Tinnitus durch Störungen an Halswirbelsäule oder Kiefergelenk
Die engen Beziehungen zwischen Kiefergelenk, Halswirbelsäule und den Strukturen des Ohres haben Sie schon in früheren Kapiteln kennen gelernt. Welche Anzeichen darauf hindeuten, dass Gelenk- oder Muskelstörungen in der unmittelbaren Nachbarschaft des Ohres zum Tinnitus, zu dem so genannten somatosensorischen Tinnitus, beitragen und wie eine eventuelle Behandlung aussieht, erfahren Sie in den folgenden Abschnitten.
Die Halswirbelsäule
Dass die Funktion der Halswirbelsäule (HWS) bei Tinnitus wichtig sein kann, zeigt sich einerseits an den erfolgreich über die HWS behandelten Tinnitus-Patienten, andererseits aber auch an der Tatsache, dass immer wieder berichtet wird, ein Ohrgeräusch könne durch eine Therapie (z. B. Massage, Chirotherapie) an der Halswirbelsäule ausgelöst werden.
Die direkte Verschaltung von Nervenimpulsen aus der Halswirbelsäule mit dem Hörsystem im Gehirn ist Grundlage eines »Halswirbelsäulentinnitus« Die Muskeln der oberen Halswirbelsäule sind verschaltet mit den Kerngebieten also den »Computern« (NO = Nucleus olivarius, NCD = Nucleus cochlearis dorsalis, NCV = Nucleus cochlearis ventralis) des Hörsystems im Gehirn. Über diese Verschaltung kann das Hörsystem in seiner Funktion beeinträchtigt werden.
AUS DER SPRECHSTUNDE
Tinnitus nach Manualtherapie
Die 32-jährige Hermine M. hatte schon immer Probleme mit ihrem Nacken. Durch eine intensive Ballettschulung seit der Kindheit waren ihre Gelenke überbeweglich. Da sie seit der Geburt ihres ersten Kindes mit Sport und auch mit dem Ballett aufgehört hatte, war sie nicht mehr im Training, und zunehmend stellten sich Verspannungen in den Schultern und im Nacken ein, gelegentlich auch mit Kopfschmerzen verbunden. Frau M. suchte einen erfahrenen Manualtherapeuten auf, der eine Blockierung an der oberen Halswirbelsäule feststellte und behandelte. Da sie nach jeder Behandlung eine Erleichterung verspürte, ging sie regelmäßig zu diesem Arzt.
Eines Tages war die Behandlung jedoch nicht sofort erfolgreich, so dass die HWS kurz nacheinander ein zweites und drittes Mal manipuliert wurde. Rückblickend stellte sich heraus, dass die Kopfschmerzen diesmal im Zusammenhang mit einem Infekt gestanden hatten. Beim dritten Manipulieren traten unmittelbar nach dem chiropraktischen Eingriff ein Ohrgeräusch, ein Druckgefühl und eine Hörstörung des betroffenen Ohres auf.
Der Arzt reagierte sofort, beendete die manualtherapeutischen Manipulationen und leitete eine wohldosierte krankengymnastische Übungsbehandlung ohne Massage der HWS ein, um die Muskulatur zu entkrampfen und das ganze System zu beruhigen. Nach einer Woche hatte Frau M. ihr Druckgefühl im Ohr verloren, und sie hörte wieder normal. Es blieb jedoch ein leises Summen in diesem Ohr, das Frau M. allerdings nur wahrnimmt, wenn es in der Umgebung ganz ruhig ist. Sie fühlt sich durch dieses Summen nicht weiter belästigt.
Kommentar: Besonders junge Patientinnen mit einer vermehrten Beweglichkeit der Wirbelsäule und der Gelenke (Hypermobilität) sind bei chiropraktischen Manipulationen gefährdet. Durch einen unsachgemäßen oder in zu schneller Folge durchgeführten chiropraktischen Eingriff können sehr rasch die empfindlichen Strukturen an der oberen HWS überdehnt werden. Dies war wohl auch im Falle von Frau M. die Ursache für eine Irritation des Hörsystems. Eine Therapie an der oberen Halswirbelsäule ist in diesen Fällen dem sehr erfahrenen Arzt vorbehalten. Bei ungenauer Anwendung der Therapie werden die ohnehin hypermobilen Gelenke überdehnt, es kommt zur pathologischen Reaktion.
Der Arzt hatte in diesem Fall richtig reagiert: Bei Auftreten solcher Störungen muss eine weitere chiropraktische Behandlung unbedingt unterlassen werden! Die empfindlichen Strukturen der HWS können nur durch eine vorsichtige krankengymnastische Übungsbehandlung, möglichst unter kurzzeitiger Eisanwendung während der muskulären Anspannungsphasen wieder beruhigt werden. Keinesfalls darf dabei die Halswirbelsäule massiert werden!
Ein Schleudertrauma
Monika L. stand an einer Ampel und hatte sich gerade zu ihrem rechts neben ihr angeschnallten Kind gedreht, als ein Fahrzeug von hinten auffuhr. Durch einen Aufprall am Lenkrad erlitt Frau L. einen Schlüsselbeinbruch, weshalb sie ins Krankenhaus eingewiesen wurde. Aus Sorge um ihr Kind beachtete Frau L. zunächst nicht, dass sie auch leichte Schmerzen in der Halswirbelsäule verspürte. Sie nahmen in den nächsten drei Tagen stetig zu, bis sich am vierten Tag ein Geräusch am linken Ohr dazuge sellte.
Die Halswirbelsäule wurde mit einem Stützverband ruhig gestellt. Nach etwa 6 Wochen schlossen sich Massagebehandlungen der HWS an, die zwar vorübergehend eine Linderung der Beschwerden bewirkten, jedoch auf das Ohrgeräusch keinen Einfluss hatten. Frau L. stellte sich einem in der manuellen Therapie erfahrenen Orthopäden vor, nachdem der HNO-Arzt eine Hörstörung und ein unfallunabhängiges Krankheitsbild ausgeschlossen hatte. Der Orthopäde stellte eine Funktionsstörung mit Blockierung des 2. und 3. Wirbelsäulengelenkes fest und führte eine schonende und schmerzfreie Manipulation dieses Gelenkes durch. Bereits am gleichen Tag bemerkte die Patientin einen Rückgang des Ohrgeräusches. Weitere Sitzungen mit einer gezielten Manualtherapie und eine fundierte krankengymnastische Übungsbehandlung folgten. Das Ohrgeräusch wurde leiser und war nach vier Wochen verschwunden.
Kommentar: Das Auftreten von Ohrgeräuschen nach einem Auffahrunfall ist relativ häufig. Ebenso wie Beschwerden vonseiten der Halswirbelsäule (z. B. Schmerzen im Nacken, Kopfschmerzen, Gleichgewichtsstörungen) können auch Ohrgeräusche nach einem symptomfreien Intervall von bis zu 2–3 Wochen nach einem Unfall auftreten. Dies erschwert häufig eine gutachterliche Untersuchung und Beurteilung solcher Ohrgeräusche, da wegen des langen Zeitraums zwischen Unfall und Auftreten des Ohrgeräusches vielen Gutachtern ein Zusammenhang zwischen Unfall und Tinnitus unwahrscheinlich erscheint.
Die gereizten Strukturen der Halswirbelsäule müssen zunächst beruhigt werden, bevor eine krankengymnastische Behandlung eingeleitet werden kann. Eine Massage an der HWS, besonders wenn ein Trauma vorausging, sollte unterbleiben. Neuere wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass direkte Nervenverbindungen zwischen Rezeptoren in den Nackenmuskeln und den zentralen Kerngebieten des Hörorgans bestehen. Die auf diesen Nervenbahnen geleiteten Nervenimpulse (Afferenzen) werden in den Kerngebieten über Nervenverbindungen gesteuert und überwacht. Unter noch nicht geklärten Umständen könnten diese Afferenzen die Funktion des Hörorgans stören und so ein Ohrgeräusch oder einen Hörsturz auslösen. Diagnostik und Therapie funktioneller Störungen der Halswirbelsäule sind deshalb heute fester Bestandteil in der Behandlung des Hörsturzes und des Tinnitus.
Wunderwerk der biologischen Architektur
Die Halswirbelsäule ist recht kompliziert aufgebaut. Eine seitliche Schemazeichnung lässt erkennen, wie die knöchernen Strukturen zueinander stehen.
Im Hinblick auf den Tinnitus sind die ersten drei der insgesamt sieben Halswirbel besonders wichtig:
- Die Verbindung zwischen Kopf und beweglicher Halswirbelsäule stellt der Atlas her, der erste Wirbel (in der griechischen Sagenwelt ist Atlas derjenige, der die Weltkugel auf den Schultern trägt). In der Gelenkverbindung zwischen Atlas und Schädelbasis findet hauptsächlich die Nickbewegung des Kopfes statt.
- Die Verbindung zwischen dem Atlas und dem zweiten Wirbel, der Axis, ermöglicht die große Drehmöglichkeit des Kopfes.
- Der dritte Wirbel verbindet die kompliziert konstruierten ersten beiden Wirbel mit der unteren Halswirbelsäule. Diese Verbindung zwischen dem zweiten und dritten Wirbel ist am anfälligsten für funktionelle Störungen, da die dynamische Belastung hier am größten ist.
Die Bewegungen der oberen Halswirbelsäule werden über kleinste Muskeln präzise gesteuert. Für diese Steuerung sind viele in den Muskeln gelegene Fühler (Rezeptoren) notwendig. Da diese Rezeptoren u.a. auf mechanischen Zug und Druck reagieren, kann eine zu starke Massage zu Störungen wie Schwindel und Kopfschmerzen führen und vorhandene Symptome wie z. B. Tinnitus verstärken. Es gibt viele Tinnitus-Patienten, die ihr Ohrgeräusch durch solche Manipulationen beeinflussen können. Hier liegt der Zusam menhang zwischen der HWS und dem Tinnitus erst recht nahe.
Anatomie der Halswirbelsäule. Der 1. Halswirbel (Atlas) und der 2. Halswirbel (Axis) unterscheiden sich im Aufbau von den übrigen Halswirbeln.
Kann es die Halswirbelsäule sein?
Im Röntgenbild fallen vor allem Abnutzungserscheinungen der Halswirbelsäule ins Auge. Sie sind allerdings für die Diagnostik weit weniger bedeutsam als die Funktion der Halswirbelsäule. Verschleißerscheinungen wie z. B. knöcherne Auswüchse an den Wirbelkörpern, verschlissene Bandscheiben und arthrotische kleine Wirbelgelenke sind lediglich Ausdruck der »Instandhaltungsmöglichkeiten« unseres Körpers: Er versucht, durch Kalkbildung die überbeanspruchten Strukturen ruhigzustellen. Ist eine solche Ruhigstellung mit zunehmendem Alter erreicht, ist die HWS zwar in der Beweglichkeit eingeschränkt, aber Störungen wie Schmerzen und Reizerscheinungen sind dann verschwunden.
Bereits durch Ertasten findet der in Manueller Therapie ausgebildete Arzt Hinweise, ob die Halswirbelsäule mit einem Ohrgeräusch in Verbindung steht: Verstärkung oder Abschwächung des Tinnitus bei bestimmten Bewegungen oder bei Tasten bestimmter Strukturen legen einen Zusammenhang nahe.
Auch wie das Ohrgeräusch entstanden ist, ist immer wichtig: In manchen Fäl len lässt sich rekonstruieren, dass das Ohrensausen in Verbindung mit einer ungeschickten Bewegung oder Körperhaltung aufgetreten ist. Diesbezüglich spielt die Architektur des Körperbaues, die Statik, eine große Rolle. Bei Fehlhaltungen, beispielsweise bei einem Beckenschiefstand, sind Beschwerden an Rücken und Halswirbelsäule vorprogrammiert, da einzelne Wirbelsäulenabschnitte übermäßig belastet werden. Auch Fehlbelastungen des Kiefergelenkes spielen hier eine Rolle.
WICHTIG
Die Aussage, ob ein Tinnitus durch Veränderungen an der Halswirbelsäule entstanden ist, kann allerdings niemals nur anhand des Röntgenbildes der HWS getroffen werden. Eine solche Aussage gelingt nur mithilfe einer subtilen klinischen Untersuchung der Halswirbelsäule. Die Prüfung der Funktion jedes der einzelnen Wirbelgelenke und das Abtasten der umgebenden Weichteile sind die wichtigsten diagnostischen Maßnahmen.
Sonderfall Schleudertrauma
Ein Tinnitus nach einem »Schleudertrauma« (Distorsionstrauma) der Halswirbelsäule verdient besondere Beachtung. Für viele Patienten beginnt mit dem Schleudertrauma ein mühsamer Weg nicht nur hinsichtlich des Tinnitus, sondern auch, weil Versicherungen, Gutachter, Berufsgenossenschaften, Gerichte, Arbeitgeber und Unfallverursacher dieses Leiden nicht ernst nehmen. Da Tinnitus nicht sicht- und messbar ist, lässt sich den Untersuchern oft nur sehr schwer klar machen, dass hier eine unfallbedingte Störung mit möglicherweise schwer wiegenden Folgen besteht. Direkt nach dem Unfall stellen sich den behandelnden Ärzten oft andere, manchmal lebenswichtige Aufgaben, und so wird das Vorhandensein eines Ohrgeräusches oft erst Tage nach dem Unfall oder überhaupt nicht in den Akten festgehalten – ein Umstand, der es den Gutachtern später erschwert, eine Beziehung des Tinnitus zum Unfallereignis herzustellen.
Andererseits wird heute immer häufi ger anerkannt, dass ein Tinnitus auch erst mehrere Tage nach einer Verletzung in Erscheinung treten kann und dass das Ausmaß der Halswirbelsäulenverletzung nicht unbedingt mit dem Schweregrad des Tinnitus übereinstimmt.
WICHTIG
Suchen Sie sich einen unabhängigen Gutachter, der sich sowohl mit Ohrgeräuschen als auch mit Halswirbelsäulenverletzungen beschäftigt. Gelegentlich empfiehlt es sich, zur Beurteilung auch einen Psychologen hinzuzuziehen.
Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Liegen dem Tinnitus Probleme an der Halswirbelsäule zugrunde, umfasst die Behandlung eine ärztliche Therapie und physiotherapeutische Maßnahmen (Krankengymnastik). Folgende Maßnahmen können helfen:
- Medikamente, die den Spannungszustand der Muskeln herabsetzen (Muskelrelaxanzien) oder Entzündungen und Reizzustände dämpfen (Antiphlogistika, Antirheumatika)
- Vorübergehende Ruhigstellung der Halswirbelsäule mit einer Zervikalstütze bei akuten und schmerzhaften Zuständen
- Injektion von Betäubungsmitteln (Lokalanästhetika), um störende Nervenimpulse aus kranken Wirbelgelenken zu unterbinden (gezielte Injektion)
Chirotherapie (Manuelle Therapie)
Funktionsstörungen der Halswirbelsäule werden mit Techniken der Manuellen Therapie behandelt, wobei ausdrücklich nicht nur das sog. »Einrenken« gemeint ist. Vielmehr existiert heute eine Vielzahl von Behandlungstechniken für die Weichteile des Wirbelsäulenapparates, die auch bei der empfindlichen und schmerzhaften Halswirbelsäule angewandt werden können. Die schnellste und oft wirksamste Methode der Behandlung einer Funktionsstörung (sog. »Blockierung«) ist jedoch die Manipulation eines Gelenkes: Dabei werden die Gelenkflächen für Sekundenbruchteile voneinander entfernt, wobei der charakteristische »Knacks« entsteht. Als Folge dieser Manipulation entspannt sich die Muskulatur deutlich. Gleichzeitig damit werden auch störende Nervenimpulse aus dem behandelten Gelenk zum Gehirn gedämpft oder beseitigt.
Der Patient verspürt prompt die Besserung der Beweglichkeit. Steht ein Ohrgeräusch mit der beseitigten Funktionsstörung in Verbindung, kommt es sofort, zumindest aber in den nächsten Stunden zu einer Linderung. Im Idealfall wird das Ohrgeräusch sogar beseitigt. Werden diese positiven Effekte nicht schon bei den ersten beiden Behandlungen erreicht, sind weitere Manipulationen des gleichen Gelenkes sinnlos! Innerhalb kurzer Zeit darf das Gelenk nicht mehrfach manipuliert werden, sonst wird u.U. sogar ein Ohrgeräusch überhaupt erst ausgelöst.
Die heute gelehrten Techniken der Manipulation eines Gelenkes sind schmerzfrei und ungefährlich. Komplikationen sind erfreulicherweise selten geworden. Das gewaltsame so genannte »Einrenken« gehört der Vergangenheit an.
Physiotherapie
Der an der Halswirbelsäule tätige Physiotherapeut (in Deutschland »Krankengymnast«) sollte eine Zusatzausbildung in Manueller Therapie oder eine ähnlich geartete Weiterbildung abgeschlossen haben.
In der physiotherapeutischen Behandlung erwartet Sie Folgendes:
- Befunderhebung (Statik des Bewegungsapparates, Muskelverkürzungen, Funktionsstörungen)
- Therapie der Funktionsstörungen über die Behandlung der Weichteile (Muskeln, Sehnen, Bänder, Haut und Unterhautgewebe), aktive und kontrollierte Bewegungsübungen. Dabei darf an der Halswirbelsäule keine ausschließliche klassische Massage angewandt werden!
- Korrektur der Statik, um eine erneute Funktionsstörung zu verhindern, und Vermitteln von Übungen für zu Hause und am Arbeitsplatz
- Beratung über sportliche Betätigungen bis hin zur Überwachung einer Trainingstherapie an sinnvollen Geräten
An der Halswirbelsäule hat sich der Einsatz von Eis während der aktiven Behandlung sehr bewährt. Die Eispackung wird nur kurz (10–20 Sekunden) und während der aktiven Übungsbehandlung aufgelegt. Falsch ist es, die Eispackung einfach liegen zu lassen!
Die Eisanwendung steigert die Durchblutung der Muskulatur maximal. Dies bewirkt eine ausgezeichnete Entspannung, eine Schmerzaufhebung und eine bessere Dehnfähigkeit der Muskelfasern. Die Eisbehandlung ist deshalb einer Wärmeanwendung (z. B. mit Fango, Heißluft) immer vorzuziehen, sofern keine Gegenanzeigen (Durchblutungsstörungen, Kälteempfindlichkeit der Blutgefäße und Nerven) bestehen.
Inzwischen halten immer mehr »ganzheitliche« Therapieansätze aus der Osteopathie, der Kinesiologie (s. → S. 151) und anderen besonderen Behandlungsmethoden Einzug in die Physiotherapie.
Diese therapeutischen Ansätze müssen mit dem Arzt abgesprochen werden. Solange beispielsweise der Verdacht besteht, dass ein Ohrgeräusch von Störungen in der Halswirbelsäule ausgeht, hat die Behandlung der Halswirbelsäule absoluten Vorrang. Deutliche Kriterien hierfür sind:
- Kinder und Jugendliche ohne vorausgegangene Lärmbelastung mit tiefem Ohrgeräusch,
- das Ohrgeräusch kommt und geht, insbesondere bei Kopfbewegungen oder Lagewechsel,
- das Hörvermögen ist normal.
Die Behandlung der Halswirbelsäule mit der Manuellen Therapie (Chirotherapie) durch einen entsprechend ausgebildeten Arzt (Adressen im Anhang) wird von den Krankenkassen anerkannt.
Nachbarschaft Kiefergelenk
Das Kiefergelenk ist sowohl anatomisch als auch über Nervenverbindungen und die Funktion mit der Halswirbelsäule und dem Ohr verbunden. Viele Tinnitus-Patienten können durch Zusammenbeißen oder durch Vorschieben des Unterkiefers das Ohrgeräusch in seiner Lautheit und/oder Tonhöhe beeinflussen. Tinnitus kann aber auch durch Eingriffe am Kiefergelenk (z. B. Entfernen von Weisheitszähnen) zum Verschwinden gebracht oder überhaupt erst hervorgerufen werden.
Die Beziehung des Kiefergelenkes zur Halswirbelsäule wird über komplizierte Band- und Muskelverbindungen hergestellt. Eine Fehlhaltung der Halswirbelsäule kann zu Störungen im muskulären Gleichgewicht der Kaumuskulatur führen; umgekehrt können z.B. Kiefergelenksfehlstellungen Verspannungen der Halsmuskulatur bewirken.
Der Frage, ob die Ursache des Tinnitus mit der Kiefergelenksfunktion zusammenhängen kann, muss besonders dann nachgegangen werden, wenn
- eine Zahnbehandlung unmittelbar oder mittelbar mit der Tinnitusentstehung verbunden war,
- wiederholt vom Kiefergelenk ausgehende Gesichts- und Ohrenschmerzen aufgetreten sind,
- Sie nachts mit den Zähnen knirschen,
- starke Verspannungen im Kiefergelenk und in der Kaumuskulatur zu beobachten sind,
- ein Fehlbiss besteht, wenn also Ober- und Unterkiefer nicht optimal zueinander stehen oder
- eine Fehlfunktion der Kiefergelenke nachgewiesen ist.
Das Kiefergelenk können Sie deutlich selbst tasten (s. Abb. → S. 125). Es liegt direkt vor dem Ohr, und man kann durch Auflegen des Fingers in diesem Bereich und durch Tasten beim Mundöffnen und -schließen den Gelenkspalt und das Unterkieferköpfchen gut unterscheiden. Sollte diese Gegend schmerzhaft sein, ist eine zahnärztliche Untersuchung notwendig. Auch die Symmetrie der Funktion kann der Patient vor dem Spiegel selbst prüfen: Weicht der Unterkiefer beim Mundöffnen zu einer Seite hin ab, ist die Funktion der Kiefergelenke nicht symmetrisch. Dann besteht die Gefahr, dass ein Kiefergelenk mechanisch belastet ist. Auch in diesem Fall ist eine weitere Klärung notwendig.
INFO
Den Tinnitus »wegkauen«?
Die von vielen Tinnitus-Patienten beobachtete Beeinflussbarkeit des Ohrgeräusches durch Kieferbewegungen beruht wahrscheinlich auf einer bandförmigen Verbindung zwischen der Kiefergelenk-Kapsel und einem Gehörknöchelchen, dem Hammerkopf. Dieses Band geht manchmal auch von der Sehne eines Kaumuskels, des Musculus pterygoideus lateralis, aus. Bei der Anspannung des Kiefergelenkes, z. B. beim Vorschieben des Unterkiefers, wird über dieses Band Kraft auf das Mittelohrknöchelchen übertragen; die Spannung der gesamten Gehörknöchelchenkette verändert sich dadurch. Dies wirkt sich wiederum auf die Innenohrfunktion aus, das Ohrgeräusch verändert sich. Diese Beeinflussbarkeit des Tinnitus durch Kiefergelenksbewegungen ist also oft rein mechanischer Natur und bedeutet nicht von vornherein, dass das Kiefergelenk am Tinnitus schuld ist!
Die Kiefergelenksfunktion sollte ein speziell fortgebildeter Zahnarzt, Kiefer orthopäde oder Kieferchirurg beurteilen. Zur genauen Diagnostik wird er eingehend die Funktion untersuchen. Zum Teil ist es dabei sinnvoll, ein Kiefermodell anzufertigen. Spezielle apparative Funktionsanalysen sind möglich, aber sehr aufwendig; sie werden nur nach vorheriger Absprache mit der Krankenkasse bezahlt. Die dritte Maßnahme ist das Röntgenbild der Kiefergelenke, in speziellen Fällen sogar die Kernspintomografie.
Die Ergebnisse der Diagnostik münden in individuelle Therapievorschläge und können folgende Maßnahmen umfassen:
- Tragen einer Aufbissschiene, evtl. nach vorausgegangener Korrektur der Bissebenen. Damit kann eine falsche mechanische Kiefergelenksbelastung korrigiert werden.
- Spezialschienen zur Gelenksentlastung und Bissführung, bis hin zur Einfflussnahme auf die Position der Kiefergelenksköpfchen.
- Entspannungsmaßnahmen.
- Sehr selten eine operative Behandlung des Kiefergelenkes.
Die krankengymnastische und/oder osteopathische Behandlung der Kiefergelenke und der Halswirbelsäule setzt eine spezielle Fortbildung der Krankengymnasten auf diesem Gebiet voraus. Leider gibt es noch sehr wenige Krankengymnasten, die auf diesem Gebiet kundig sind. Wenn Sie Krankengymnastik für die Therapie am Kiefergelenk verordnet bekommen haben, sollten Sie sich an Ihrem Ort erkundigen, wo ein Krankengymnast mit dieser speziellen Ausbildung niedergelassen ist.
Das Kiefergelenk kann direkt vor dem Ohr getastet werden. Öffnet und schließt man den Mund, kann dabei die Bewegung hinsichtlich Seitengleichheit und Schmerzhaftigkeit untersucht werden.