DER KALTE REGEN hatte die rötliche Erde auf den Hügeln der Crete in schokoladenbraune Klumpen verwandelt, über denen der kaum merkliche grüne Schimmer des keimenden Winterweizens lag. Nebelschwaden stiegen aus den Tälern auf, als brodelten auf ihrem Grund heiße Quellen. Auf dem Weg nach Asciano hielt Commissario Guerrini den Dienstwagen an, stieg aus und ging ein paar Meter in eine alte Zypressenallee hinein. Der Nebel umhüllte die Bäume, setzte sich in winzigen Tropfen auf allen Zweigen, Nadeln, Grashalmen ab. Guerrini spürte die Feuchtigkeit auf seinem Gesicht, seinem Haar. Der Nebel war kalt, und nach kurzer Zeit begann Guerrini zu frösteln. Er schlug seinen Jackenkragen hoch und blieb stehen. Kein Vogel schrie, kein Auto fuhr unten auf der Straße vorbei, kein Hund bellte in einem der vom Nebel verschluckten Bauernhäuser. An stacheligen Ranken hingen noch ein paar vergessene Brombeeren.
Guerrini stand ganz ruhig, ließ auch sich selbst vom Nebel umschließen, der aus den Zypressen graue Schemen machte und aus dem Nachmittag beinahe Nacht. Als endlich das hauchzarte Zirpen eines Zaunkönigs die Stille durchbrach, war es wie ein Lichtstrahl. Ein Lebenszeichen, das die angehaltene Zeit wieder in Gang brachte.
Die Geschichte der jahrhundertelangen Ausbeutung in diesem Land ging Guerrini durch den Sinn. Die Geschichte der Armut, der rechtlosen Bauern, denen ihr Land nie gehört hatte. Der Bohnenfresser, wie die Toskaner genannt wurden, weil sie arm waren und Bohnen ein billiges Nahrungsmittel. Nun öffnete sich also ein neues Kapitel, das eigentlich eine Fortsetzung der vielen alten war.
Wucher hatte es immer gegeben in diesem Land. Manchmal mehr, manchmal weniger. Es kam auf die wirtschaftliche Situation an. Durch die weltweite Krise hatten die Geier und die Vorposten der Mafia wieder einmal Hochkonjunktur. Vermutlich waren Mafiafamilien derzeit die einzigen in diesem Land, die noch über genügend Kapital verfügten.
Guerrini spuckte aus. Er hatte sie so satt, diese ewige Wiederholung alter Kreisläufe. Sklaven gab es ja auch wieder, die illegalen Einwanderer aus Afrika und anderswo. Auch das war einer der ewigen Kreisläufe der Geschichte.
Der Zaunkönig schwirrte genau vor Guerrinis Füßen über den zugewachsenen Pfad. Flink wie eine Maus und so winzig, dass der Commissario ihm erstaunt nachsah. Lang hatte er keinen Zaunkönig mehr gesehen und vergessen, wie klein diese Vögelchen waren. Er empfand es als tröstlich, dass es noch Zaunkönige gab. Na ja, wenigstens diesen einen. Man konnte ja nie wissen.
Geier und Zaunkönige, dachte Guerrini, und je länger er nachdachte, desto mehr stimmte er Dottor Salvia zu, der, wie der Bauer Bellagamba, in dem Toten der letzten Nacht einen Geldeintreiber vermutete. Langsam kehrte er zum Wagen zurück und machte sich auf den Weg zum Hof der Pisellis.
Kurz vor Asciano kämpfte sich die Sonne durch den Nebel, warf grelle Lichter hierhin und dorthin, wie Scheinwerfer aus einem Hubschrauber. Ließ ein Stück Acker aufleuchten, eine Baumgruppe, ein einsames Haus, die glänzenden Dächer der kleinen Stadt.
Als Guerrini den Wagen durch Asciano steuerte, dachte er daran, dass er diesen Weg auch mit Laura genommen hatte. Gemeinsam hatten sie Angela Piselli besucht, danach Kartoffelpizza gegessen und eine Siesta unter Zypressen gehalten. Eine Siesta, die brutal unterbrochen worden war, durch Schüsse aus einem schwarzen Geländewagen.
Guerrini erinnerte sich an Lauras Worte, als er sie ins Krankenhaus gefahren hatte. «Ich glaube, ich stehe unter Schock», hatte sie gesagt und dann ihre Strategien erklärt, mit denen sie ihre Angst in den Griff zu bekommen versuchte: rennen oder etwas demolieren. Guerrini lächelte grimmig, wünschte, Laura säße neben ihm im Wagen und spräche davon, etwas zu demolieren, oder würde sich über die faschistische Architektur des Carabinieri-Reviers aufregen oder darüber, dass es in der Via degli Alberi keine Bäume mehr gab.
Er erinnerte sich noch genau an den Weg zum Anwesen der Pisellis und dachte, dass ihr Name ganz gut in die Geschichte der Bohnenfresser passte, Erbsenfresser eben. Waren ja auch Hülsenfrüchte. Als er den Wagen auf den Hof lenkte, war auch der Hund noch da, dessen Kette entlang eines Metallkabels lief, der Hund mit Oberleitung, wie Laura ihn genannt hatte. In Gesellschaft von Laura war das Leben erheblich unterhaltsamer als allein.
Gerade wollte Guerrini aussteigen, hatte bereits die Wagentür geöffnet, da entdeckte er dieses Ding, das aus einem Fenster im Parterre ragte. Erst hielt er es für einen Stock oder so etwas, doch dann erinnerte es ihn sehr an den Lauf eines Gewehrs, deshalb zog Guerrini die Wagentür wieder zu und wartete. Der Hund bellte wie verrückt, rannte an seiner Oberleitung hin und her, drehte sich immer wieder um sich selbst und schnappte geifernd in die Luft.
Nach ein paar Minuten verschwand der Gewehrlauf, dann ging die Tür über den fünf ausgetretenen Steinstufen auf. Erst nur einen Spaltbreit, dann Stück für Stück weiter, bis Guerrini die verschwommenen Umrisse eines Mannes erkennen konnte, der sich kaum vom dunklen Hintergrund abhob. Das Gewehr hatte er noch immer dabei, er trug es im Anschlag. Jetzt brüllte er: «Komm raus! Komm ganz langsam raus! Mach ja keine Faxen! Und halt die Hände hoch! Keine Faxen! Hast du mich verstanden!»
Jaja, dachte Guerrini, klar hab ich dich verstanden. Kurz überlegte er, ob er Verstärkung rufen sollte, ließ es aber angesichts des verzweifelten Giuseppe Piselli, der offensichtlich einen Teil seines Verstandes verloren hatte. Es musste eine andere Lösung geben als die staatliche Streitmacht.
Guerrini kramte seine Dienstwaffe aus dem Handschuhfach, wo er sie meistens aufbewahrte, da er Schusswaffen nicht besonders schätzte. Er ließ die Pistole in seine Jackentasche gleiten, schob dann langsam die Wagentür auf, setzte erst einen, dann den zweiten Fuß auf den Boden und streckte beide Arme nach oben.
«Ich bin Commissario Guerrini. Was ist denn los, Piselli? Ich will nur mit dir reden.»
«Ich rede mit keinem mehr! Verschwinde!»
«Ich muss aber mit dir reden. Es geht um dich, Piselli! Deine Frau hat mich gerufen.»
«Verdammte Lügen! Verschwinde!» Der Gewehrlauf senkte sich und zeigte genau in Guerrinis Richtung. Noch immer hatte Guerrini die Wagentür zwischen sich und Pisellis Gewehr. Ganz langsam rutschte er vom Fahrersitz und stand mit erhobenen Händen auf.
Der Schuss erschütterte den kleinen Innenhof des Anwesens wie eine Explosion, aufjaulend verschwand der Hund in seiner Hütte, Tauben flüchteten mit knatternden Flügelschlägen, Hühner stoben gackernd ins Gebüsch. Kurz vor der Wagentür spritzte der harte Lehmboden auf, dann überschlugen sich die Ereignisse, denn im nächsten Augenblick stürzte sich Angela Piselli von hinten auf ihren Mann, beide fielen zu Boden, ein zweiter Schuss löste sich, traf irgendwas, dann stürmte Guerrini die fünf Steinstufen hinauf, packte Piselli am Genick, drehte seinen rechten Arm nach hinten, während die Signora noch halb auf ihm lag und das Gewehr umklammerte.
«Sei matto, sei matto!», schrie sie immer wieder, und ein dritter Schuss löste sich, als sie das Gewehr endlich an sich riss. Das Geschoss flog knapp an Guerrinis Ohr vorbei, traf die massive Steinwand, prallte zurück und zog eine rote Furche quer über Giuseppe Pisellis Stirn und Wange. Blut spritzte auf, Giuseppe schrie, Angela kreischte vor Entsetzen. «L’ho ucciso! L’ho ucciso!», wiederholte sie immer wieder und warf das Gewehr in hohem Bogen in den Hof hinunter. «Ich habe ihn umgebracht!»
«Blödsinn!», brüllte Guerrini und zog Giuseppe Piselli auf die Beine. «Holen Sie ein Handtuch, Angela, und halten Sie den Mund!»
Sie starrte den Commissario mit offenem Mund an, stützte sich haltsuchend an die Wand.
«Holen Sie ein Handtuch, verdammt nochmal!»
Endlich löste sich ihre Erstarrung, sie schluckte, griff sich an die Kehle, drehte sich langsam um und verschwand im Haus. Pisellis Blut rann in dicken Tropfen, die hart auf die Steinfliesen fielen. Er selbst stand da und schaute mit aufgerissenen Augen den Tropfen nach, fasste sich nicht mal an die Wange. Sein Gesicht hatte etwas Ausgemergeltes, und Guerrini empfand einen unbestimmten Schmerz, musste wegschauen.
Endlich kehrte Angela mit sauberen Tüchern zurück, die sie um Giuseppes Gesicht wickelte. Dann führten sie ihn in die Küche und setzten ihn auf einen Stuhl.
«Hol ihm einen Grappa!», sagte Guerrini. «Hast du irgendwas zum Desinfizieren da?» Er war, ohne es zu bemerken, zum Du übergegangen. Angela nickte, nahm eine große Flasche aus dem Küchenschrank, drei Gläser und füllte sie mit dem gelblichen Treberschnaps, der beinahe zähflüssig wirkte. Sie tranken schweigend, und Guerrini schaute kurz zu der Plastikmadonna hinauf, die aus einem Kranz von künstlichen Blumen auf ihn herabblickte.
«Wir sollten seine Wunde versorgen», sagte er dann. «Wir brauchen Desinfektionsmittel, Pflaster und Verbandszeug.»
Angela Piselli leerte ihr Grappaglas, nickte und verschwand. Die Tücher um Pisellis Kopf hatten sich inzwischen rot gefärbt, doch es tropfte nichts mehr auf den Boden.
«Wie kommst du auf die verrückte Idee, einen Commissario mit dem Gewehr zu bedrohen, eh?»
Giuseppe Piselli antwortete nicht. Der Verband rutschte über seinen Mund, er schob ihn nach oben, hielt ihn fest.
«Du kannst von Glück sagen, dass ich es war und nicht die Kollegen aus Asciano. Und ich kann dir eines sagen: Angela hat mir die Geschichte von dem Geldverleiher erzählt. Ich weiß also Bescheid.»
Piselli stöhnte auf.
«Hast du mich für den Kerl gehalten?»
Piselli hielt seinen Kopf samt Verband mit beiden Händen, machte eine unklare Bewegung.
«Es wäre nicht klug, wenn du auf ihn schießt. Falls du ihn triffst, dann ist es Mord, und du landest in einem unserer wunderbaren Gefängnisse. Nein, das würde ich dir nicht empfehlen, Giuseppe.»
Guerrini bekam nur einen undeutlichen Fluch als Antwort. Ehe er weitersprechen konnte, kehrte Angela zurück und breitete ihre Hausapotheke auf dem Küchentisch aus.
«Bene», murmelte Guerrini, «dann spielen wir mal Notarzt!»
Vorsichtig lösten sie die Tücher von Giuseppes Gesicht und betupften die lange Schramme mit Desinfektionsmittel. Obwohl das sicher höllisch schmerzte, zuckte der Schreiner nur kaum merklich. Auch als Guerrini die Wundränder zusammenpresste und Angela sie mit Pflaster zusammenklebte, atmete er nur ein bisschen schwerer. Endlich hatten sie den neuen Verband angelegt, Angela räumte die blutigen Tücher fort, und Guerrini war wieder mit Piselli allein.
«Besser?», fragte er.
«Was?» Zum ersten Mal antwortete Piselli, allerdings mit einer Frage.
«Na, die Wunde.»
«Sie brennt.»
«Wir mussten sie desinfizieren.»
«Ich bin ja nicht blöd.»
«Warum hast du dann auf mich geschossen?»
«Ich hab nicht auf Sie geschossen.»
«Was dann?»
«Ich hab auf den Boden geschossen.»
«Man schießt nicht auf den Boden, wenn ein Commissario im Wagen sitzt.»
«Woher sollte ich wissen, dass Sie ein Commissario sind?»
«Ich habe es laut genug gesagt!»
«Ah, lassen Sie mich in Ruhe.»
«Mach ich aber nicht, Giuseppe! Ich möchte wissen, von wem du Geld geliehen hast!»
«Lassen Sie mich in Ruhe, haben Sie nicht gehört?»
«Doch, ich will es aber trotzdem wissen.»
«Angela, Angela, Angela … die redet und redet, erzählt alles herum, als wäre sie eins von diesen verfluchten Klatschblättern …» Pisellis Stimme wurde plötzlich heiser, er senkte den Kopf und schloss die Augen.
«Ist dir nicht gut?» Guerrini legte seine Hand auf Pisellis Arm.
«Blöde Frage. Wie soll mir denn gut sein, eh? Sie wissen es ja schon, was soll ich denn noch erzählen?»
«Na ja, den Namen des Geldverleihers, der dir dein Haus und deine Werkstatt wegnehmen will. Es ist strafbar, so hohe Zinsen zu verlangen, Piselli. Wir können den Kerl ins Gefängnis stecken, und du kannst dein Haus behalten.»
Piselli hob den Kopf und sah Guerrini an. Der dicke Verband bedeckte sein halbes Gesicht. Seine Augen lagen tief in den Höhlen unter der knochigen Stirn mit den buschigen dunklen Augenbrauen. Es waren zurückgenommene Augen, als hätten sie etwas sehen müssen, das sie niemals sehen wollten. Verletzte Augen, die einen forschenden, misstrauischen Ausdruck hatten.
«Das glauben Sie doch selbst nicht, Commissario.» Er sprach diese Worte leise, mit einer so entwaffnenden Hoffnungslosigkeit, dass Guerrini nicht antworten konnte. Ihm kam es vor, als spräche eine ganz alte Geschichte aus Piselli, genau die, über die er vorhin im Nebel nachgedacht hatte.
Inmitten dieser alten Bauernküche mit den hässlichen Plastikmöbeln und der Plastikmadonna schien wieder die Zeit stehenzubleiben.
Diesmal war es kein Zaunkönig, der sie wieder anschob, sondern Angela Piselli.
«Madre mia! Warum seid ihr so still?», fragte sie laut. «Ich mache jetzt Kaffee, und dann reden wir über diesen Mist!»
Sie hatten lange geredet, zwischendurch viel Kaffee getrunken und noch ein paar Gläser Grappa. Giuseppe Piselli war allmählich ein bisschen gesprächiger geworden, nicht viel, aber immerhin. Den Geldverleiher beschrieb er als jungen Mann in Jeans und Lederjacke. Einer von der Bank hätte ihn empfohlen. Mehr könne er wirklich nicht sagen. Nicht welche Bank, nicht welcher Bankangestellter und auch nicht, wer dieser Geldverleiher sei. Eigentlich wisse er das ja selbst nicht. Und außerdem sei er nicht lebensmüde. Noch nicht, fügte er nach einer Pause hinzu.
Ah, Guerrini hasste diese vagen Aussagen von Leuten, denen die Angst aus den Augen schaute. Er hasste diese schleichende Bedrohung, die immer mehr um sich griff. Er wusste selbst nicht mehr, wie er damit umgehen sollte. Voll Mitgefühl oder voll Wut? Er empfand beides, das machte es besonders schwer.
Irgendwann erzählte er den beiden von der Leiche mit den Geldscheinen im Mund und dass es ein fetter Mann mittleren Alters gewesen sei, kein junger in Jeans und Lederjacke. Und er nahm die schnelle zitternde Bewegung von Pisellis Adamsapfel wahr, der mehrmals auf und ab zuckte. Das war eigentlich alles.
Als er endlich aufstand, fühlte er sich steif, und draußen war es dunkel.
«Du solltest deinen Mann zum Arzt fahren, Angela», sagte er. «Die Wunde muss wohl genäht werden.»
«Jaja», murmelte sie und: «Wenn ich wüsste, wer dieser Verbrecher ist, dann würd ich es sagen, Commissario.»
Erst als Guerrini die fünf Steinstufen zum Hof hinabging, fiel ihm Pisellis Gewehr wieder ein, das Angela wild von sich geschleudert hatte. Suchend schaute er sich um. Vor dem Haus gab es nur eine einzige Lampe, die kaum Licht ausstrahlte und doch gerade genug, um Guerrini die Waffe in der Mitte des Hofs zu zeigen. Sie lag genau unter der Oberleitung des Hundes, von dem allerdings nichts zu sehen war.
Vorsichtig näherte Guerrini sich dem Gewehr, wollte es gerade aufheben, als ein schwarzes, zähnebleckendes, gurgelndes Geschoss auf ihn zuraste. Er taumelte zurück, prallte mit dem Rücken gegen die Hauswand, hörte das Aufeinanderschlagen von Zähnen.
«Angela!», brüllte er. «Angela Piselli! Hol das Gewehr aus den Klauen dieser Bestie! Es ist beschlagnahmt!»
Sie tat es, gab ihm das Gewehr, entschuldigte sich mit bebender Stimme. Für den Hund und für alles andere. Trotzdem kam sich Guerrini ein bisschen lächerlich vor. Wie der Vertreter einer ein bisschen lächerlichen Staatsmacht. Und er überlegte, ob es ihm gelingen würde, dieses Gefühl Laura zu erklären.
Sehr langsam fuhr er nach Siena zurück. Dort angekommen, fragte er in der Questura nach, ob der Tote inzwischen identifiziert sei. Er war es natürlich nicht. Danach rief er Dottor Salvia an und verabredete sich mit ihm im Aglio e Olio zum Abendessen, denn er hatte keine Lust, nach Hause zu gehen und möglicherweise seiner Exfrau Carlotta in die Arme zu laufen. Auch lächerlich, dachte er. Aber so war es nun mal. Jedenfalls an diesem Abend.
Die Ehefrau von Sutton/Tennison traf erst gegen halb sechs im Polizeipräsidium ein. Kommissar Baumann hatte sich geweigert, nach Hause zu gehen, obwohl Laura ihm freigeben wollte. Er war neugierig auf die Frau eines Gigolos, besonders nach der Computerrecherche am Nachmittag.
«Entweder ist sie eiskalt, oder sie hat keinen Schimmer von den beruflichen Aktivitäten ihres Mannes!», hatte er gesagt und nachdenklich seine Nase gerieben. «Ich meine, ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie so was funktioniert!» Dann war er in die Kantine verschwunden. Laura dagegen wartete in ihrem Büro, hoffte auf eine Nachricht von Guerrini und ein paar Informationen über die Familie Cipriani. Aber es kam nichts. Sie beschloss, nicht noch einmal nachzufragen, obwohl es ihr schwerfiel … wieso fand er nicht die paar Minuten? Sie aß einen Apfel und schrieb in Stichworten auf, was ihr im Fall Sutton/Cipriani aufgefallen war. Aber sie war unkonzentriert, dachte zwischendurch immer wieder an Luca, Sofia und Angelo.
Als der Beamte an der Pforte endlich die Ankunft von Monica Sutton meldete, sprang sie erleichtert auf und beschloss, Baumann erst später aus der Kantine zu rufen. Erst wollte sie sich selbst ein Bild machen – ohne seine kommentierenden Blicke, seine überdeutliche Körpersprache.
Als Laura den Lift verließ, konnte sie die Besucherin eine Minute lang ungestört beobachten, denn sie schien die Fahndungsplakate zu studieren und achtete nicht auf ihre Umgebung.
Frau Sutton trug keinen Schal vor dem Gesicht wie Donatella Cipriani. Sie war ein vollkommen anderer Typ, eher Hausfrau mit biederer dunkelblonder Kurzhaarfrisur und mäßig eleganter Kleidung: praktischen halbhohen Stiefeln, einem dieser wattierten Steppmäntel, die inzwischen jede zweite Frau trug, all das in Mittelbraun. Die hohen Wangenknochen fielen Laura auf und sehr volle Lippen, die braunrot geschminkt waren. Die Augen waren groß und blau, mit sehr dichten langen Wimpern. Jetzt senkte sie den Kopf, stand bewegungslos neben der Pforte, eine Hand in ihrer Manteltasche, die andere am Griff ihres kleinen schwarzen Rollkoffers. Sie wirkte ganz verloren.
Laura ließ dieses Bild auf sich wirken, ehe sie endlich auf die junge Frau zuging. Monica Sutton war tatsächlich sehr jung, viel jünger als die Cipriani. Fünfundzwanzig vielleicht, höchstens achtundzwanzig.
«Frau Sutton?»
Die junge Frau fuhr auf. «Ja?»
«Laura Gottberg. Ich leite die Ermittlungen zum Tod Ihres Mannes und möchte Ihnen mein Beileid ausdrücken.»
«Danke.» Suttons Frau presste kurz die Lippen aufeinander, streifte mit ihrem Blick flüchtig Lauras Gesicht. «Was ist denn eigentlich passiert? Die Hamburger Polizisten haben mir nur gesagt, dass Benjamin tot aufgefunden wurde. Ich habe dann gleich einen Flug gebucht … es ist so unwirklich … ich weiß ja gar nichts …» Ihre Stimme klang gehetzt und anklagend.
«Kommen Sie mit in mein Büro, dann können wir uns in Ruhe unterhalten. Das hier ist kein guter Platz dafür.»
Laura geleitete Suttons Frau in den Lift. Auf dem Weg nach oben schwiegen sie, und Laura dachte, dass dies eine seltsame Wiederholung zu sein schien. Anders als Donatella Cipriani ging Suttons Frau nicht nervös in Lauras Büro herum, sondern setzte sich, knöpfte ihren Mantel auf und wartete.
«Wollen Sie nicht ablegen?»
Monica Sutton schüttelte den Kopf. Sie wollte auch keinen Kaffee, kein Wasser, saß nur da und schaute auf den Boden.
So behutsam wie möglich beschrieb Laura Suttons Ende. Die junge Frau rührte sich kaum, betrachtete ihre Hände, strich mit dem Daumen der rechten Hand über die Finger der linken, massierte mit kreisenden Bewegungen jedes einzelne Gelenk. Als Laura aufhörte zu sprechen, nickte sie und räusperte sich. «Kann ich ihn sehen?»
«Natürlich. Nicht heute Abend, aber morgen. Ich werde Sie begleiten. Es ist auch notwendig, dass Sie Ihren Mann identifizieren.»
Wieder nickte Suttons Frau. «Natürlich», flüsterte sie.
«Ihr Mann war ein Stück älter als Sie, nicht wahr?»
«Fünfzehn Jahre.»
«Haben Sie Kinder?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Ist Ihr Mann aus beruflichen Gründen in München gewesen?»
Sie nickte.
«Was genau hat er eigentlich gemacht? Ich meine beruflich.»
«Er hatte die Generalvertretung für irischen Whisky. Deshalb war er viel unterwegs.»
«Ach, damit hatte er wahrscheinlich viel Erfolg, oder? Ein Sir Benjamin hat es da sicher leicht.»
Die junge Frau hob den Kopf und warf Laura einen unsicheren Blick zu. «Ja … vielleicht … ich weiß es nicht.»
«Ging es Ihnen denn gut? Ich meine finanziell … hat Ihr Mann gut verdient?»
«Es hat gereicht. Warum wollen Sie das wissen?» Ihr Gesicht verschloss sich.
«Ich versuche mir ein Bild zu machen, Frau Sutton. Ihr Mann hatte zwei Pässe mit verschiedenen Namen bei sich. Einen auf Sir Benjamin Sutton, den anderen auf Henry Tennison. Wussten Sie davon?»
Sie senkte den Kopf, verschlang die Finger ineinander. «Nein», antwortete sie kaum hörbar. Nach einer Weile fügte sie leise hinzu: «Er ist also gar nicht einfach so gestorben …»
«Wie meinen Sie das?»
«Sie glauben, dass er ermordet wurde, nicht wahr?» Monica Sutton schien mit angehaltenem Atem zu sprechen.
«Es wäre möglich», erwiderte Laura.
Suttons Frau beugte sich vor und sah Laura ernst und forschend an. «Warum?»
«Ich weiß es nicht. Deshalb hoffe ich, dass Sie mir weiterhelfen können.»
«Ich weiß es auch nicht.» Monica Sutton schloss die Augen.
«Wäre es möglich, dass Sie mir ein bisschen über Ihren Mann erzählen? Was war er für ein Mensch?»
Die junge Frau atmete schwer, dann sprach sie heftig, mit noch immer geschlossenen Augen. «Benjamin war ein wunderbarer Mensch. Er war zärtlich, witzig, zuverlässig. Ich war sicher, dass wir es schaffen würden, den Landsitz seiner Familie in Wales zurückzubekommen. Wir haben beide wie verrückt daran gearbeitet. Er mit der Whiskyvertretung und ich in meinem Job bei einer Hamburger Handelsfirma.»
«Welchen Landsitz?»
«Ich hab ihn nie gesehen. Benjamin hat immer nur davon erzählt. Er muss auf einem Berghang über dem Meer liegen, mit Blick auf die Küste. Benjamin ist dort aufgewachsen.» Plötzlich begannen kleine Schluchzer ihren Körper zu erschüttern, als leide sie an Schluckauf. «Jetzt ist alles verloren», stieß sie hervor. «All die grünen Wiesen, die Schafe, die Pferde, das graue Haus über dem Meer …»
Ungläubig betrachtete Laura die junge Frau. Sie hatte das unwirkliche Gefühl, unversehens in eine jener Geschichten von Rosamunde Pilcher oder Inga Lindström geraten zu sein, die der alte Gottberg mit geradezu teuflischem Vergnügen im Fernsehen sah.
«Hat er Ihnen das erzählt? Das von den grünen Wiesen und so weiter …?»
«Immerzu, es war sein Leben – und meines. Sein Vater hat das Anwesen verspielt.» Plötzlich öffnete sie ihre Augen, beugte sich ein wenig vor und begann leise und doch sehr klar zu sprechen:
«Wo sind jene sternenhellen Wälder? Oh könnt ich
dort wandern und wohnen
unter Blumen, die in den himmlischen Zonen
blühen jahrelang.
Nein, öde sind jene Berge, die Ströme versiegt …»
Ja, dachte Laura. Sutton hatte offensichtlich stets das richtige Gedicht für den richtigen Augenblick.
«Wie lange waren Sie verheiratet?»
«Viereinhalb Jahre.» Jetzt weinte sie.
Laura füllte ein Glas mit Wasser und reichte der jungen Frau ein Papiertaschentuch.
«Sie haben sehr jung geheiratet, nicht wahr?»
«An meinem zwanzigsten Geburtstag. Ich begreife das alles nicht! Wer sollte denn ein Interesse daran haben, Benjamin umzubringen?»
«Ich weiß es nicht, Frau Sutton. Aber vielleicht sollten Sie in Ruhe darüber nachdenken und sich bis morgen ausruhen. Dann können wir uns weiter unterhalten.»
Laura rief Peter Baumann in der Kantine an und erteilte ihm den Auftrag, Suttons Frau in ein Hotel zu bringen und dafür zu sorgen, dass es ihr gutging. Sie war sicher, dass er diesen Auftrag zu ihrer Zufriedenheit ausführen würde.
Als Laura an diesem Abend endlich nach Hause kam, lag die Wohnung dunkel und verlassen vor ihr. Auf dem Küchentisch fand sie einen Zettel: Übernachten wahrscheinlich bei Papa. Mach Dir einen schönen Abend! Bussi Sofia und Luca
Zwei Herzen und zwei Smileys waren daneben gezeichnet.
Laura hatte keinen Hunger, trank nur eine Tasse Tee und ließ sich dann ein Bad einlaufen. Sie würde sich einen schönen Abend machen! Und sie würde nicht über ihre Kinder grübeln, sondern nach vorn denken. An ihre Arbeit zum Beispiel: Sie hielt es für möglich, dass die junge Frau Sutton keinen blassen Schimmer vom Doppelleben ihres Mannes hatte. Und sie war ziemlich sicher, dass der Familiensitz in Wales nicht existierte. Benjamin Sutton/Henry Tennison schien so etwas wie ein Erfinder von Träumen für Menschen zu sein, die Träume brauchten. Das war vermutlich sein Hauptberuf, und Laura zweifelte nicht an seinem Erfolg.
Aber irgendetwas passte noch nicht ganz ins Bild. Wenn er tatsächlich so viel Geld mit seinen Träumen erpresste und erschwindelte, warum lebte er dann mit einer so einfachen jungen Frau? Oder spielte sie nur Theater? Falls sie das tat, war sie außerordentlich gut. Mindestens so gut wie Donatella Cipriani.
Laura stellte die große Teetasse auf den Wannenrand und glitt langsam ins Wasser. Es war eine Spur zu heiß, doch genau das brauchte sie an diesem Abend, um ihr inneres Frösteln zu kurieren. Ich werde jetzt nicht mehr darüber nachdenken, auch nicht über das Gedicht von Angelo und nicht über Luca oder Sofia, dachte sie. Ich werde jetzt einfach nur im warmen Wasser liegen.