Die Behandlung des chronischen Tinnitus

Wenn ein Ohrgeräusch durch die Akutbehandlung nicht beseitigt werden konnte, stellt sich bei Arzt und Patient die Frage: »Was nun?« Idealerweise bilden Arzt und Patient ein partnerschaftliches Team und suchen gemeinsam nach den passenden Behandlungsmöglichkeiten.

Das erste halbe Jahr – die so genannte subakute Phase

Zeitlich gesehen erstreckt sich diese Phase bis etwa ein halbes Jahr nach Auftreten des Ohrgeräusches. Die bisherigen therapeutischen und diagnostischen Schritte werden überdacht. Weniger nahe liegende Ursachen eines Tinnitus müssen nun genauer in Betracht gezogen und geklärt werden; dazu gehören Veränderungen an den Kiefergelenken oder der Halswirbelsäule, die orthopädisch bzw. manualtherapeutisch untersucht werden sollten. In dieser Phase sind also auch Fachleute anderer medizinischer Disziplinen zu Rate zu ziehen (s. die folgende Grafik). Stoffwechselkrankheiten wie Diabetes mellitus und Fettstoffwechselstörungen werden häufig aufgedeckt. In diesen Fällen sind die Analyse der Lebensführung und die Beratung hinsichtlich Ernährung und sportlicher Tätigkeit diejenigen Maßnahmen, die der Patient aktiv in den Mittelpunkt stellen kann.

Folgende Medikamente sind in dieser Phase noch sinnvoll und möglich:

  • Lidocain (s. → S. 74)
  • Kalziumantagonisten (s. → S. 75)

Sofern während der Akutphase noch nicht versucht, wird durch hyperbare Sauerstofftherapie gerade in dieser Phase häufig eine Heilung erzielt. Wenn ein Arzt über Kenntnisse und gute Erfahrungen mit bestimmten Naturheilverfahren und »alternativen Heilmethoden« verfügt, können diese jetzt in die Therapie mit eingebracht werden (s. S. 144).

WICHTIG

Ziel solcher Behandlungen kann nicht sein, den Tinnitus zu beseitigen; dies wird nicht gelingen. Vielmehr zielen sie darauf ab, die »Selbstheilungskräfte« des Körpers zu stärken. Dies trägt wesentlich zur Gewöhnung an ein Ohrgeräusch bei.

Zentrale und ergänzende Maßnahmen zur Bewältigung des chronischen Tinnitus

Das zweite halbe Jahr

Nach einem halben Jahr treten die medikamentösen Therapieversuche in den Hintergrund. Die Wahrscheinlichkeit, dass mit den heute zur Verfügung stehenden Medikamenten jetzt noch eine Heilung erreicht wird, ist äußerst gering. Das Risiko von Nebenwirkungen sollte deshalb nur eingegangen werden, wenn der Patient ausdrücklich noch weitere Therapieversuche wagen möchte. Der Arzt sollte deshalb folgende konkrete Fragen stellen:

  • Wie sehr stört Sie der Tinnitus?
  • Wie können Sie damit leben?

Ungeachtet dessen, dass der Patient natürlich das Ohrgeräusch loswerden möchte, muss er sich fragen, welche Bedeutung das Ohrgeräusch in seinem Leben erlangt hat, und vor allem, ob und in welcher Weise das Ohrgeräusch sein soziales Leben, sein Lebensglück und seine Lebensaufgaben beeinträchtigt. In sehr vielen Fällen wird diese Frage im Sinne des Erträglichen beantwortet werden. Viele verdrängen ihren Tinnitus so weit, dass er sie nicht mehr stört. Dann sollte von weiteren medikamentösen Therapieversuchen abge sehen werden. Der Patient kann dann im Vertrauen darauf entlassen werden, dass der Arzt als Partner sich über die wissenschaftlichen Neuentwicklungen auf dem Laufenden hält und der Patient sich zu einem späteren Zeitpunkt zur Beratung erneut einfindet.

Leidet der Patient jedoch so sehr unter dem Tinnitus, dass die Lebensqualität negativ beeinflusst wird, sind weitere Maßnahmen zu empfehlen. Im Prinzip erstreckt sich das Handeln auf folgende Bereiche:

  • Psychologie
  • Lebensführung
  • Sport
  • Ernährung
  • Schlafhygiene
  • Entspannungstherapien (besonders zur Stressbewältigung).

Diese Überlegungen haben zu einer Einteilung geführt, die den Grad der Belastung eines Patienten durch das Ohrgeräusch kennzeichnen sollen. Eine solche Einteilung ist sinnvoll, weil sich daraus die Art und die Intensität der therapeutischen Bemühungen ableiten lassen.

Auch wenn es dem Patienten gelingt, mit seinem Ohrgeräusch zu leben, auch positiv zu leben, so wird der Wunsch nach Stille niemals aufhören. Koller, der derzeitige Leiter der Tinnitus-Selbsthilfeorganisation in Graz, hat dies sinngemäß wie folgt ausgedrückt: »Trotzder vielen schönen und gut gemeinten Worte um die Tinnitusbewältigung ist es das brennende Ziel eines jeden Patienten, das lästige und oft quälende Ohrgeräusch loszuwerden.« Dieses Verlangen der Patienten wird alle Wissenschaftler und Tinnitusexperten weiter anspornen, dieses Problem eines Tages zu lösen.

INFO

Wie hoch ist die Beeinträchtigung?

  • Grad 1: Das Ohrgeräusch ist sehr leise. Es wird nur bei Konzentration darauf und in sehr stiller Umgebung wahrgenommen und stört nicht.
  • Grad 2: Das Ohrgeräusch stört in Ruhe (z. B. vor dem Einschlafen). Es fällt auf bei Stress, Sorgen und vermehrten privaten und beruflichen Problemen. Im Allgemeinen kommt der Betroffene gut damit zurecht, eine Besserung wäre jedoch erwünscht.
  • Grad 3: Das Ohrgeräusch stört ständig und wird als beeinträchtigender Faktor im beruflichen und privaten Lebensbereich empfunden. Es ist kein unbeschwertes Leben mehr möglich.
  • Grad 4: Der Patient fühlt sich dem Ohrgeräusch völlig ausgeliefert. Er ist arbeitsunfähig. An ein unbeschwertes Privatleben ist nicht zu denken. Es treten Panikattacken und massive Depressionen auf. Die bisherige Lebensführung beizubehalten ist unmöglich.