aber zunächst einmal entwickelte sich gar nichts.
Das Zimmer, das wir bezogen hatten, ging auf einen grauen Innenhof hinaus. Das war alles, was ich zunächst von Deutschland sehen sollte. Beim Frühstück saß ich im Restaurant und schaute auf die Graf-Adolf-Straße, beobachtete die Menschen und Autos, die vorbeifuhren. Es gab ein riesiges Frühstücksbuffet, aber für mich war alles ein bisschen fremd. Aus Ghana hatte ich Banku-Knödel und Chilisoße mitgebracht, wovon ich mittags ein bisschen aß. Abends nahm mich mein Mann mit zu einem neuen chinesischen Imbiss, der gleich um die Ecke aufgemacht hatte. Da waren wir fast jeden Tag.
Es passierte einfach nichts. Ich traute mich nicht, das Hotel allein zu verlassen, Anthony hatte mich eindringlich davor gewarnt. Er selbst ging allein los, um »alles zu regeln«, wie er sagte. Aber was er genau machte und ob er überhaupt etwas machte, das wusste ich damals nicht.
Heute weiß ich, dass es in Düsseldorf wie in vielen europäischen Städten ein dichtes Netzwerk von Afrikanern gibt. Mein Mann kannte offenbar einige Ghanaer oder versuchte, sie am Bahnhof ausfindig zu machen. Genau wie ich sprach er kein Deutsch. Vielleicht war er sogar von meiner Einwilligung, mit ihm nach Deutschland zu kommen, letztendlich überrascht gewesen. Vielleicht war alles schneller gegangen, als er erwartet hatte. Jedenfalls hatte er nichts für unsere Ankunft vorbereitet, das wurde mir nach und nach klar.
Ich hatte es satt, in diesem Hotel zu sitzen. Ich weinte und drängte ihn, eine richtige Wohnung zu suchen.
»Ich will endlich die Computerschule sehen«, quengelte ich.
Doch er erwiderte nur, so schnell ginge das alles nicht und ich müsse Geduld haben. Es seien gerade Ferien, man könne die Schule nicht besichtigen.
Ich merkte, dass ich ohne mein gewohntes Umfeld völlig hilflos war. Gerne wollte ich das Leben in Düsseldorf kennenlernen, aber Anthony war strikt dagegen.
Nach ein paar Tagen in dem Hotelzimmer, das ich mehr und mehr als Gefängnis empfand, nahm Anthony mich mit hinaus, um mir andere Schuhe zu kaufen. Denn ich hatte ja nur völlig unpassende hochhackige Sandaletten im Gepäck. Wir gingen um zwei Ecken in einen Billigladen, wo ich mir ein Paar Turnschuhe aussuchen sollte. Ich und Turnschuhe! Anthony kaufte mir das erste Paar meines Lebens. Ich musste erst mühsam lernen, in so etwas überhaupt zu gehen. Meine Füße, gewöhnt an hohe Absätze, taten mir weh. Meine Sehnen und Bänder waren dafür überhaupt nicht trainiert. Auch einen wattierten Mantel bekam ich endlich.
»Wenn schon Ferien sind«, sagte ich, »dann könnten wir doch auch etwas von Deutschland sehen. Warum holst du mich überhaupt mitten in den Ferien hierher?«
Um mich auf andere Gedanken zu bringen, fuhr Anthony mit mir nach München, wo Freunde von ihm lebten. Und wie es so ist bei uns Afrikanern, wenn jemand aus dem eigenen Land zu Besuch kommt, trommelten auch sie alle Freunde zusammen und wir hatten ein paar gesellige Tage.
Was war ich froh, mich endlich wieder in meiner Sprache unterhalten zu können! Ich stellte eine Menge Fragen und erfuhr ein bisschen, wie es hier in Deutschland zugeht. Wenn ich studieren wollte, so erzählte mir jemand, dann müsste ich einen festen Wohnsitz haben, das heißt, eine Wohnung finden. Dann müsste ich mich bei der Stadtverwaltung anmelden, ohne diese Anmeldung ginge gar nichts. Meine Landsleute in München waren überrascht, als sie von meinen Plänen hörten. »Sprichst du Deutsch?«, wollte ein junger Mann wissen. Ich verneinte. Er sah mich skeptisch an. Anthony bemerkte unsere Unterhaltung und mischte sich ein. Brachte unser Gespräch auf andere Themen. Er behauptete später, diese Leute hätten keine Ahnung. Aber ich merkte mir, was ich erfahren hatte. Wir brauchten eine Wohnung. Sobald wir wieder in Düsseldorf wären, würde ich Anthony darauf ansprechen.
Unser Besuch in München endete mit einem Eklat. Der erste dieser Sorte, aber nicht der letzte. Wir wohnten selbstverständlich in einem Hotel, verbrachten allerdings viel Zeit mit Anthonys afrikanischen Freunden. Einmal ließ er mich allein bei ihnen, um irgendetwas zu »erledigen«. Als Anthony zurückkam, war gerade eine Party im Gang und er fand mich ausgelassen lachend im Gespräch mit ein paar jungen Leuten. Auch Männer waren dabei. Da packte er mich am Handgelenk und machte mir eine wahnsinnige Szene. Er flippte völlig aus, verdächtigte mich, ihn mit einem der Männer zu betrügen. Er war durch nichts zu beruhigen. Ich schämte mich fürchterlich vor diesen freundlichen Menschen, denen Anthony jetzt lauthals vorwarf, sie hätten ihm seine Harriet wegnehmen wollen. Er bestand darauf, auf der Stelle zu gehen, und schleppte mich zurück ins Hotel. Es war spät am Abend.
Wir bewohnten eine elegante Suite, die mit Designermöbeln ausgestattet war, darunter befand sich auch ein wunderschöner Tisch mit einer dicken Glasplatte. Ich war unglaublich wütend.
»So kann ich nicht weitermachen!«, schrie ich aufgebracht und schlug mit meiner Handkante voller Wucht auf den Glastisch. Zu meiner großen Überraschung brach der Tisch mitten durch und meine Hand blutete wie verrückt. Ich hatte mir eine tiefe Wunde zugezogen, aus der das Blut nur so herausquoll. Erschrocken zog ich mich ins Badezimmer zurück und schloss mich ein. Anthony tobte. Ich umwickelte meine Wunde mit einem Handtuch und wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Draußen schrie Anthony, ich solle die Tür aufmachen. Aber ich dachte nicht daran. Schließlich legte ich mich in die Badewanne und deckte mich mit Handtüchern zu. An Schlafen war jedoch nicht zu denken. Irgendwann hatte sich Anthony offenbar beruhigt und klopfte vorsichtig an meine Tür. Ich öffnete ihm. Er machte sich wegen meiner Hand Sorgen, aber auch wegen des zerbrochenen Tisches und des Hotelzimmers, das voller Blut war.
»Komm«, sagte er, »wir müssen hier verschwinden! Sonst zeigen die uns noch an.«
Er überredete mich dazu, trotz meiner Verletzung meine Sachen zu packen. Als wir den Gang entlangschlichen, kam gerade das Zimmermädchen um die Ecke. Anthony steckte ihr ein großzügiges Trinkgeld zu.
In aller Eile checkten wir aus. Ehe ich mich versah, saßen wir im Zug nach Düsseldorf, wo wir wieder das »Hotel Manhattan« bezogen. Einen Arzt suchten wir nicht auf. Meine Wunde verheilte auch so. Noch heute habe ich an der Kante meiner rechten Hand zwei Narben, eine Erinnerung an jene fürchterliche Nacht.
Nun saß ich also wieder im »Hotel Manhattan« und starrte auf die Häuserfronten jenseits des Hofes. Seit unserer Abreise aus München waren wir keinen einzigen Schritt weitergekommen.
»Wir brauchen eine Wohnung«, beschwor ich Anthony. »Ich muss raus! Ich werde hier verrückt! Du hast mir ein anderes Leben versprochen. Was ist mit der Schule?«
Ich machte Druck. Anthony versprach, eine Wohnung für uns zu finden. Ich weinte viel. Hockte wieder in diesem verdammten Hotelzimmer fest. Anthony ging morgens hinaus, kam abends zurück. Nichts geschah.
Ich war mit den Nerven am Ende. Machte noch mehr Druck. Wir stritten uns. Ich war verzweifelt. Wie lange sollte es so weitergehen? Ich wollte eine anständige Wohnung und endlich mit meinem Studium beginnen. Irgendwann mussten die Schulferien doch zu Ende sein.
Erst viel später kam mir der Gedanke, dass alles so geplant gewesen war. Anthony hatte offenbar jahrelang seine Eifersucht hinuntergeschluckt und seine Rache vorbereitet. Er liebte mich. Konnte nicht ohne mich sein. Er wollte mich für sich allein haben, weshalb er mich in dieses fremde Land geschleppt hatte. Dabei hatte es für Anthony überhaupt keinen Grund zur Eifersucht gegeben. Für mich war Anthony der Einzige. Von Untreue konnte nicht die Rede sein.
Doch da war dieser Cousin, der mich in Accra bei meiner Arbeitsstelle ausspioniert und Anthony davon überzeugt hatte, dass er mich früher oder später verlieren würde, wenn er mich weiterhin in dieser Firma arbeiten ließe: »Eines Tages kommst du von London nachhause und deine Harriet ist weg.« Anthony, ohnehin schon eifersüchtig, hatte das sofort geglaubt. Er hatte mich aus Ghana wegholen müssen. Möglichst weit weg von all diesen Männern, die mir nachstellten. In ein Land, wo ich niemanden kannte. Dessen Sprache ich nicht verstand. Wo ich ihm vollkommen ausgeliefert war.
Es sollte noch eine ganze Weile dauern, bis ich diese Zusammenhänge begriff. Ich konnte mir nicht vorstellen, welches Spiel Anthony mit mir trieb. Hatte ich nicht alles aufgegeben? Hatte er mir nicht das Blaue vom Himmel versprochen? Scheiterte unser »deutscher Plan« schon daran, dass er nicht in der Lage war, eine Wohnung für uns zu finden?
Anthony war zuvor durchaus schon in Deutschland gewesen. Mehrfach hatte er hier gebrauchte Autos gekauft und nach Ghana gebracht, um sie dort weiterzuverkaufen. Zudem hatte er in Deutschland Kontakte. Doch mit mir sprach er nicht offen über seine Pläne, und das war für mich ein fürchterlicher Zustand. Ich war es gewohnt, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Hier war ich zum Warten verurteilt.
Nach unserem missglückten Ausflug nach München bemühte sich Anthony tatsächlich um eine Wohnung. Das war nicht einfach. Die Mauer war noch nicht lange gefallen und viele Ostdeutsche kamen in den Westen. Wohnraum war in Düsseldorf knapp. Wir waren wieder auf Anthonys dubiose Kontakte angewiesen, weshalb er sich jeden Tag am Hauptbahnhof aufhielt.
Endlich kam er mit der Nachricht, dass er in Oberhausen etwas gefunden hätte: eine möblierte Wohnung für 600 Mark monatlich.
Ich sagte: »Wunderbar! Hier im Hotel zahlen wir fast 150 Mark pro Tag! Da sparen wir ja eine ganze Menge!«
Aber es handelte sich nur um eine winzige Einzimmerwohnung mit Kochecke und Dusche. Heute weiß ich, dass man uns schwer übers Ohr gehauen hatte, aber damals war ich froh, endlich aus dem Hotel herauszukommen. 20 Mark pro Tag statt 150, das schien mir ein fairer Deal.
Also zogen wir nach Oberhausen. Ich war überzeugt, dass jetzt alles gut würde. Wir würden uns offiziell anmelden. Und dann könnte ich endlich auf diese Computerschule gehen.
Wir bezogen die kleine Wohnung, wir meldeten uns an. Nun war endlich die Zeit gekommen, mit meinem Studium zu beginnen.
»Wollen wir morgen zur Computerschule gehen?«, fragte ich meinen Mann.
Er schwieg. Sein Schweigen dehnte sich aus, schien irgendwann das ganze Zimmer auszufüllen.
»Wenn du keine Zeit hast«, sagte ich und bemühte mich um einen unbefangenen Ton, »dann gehe ich allein hin. Gibst du mir bitte die Visitenkarte mit der Adresse?«
Ich hatte die Anzeichen zu spät bemerkt: diesen Ausdruck in den Augen, seine Haare, die sich aufstellten. Er sah weg. Vielleicht wäre es besser gewesen, den Mund zu halten. Aber ich fand, das hatte ich schon viel zu lange getan.
»Hör zu, das ist der Grund, weswegen ich nach Deutschland gekommen bin. Ich habe eine gut bezahlte Stelle aufgegeben, damit ich hier studieren kann. Jetzt habe ich lange genug gewartet. Ich will nicht noch mehr Zeit verlieren.«
»Es sind Ferien«, sagte er zornig. »Ich hab es dir doch schon einmal erklärt.«
»Ferien?«, fragte ich. »Seit drei Monaten? Die müssen doch irgendwann zu Ende sein. Und wenn nicht, dann ist das Sekretariat besetzt. Ich will jetzt endlich dahin, Anthony, hörst du, ich will nicht mehr länger warten.«
»Du gehst nirgendwohin!«, warf mir Anthony in schneidendem Ton entgegen. »Hier tust du, was ich sage! In Ghana, da hast du immer gemacht, was du wolltest. Und jetzt bezahlst du dafür.«
Dafür bezahlen? Wofür denn um Gottes willen? Eigentlich war mir klar, dass es klüger wäre, diese Fragen auf später zu verschieben. Vielleicht sogar die Frage, wann ich endlich die Schule von innen sehen würde. Anthony hatte sich verändert, ich konnte ihn nicht mehr einschätzen. Die Ereignisse in München hatten mich gewarnt. Doch ich bin eine temperamentvolle Frau und habe damals nicht eingesehen, warum ich mich gegen jede Vernunft seinen Launen unterordnen sollte. Meine Existenz stand auf dem Spiel, der Sinn und Grund meiner Anwesenheit in Deutschland. Zuhause vermissten mich mein Sohn und meine Großmutter. Es machte keinen Sinn, hier in dieser winzigen Bude herumzusitzen und darauf zu warten, dass Anthony gnädig gestimmt war. Also ließ ich nicht locker.
»Ich will zu dieser Schule. Wenn nicht heute, dann morgen. Gib mir endlich die Adresse. Du hast mich doch angemeldet und die Gebühren bezahlt. Worauf warten wir noch?«
»Ich habe meine Gründe«, herrschte er mich an.
»Welche Gründe?«, wollte ich wissen.
»Harriet«, drohte er leise. »Es ist jetzt genug. Ich will das Wort ›Computerschule‹ nie wieder hören, verstanden?«
»Hör zu«, sagte ich genauso wütend, »du wirst das Wort ›Computerschule‹ so lange hören, bis ich dort mit meinem Studium begonnen habe. Ich bin deine Ausflüchte leid. Du hast es mir versprochen! Bist du einer, der sein Versprechen nicht hält?«
Es kam wie aus heiterem Himmel. Wir standen uns gegenüber. Auf einmal fuhr seine Faust nach vorn und traf mich mitten ins Gesicht. Auf das linke Auge. Ich war wie gelähmt. Er schlug ein zweites Mal zu, diesmal traf er das rechte. Ich fiel hintenüber aufs Bett. Noch nie war ich von einem Menschen derart geschlagen worden. Und nun hatte damit ausgerechnet der Mann begonnen, den ich liebte wie mein eigenes Leben.
Ich verbrachte die folgenden Tage wie unter Schock. In meinem Gesicht waren blutunterlaufene Veilchen aufgeblüht. Meine Augen waren zugeschwollen. Ich sah aus wie ein Monster. Es tat weh, entsetzlich weh, doch viel schlimmer waren die Schmerzen in meinem Innern. Es hat etwas zutiefst Demütigendes, geschlagen zu werden. Ich war wie gelähmt und außerstande, zu verstehen, was eigentlich mit uns los war. Irgendwann flossen meine Tränen wieder und ich begriff, dass nichts gut werden würde. Ein Dämon hatte von Anthony Besitz ergriffen und aus dem eleganten, besonnenen und weltgewandten Mann, den ich geheiratet hatte, einen unberechenbaren Tyrannen gemacht.
Ich setzte meine Sonnenbrille auf und stahl mich aus der Wohnung. In Düsseldorf hatte ich in unmittelbarer Nähe des Hotels ein Büro von Ghana Airlines entdeckt. Dorthin fuhr ich, um mir mein Rückflugticket aushändigen zu lassen. Hier in diesem Land hatte ich nichts mehr zu suchen. Mit einigem Glück konnte ich vielleicht meine Stelle in Accra wieder antreten. Und wenn nicht, würde ich schon wieder auf die Beine kommen. Ich musste nachhause, musste in das Land, in dem ich mich auskannte, wo ich über Kontakte verfügte, wo meine Familie lebte. In Ghana käme ich allein zurecht. Dort wäre ich in Sicherheit.
Mein Herz klopfte bis zum Hals, während die junge Frau im Computer nachsah. Schließlich blickte sie auf.
»Ihr Mann hat sich Ihr Rückflugticket gleich nach Ihrer Ankunft in Deutschland ausbezahlen lassen«, erklärte sie mir. »Tut mir leid. Aber wenn Sie wollen, buche ich für Sie einen neuen Flug.«
Ich konnte nichts sagen. Mir wurde schwarz vor Augen. Also hatte Anthony alles von Anfang an geplant. Sein Versprechen, dass ich bald nach Accra zurückkehren würde, war eine Lüge gewesen, um mich zur Ausreise zu bewegen und mich von meiner Familie zu trennen. Eine Lüge wie die von der Computerschule. Was alles war noch gelogen?
Ich hatte kein eigenes Geld mit nach Deutschland genommen, hatte meinem Mann voll und ganz vertraut. Jetzt begriff ich, was für ein Fehler das gewesen war. Ich verfügte über keine eigenen Mittel, konnte mir einen Flug nach Accra nicht leisten. Ich war in jeder Hinsicht auf Anthony angewiesen. Vielleicht, sagte ich mir auf der Rückfahrt, ist alles halb so schlimm. Vielleicht wird alles doch noch irgendwie gut. Ich muss mir Mühe geben. Anthony besänftigen. Ihm zeigen, dass ich ihm eine gute und treue Frau bin.
Doch so sehr ich mich auch bemühte, seine Wutausbrüche kamen immer wieder. Gingen wir durch die Straßen von Oberhausen und irgendein Fremder betrachtete mich länger als notwendig oder beging ich den »Fehler«, den freundlichen Blick eines Passanten zu erwidern, dann wurde ich später quälend verhört. Wer das gewesen sei. Woher ich diese Person kannte. Warum ich sie angelächelt habe. Wenn ich Pech hatte, steigerte Anthony sich derart in seine Wut hinein, dass er wieder zuschlug. Ohne Vorwarnung, aus dem Nichts heraus. Immer mit der Faust. Und immer auf die Augen, die er angeblich so liebte, die er so schön fand. Wie oft hatte er mir das gesagt. Als wollte er sie zerstören, diese Augen, die er einfach nicht unter Kontrolle bekam, die ihr eigenes Leben führten und andere Männer ansahen. Ihnen sogar zulächelte. Manchmal schlief ich schon und wachte von seinen Schlägen in mein Gesicht auf. Es wurde ein Reflex von mir, mein Gesicht beim geringsten Anzeichen von Gefahr zu verstecken. Es nützte nichts. Er traf immer wieder. Kaum waren die Blutergüsse abgeheilt, schlug er erneut zu.
Ich hatte es mir zur Angewohnheit gemacht, eine Sonnenbrille zu tragen. Auch im grauesten deutschen Winterwetter.
»Dein Mann schlägt dich doch«, sagte die afrikanische Friseurin, bei der ich meine Haare machen ließ.
»Nein«, log ich, »ich bin im Badezimmer ausgerutscht.«
Das Mädchen lachte bitter.
»Das sagen sie alle. Mach mir nichts vor, das sieht doch jedes Kind, dass du Prügel bekommst.«
Sie hatte recht, doch ich gab es nicht zu. Als könnte ich die Schläge dadurch ungeschehen machen. Aber tief in meinem Innern wusste ich: Es würde alles nur noch schlimmer werden.
Anthony arbeitete inzwischen beim britischen Militär, das damals im Düsseldorfer Nordpark stationiert war. Er hat mir nie erzählt, was genau er dort gemacht hat. Ich musste sogar irgendwelche Papiere unterschreiben, dass ich mit niemandem über seine Arbeit reden würde. Dabei wusste ich ohnehin nichts. Manchmal flog Anthony für ein paar Tage nach London. Ob im Auftrag seiner neuen Arbeitgeber oder in Sachen Restaurant, war mir unklar. Ich wusste nicht einmal, ob er das überhaupt noch besaß. Anthony war schon immer ein verschwiegener Mensch gewesen. Er hatte nie sehr viel gesprochen und jetzt erfuhr ich so gut wie nichts mehr.
Einmal ließ Anthony mich ohne Geld zurück. Ich hatte kein Essen zuhause und aß zwei Tage lang nichts. Mir war schlecht vor Hunger. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Da erinnerte ich mich an Freunde von Anthony, die in Mülheim lebten. Am besten fahre ich zu denen und leihe mir 10 Mark, dachte ich. Aber ich hatte auch kein Geld für die Fahrkarte, und schwarzfahren wollte ich nicht. Also stellte ich mich an den Bahnhof in Oberhausen und hielt die Hand auf. »Ich brauche eine Fahrkarte nach Mülheim«, erklärte ich den Leuten. Schließlich hatte ich das nötige Geld zusammengebettelt.
Der Freund meines Mannes ließ sich erweichen und lieh mir 10 Mark, keinen Pfennig mehr. Davon musste ich natürlich wieder die Rückfahrkarte bezahlen. Vom Rest hab ich mir ein paar Lebensmittel gekauft. Es hat gerade so gereicht, bis Anthony wieder da war.
Einmal kam während seiner Abwesenheit ein Brief von meinem Vater an, der damals in London lebte. Obwohl er an Anthony adressiert war, öffnete ich ihn. Er enthielt viel Geld, worüber ich mich freute. Wochenlang hatte ich meine Haare nicht machen lassen können und sah aus wie eine Vogelscheuche, daher nahm ich etwas vom Geschenk meines Vaters und ging zum Friseur.
Als Anthony nachhause kam, schlug er mich ganz fürchterlich. Ich solle gefälligst nie wieder seine Post anrühren.
»Aber sie kam von meinem Vater!«, schrie ich empört. »Von meinem eigenen Vater!«
»Das spielt keine Rolle! Von meiner Post lässt du die Finger.«
Selbstverständlich hat er mir keinen einzigen Pfennig von diesem Geld gegeben.
Ein anderes Mal hatte Anthony mich derart geschlagen, dass ich mich danach nicht mehr nachhause getraut habe. Vor lauter Angst beschloss ich, lieber im Bahnhof zu schlafen. Meine Mutter hatte mir einst ein wunderschönes gewobenes Tuch geschenkt, das ich damals immer bei mir getragen habe. Ich setzte mich im Oberhausener Bahnhof auf eine Bank, deckte mich mit dem Tuch zu und versuchte zu schlafen. Um Mitternacht aber wurde ich geweckt.
»Du kannst hier nicht bleiben! Der Bahnhof wird abgeschlossen. Geh nachhause.«
Also musste ich doch wieder zurück. Da es so spät geworden war, habe ich natürlich wieder Prügel bekommen. Ich musste peinigende Fragen beantworten und erklären, wo ich so lange gesteckt hatte. Es war eine von Anthonys seltsamen Regeln geworden, dass er mir die Wahrheit grundsätzlich nicht abnahm. Ich begann mich zu fragen, ob er mir auch früher nicht geglaubt hatte, damals, in meinem glücklichen Leben in Accra, das mir jetzt Lichtjahre entfernt schien.
In München hatten mir die ghanaischen Freunde geraten, mich ans Arbeitsamt zu wenden. Unter Umständen würde man mir dort eine Umschulung bezahlen. Daher ging ich eines Morgens, ohne Anthony davon zu erzählen, zum Arbeitsamt.
Die Sachbearbeiterin prüfte meinen Pass und erklärte mir, dass eine bezahlte Umschulung für mich nicht infrage käme. Ich sei weder Aussiedlerin noch Asylantin, mein Mann sei Brite, und wenn ich hier in Deutschland eine Ausbildung machen wolle, müsse ich sie selbst finanzieren. Einen Umschulungsantrag könne ich erst dann stellen, wenn ich mindestens zwei Jahre in Deutschland gearbeitet hätte. Heute haben sie dieses Gesetz übrigens schon lange abgeschafft, aber damals gab es diese Fortbildungsmöglichkeit.
Dass ich in Ghana eine Ausbildung zur Programmiererin absolviert hatte, interessierte auf dem Amt niemanden. Sie sahen sich nicht einmal meine Zeugnisse an. Ein Diplom made in Afrika ist in Deutschland so viel wert wie ein Stück Altpapier.
»Es wird schwierig sein«, sagte die Sachbearbeiterin, »solange Sie kein Deutsch sprechen.«
Aber auch einen kostenlosen Sprachkurs gab es für mich nicht.
Die Sache ließ mich nicht los: Das Amt würde mir nach zwei Arbeitsjahren eine Umschulung finanzieren. Das war die Lösung. Dann wäre ich endlich von Anthony und seinen Launen unabhängig, hätte mein eigenes Geld und könnte meine Fortbildung ohne ihn schaffen.
»Wenn ich schon nicht studieren soll«, erklärte ich Anthony, »dann möchte ich wenigstens arbeiten.«
»Was willst du schon arbeiten?«, konterte er. »Du sprichst ja nicht mal Deutsch!«
»Dann belege ich eben einen Sprachkurs«, gab ich zurück. Da flippte er völlig aus.
»So«, sagte er drohend und seine Haare stellten sich gefährlich auf, Vorboten eines neuen Wutanfalls, »du willst also Deutsch lernen. Damit du besser mit deinen Liebhabern reden kannst?«
Und wieder schlug er zu. Ich verbarg mein Gesicht in den Kissen, doch es war nutzlos. So trug ich auch die Idee mit dem Sprachkurs zu Grabe. Nicht, dass es am Geld gemangelt hätte. Anthony verdiente sicherlich gut und auch meine Eltern, die er ständig um Geld bat, schickten ihm große Summen, wie ich später erfahren habe. Aber er war entschlossen, nicht in meine Ausbildung zu investieren. Und ohne Sprachkenntnisse kamen nur schlecht bezahlte Jobs infrage.
Aber ich war zu allem bereit. Alles war besser, als zuhause zu hocken und den Launen meines Mannes ausgesetzt zu sein.
Und dann kam Anthony eines Tages nachhause und erzählte mir mit einem aufgesetzten Lächeln, dass er einen Job für mich hätte.
»Was ist es?«, fragte ich voller Vorfreude.
»Du wirst putzen«, sagte Anthony. Und schien sich an meiner Enttäuschung zu weiden.
Ich weinte die ganze Nacht. Ich, die erfolgreiche Computerfachfrau, auf die meine Firma die schönsten Hoffnungen gesetzt und die in Accra in den vornehmsten Kreisen verkehrt hatte, ich sollte hier in Deutschland putzen gehen.
Egal, sagte ich mir. Es ist nur für zwei Jahre. Danach machst du deine Computerausbildung. Du bist zäh. Du hast schon Schlimmeres überstanden.
Der Bekannte, der uns die Oberhausener Wohnung besorgt hatte, vermittelte mir eine Putzstelle bei einer Firma, für die auch noch andere Ghanaerinnen arbeiteten. Besonders ein Mädchen war immer sehr nett zu mir, weshalb ich ihr mein Herz ausschüttete.
Sie war anerkannte Asylantin und erhielt daher regelmäßig Post vom Arbeitsamt. Da auch sie kein Deutsch konnte, brachte sie diese Briefe mit zur Arbeit, die unser Vorarbeiter in der Pause für sie übersetzte.
»Das ist ein Angebot für eine Umschulung. Du kannst Krankenschwester werden oder Sekretärin. Was ist dir lieber?«
Das Mädchen riss die Augen auf.
»Umschulung?«
»Du erhältst eine Ausbildung. Sie bezahlen sogar dafür.«
Das Mädchen spuckte auf den Boden.
»Pah! Ausbildung! Ich habe keine Lust aufs Lernen«, rief sie. »Warum lassen die mich nicht in Ruhe arbeiten. Das ist alles, was ich will. Arbeiten und Geld verdienen.«
Und damit riss sie den Brief in Fetzen.
Ich saß still dabei und hörte zu. Schluckte heimlich meine Tränen hinunter. Wie gerne würde ich etwas lernen, ganz egal was. Alles war besser, als zu putzen. So ist das, dachte ich verzweifelt: Die einen bekommen alles angeboten und wollen nicht. Und die anderen wollen zwar, dürfen aber nicht.
Wir putzten in der Musikhochschule Essen-Werden und so froh ich war, unserer kleinen Wohnung endlich entkommen zu sein und etwas zu tun zu haben, so schwer wurde mein Herz angesichts der fröhlichen, unbekümmerten Studenten, die ich täglich sah. Zu deutlich wurde mir vor Augen geführt, dass tatsächlich keine Ferien waren. Auch ich wollte studieren, weiterlernen. Ich putzte und weinte, die Tränen liefen mir fast ununterbrochen über das Gesicht.
Es gab in dieser Musikhochschule einen Raum, der es mir angetan hatte. Es war der Ballettsaal, ein großer Raum mit vielen Spiegeln. Hier herrschte eine ganz besondere, ja, fast heilige Atmosphäre. Ich kam mir vor wie in einer Kirche.
Ich weiß es noch wie heute, als ich diesen Saal zum ersten Mal putzte. Ich schloss die Tür und trat in die Mitte des Raumes. Dort kniete ich nieder und betete zu meinem Gott. Warum muss ich dies alles erleiden? Ich kam mir vor wie Hiob, den Gott prüft. Immer wieder sagte ich mir, dass Gottes Pläne groß sind und unbegreiflich. Aber sie haben einen Sinn. Und er bürdet uns immer nur genau so viel auf, wie wir tragen können.
Das alles wusste ich. Ich haderte nicht mit Gott. Ich suchte Zuflucht bei ihm. In Deutschland hatte ich noch keinen Anschluss an eine Kirchengemeinde gefunden. Für eine Weile war der Ballettsaal meine heimliche Kapelle. Jedes Mal, wenn ich dort gebetet hatte, fühlte ich mich gestärkt. Gott war da, er hatte einen Plan mit mir und würde mir beistehen, auch wenn es noch so schlimm kommen sollte.
Eines Tages, ich war gerade tief ins Gebet versunken, ging die Tür auf und das ghanaische Mädchen, das sich so nett um mich kümmerte, stand auf der Schwelle.
»Was machst du denn da?«, wollte sie entgeistert wissen. Ich erhob mich rasch.
»Ich bete«, sagte ich, während ich mir die Tränen abwischte. »Ich habe großen Kummer. Du weißt doch, mein Mann schlägt mich …«
»Mach bloß weiter so«, schnitt sie mir das Wort ab, »wenn dich der Vorarbeiter so sieht …!«
Und damit schlug sie die Tür wieder zu. Ich dachte, sie wäre eine Art Freundin. Doch ich hatte mich auch darin getäuscht.
Anthony gab mir zur Arbeit kein Geld mit. Ich konnte mir daher während der Pause nichts zu essen oder trinken kaufen. Alle anderen hatten Proviant mit, nur ich nicht. Hungrig saß ich dabei, wenn meine Kollegen aßen. Aber ich bin nicht umsonst die Tochter einer Makola-Marktfrau, und bald wusste ich mir zu helfen.
Ich beobachtete, dass viele Studenten ihre Pfandflaschen einfach so herumstehen ließen. Also sammelte ich sie ein und gab sie beim Kiosk ab. Für das Pfandgeld kaufte ich mir eine Cola und, sofern das Geld reichte, auch mal einen Müsliriegel. Wenn ich abends nachhause kam, begann das Verhör.
»Woher hast du Geld, dir eine Cola zu kaufen?«, wollte Anthony wissen. »Wer hat dir das gegeben?«
Die Geschichte mit den Pfandflaschen glaubte er mir nicht. Mein Gesicht bekam wieder seine Fäuste zu spüren. Es dauerte lange, bis ich begriff, dass mich dieses Mädchen aus meiner Heimat in Anthonys Auftrag tagtäglich ausspionierte.
Noch heute kann ich kaum fassen, wie sie das hatte machen können. Dass sie kein Mitleid mit mir gehabt hat. Dass sie so grausam gewesen war, mein Leid zu verschlimmern. Ich dachte immer, Afrikanerinnen würden zusammenhalten, bis ich eines Tages einsehen musste, dass das nicht der Fall ist.
Zunächst bekam ich Prügel, zu jeder Tages- und vor allem Nachtzeit. Meistens war ich schon im Bett, als Anthony damit anfing. Wie oft bin ich vor seinen Schlägen im Nachthemd hinaus auf die Straße geflohen, davongerannt. Und wie oft hörte ich hinter mir das Martinshorn eines Streifenwagens. Als hätten sie auf mich gewartet. Es war wie ein sich wiederholendes Ritual: Anthony schlug mich. Ich lief hinaus in die Nacht. Die Polizei sammelte mich ein und brachte mich wieder nachhause. Dann sah Anthony mich spöttisch an und fragte: »Und jetzt?«
Und alles ging von vorne los.
Wir hatten bei einer deutschen Bank ein gemeinsames Konto eröffnet, auf das auch mein Gehalt überwiesen wurde. Anthony warnte mich und drohte mir Prügel an, sollte ich jemals etwas davon abheben. Er behauptete sogar, dass dies ohne seine Unterschrift gar nicht möglich sei.
Dennoch ging ich eines Tages mit klopfendem Herzen und voller Furcht zur Bank. Ich hob probehalber 20 Mark ab. Es funktionierte. Die Frau am Schalter wollte meinen Pass sehen und gab mir dann anstandslos das Geld. Wenn es mir gelänge, dachte ich nun, immer wieder ganz unbedeutende Summen abzuheben und zu sparen, dann könnte ich mir irgendwann vielleicht das Rückflugticket kaufen. Aber auch dieser Plan schlug fehl. Selbstverständlich hatte Anthony die Auszahlung nach kurzer Zeit registriert. Selbstverständlich schlug er mich grün und blau, damit ich so etwas nie wieder täte.
Ich habe alles versucht, um wieder nach Ghana zurückzukehren. Ich ging zur Polizei und flehte die Beamten an, mich abzuschieben. Doch sie studierten meinen Pass und reichten ihn mir zurück.
»Wir können Sie nicht abschieben. Ihr Mann ist britischer Staatsbürger. Gehen Sie nachhause.«
»Aber mein Mann schlägt mich«, erklärte ich verzweifelt.
Sie zuckten mit den Schultern. »Das ist nicht unsere Angelegenheit«, war die Antwort.
Die Nachbarn hörten weg, wenn es bei uns Streit gab. Auch wenn unsere Auseinandersetzungen nicht zu überhören waren: Anthonys wütendes Gebrüll, mein Weinen und Rufen nach Hilfe, die Geräusche, wenn er mich schlug.
Und dann war ich wieder draußen, im Nachthemd, auf der Straße, ob es stürmte oder schneite. Alle sahen weg. Niemand mischte sich ein. Das ist in Deutschland ganz anders als in Afrika, wo die Nachbarn nicht tatenlos dabei zusehen, wenn ein Mann seine Frau schlägt. Die öffentliche Kontrolle ist dort viel größer. Doch ich bekam von niemandem Hilfe. Ganz im Gegenteil: Statt mich zu schützen, half die Polizei meinem Mann sogar, mich weiterhin zu misshandeln, indem sie mich immer wieder an ihn auslieferte. Sein Pass wies ihn als Engländer aus, beschäftigt beim britischen Militär. Niemand wollte sich mit Anthony anlegen, auch nicht die Polizei.
Es schien, als gäbe es für mich keinen Ausweg. Und doch nahm mein Leben eines Nachts eine ungeahnte Wendung.
Der Abend begann wie viele andere zuvor. Anthony war schlecht gelaunt. Ich konnte es ihm an den Augen ansehen. Ich war müde von der Arbeit gekommen und wollte schlafen, aber in unserer Einraumwohnung konnte man sich nicht einfach zurückziehen. Ich war ihm ausgeliefert.
Bislang war ich, wenn Anthony mich zu sehr geschlagen hatte, immer zur Haustür hinausgelaufen. Doch unsere Wohnung lag im Erdgeschoss und hatte auch eine Tür, die in den Innenhof führte. In dieser Nacht, ich weiß nicht warum, nahm ich die Hintertür und rannte durch den Hof auf die Ausfahrt zu. Es war Winter und bitterkalt. Ich trug nur mein Nachthemd. Da hörte ich ein leises Rufen. Es war die Stimme einer Frau.
Diese Frau wohnte in einem kleinen einstöckigen Häuschen im Hof. Sicherlich hatte sie schon oft unsere Auseinandersetzungen mit angehört, es konnte gar nicht anders sein. Zuvor hatte sie mir nie geholfen, aber in jener Nacht, als sie mich durch den Hof rennen sah, da ergriff sie die Initiative.
»Komm rein, schnell«, rief sie leise auf Englisch und winkte mich zu sich.
Ich sah mich um. Ihre Tür stand offen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Diese Frau erschien mir wie ein Engel.
»Komm rein!«, rief sie erneut.
Am ganzen Körper zitternd, folgte ich ihr ins Haus. Sie reichte mir eine Decke, in die ich mich fest einwickelte.
»Hast du Familie in Deutschland?«, fragte sie mich, nachdem ich mich ein bisschen beruhigt hatte.
Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich war ganz allein in diesem immer noch fremden Land. Aber ich verstand, was sie meinte. Hätte ich hier Familie, würde sie mir raten, zu ihr zurückzugehen. Aber ich hatte niemanden in Deutschland. Niemanden außer Anthony.
»Warum gehst du nicht in deine Heimat zurück?«, wollte sie wissen.
»Ich hab kein eigenes Geld«, sagte ich. Und schämte mich entsetzlich. Dass ausgerechnet ich einmal in eine solche Lage kommen würde, das hätte ich mir niemals träumen lassen. Doch nun saß ich hier, mit nichts als einem Nachthemd auf der bloßen Haut, in einem fremden Land.
»Was ist nur mit den afrikanischen Männern los? Ich kenne viele Afrikaner, die ihre Frauen schlagen.«
»Wirklich?«, fragte ich erstaunt. Bislang hatte ich geglaubt, ich sei die Einzige auf der Welt, der so etwas passiert.
»Klar. Und nicht nur Afrikaner. Darum gibt es in Deutschland Frauenhäuser. Hast du schon mal davon gehört?«
Ich schüttelte den Kopf. Die Frau stand auf und begann, Tee zu kochen.
»Übrigens«, sagte sie, »ich heiße Marlies. Und wenn du willst, kannst du heute Nacht bei mir bleiben. Da rüber solltest du wohl besser nicht mehr gehen.«
Sie deutete mit dem Kopf in Richtung unserer Wohnung. Ich merkte, dass ich zitterte, was nicht nur an der Kälte lag, die ich immer noch in den Knochen hatte. Aber ich wusste, Anthony würde sich nicht die Mühe machen, mir zu folgen. Bislang hatte mich noch immer die Polizei zurückgebracht. Warum sollte es dieses Mal anders sein? Er ahnte ja nicht, dass ich auf einmal unerwartet Hilfe erhalten hatte. Und das war auch gut so.
Allmählich begann ich, mich zu entspannen. Marlies goss den Tee auf und stellte bald darauf einen dampfenden Becher vor mich hin. Ich ergriff ihn, als wäre er ein Rettungsanker, und legte beide Handflächen um die Tasse.
»Was sind denn Frauenhäuser?«, wollte ich wissen.
»Da können Frauen hin, die von ihren Männern misshandelt werden«, sagte Marlies, als wäre dies das Selbstverständlichste auf der Welt. »Dort können sie eine Weile wohnen, bis sie wieder auf die Beine kommen.«
»Und warum holen die Ehemänner die Frauen dort nicht wieder raus?«
Marlies lächelte. »Weil die Adressen geheim sind. Niemand erfährt sie, nur die Frauen, die dort wohnen.«
Ich war hellwach. Dies schien eine Möglichkeit zu sein. Doch zu oft war ich bereits abgewiesen worden, um gleich wieder Hoffnung zu schöpfen.
»Mein Mann ist Engländer«, sagte ich, »und er arbeitet beim Militär.«
»Ich glaube nicht, dass das ein Problem ist. Wenn er dich schlägt, und das tut er, wie ich selbst bezeugen kann, dann hast du ein Recht darauf, in ein Frauenhaus zu gehen. Wenn du willst, dann helfe ich dir.«
Ich konnte es kaum glauben. Diese Frau wollte mir tatsächlich helfen. Gott hatte mich nicht vergessen!
»Möchtest du in ein Frauenhaus gehen?«, wollte Marlies wissen.
Natürlich wollte ich das. Auf einmal tat sich in meiner hoffnungslosen Situation ein Ausweg auf. Ich liebte Anthony, liebte ihn mit aller Kraft, mit Haut und Haar. Aber es war vollkommen unmöglich geworden, mit ihm zusammenzuleben. Inzwischen war ich seit fast einem Jahr in Deutschland und mein Leben hatte sich in eine derartige Katastrophe verwandelt, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Wie alle Frauen, die von ihren Männern geschlagen werden, hatte ich viel von meinem Stolz und Selbstwertgefühl eingebüßt. Permanent befand ich mich in einer Art Schockzustand, hin und her geworfen zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Depression und dem Glauben, dass sich alles wieder zum Guten wenden würde, wenn nur, ja wenn irgendetwas geschehen würde, von dem ich selbst nicht wusste, was das sein könnte.
Ich kannte Anthony schon so lange. Immer hatte er mich zuvorkommend und mit großer Achtung behandelt, mit Liebesbeweisen überschüttet und verwöhnt. Der Anthony, mit dem ich hier in Deutschland in dieser winzigen Wohnung eingesperrt war, der mich misshandelte und ausspionierte, der verschwand und mich allein ließ, dann auf einmal wiederkam und Rechtfertigungen von mir wollte, die ich nicht geben konnte, dieser Anthony schien mir ein völlig anderer zu sein als der Mann, den ich in Ghana geheiratet hatte. Immer noch hoffte ich, dass unsere Ehe irgendwie zu retten war. Aber in jener Winternacht, in die Decke dieser freundlichen Nachbarin gewickelt, da erkannte ich, dass sich nichts ändern würde, wenn ich jetzt wieder zu Anthony zurückging. Der Kreislauf aus Eifersucht, Misstrauen, Kontrolle und Schlägen, Argwohn und Aggressivität war nicht zu durchbrechen.
»Ja«, sagte ich, »ich möchte in so ein Frauenhaus gehen.«
Marlies brachte mir eine weitere Decke und wir legten uns schlafen, sie in ihrem Schlafzimmer und ich auf der Couch im Wohnzimmer. Erst jetzt merkte ich, dass ich etwas krampfhaft in der Hand hielt, einen kleinen metallenen Gegenstand. Es war der Schlüssel zur Hintertür unserer Wohnung. Ich hatte es mir zur Angewohnheit gemacht, bei meinen Fluchten blitzschnell den Schlüssel aus dem Schloss zu ziehen, ehe ich in die Nacht hinausrannte. Es war wie ein Instinkt, der mir sagte, dass ich mir den Rückweg sichern müsste, falls mir draußen noch größere Gefahren drohten. Bewusst war mir das nicht gewesen, noch nie hatte ich den Schlüssel gebraucht, immer hatte mich bislang die Polizei zurückgebracht. Wer weiß, wozu der Schlüssel gut ist, dachte ich.
Ich glaube, wir taten beide in dieser Nacht kein Auge zu. Als es endlich Morgen wurde, kochte Marlies für uns Tee. Dann griff sie zum Telefon.
Es stellte sich heraus, dass Gott mir tatsächlich einen Engel geschickt hatte. Einen Engel, der nicht nur freundlich und hilfsbereit war, sondern darüber hinaus auch über die nötigen Informationen verfügte. Doch offenbar war es nicht ganz so einfach, wie sie gedacht hatte.
Marlies telefonierte mit allen Frauenhäusern der Umgebung, in Mülheim und in Essen, aber dort waren die Frauenhäuser belegt. Schließlich rief sie in Düsseldorf-Benrath an und dort sagte man ihr, ich dürfe kommen.
Es war schon verrückt. Da stammte ich aus dem fernen Accra in Ghana und hatte nie zuvor von einer Stadt namens Düsseldorf gehört, die schließlich meine Schicksalsstadt wurde. Anthony hatte mir damals von allen Städten dieser Welt ausgerechnet eine Visitenkarte aus Düsseldorf gezeigt. Und die hat mich zur Abreise aus Ghana bewegt. Von allen Frauenhäusern der Umgebung war ausgerechnet in Düsseldorf-Benrath ein Platz für mich frei gewesen. Es kann kein Zufall sein, dass der Verein African Angel in Düsseldorf gegründet und eingetragen worden ist. Accra und Düsseldorf scheinen meine Ankerpunkte zu sein.
Marlies gab mir Kleider und Schuhe von ihr. Ihre Sachen waren mir ein bisschen zu groß und ich musste aufpassen, die Schuhe nicht zu verlieren, aber ich war ihr unendlich dankbar. Schließlich hätte ich mich nicht barfuß und im Nachthemd auf den Weg von Oberhausen nach Benrath machen können. Auch Geld für die Zugfahrt bekam ich von meiner Retterin. Dann erklärte sie mir, was ich zu tun hätte:
»Du nimmst den Zug von Oberhausen nach Düsseldorf und dann die S-Bahn nach Benrath. Ein paar hundert Meter vom Bahnhof entfernt findest du eine gelbe Telefonzelle. Von dort aus rufst du diese Nummer hier an. Das ist das Frauenhaus. Dann kommt dich jemand abholen.«
Wie üblich hatte ich nicht die Anschrift des Frauenhauses erhalten. So wird vermieden, dass die Adressen bekannt werden und womöglich in die Hände der Ehemänner fallen. Die Sicherheit aller Frauen, die in diesen Einrichtungen Zuflucht suchen, hängt von der Anonymität der Häuser ab.
Alles geschah genau so, wie Marlies es mir erklärt hatte. Mit klopfendem Herzen schlich ich mich zum Bahnhof. In Düsseldorf achtete ich sorgfältig darauf, von keinem der Bekannten meines Mannes gesehen zu werden. Erst in Benrath fühlte ich mich ein wenig sicherer. Ich fand die Telefonzelle und wählte die Nummer.
»Okay, Harriet«, sagte eine entschlossene Frauenstimme, »in einer halben Stunde ist jemand bei dir und holt dich ab.«
Ich werde nie vergessen, wie ich zum ersten Mal das Frauenhaus betrat. Es war ein unscheinbares Haus mit drei Stockwerken. Überall sah ich Frauen aus den Zimmern schauen. Ich hörte Kindergeschrei und die beruhigenden Stimmen von Müttern.
Ich wurde zuerst ins Büro gebracht, wo sich die Sozialarbeiterinnen mit mir unterhielten. Sie ließen mich erzählen, stellten ihre Fragen. Erklärten mir, wie so ein Frauenhaus »funktioniert« und dass sie mir helfen würden, ein eigenes Leben aufzubauen. Aber ich hätte mich auch an bestimmte Regeln zu halten. Ich müsse ehrlich mit ihnen sein. Ich dürfe keine doppelten Spiele spielen. Wenn ich zu meinem Mann zurückging, dann wäre das meine Sache. In diesem Fall müsste mein Mann für die Kosten im Frauenhaus aufkommen. Unter keinen Umständen dürfte ich jemandem von außen erzählen, wo sich das Frauenhaus befindet.
Ich hatte nicht vor, es jemandem zu erzählen. Wem auch, dachte ich traurig. Ich hatte niemanden. Meine Arbeitskolleginnen gehörten schon lange nicht mehr zu meinen Vertrauten. Und sonst kannte ich nur Anthonys Freunde.
Schließlich führten sie mich in einen Schlafsaal, in dem zwölf Frauen beisammen wohnten. Ganz hinten wiesen sie mir ein Bett zu. Die Frauen mit Kindern hatten eigene Zimmer. Aus einem schaute eine Afrikanerin, ungefähr in meinem Alter, und lächelte mir freundlich zu. Ein Kind schlief in ihrem Arm, ein anderes spielte zu ihren Füßen.
»Hi«, sagte sie auf Englisch, »ich bin Mary-Ann. Ich komme aus Ghana. Und du?«
Ich hatte endlich eine Freundin gefunden, jedenfalls glaubte ich das damals. Mary-Ann war mit ihren beiden Kindern und ihrer Mutter ins Frauenhaus gekommen. Moses, ihr Mann, hatte sie geschlagen. Selbst die Anwesenheit der Schwiegermutter hatte Moses nicht davon abgehalten, seine Frau weiterhin zu prügeln. Mary-Anns Mutter war angesichts dieser Missachtung ihrer Person in Ohnmacht gefallen und hatte mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren werden müssen. Natürlich hatte ihre Tochter sie begleitet, mitsamt der Kinder. Vom Krankenhaus waren sie direkt ins Frauenhaus gekommen. Und dort saßen sie nun, so wie viele. So wie auch ich.
Ich weinte fast ununterbrochen während meiner ersten Zeit im Frauenhaus. Ich weinte aus vielerlei Gründen: über die absurde Sackgasse, in die ich geraten war, über meine ungewisse Zukunft. Aus Heimweh nach Bernard und den anderen Verwandten. Aus Heimweh nach Afrika. Und über das Scheitern meiner Ehe. Erst jetzt merkte ich, wie angespannt ich die ganzen vergangenen Wochen gewesen war. Doch auch im Frauenhaus bekam ich anfangs noch keine Ruhe.
Es dauerte keine zwei Tage, da wusste mein Mann, wo ich war. Ich habe keine Ahnung, wie er die Adresse herausbekommen hat. In einem britischen Militärjeep fuhr er mit seinen Kollegen vor. Eine der Frauen hatte es bemerkt und wir liefen alle an die Fenster.
»Jetzt kommen sie mich holen«, flüsterte ich voller Entsetzen.
»Unsinn«, sagte Mary-Ann, »das schaffen die nicht. An Hildegart kommt niemand vorbei.«
Wie erwartet, bestanden die Soldaten darauf, mich aus dem Haus zu holen. Ich sei die Frau eines britischen Soldaten und aus den Angelegenheiten des britischen Militärs sollte sich das Frauenhaus gefälligst heraushalten.
Aber sie kannten Hildegart und ihre Kolleginnen nicht. Es waren starke Frauen, die nicht zuließen, dass Anthony mich wieder in die Finger bekam. Das Gespräch dauerte wohl eine halbe Stunde und wir hörten von unten herauf laute Worte. Es wurde hart verhandelt, ich lauschte zitternd im obersten Stockwerk, wohin ich mich verkrochen hatte. Schließlich zogen die Soldaten wieder ab und ich atmete auf.
Doch es tauchte bald ein anderes Problem auf. Bei meiner Flucht hatte ich alles zurückgelassen. Mir ging es nicht um meine Kleidung; das Frauenhaus verfügte über einen großen Fundus an gespendeten Kleidungsstücken, aus denen ich mir aussuchen durfte, was ich brauchte. Das waren sehr gute Sachen, ein paar dieser Dinge trage ich sogar heute noch, nach all den Jahren, so gut ist die Qualität.
Aber ich hatte meine Papiere zurückgelassen, und die brauchte ich. Was also tun?
Glücklicherweise hatte ich den Schlüssel zur Hintertür mitgenommen. Dieser und das Nachthemd waren sozusagen das Einzige, was ich aus meinem früheren Leben herübergerettet hatte. Aber konnte ich einfach so in unsere gemeinsame Wohnung spazieren und mir meinen Pass und alles Weitere holen? Ich hatte keine Ahnung, was passieren würde, stünde ich Anthony auf einmal gegenüber, und ich wollte es mir auch lieber nicht ausmalen.
Es dauerte ein paar Tage, bis ich genügend Mut beisammen hatte. Eine der Sozialarbeiterinnen des Frauenhauses bot an, mich zu begleiten. Ich wusste, wann Anthony bei der Arbeit war, jedenfalls normalerweise. Er konnte aber auch zuhause sitzen und auf mich warten. Vielleicht war ihm der fehlende Schlüssel aufgefallen. Oder er konnte unvermittelt zurückkommen und uns überraschen. Überhaupt rechnete ich damit, dass er die kostbaren Papiere, ohne die ich in Deutschland gefangen und auf ihn angewiesen war, längst an sich genommen hatte.
Ich weiß nicht, wie oft ich in meiner Vorstellung zurück in die Wohnung kehrte. Die Papiere befanden sich in meiner Handtasche, die neben der Haustür auf einem Schränkchen lag. Erst vor Kurzem hatte ich in einem Schreibwarengeschäft zwei passende Klarsichthüllen für die Aufenthaltsgenehmigung, die Arbeitserlaubnis und den Pass gekauft. Ich habe es gerne ordentlich und hatte darum meine Unterlagen fein säuberlich darin verstaut. Auch für meinen Mann hatte ich das so vorgesehen, aber dann hatte ich doch nicht den Mut, es ihm zu zeigen. Wer weiß, dachte ich, ob er nicht wieder Anstoß nehmen würde an dieser Geldverschwendung. Oder daran, dass ich ohne ihn in einem Schreibwarengeschäft gewesen war und derart eigenmächtig gehandelt hatte. Also befand sich die Klarsichthülle, die für ihn bestimmt war, unbenutzt in meiner Tasche.
Eines Morgens wagten wir es. Mit rasendem Herzen betrat ich die Wohnung durch die Hoftür. Nichts. Alles war still. Dort lag meine Handtasche. Ich öffnete sie und suchte. Und tatsächlich! Wie durch ein Wunder fand ich ganz unten in einer Seitentasche, genau dort, wo ich es eingeräumt hatte, das Gesuchte: meinen Pass und alle weiteren Dokumente.
Rasch packte ich noch zwei Koffer mit Kleidern voll und vergaß auch das Tuch nicht, das mir meine Mutter geschenkt hatte. Dann verschwanden wir wieder. Anthony muss vor Zorn getobt haben, als er merkte, dass ich in der Wohnung gewesen war. Zu spät. Ich hatte mir geholt, was ich brauchte.
Erst viel später erfuhr ich, warum meine Papiere seiner Suche entgangen waren. Natürlich hatte er die ganze Wohnung nach ihnen durchkämmt. Klar, dass er auch in der Handtasche nachgesehen hatte. Aber Männer sind nun einmal nicht geübt in den Geheimnissen einer Frauentasche. Er hatte die leere Klarsichthülle gefunden und gedacht, ich hätte vor meiner Flucht doch noch irgendwie die Zeit gehabt, um die Unterlagen aus der Hülle zu nehmen. Davon war er so überzeugt gewesen, dass er nicht weitergesucht hatte – in dem Seitenfach schon gar nicht.
So sind es manchmal Kleinigkeiten, die einen retten können.
Ich bin insgesamt sieben Monate im Frauenhaus geblieben. Wenn die anderen mal rausgehen wollten, einkaufen, jemanden besuchen oder einfach mal etwas unternehmen, dann hütete ich die Kinder. Bald war es klar: Die Harriet, die bleibt ohnehin zuhause und auf die Kinder passt sie gerne auf. Und so war es auch.
Ich saß im Frauenhaus und betrachtete die Scherben meines Lebens. Ich brauchte Zeit, um das Geschehene zu verdauen. Immer wieder wachte ich nachts auf und glaubte, Anthony traktiere mich mit seinen Fäusten. Mein Gesicht konnte endlich in Ruhe abschwellen, ohne dass es gleich wieder übel zugerichtet wurde. Doch meine inneren Wunden heilten nur langsam.
Dennoch habe ich die Zeit auch sehr genossen. Diese Gemeinschaft von so unterschiedlichen Frauen, die oft nur eine einzige Sache verband – die Gewalt ihrer Männer. Stundenlang erzählten wir uns davon. Und lachten über sie. Ja, oft war es das gemeinsame Lachen, das die Wunden zwar nicht schloss, aber erträglich machte. Und die Erfahrung: Du bist nicht die Einzige, der das passiert ist. Denn tief im Innern sitzt immer auch der Gedanke, irgendetwas falsch gemacht zu haben – sonst hättest du die Prügel nicht bekommen. Wie misshandelte Kinder glauben auch wir Frauen, »es irgendwie doch verdient zu haben«. Natürlich ist das Unsinn und in den gemeinsamen Gesprächen begriffen wir das nach und nach.
Ich wollte wieder arbeiten. Am liebsten wäre mir eine Weiterbildung gewesen, schließlich war ich deswegen nach Deutschland gekommen. Wenn ich nun nicht an der Computerschule studieren konnte, dann wollte ich eben etwas anderes lernen.
Die Mitarbeiterinnen des Frauenhauses halfen mir dabei. Es gab die Möglichkeit, in einem Krankenhaus eine Ausbildung zur Krankenschwester zu machen. Ich stellte mich vor. Sie gaben mir tatsächlich die Chance. In ein paar Wochen sollte es losgehen. Ich freute mich. Doch es gab eine Hürde, die mir Kopfschmerzen bereitete. Um die nötigen Papiere zusammenzubekommen, musste ich mich mit Anthony treffen. Zuerst war ich voller schlimmer Befürchtungen, umso mehr freute ich mich, als er sich am Telefon überaus freundlich und verständig zeigte.
Wir trafen uns in einem Café. Er unterschrieb die Papiere, die ich für die Ausbildung brauchte, ohne jede Diskussion. Dann sah er mir in die Augen.
»Harriet, weißt du, dass du die einzige Frau bist, die ich jemals geliebt habe?«
Ich versuchte, wegzusehen. Doch er war noch nicht fertig.
»Und das wird immer so bleiben. Auch wenn du mich verlassen hast. Auch wenn du nichts mehr von mir wissen willst. Du bist meine einzige große Liebe.«
Ich betrachtete ihn. Er war immer noch ein ausgesprochen gut aussehender Mann. Einer, dem die Frauen verstohlene Blicke zuwarfen, auch weiße Frauen. Und ich konnte nicht umhin, zu denken, dass auch er meine einzige große Liebe ist. In mir breitete sich ein grenzenloses Bedauern darüber aus, wie alles gekommen war.
»Warum fangen wir nicht einfach von vorne an?«
Er sah mich unverwandt an. Ich schüttelte den Kopf.
»Es ist vorbei, Anthony«, sagte ich, doch meine Stimme zitterte dabei. »Du hast mir zu sehr wehgetan. Es hat keinen Sinn mehr.«
Aber bei diesem Treffen wurde mir schmerzlich klar, dass er immer noch große Macht über mich besaß. Es war lange her, dass er so freundlich mit mir gesprochen hatte. Könnten wir doch die Zeit zurückdrehen, dachte ich, könnten wir doch tatsächlich noch einmal von vorne anfangen.
Er rief immer wieder an. Wir trafen uns erneut. Er sagte, er habe eingesehen, dass er viele Fehler gemacht habe. Er hätte mich nicht so schlagen dürfen, er würde das nie wieder tun, sollte ich mich entscheiden, zurückzukommen.
Ich blieb skeptisch. Doch gab es durchaus Beispiele aus dem Frauenhaus, wo eine Frau wieder zu ihrem Mann zurückfand, nachdem der erst einmal eingesehen hatte, dass er nicht ungestraft tun und lassen konnte, was er wollte. Für manche Männer ist es eine heilsame Erfahrung, wenn sie erleben müssen, dass Frau und Kinder auf einmal nicht mehr da sind und im Frauenhaus Unterschlupf und Unterstützung gefunden haben. Meine Freundin Mary-Ann war erst vor Kurzem zu ihrem Moses zurückgekehrt. Er sei ein anderer Mensch geworden, erzählte sie bei einem Besuch. Warum sollte sich nicht auch Anthony ändern können? In Ghana war er ein völlig anderer Mensch gewesen. Hatte es vielleicht wirklich an den schwierigen Umständen gelegen, die wir in Deutschland zunächst angetroffen hatten? An der beengten Wohnsituation? Am schlechten Einfluss seiner Freunde?
Ich ließ mir Zeit. Erzählte niemandem davon.
Anthony überraschte mich bei unserem nächsten Treffen damit, dass er mir eine Wohnung zeigte, die er für uns gemietet hatte. Endlich eine richtig große und schöne Wohnung, mit Küche und Badezimmer, Schlaf- und Wohnzimmer. Eine Wohnung, um die ich so sehr gebeten hatte.
»Hier können wir neu beginnen«, sagte Anthony und sah mich flehend an.
Ich musste an jenen Karfreitag vor so vielen Jahren denken, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Noch immer verfügte er über ungeheuer viel Charme. Ich liebte ihn, würde ihn immer lieben. Wir waren verheiratet. Sollte ich unserer Liebe nicht noch einmal eine Chance geben?
Ich stellte Bedingungen: dass er mich nie wieder schlagen sollte, andernfalls würde ich ihn endgültig verlassen. Dass er mit jenen afrikanischen Freunden brechen sollte, die gegen mich waren und mich ausspioniert hatten. Dass ich meine Ausbildung zur Krankenschwester machen und mein eigenes Geld behalten würde. Und noch weitere Details, die mir wichtig schienen. Anthony ging auf alles ein. Er übertraf sich sogar noch, indem er mich die Wohnung einrichten ließ. Aus einem Katalog durfte ich mir Haushaltsgeräte aussuchen. Nichts war ihm zu kostspielig, nichts hielt er für überflüssig. Ich sollte alles so haben, wie ich es wollte.
»Wenn ich zu dir zurückkomme, dann musst du die Kosten fürs Frauenhaus bezahlen.«
Anthony schaute mich entsetzt an.
»Wie viel wird das sein?«, wollte er wissen.
»Keine Ahnung. Eine ganze Menge. Miete für sieben Monate. Und meine Verpflegung.«
Eine Weile sagte er nichts. Dann sprachen wir über andere Details der Wohnungseinrichtung. Schließlich, als ich mich verabschiedete, sagte er:
»Hör mal, können wir das nicht umgehen, ich meine, das mit den Kosten fürs Frauenhaus? Was ist, wenn du ihnen nicht erzählst, dass du zu mir zurückgehst? Für das Geld könnten wir uns eine Menge kaufen, meinst du nicht?«
Auf dem Heimweg dachte ich darüber nach. Wir haben unsere Regeln, hörte ich Hildegart damals bei meiner Ankunft im Frauenhaus sagen. Ich wusste, wie man sie umgehen konnte. Ich müsste den Sozialarbeiterinnen nur erzählen, dass ich eine eigene Wohnung gefunden hätte und dort einziehen würde. Auch Mary-Ann hatte es so gemacht. Wenn dann auch mein Mann in meine Wohnung einziehen würde, wäre das meine Sache. Eine Weile kam ich mir schlecht vor. Dann verging dieses Gefühl. Anthony hatte recht. Mit diesem Geld konnte man eine Menge tun. Zum Beispiel endlich wieder etwas davon für Bernard nachhause schicken. Und vielleicht tatsächlich irgendwann nachhause fliegen.
»Ich habe eine Wohnung gefunden«, erzählte ich den Sozialarbeiterinnen im Frauenhaus. »Zum nächsten Ersten ziehe ich aus.«
»Gratuliere!«, sagte Hildegart und schlug mir auf die Schulter. »Du wirst sehen, alles wird besser. Wie geht es denn mit Anthony?«
»Och, gar nicht schlecht. Vielleicht ändert er sich ja tatsächlich. Mal sehen, was so wird …«
»Sei vorsichtig«, riet mir Hildegart, »und pass gut auf dich auf! Und wenn alle Stricke reißen – du kennst ja die Adresse.«
Ich zog wieder aus, angeblich in meine eigene Wohnung. Ich hatte schon alles gepackt und saß mit den anderen Frauen zusammen, um mich zu verabschieden. Ich würde also nochmals alles auf eine Karte setzen. Ich wusste, dass es ein Risiko war. Aber ich wollte unserer Ehe diese Chance geben. Auf einmal hatte ich eine Idee.
»Hör mal«, sagte ich zu Nadja, die auch im Frauenhaus wohnte, »kann ich meinen Pass bei dir lassen?«
»Klar, aber warum willst du das tun?«
Ich dachte nach. Erinnerte mich daran, wie schwierig es vor einigen Monaten gewesen war, an meine Papiere zu kommen. Natürlich hoffte ich, dass diesmal alles gut gehen würde mit Anthony. Aber wenn nicht …
»Nur zur Sicherheit. Wenn ich erst einmal in der neuen Wohnung bin und alles läuft gut, dann kann ich ihn ja in ein paar Wochen wieder bei dir abholen.«
»Kein Problem«, sagte Nadja. »Vielleicht hast du recht. Sicher ist sicher.«
Und so ließ ich meine Ausweispapiere samt Arbeitsgenehmigung bei Nadja.
Ich war voller Freude und Hoffnungen, als ich in die neue Wohnung einzog. Alles war wunderschön geworden, die Möbel, die Küche, das Schlafzimmer. Hinter dem Haus war sogar ein Garten, den sich die Mieter teilten. Hier könnten wir endlich miteinander glücklich werden, dachte ich, als ich meine Sachen auspackte.
Ich war überzeugt, dass jetzt alles gut würde. Ich hatte meinem Mann gezeigt, dass ich auch ohne ihn in der Lage war, mich in diesem fremden Land zurechtzufinden. Wie schon früher glaubte ich, dass es ihm imponierte, dass ich es ganz allein geschafft hatte, von einer ungelernten Putzfrau zur Schwesternschülerin aufzusteigen.
Und tatsächlich verbrachten wir die ersten Tage wie in den Flitterwochen. Anthony schien sich an seine Versprechen zu halten. Ich machte meine Ausbildung im Krankenhaus und sog alles wissbegierig in mich auf. Es sah ganz so aus, als wären wir endlich ein ganz normales, glückliches und harmonisches Ehepaar. Doch auch dieses Glück sollte nicht von Dauer sein.