Thierry Velan streckte dem Taxifahrer einen Geldschein hin und stieg aus. Vor ihm lag ein altehr würdiger Backsteinbau. Die Nachmittagssonne stand schon tief am wolkenlosen Himmel und ließ an der roten Fassade die Sandsteinverzierungen um Fenster und Erker hell aufleuchten. Das runde Türmchen mit dem schwarzen Schieferdach verlieh dem Gebäude einen Hauch von Märchenschloss, der jedoch sogleich zunichtegemacht wurde durch den hässlichen, mehr als zwanzig Stockwerke hohen Klotz dahinter. Zuoberst auf dem Plattenbau verriet eine große Leuchtschrift, dass es sich um eine der weltweit angesehensten medizinischen Institutionen handelte: die Berliner Charité.
Am Empfang fragte Thierry nach Doktor Steffen Brenn. Der Pförtner wählte eine Telefonnummer und meldete Doktor Velans Ankunft.
Brenn, so viel hatte Thierry im Internet erfahren, war der weltweit renommierteste Experte für degenerative Myopathien – Krankheiten, bei denen sich die Muskeln allmählich auflösen. Viele dieser Erkrankungen waren erblich bedingt, daher arbeitete Brenn daran, eine genetische Therapie zu entwickeln.
«Der Herr Doktor wird gleich hier sein», sagte der Concierge, als er aufgelegt hatte.
Thierry setzte sich in einen der ausladenden Ledersessel und ließ den Blick durch die Eingangshalle wandern. Stilvoll modernes Interieur und traditionelle Architektur waren zu einer gelungenen Einheit kombiniert, die vom Selbstbewusstsein dieser Institution zeugte.
Die Reise nach Berlin hatte Thierrys Terminkalender vollkommen durcheinandergebracht: Zu Hause warteten im Labor die Vorbereitungen für die Olympischen Spiele, die Einarbeitung der Teilzeitarbeitskräfte, das Homologierungsverfahren für die neue Nachweismethode … Eigentlich war diese Reise überhaupt nicht drin. Aber wenn diese weiße Myostatin-Maus tatsächlich ein Hinweis auf eine neue Art von Doping war, dann konnte er nur von dem Mann mehr erfahren, der mit solchen Mäusen arbeitete. Doch Doktor Brenn war am Telefon nicht bereit gewesen, über seine Forschung Auskunft zu geben. Er wollte Thierry persönlich kennenlernen, um zu sehen, wer sich so detailliert für seine Arbeit interessierte und vor allem für die vielen Details, die noch nicht publiziert worden waren.
Thierry seufzte. Diese Reise war also nicht zu vermeiden gewesen.
Sein Handy vibrierte in der Hosentasche.
Catherine war dran.
«Eben erhielten wir den Obduktionsbericht dieses Läufers, der in Zürich zusammengebrochen ist», sagte sie. «Embolus in einer Hirnarterie, Thrombus in der Halsarterie. Tod durch Hirnschlag.»
«Genau so hat das Gezappel ausgesehen», sagte Thierry. «Ich nehme an, erhöhter Hämatokrit-Wert?»
«Der hatte kein Blut mehr in den Adern, sondern unverdünnten Sirup.»
«Fremdes Epo?»
«Negativ.»
«Dann hat er es wohl rechtzeitig abgesetzt.»
«Bei Todesfolge von rechtzeitig zu sprechen … na, ich weiß nicht.»
«Auf jeden Fall hatte er den falschen Arzt. Eigentlich ist ja bekannt, wie man einen Sportler mit Epo präpariert.»
Thierry beendete das Telefongespräch. Catherine hatte den Laden in Lausanne im Griff. Das war beruhigend.
«Sie müssen Thierry Velan sein.»
Thierry schreckte auf.
Der Mann, der vor ihm stand, sah genau so aus, wie man sich einen renommierten Experten, der den Schlüssel zur Heilung einer heimtückischen Erbkrankheit in den Händen hielt, eben nicht vorstellte: sandfarbenes T-Shirt, olivgrüne Worker-Hose mit ausgebeulten Taschen. Dunkles, von grauen Strähnen durchzogenes Haar, das in alle Himmelsrichtungen vom Kopf abstand. Er war groß und hatte breite Schultern.
«Ich bin Steffen Brenn», sagte er. «Schön, Sie bei uns zu haben.»
Thierry drückte ihm die Hand und wunderte sich, wie weich sie war.
Die Sympathie, die Thierry für diesen Arzt empfand, schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Die beiden Männer waren sofort in ein angeregtes Gespräch vertieft, während Brenn Thierry zum Aufzug führte.
«Wie ich Ihnen am Telefon gesagt habe, möchte ich Ihnen unsere Arbeit mit dem Myostatin-Gen an einem ganz besonderen Patient erklären», bemerkte Brenn. «Aber leider ist dieser Patient noch nicht eingetroffen. Eben hat seine Mutter angerufen. Sie stecken im Stau. Was aber nicht weiter schlimm ist, so kann ich Ihnen zuerst noch ein paar andere Patienten vorstellen. Dadurch sehen Sie nicht nur, was wir erforschen, sondern auch für wen.»
Natürlich war Thierry einverstanden, auf die Maus konnte er den Arzt ja später noch ansprechen.
Sie fuhren in die zweite Etage, wo Brenn ihn durch ein Labyrinth von Krankenhauskorridoren in das Hochhaus hinüberführte.
«Aus einem Umkreis von mehreren hundert Kilometern kommen alle Kinder, die an einer degenerativen Muskelerkrankung leiden, zu uns», erklärte Brenn im Gehen.
Vor einer Tür blieb er stehen. «Da sind wir.»
REHABILITATION las Thierry auf dem Türschild.
«Hier drinnen werden Sie das zu sehen bekommen, was die Medizin Patienten mit Muskelschwund derzeit zu bieten hat: Diagnose des Krankheitstyps, Erhaltung der Mobilität durch Training und schließlich Linderung des Leidens.»
«Heilung ist nicht möglich?», fragte Thierry.
«Nein, noch nicht», sagte Brenn. «Aber wir arbeiten daran.»
Auf den ersten Blick sah der Raum überhaupt nicht nach Krankenhaus aus. Er hatte die Dimension einer kleinen Turnhalle; von der Decke hingen bunte Ballone, Bälle lagen herum, Keulen, Ringe in allen Größen und Farben. Erst dann bemerkte Thierry Haltegriffe, Gehgestelle, Krücken, Patientenlifte.
In der Mitte der Halle stand eine Ärztin. Vor ihr ging ein Junge von etwa drei Jahren eine Linie entlang, die auf dem Boden aufgemalt war. Immer wieder knickte er in der Hüfte ein. Als der Junge Brenn kommen sah, rief er hallo und winkte ungelenk.
«Hallo, Thorsten», grüßte Brenn den Jungen und wechselte dann ein paar Worte mit der Ärztin. Wieder zurück bei Thierry, sagte er mit gesenkter Stimme: «Vermutlich hat der Junge Duchenne. Die häufigste dieser degenerativen Muskelkrankheiten», fuhr Brenn fort. «Sie ist angeboren, bei einem von dreieinhalbtausend Jungen. Mädchen trifft es praktisch nicht, da der Defekt auf dem X-Chromosom sitzt. Und davon haben Mädchen ja deren zwei. Sie müssten also je ein defektes Gen von der Mutter und dem Vater bekommen. Das ist extrem selten der Fall.»
Thierry beobachtete, wie der Junge unter Anleitung der Ärztin weitere Übungen machte: hüpfen, rückwärtsgehen, auf einem Bein stehen. Dann versuchte er wieder, auf der Linie am Boden entlangzugehen. Er hielt sich tapfer und freute sich, wenn es ihm über ein paar Meter hin gelang. Plötzlich versagten die Muskeln, und er sackte weg.
«Bravo!» Die Ärztin eilte dem Jungen zu Hilfe.
Weiter hinten versuchte ein anderer Junge, im Rollstuhl über eine niedrige Holzschwelle zu fahren. Eine Therapeutin gab ihm dabei Anweisungen. Ein ums andere Mal steuerte der Junge in seinem Rollstuhl das Hindernis an und versuchte, es zu überwinden. Ohne Erfolg.
«Kai ist erst seit einem Monat im Rollstuhl», meinte Steffen Brenn leise. «Die Beine versagen in der Regel als Erstes. Bis zum fünfzehnten Geburtstag kann keiner mehr gehen», sagte Brenn. «Neben Duchenne gibt es eine Reihe weiterer Muskeldegenerationen. Einige kommen auch bei Mädchen vor. Aber Duchenne ist die radikalste. Die Muskulatur löst sich regelrecht auf, überall im Körper. Bei anderen Muskeldegenerationen sind nur begrenzte Bereiche befallen: die Extremitäten etwa, der Rumpf oder lediglich die Augenmuskulatur. Manche der Krankheiten brechen erst in fortgeschrittenem Alter aus. Der Verlauf ist bei einigen langsam, bei anderen schnell.»
Brenn führte Thierry zu einem Paravent, der eine Ecke der Halle abtrennte. Dahinter saß in einem schweren elektrischen Rollstuhl ein junger Mann. Sein massiger Körper quoll wie ein nasser Sack auf beiden Seiten über das Gefährt heraus. Die Schultern gingen ohne erkennbaren Hals in einen aufgedunsenen Kopf über, der von einem gepolsterten Bügel in aufrechter Position gehalten wurde.
Gerade war eine Therapeutin dabei, vorsichtig die Riemen zu lösen, mit denen die Unterarme auf den Seitenlehnen fixiert waren. «Das tut gut, nicht wahr», sagte sie zu dem Jungen und begann, mit langsamen Kreisbewegungen seine kraftlosen Hände zu massieren. Auf dem Gesicht des Jungen erschien der Anflug eines Lächelns, zu dem seine Muskulatur gerade noch imstande war.
Brenn trat in das Blickfeld des Jungen.
«Hallo, Paul.»
Der Junge bewegte den Kopf einen knappen Zentimeter vor und suchte mit der Zunge auf einer Steuerkonsole nach dem Joystick.
«Guten Tag, Doktor», ertönte eine synthetische Stimme. «Wie geht es Ihnen?»
«Danke, gut.» Brenn drückte dem jungen Mann aufmunternd den Unterarm. «Und dir?»
«Heute etwas müde» schepperte es aus dem Lautsprecher. «Aber sonst okay.» Der Kopf sank erschöpft in die Halterung zurück.
Thierry sah den Jungen an, und vor seinem geistigen Auge tauchten durchtrainierte Athleten auf. Perfekt proportionierte, gestählte, hochgezüchtete Exemplare, die nichts Besseres zu tun wussten, als mit illegalen Mitteln noch mehr Leistung aus sich herauszuholen. Und sich auf diese Weise zu zerstören.
Es war zum Kotzen.
Der Espresso aus der Maschine in Brenns Büro war genau so, wie Thierry ihn liebte: stark, aromatisch, mit einem zarten Schaumkrönchen. Dankbar ließ er den Duft in die Nase steigen, bevor er den ersten Schluck nahm: schwarz, ohne Zucker.
Endlich fühlte er sich etwas besser.
«Wie alt ist der Junge?», fragte er.
«Zweiundzwanzig.» «Und wie lange …»
«Duchenne-Jungen werden kaum älter als fünfundzwanzig.» Brenn biss sich auf die Unterlippe. «Aber eines Tages werden wir ihnen helfen können.» Seine Stimme klang plötzlich trotzig.
Thierry räusperte sich. «Ich habe den Eindruck … diese Jungen lieben Sie.»
Brenn trank einen Schluck. «Ja … sie mögen mich.»
«Und Sie mögen diese Jungen auch.»
Brenn dachte lange nach, bevor er antwortete. «Es gibt Dreijährige, die fragen mich, ob sie sterben werden. Und wie es dann sein wird.» Er überlegte. «Diese Knirpse befassen sich mit etwas, das viele Menschen selbst im hohen Alter noch verdrängen: den eigenen Tod. Diese Jungs winken mir zu, bis sie nicht mehr winken können.»
Beide schwiegen und tranken Kaffee.
Dann sagte Thierry: «Und Sie werden diesen Jungen helfen können. Mit Gentherapie.»
«Ich hoffe es», sagte Brenn. «Momentan kämpfen wir immer noch mit dem Problem, die gesundmachenden Gene mit der nötigen Präzision an ihren Wirkungsort bringen zu können. Man kann einem Patienten nicht einfach eine Ladung DNA injizieren. Zur Heilung einer Muskelkrankheit müssen die Gene in die Muskelzellen – und nur dorthin. Die richtigen Gene an der falschen Stelle können tödlich sein.»
«Und wie erreichen sie diese Genauigkeit beim Gentransfer?»
«Mit Viren. Sie sind ein ideales Transport-Vehikel für Gene, da sie als Parasiten ja von Natur aus darauf spezialisiert sind, fremde Zellen mit ihrem Erbmaterial zu infizieren. Wenn wir nun aber Viren gentechnisch dahingehend verändern, dass sie anstelle ihres eigenen Erbmaterials welches vom Menschen mitführen, dann machen diese Viren eben nicht mehr krank, sondern gesund. Wir verpacken also genau jene Gene, die bei unseren Patienten fehlen oder defekt sind, in solche Viren, die ausschließlich Muskelzellen befallen. So gelangen die heilenden Gene an den richtigen Ort.»
«Clever», sagte Thierry.
«Na ja», meinte Brenn nicht mehr ganz so enthusiastisch. «So weit die Theorie. In der Praxis funktioniert es leider noch nicht.»
In diesem Moment ging sein Beeper los.
«Unser nächster Patient», sagte Brenn mit einem Blick auf das Display.
Als sie erneut den Therapiesaal betraten, schallte ihnen Geschrei wie auf einem Kindergeburtstag entgegen. In der Mitte des Saals stand dieselbe Ärztin wie zuvor, um sie herum hüpfte aber ein kleiner Junge barfuß auf einem Bein und heulte dabei wie ein Indianer.
«Das soll ein Patient sein?», fragte Thierry irritiert.
«Das ist Michel, unser ganz besonderer Patient.»
Sobald der kleine Junge die beiden Männer bemerkt hatte, kam er herbeigerannt und tanzte jubelnd um sie herum. Brenn begrüßte ihn mit einem kräftigen Gimmie-Five.
«Wer ist das?», fragte der Junge und zeigte auf Thierry.
«Das ist mein Freund Thierry, ein Arzt aus der Schweiz», gab Brenn zur Antwort. «Zeigen wir ihm ein paar von deinen tollen Tricks?»
Michel verzog sein sommersprossiges Gesicht zu einem Lausbubengrinsen.
«Also, mach dich startklar», forderte Brenn ihn auf. «Ich zeige meinem Freund nur noch ein paar Fotos von dir.»
«Fang mich doch, fang mich doch!», brüllte Michel, der bereits wieder wie ein Wirbelwind in der Mitte der Halle um die Ärztin herumsauste. Thierry konnte seinen Blick kaum von dem Jungen lösen. Nicht dass ihn dessen ungestüme Art irritiert hätte. Er selbst hatte schließlich auch zwei solche Wildfänge großgezogen, um nicht zu sagen, gebändigt. Was ihn vielmehr faszinierte, war der Körperbau des Jungen. So etwas hatte Thierry noch nie gesehen.
Als sie am großen Plasmabildschirm an der hinteren Wand standen, fragte er Brenn: «Ich dachte, Sie wollen mir noch einen muskelkranken Patienten zeigen?»
«Michel ist eine Sensation!», erwiderte Brenn. «Wir haben herausgefunden, dass er an einer erblich bedingten Veränderung der Muskulatur leidet. Diese ist zuvor noch nie an einem Menschen diagnostiziert worden. Unsere Arbeit wird nächsten Monat in Nature publiziert.»
«Leidend sieht der Junge aber nicht gerade aus», meinte Thierry.
«Nein, im Moment nicht. Aber über die Langzeitfolgen können wir noch keine Aussage machen. Michel kam zu uns, nachdem eine ganze Reihe von Ärzten nicht wusste, was das sein könnte.»
Brenn gab einen Befehl auf dem Keyboard ein und zeigte auf den Bildschirm. «Schauen Sie: hier die Interferenzbilder der Muskulatur. Vor gut einem Jahr. Und hier ein aktuelles Bild.»
«Völlig normal», sagte Thierry.
«Kommst du, Doktor?», brüllte Michel durch die Halle.
«Sofort!», rief Brenn zurück und wies auf ein weiteres Diagramm. «Auch im Elektromyelogramm keine Auffälligkeiten. Aber man braucht den Jungen bloß anzusehen, um festzustellen, dass da etwas nicht stimmt.»
Sie gingen zu Michel hinüber, der in einer großen Kiste herumwühlte. Er warf einen Fußball in hohem Bogen über seinen Kopf. Es folgten Jonglierkeulen, Bauklötze, eine russische Babuschka, deren kleine Schwestern beim Aufprall auf den Boden in alle Richtungen davonflogen. Schließlich förderte der Junge zwei Gegenstände zutage, die Thierry nicht in einer Spielkiste erwartet hätte.
Michel stellte sich damit vor die beiden Wissenschaftler, suchte einen festen Stand und vollführte sein Kunststück.
Thierry war sprachlos.
Der Kleine stand mit ausgestreckten Armen da wie die Figur in Leonardo da Vincis berühmter Proportionenstudie. Nur dass die Proportionen bei ihm absolut nicht stimmten.
Dann begann Michel zu zittern, doch er biss auf die Zähne und hielt durch.
«Super, Michel», rief Brenn. «Du darfst sie jetzt runterlassen.»
Erschöpft ließ Michel die Arme sinken, und die beiden Drei-Kilogramm-Hanteln, die er die ganze Zeit mit ausgestreckten Armen gehalten hatte, fielen rumpelnd zu Boden. Der Dreikäsehoch schüttelte Arme und Beine aus, die mit derart gewaltigen Muskelpaketen bepackt waren, als hätte der Junge schon Jahre lang trainiert wie ein Bodybuilder.
«Was ist das?», wollte Thierry wissen, als sie wieder draußen auf dem Korridor standen.
«Ein Gendefekt.»
«Aber er zeigt keinerlei Anzeichen einer Krankheit.»
«Nein, eine Genveränderung kann auch fit machen. Oder besonders stark, wie bei Michel. Er hat mit drei Jahren Kraft wie ein Zwölf- oder Dreizehnjähriger.»
«Und wie kommt das?»
«Durch ein verändertes Myostatin-Gen. Schon Vater und Mutter hatten das. Auch sie waren übermäßig stark. Er war Ringer, sie Siebenkämpferin. Beide ziemlich erfolgreich – dank ihres Gendefekts nota bene. Michel hat von beiden das veränderte Gen geerbt. Das Resultat sind diese Supermuskeln.»
Wie bei meiner Maus, dachte Thierry.
«Das hat mich auf die Idee zu einem völlig neuen Therapieansatz für Muskelschwund gebracht: Gentherapie. Wenn wir Michels Genveränderung, welche die Muskeln stark macht, auf unsere Patienten übertragen könnten, würden deren Muskeln auch wieder stark werden.»
Thierry überlegte fieberhaft: War es das, was die Muskelmaus vor seinem Haus ihm sagen sollte? War sie ein Hinweis darauf, dass bereits Athleten mit diesem Gen gedopt wurden? Myostatin statt Anabolika?
«Funktioniert das schon?», fragte er zögernd.
«Wir sind leider erst beim Tierversuch.»
Brenn führte ihn in das Untergeschoss. In dem Versuchslabor zog er aus einem der Gestelle einen Käfig, in dem ein halbes Dutzend Mäuse apathisch lag.
«Diese Mäuse leiden an einer angeborenen Muskelkrankheit, ähnlich der Duchenne-Dystrophie des Menschen. Das ist aber nur die Hälfte des Wurfs», sagte er und zog einen anderen Käfig heraus. «Und das hier sind die Geschwister.»
Er packte eine Maus am Schwanz und hielt sie in die Höhe, sodass das zappelnde Tier zwischen seinem und Thierrys Gesicht in der Luft baumelte.
«Geheilt!», sagte er. «Nach einer einmaligen Verabreichung des veränderten Myostatin-Gens kurz nach der Geburt.»
«Das ist …» Thierry suchte nach Worten.
«… beeindruckend, nicht wahr? Oder stört es Sie, dass diese Tiere noch etwas zu kräftig ausgefallen sind? Das kriegen wir sicher noch besser hin. Davon bin ich überzeugt.»
Noch immer starrte Thierry auf die Maus. «Doktor, ich muss Ihnen etwas sagen, das mir vor lauter Betroffenheit über diesen Jungen beinahe entfallen ist: Mir wurde so eine Maus zugespielt.»
«Unmöglich», erwiderte Brenn lächelnd und legte die Maus zurück in ihren Käfig.
«Doch», beharrte Thierry. «Ich habe vor meinem Haus eine Labormaus gefunden, deren Myostatin-Gen ausgeschaltet ist.»
Brenn starrte ihn an. «Und das erzählen Sie mir erst jetzt?», sagte er gepresst. «Tauchen unter einem Vorwand hier auf, horchen mich aus, stehlen mir die Zeit und verheimlichen mir das Wichtigste!»
«Ich wollte es Ihnen …»
Doch Brenn ließ ihn nicht ausreden, sondern beschuldigte Thierry, sein Vertrauen missbraucht zu haben, beschimpfte ihn als Spion, als Betrüger.
«Raus!», schrie er schließlich. «Raus mit Ihnen!»
«Nein», brüllte Thierry zurück. «Hören Sie mir doch einfach mal zu!»
Das wirkte.
Brenn verstummte.
Dann starrten die beiden Männer einander an.
Brenn mit vor Zorn gerötetem Gesicht.
Thierry mit zitternder Unterlippe.
Thierry atmete tief durch, dann erzählte er, wie er die beiden Mäuse bei sich im Hof gefunden hatte, wie er eine davon genetisch analysieren ließ und was dabei herausgekommen war.
Je länger er redete, desto aufmerksamer hörte Brenn ihm zu. Und als Thierry schließlich die Vermutung äußerte, diese Mäuse könnten ein Hinweis auf genetisches Doping sein, lachte Brenn.
«Vergessen Sie’s. Diese Methode heute schon am Menschen anzuwenden, wäre Russisches Roulette. Wir wissen nicht, wo das Gen beim Menschen eingebaut würde, wir wissen nicht, wie es reguliert würde, und wir wissen nicht, welche Nebenwirkungen ein solcher Gentransfer hätte. Das alles wollen wir ja gerade mit den Tierversuchen herausfinden.»
Er hielt inne, als hätte ihn die Erwähnung der Tierversuche wieder zurück zu Thierrys Maus gebracht.
Erschrocken sah er Thierry an.
Und fuhr dann herum.
«Kommen Sie!»
Brenn stürmte aus dem Labor und hetzte zum Aufzug. In der zweiten Etage lief er einen endlosen Korridor entlang, bog erst links ab, dann rechts, wich Krankenbetten aus, die Schwestern vor sich her schoben, rempelte Patienten an, die im Weg standen. Thierry immer hinterher. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Brenn den linken Fuß beim Laufen etwas nachzog.
In seinem Büro stürzte er zum Computer. «Komm schon, blöde Kiste.»
Er hämmerte Befehle in die Tastatur.
Eine lange Tabelle baute sich auf dem Bildschirm auf.
«Wusste ich es doch!», seufzte Brenn erleichtert. «In dieser Datenbank sind sämtliche Tiere verzeichnet, die je im Versuch waren und es noch sind. Keines fehlt.»