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Als er die Oberste Polizeidirektion verließ, stellte Anthony Whitelands überrascht fest, dass er sich an einem ihm bekannten, freundlichen, dichtbegangenen Ort befand, wo die Menschen, angespornt von der Kälte, fast im Laufschritt durcheinandereilten. Der bedeckte Himmel glitzerte metallisch, und in der ruhigen Luft, wie sie heftige Naturereignisse ankündigt, schien der übliche Lärm der städtischen Betriebsamkeit weit entfernt. Noch unter der Nachwirkung des eben geführten Gesprächs nahm Anthony das alles kaum wahr. Er wusste zwar, dass er vor einem moralischen Dilemma stand, konnte in seiner Verwirrung aber nicht genau sagen, was für eines es war. Während er sich durch die Menge schlug, fragte er sich, aus welchem Grund man ihn wohl so kapriziös festgehalten hatte. Zweifellos wussten sie etwas von seinen Bewegungen und seinen Verbindungen in Madrid, aber dem Gesprochenen war unmöglich zu entnehmen gewesen, wie viel. Wahrscheinlich sehr wenig, sonst hätten sie nicht so um den heißen Brei herumgeredet. Vielleicht wussten sie nichts Konkretes und versuchten ihm nur auf den Zahn zu fühlen. Oder ihm einen Schrecken einzujagen. Oder ihn zu warnen. Aber wovor? Vor der Gefahr, die die Nähe zu José Antonio Primo de Rivera mit sich brachte? Wenn dem so war, wussten sie um seine sporadischen Besuche beim Herzog. Wer mochte sie informiert haben? Was José Antonio betraf, so hatte er diesem rätselhaften Menschen nie getraut, obwohl er ihm im direkten Umgang einen sehr guten Eindruck gemacht hatte. Das Wichtige war jedoch nicht seine persönliche Einschätzung, sondern die Rolle, die er in dieser Geschichte spielte. Kannte José Antonio die Pläne des Herzogs? Steckte er mit ihm etwa unter einer Decke? War sein scheinbares Interesse für Paquita echt, oder diente es nur zur Tarnung andersgearteter Absichten? Und zu guter Letzt, was hatte in diesem ganzen Verwirrspiel ein englischer Experte in spanischer Malerei zu suchen? Fragen über Fragen, die jedoch seine Wahrnehmung der Wirklichkeit änderten: Er konnte nicht länger so tun, als wüsste er von nichts; bevor er einen weiteren Schritt unternahm, musste er einige Punkte klären, sich dessen bewusst sein, worauf er sich einließ. Der gesunde Menschenverstand gab deutlich die vernünftigste Handlungsweise vor: alles stehen und liegen lassen und unverzüglich nach England zurückkehren. Das hieß aber auch, beruflich eine einmalige, unwiederbringliche Chance zu verpassen. Im Moment deutete nichts darauf hin, dass es einen direkten Zusammenhang gab zwischen den Darlegungen und Andeutungen der Polizei und dem möglicherweise illegalen Verkauf eines Bildes, der, wenn überhaupt illegal, rein administrativer Natur und ohne politische oder andere Konnotationen war. Im Übrigen betraf eine mögliche Illegalität in keiner Weise jemanden, der einzig und allein die Echtheit eines Kunstwerks beglaubigte. Was danach geschähe, ging ihn nichts an, und je mehr er davon in Erfahrung brächte, desto mehr ließe er sich in etwas verstricken. Für ihn stand nicht im Geringsten fest, dass ein Delikt begangen würde. Er war Ausländer in einem Land, wo das Chaos herrschte, und überdies schützte ihn das Berufsgeheimnis. Am besten stellte er keine Nachforschungen an.
Außerdem erforderten prosaischere Dinge seine Aufmerksamkeit: Er musste so schnell wie möglich zum Herzog gehen und die Verspätung erklären, damit sie nicht gerade jetzt, als die Vereinbarung an einen entscheidenden Punkt gelangt war, als Fahnenflucht interpretiert würde. Zuvor aber musste er sich rasieren, waschen und umziehen. Zu allem Überdruss begannen auch noch die ersten Schneeflocken zu fallen und hinterließen auf dem Asphalt schwarze Punkte.
Zügig marschierte er zum Hotel. Auf dem Türvorleger streifte er sorgfältig die Schuhe ab, um keine Rüge des Empfangschefs einstecken zu müssen, der, als er seiner ansichtig wurde, das ernsthafte Gesicht eines Mannes aufsetzte, welcher eben mitverfolgt hat, wie ein Gast des Hauses von einem Behördenvertreter abgeführt wird. Zerstreut verlangte Anthony den Schlüssel und fragte, ob jemand in seiner kurzen Abwesenheit nach ihm gefragt hatte.
«Und ob», sagte der Empfangschef knapp. «Sie allein geben mehr Arbeit als alle anderen Gäste zusammen.»
Kurz nach seinem Weggang habe ein Mann angerufen und sich erkundigt, ob er anwesend sei. Als der Empfangschef gesagt habe, der Engländer sei ausgegangen, habe der Mann wissen wollen, wann denn und wohin. Der Empfangschef habe den Ahnungslosen gespielt; er habe ja keinen Gast kompromittieren und noch weniger sich selbst in Schwierigkeiten bringen wollen. Jedenfalls habe der andere verärgert oder beunruhigt gewirkt oder beides zusammen. Er habe weder seinen Namen noch seine Telefonnummer hinterlassen, so dass man ihn nicht zurückrufen könne, wie der Empfangschef nahegelegt habe. Eine knappe halbe Stunde später habe ein sehr hübsches Mädchen einen Brief gebracht. Bei diesen Worten runzelte der Empfangschef die Stirn: Es gefiel ihm gar nicht, dass ein kleines Mädchen mit Briefchen für einen Gast ins Hotel kam, und noch weniger, dass er bei dieser Korrespondenz als Mittelsmann fungieren musste. Anthony fiel keine befriedigende Erklärung ein, er schwieg. Ohne die Stirn zu entrunzeln, händigte ihm der Empfangschef den Brief aus.
In seinem Zimmer riss er den Umschlag auf und las auf einem aus einem Notizblock gerissenen Blatt die knappe Mitteilung: «Wo stecken Sie bloß? Um Himmels willen, rufen Sie die Nummer 36126 an.»
Da das Zimmer kein Telefon hatte, ging er wieder in die Rezeption hinunter und bat, dort ein Telefon benutzen zu dürfen. Der Empfangschef deutete auf den Apparat auf dem Empfangstisch. Etwas weniger Öffentlichkeit wäre Anthony lieber gewesen, aber um keinen Verdacht zu erwecken, nahm er das Angebot an und wählte die Nummer. Sogleich antwortete Paquita. Der Engländer gab sich zu erkennen, und sie sagte leise, als befürchtete sie, gehört zu werden: «Woher rufen Sie an?»
«Aus der Rezeption meines Hotels.»
«Sie haben uns mit Ihrem Ausbleiben sehr beunruhigt. Ist etwas passiert?»
«Natürlich. Ich werde Sie in der nächsten Sitzung unterrichten», antwortete Anthony mit der erzwungenen Natürlichkeit eines Geschäftsmanns bei der Ausübung seines Berufs.
Ein Schweigen trat ein, und danach sagte sie: «Kommen Sie nicht zu uns. Kennen Sie Jesús de Medinaceli?»
«Ja, das ist eine sevillanische Bildhauerarbeit aus dem 17. Jahrhundert.»
«Ich meine die Kirche.»
«Ich weiß, wo sie ist.»
«Dann gehen Sie dorthin, ohne eine Sekunde zu verlieren, und setzen Sie sich in eine der hintersten Bänke rechts. Ich werde auch so schnell wie möglich dasein.»
«Geben Sie mir eine halbe Stunde, um mich zurechtzumachen und umzuziehen. Ich sehe aus wie ein Bettler.»
«Umso besser, dann fallen Sie nicht auf. Und verlieren Sie keine Zeit mit Kindereien», sagte die junge Frau, die zu ihrer üblichen Nonchalance zurückgefunden hatte.
Das schiefe Gesicht des Empfangschefs übersehend, hängte er auf, bedankte sich, ging wieder in sein Zimmer hinauf, zog warme Kleider an, nahm den Schirm, ging wieder hinunter, legte den Schlüssel auf den Empfangstisch und trat auf die Straße hinaus.
Durch die Calle Huertas gelangte er sehr schnell zum Treffpunkt. Es hatte weitergeschneit, und dort, wo es keine Passanten gab, blieb der Schnee liegen. Vor der protzig-unharmonischen Kirchenfassade blieb er einen Augenblick stehen, um wieder zu Atem und Gelassenheit zu kommen. Sein Herz schlug heftig wegen des Laufens, des Risikos und des unmittelbar bevorstehenden Treffens mit der rätselhaften Marquise von Cornellá. Vom gegenüberliegenden Gehsteig aus beobachtete er die lange Schlange der Gläubigen, die sich von den Unbilden der Witterung nicht hatten einschüchtern lassen und gekommen waren, um zu beten oder irgendeine Gnade zu erbitten. In der trübseligen Menge fanden sich Vertreter jeden Alters und Standes. Anthony pries Paquitas Klugheit, ihn gerade dahin zu bestellen, wo nichts und niemand Aufsehen erregte. Er überquerte die Straße und stellte sich spontan hinten an, um geduldig darauf zu warten, bis er an die Reihe käme, aber sogleich ging ihm auf, wie unpraktisch sein zivilisiertes Verhalten war, und er beschloss, sich durch eine Seitentür hineinzuschmuggeln, ganz zuversichtlich, dass sein ausländisches Aussehen den kleinen Verstoß entschuldigen würde. Dazu musste er durch den Vorhof gehen, wo sich Blinde, Krüppel und eine gegen Kälte und Schnee in einen schwarzen Umhang gemummte Blumenhändlerin drängten. Das Wehklagen und Flehen der Bettler verschmolz zu einem dissonanten Chor. Der Engländer überwand problemlos alle Hindernisse und fand sich erleichtert im Inneren der Kirche. Unzählige brennende Altarkerzen warfen ihr flackerndes Licht auf die grellen Farben an den Wänden. Die nach Schweiß, Rauch, Weihrauch und geschmolzenem Wachs riechende Luft vibrierte unter den unablässigen Bittgebeten. Unschwer fand er in einer der vereinbarten Bänke einen Platz, denn die meisten Gläubigen strebten dem Altar zu, um dort ihr Weihgeschenk zu deponieren oder dem verehrten Bildnis ihre Fürbitte aus nächster Nähe zuzumurmeln. Der Zustrom spiegelte die in der Stadt herrschende Besorgnis.
Bei seinem Interesse für die spanische Kunst jener Epoche hatte Anthony auch den Christus mehrmals studiert, und immer wieder hatte der ihn bis zum Ekel verdrossen. Der künstlerische Wert der Skulptur war unbestreitbar, doch die Haltung des Christus, seine prunkvolle Gewandung und vor allem die natürlichen Haare gaben ihm das Aussehen eines Schürzenjägers und Betrügers. Vielleicht war es das, hatte er damals gedacht, was dem einfachen Volk Vertrauen einflößte: die in einem vulgären Dandy verkörperte Gottheit. Als Student in Cambridge hatte er einmal einen Experten in der Materie sagen hören, der Katholizismus der Gegenreform sei eine Rebellion des meridionalen Christentums der Sinne gegen das kopflastige Christentum des Nordens gewesen. In Spanien hatte sich ein Christentum der schönen Müttergottes mit schwarzen Augen und roten, in fleischlicher Dramatik geöffneten Lippen durchgesetzt. Der Christus der Gläubigen war der Christus der Evangelien: ein mediterraner Mann, der isst, trinkt, mit den Freunden plaudert und auch zu Frauen Kontakt hat und dann unter körperlichen Foltern stirbt und dessen Gedanken vom Guten zum Bösen, von der Lust zum Schmerz und vom Leben zum Tod wandern, ohne den Schatten metaphysischer Zweifel oder mehrdeutiger Erwägungen. Das war eine Religion von Farben und Düften, prächtigen Kleidern, Volksfesten, Schnaps, Blumen und Liedern. Dem von Natur aus und aus Überzeugung ungläubigen Anthony, positivistisch durch seine Erziehung und argwöhnisch gegenüber dem geringsten Anzeichen von Mystik oder Hokuspokus, war diese Erklärung damals befriedigend, aber irrelevant erschienen.
Noch in diese Überlegungen versunken, fuhr er auf unter der sanften Berührung einer behandschuhten Hand am Unterarm – einen Augenblick dachte er, die Polizei wolle ihn abermals verhaften. Aber nicht die Polizei berührte ihn, sondern eine Frau in Trauer, deren Gesicht von einem dichten Spitzenschleier verhüllt war. In der anderen Hand hielt sie einen Rosenkranz mit Gagatkugeln. «Sie haben mich vielleicht erschreckt», raunte er Paquita zu. «Kein Mensch hier würde Sie erkennen.»
«Genau darum geht es», antwortete sie mit einem schelmischen Unterton, «und Ihre Nerven liegen blank.»
«Das hat schon seinen Grund.»
«Knien Sie nieder, dann können wir die Köpfe näher zusammenstecken.»
Mit gebeugtem Rücken im Betstuhl kniend, die Stirn fast an den Handlauf gestützt, wirkten sie wie zwei fromme Seelen, die mit höchster Hingabe Avemarias beteten. Paquitas Körper neben sich spürend, berichtete ihr Anthony von seinem Erlebnis auf der Obersten Polizeidirektion. Sie hörte schweigend zu und nickte mit gesenktem Kopf.
«Ich habe ohne konkreten Grund die Polizei belogen», sagte der Engländer am Ende seiner Erzählung. «Aus einer schlichten Anwandlung habe ich gegen das Gesetz verstoßen. Sagen Sie mir, dass ich nicht falsch gehandelt habe.»
«Nein, Sie haben richtig gehandelt», sagte sie nach einer Pause, «und ich danke Ihnen dafür. Und jetzt», fügte sie absichtlich langsam hinzu, als fände sie nur schwer die richtigen Worte, «jetzt muss ich Sie um einen großen Gefallen bitten.»
«Sagen Sie mir, worum es geht, und wenn es in meiner Macht steht …»
«Das tut es. Aber es erfordert ein gewaltiges Opfer von Ihnen. Das Objekt, das wir Ihnen gestern gezeigt haben …»
«Der Velázquez?»
«Ja, dieses Bild. Sind Sie von seiner Echtheit überzeugt?»
«Oh, natürlich muss ich es noch eingehender untersuchen … Aber ich würde meine Hand ins Feuer legen …»
«Und wenn ich Ihnen sagte, es sei eine Fälschung?»
Nur mit Mühe unterdrückte der Engländer einen Aufschrei. «Wie bitte? Eine Fälschung?» Er brachte Stimme und Schrecken wieder unter Kontrolle. «Wissen Sie das denn bestimmt?»
Ohne die Dramatik zu verlieren, ließ ihre Stimme wieder einen spöttischen Unterton durchschimmern. «Nein. Ich glaube, dass es echt ist. Und genau das ist der Gefallen, um den ich Sie bitte: dass Sie kategorisch erklären, es sei eine Fälschung.»
Anthony war sprachlos. Sie wurde wieder ernst und sagte: «Ich verstehe Ihr Entsetzen und Ihren Widerstand. Ich habe Ihnen ja gesagt, es sei ein gewaltiges Opfer. Ich habe nicht den Verstand verloren, und hinter meiner Bitte stehen ganz triftige Gründe. Natürlich möchten Sie diese Gründe kennen, und ich selbst werde sie Ihnen zu gegebener Zeit auseinandersetzen. Aber jetzt kann ich noch nicht. Sie werden nur auf mein Wort bauen können. Natürlich kann ich Sie nicht zwingen, weder dazu noch zu sonst etwas. Ich kann Sie nur anflehen und Ihnen angesichts des Allmächtigen, in dessen Haus wir uns befinden, schwören, dass meine Dankbarkeit keine Grenzen kennen wird noch mein Wille, Ihre Großmut zu erwidern. Prägen Sie sich das ein, Anthony Whitelands, es gibt nichts, was ich nicht zu tun bereit wäre, um Sie für Ihr Opfer zu entschädigen. Gestern, im Garten unseres Hauses, habe ich Ihnen gesagt, mein Leben befinde sich in Ihrer Hand. Heute wiederhole ich das noch überzeugter. Sagen Sie nichts, und hören Sie mir gut zu. Sie werden Folgendes tun müssen: Gehen Sie heute Nachmittag zu meinem Vater, und sagen Sie ihm, aus irgendeinem Grund hätten Sie diesen Morgen die Verabredung nicht einhalten können. Erzählen Sie ihm auf keinen Fall, was Sie eben mir erzählt haben. Erwähnen Sie nicht die Oberste Polizeidirektion und schon gar nicht José Antonio. Sagen Sie nur, der Velázquez sei eine Fälschung und folglich nichts wert. Seien Sie überzeugend: Mein Vater ist zwar vertrauensselig, aber nicht dumm. Er hegt keinen Argwohn gegen Sie als Menschen oder Experten und wird Ihnen Glauben schenken, wenn Sie selbstbewusst auftreten. Und jetzt entschuldigen Sie mich, aber ich muss gehen. Niemand in meiner Familie weiß, dass ich gekommen bin, und ich möchte nicht, dass meine Abwesenheit bemerkt wird. Bleiben Sie noch ein paar Minuten. Hier gibt es viele Menschen, jemand könnte Sie erkennen, und man darf uns nicht zusammen sehen. Wenn wir heute Nachmittag bei mir zu Hause zusammentreffen, was sicherlich geschehen wird, verhalten Sie sich so, als hätten wir uns seit gestern nicht mehr gesehen. Und denken Sie daran: Ich befinde mich in Ihrer Hand.»
Sie bekreuzigte sich, küsste das Kreuz des Rosenkranzes, verwahrte ihn in der Handtasche, stand auf, ging mit schlaffen Schritten davon und ließ Anthony in tiefster Verwirrung zurück.