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Blinde Panik
Der Alltag schafft Voraussetzungen,
von denen man unbewußt ausgeht, und deshalb ist es so verwirrend,
wenn man in Australien zum erstenmal den Stöpsel aus einem
Waschbecken herauszieht und das Wasser andersherum als gewohnt in
den Abfluß kreiseln sieht. Die Gesetze der Physik führen einem vor
Augen, wie weit man von zu Hause entfernt ist.
In Neuseeland sind sogar die
Wählscheiben der Telefone entgegen dem Uhrzeigersinn numeriert. Das
hat mit den Gesetzen der Physik nichts zu tun – man macht es dort
einfach anders. Schockierend ist daran nur, daß es einem bislang
nie in den Sinn gekommen ist, daß man es überhaupt anders machen
könnte. Tatsächlich hat man darüber nicht mal nachgedacht, und
plötzlich ist es einfach da – anders. Man verliert den Boden unter
den Füßen.
In Neuseeland zu wählen erfordert ein
gehöriges Maß an Konzentration, denn alle Ziffern befinden sich
dort, wo man sie am wenigsten erwartet. Wenn man es zügig versucht,
wird man sich unweigerlich verwählen, weil unwillkürlich die
Gewohnheit einsetzt und alles zunichte macht, bevor man sie unter
Kontrolle bekommt. Die Telefoniergewohnheiten sitzen so tief, daß
sie zu Voraussetzungen geworden sind, von denen man unbewußt
ausgeht.
China liegt auf der Nordhalbkugel,
also kreiselt das Wasser, wie bei uns, im Uhrzeigersinn aus dem
Waschbecken.
Die chinesischen Wählscheiben sind
numeriert wie unsere. Diese beiden Dinge sind einem vertraut. Nur
sind sämtliche anderen Dinge anders, und die Voraussetzungen, von
denen man unbewußt ausgeht, bescheren einem nichts weiter als
Schwierigkeiten und Verwirrung.
Dank dem wenigen, was ich von den
China-Erfahrungen anderer Leute wußte, ahnte ich dunkel, daß genau
das der Fall sein würde. Ich saß in der Maschine auf dem langen
Flug nach Peking, versuchte mir über meine Gewohnheiten klar zu
werden, mir alles Vorhandene aus dem Kopf zu schlagen, und kam mir
dabei ziemlich dämlich vor.
Ich fing an, mir einen ausgiebigen
Rasierwasservorrat zuzulegen. Jedesmal, wenn der
Duty-free-Rollwagen vorbeikam, kaufte ich eine Flasche. Derartiges
hatte ich in meinem bisherigen Leben noch nie getan. Meine normale,
instinktive Reaktion war immer gewesen, bloß den Kopf zu schütteln
und weiter in meiner Zeitschrift zu blättern. Diesmal meinte ich,
es wäre Zen-gemäßer zu sagen: »Ja, ist gut. Was haben Sie denn so?«
Ich war nicht der einzige, den ich damit völlig
überraschte.
»Drehst du jetzt völlig durch?«
fragte mich Mark, als ich die sechste Flasche in mein Handgepäck
gleiten ließ.
»Ich versuche, die festverankerten
Grundvoraussetzungen, auf denen mein rational konstruiertes
Verhalten fußt, in Frage zu stellen und zu
untergraben.«
»Soll das ›ja‹ heißen?«
»Das soll heißen, daß ich lediglich
versuche, ein bißchen lockerer zu werden«, sagte ich. »Und da ein
Flugzeug einem nicht gerade viel Raum für eigenmächtige und
alternative Verhaltensformen bietet, mache ich das Beste aus den
zur Verfügung stehenden Möglichkeiten.«
»Aha.«
Mark rutschte unbehaglich in seinem
Sitz hin und her und starrte angestrengt in sein Buch.
»Was willst du denn mit dem ganzen
Zeug machen«, fragte er mich etwas später, während wir
aßen.
»Weiß nicht«, sagte ich. »Könnte
schwierig werden oder?« »Sag mal, bist du wegen irgendwas
nervös?«
»Ja.«
»Wegen was?«
»China.«
Inmitten einer der größten, längsten,
lautesten, dreckigsten Wasserstraßen der Welt lebt die
Reinkarnation einer ertrunkenen Prinzessin oder, besser, leben
zweihundert Reinkarnationen ertrunkener Prinzessinnen.
Ob es sich dabei tatsächlich um
zweihundert verschiedene Reinkarnationen derselben Prinzessin oder
um Reinkarnationen von zweihundert verschiedenen ertrunkenen
Prinzessinnen handelt, ist der Legende nicht eindeutig zu
entnehmen, und leider sind auch keine Statistiken, wie häufig
Prinzessinnen ertrinken, erhältlich, die ein bißchen Licht in die
Angelegenheit bringen könnten.
Falls sie alle dieselbe ertrunkene
Prinzessin sind, muß diese ein ausgesucht sündhaftes Leben geführt
haben, um sich die ständig wiederkehrende Bestrafung, unter den
derzeitigen Umständen zu leben, verdient zu haben. Ihre
Reinkarnationen werden regelmäßig von Schiffsschrauben zerstückelt,
in Fischernetzen voller Haken verwickelt, geblendet, vergiftet und
betäubt.
Die Wasserstraße, um die es hier
geht, ist der Yangtse Fluß, und die wiedergeborene Prinzessin ist
der Baiji, der Yangtse-Delphin.
»Wie stehen eigentlich unsere
Chancen, einen Delphin zu finden?« fragte ich Mark.
»Ich habe nicht den blassesten
Schimmer«, sagte er. »Es ist sehr schwierig, aus China
Informationen, egal, worüber zu bekommen, und was man bekommt, ist
meistens verwirrend. Aber man findet die Delphine – oder auch nicht
– nur in ein paar Abschnitten des Yangtse. Hauptsächlich in einem
etwa zweihundert Kilometer langen Stück, das bei einer Stadt namens
Tongling liegt, in der Provinz Anhui. Dort arbeiten Leute an der
Rettung des Baiji, und dort liegt unser eigentliches Ziel. Nach
Tongling kommen wir mit dem Boot, von Nanking aus, wo ein gewisser
Professor Zhou lebt, ein Delphin-Experte. Nach Nanking kommen wir
per Zug, von Shanghai aus. Nach Shanghai kommen wir mit dem
Flugzeug, von Peking aus. Wir haben erst mal ein paar Tage in
Peking, um uns zu akklimatisieren und herauszufinden, ob uns unsere
Reisearrangements eigentlich etwas nützen. Wir müssen ein paar
tausend Meilen zurücklegen, und Reisen gilt hierzulande als
irrwitzig schwierige Sache.«
»Bleibt uns viel Spielraum, wenn
irgendwas schiefgeht?« fragte ich. »Wann erwarten Professor Zhou
und die anderen uns denn ungefähr?«
»Uns erwarten?« sagte Mark. »Was
meinst du? Die haben noch nie von uns gehört. Man kann mit
niemandem in China Kontakt aufnehmen. Wenn wir Glück haben, finden
wir sie, und wenn wir noch etwas mehr Glück haben, sind sie sogar
bereit, mit uns zu reden. Ich bin nicht mal ganz sicher, daß sie
überhaupt existieren. Wir betreten echtes Neuland.«
Wir sahen beide aus dem Fenster.
Dunkelheit senkte sich über die bevölkerungsreichste Nation auf
Erden.
»Jetzt ist nur noch eine Flasche
übrig, Sir«, raunte mir der Steward in diesem Augenblick zu.
»Möchten Sie die noch haben, bevor wir den zollfreien Verkauf
beenden? Damit hätten Sie dann die gesamte
Kollektion.«
Es war schon ziemlich spät, als der
klapprige Kleinbus uns abends vor unserem Hotel am Stadtrand von
Peking absetzte. Zumindest glaube ich, daß es der Stadtrand war. Es
gab keinen Anhaltspunkt, der die nähere Bestimmung der Umgebung
erlaubt hätte. Die Straßen waren breit und von Bäumen gesäumt, aber
schaurig still. Jedes motorisierte Fahrzeug verursachte ein
einsames, ausgeprägtes Knurren, statt in einem allgemeinen
Verkehrsbrummen unterzugehen. Da die Straßenlaternen aus nichts
weiter als nackten Glühbirnen bestanden, hob das harte Licht jedes
Blatt und jeden Ast heraus und warf klare Schatten an die
Häuserwände. Vorbeifahrende Radfahrer bewegten sich inmitten ihrer
vervielfachten, ineinander verwobenen Schatten über die Straße. Das
Gefühl, in einem geometrischen Netz gefangen zu sein, wurde durch
das Klacken von Billardkugeln verstärkt, die auf kleinen, unter den
Laternen aufgebauten Tischen miteinander kollidierten.
Unser Hotel lag inmitten eines engen
Gewirrs kleiner Seitenstraßen, und seine Fassade war gefährlich mit
geschnitzten roten Drachen und vergoldeten Pagodenformen dekoriert,
den wohl bekanntesten China-Klischees. Wir wuchteten unsere mit
Kameraausrüstungen, Aufnahmezubehör, Klamotten und Rasierwasser
gefüllten Koffer vor die langen, mit geschnitzten Eßstäbchen,
Ginseng und Kräuter-Aphrodisiaka beladenen Glasvitrinen in der
Hotelhalle und warteten darauf, uns anmelden zu
dürfen.
Mir fiel etwas Komisches auf. Eines
dieser winzig kleinen, verwirrenden Details, das einem, wie die
Wählscheiben in Neuseeland, klarmacht, daß man sich in einem fernen
und fremden Land befindet. Ich wußte, daß die Chinesen ihre
Tischtennisschläger traditionell so halten wie wir unsere
Zigaretten. Was ich nicht gewußt hatte, war, daß sie ihre
Zigaretten so halten wie wir unsere
Tischtennisschläger.
Unsere Zimmer waren klein. Ich saß
auf der Kante meines Bettes, das für einen halb so großen Menschen
wie mich bestens geeignet gewesen wäre, und baute meine
konsternierende Rasierwasserflaschensammlung ordentlich neben zwei
überladen verzierten rotgoldenen Thermosflaschen auf dem Nachttisch
auf. Ich überlegte, wie ich sie loswerden sollte. Ich beschloß, das
Problem zu überschlafen. Ich hoffte, das würde mir gelingen. Die
Mitteilung, die ich im Gästebuch gelesen hatte, ließ Schlimmes
ahnen. Da stand: »Um eine friedliche und gemütliche Atmospähre zu
gewährleisten, haben Tanzen, Lärm, Streitereien,
Handgreiflichkeiten oder exzessiver Alkoholgenuß und das
Verursachen von Ruhestörungen in der Öffentlichkeit zu
unterbleiben. Das Mitbringen von Haustieren und Geflügel in das
Hotel ist nicht gestattet.«
Der nächste Morgen hielt ein neues
Problem für mich parat. Ich wollte mir die Zähne putzen, war aber
wegen der leckeren braunen Farbe des aus den Hähnen tropfenden
Wassers etwas mißtrauisch. Ich untersuchte die großen,
bombastischen Thermoskannen, fand aber darin nur heißes Wasser zum
Teekochen. Ich goß etwas Wasser aus der Thermoskanne zum Abkühlen
in ein Glas; dann zog ich los, um mich mit Mark und Chris Muir,
unserem Tontechniker, zu einem späten Frühstück zu
treffen.
Mark hatte schon versucht, mit
Professor Zhou, dem Baiji-Experten, telefonisch Kontakt
aufzunehmen, was sich als unmöglich herausstellte. Vor unserem Flug
nach Shanghai hatten wir noch zwei Tage totzuschlagen; warum also
nicht ein bißchen auf Tourismus machen?
Als ich in mein Zimmer zurückkehrte,
um mir endlich die Zähne zu putzen, stellte ich fest, daß das
Zimmermädchen mein zum Auskühlen abgestelltes Glas abgewaschen und
die Thermoskannen mit frisch gekochtem Wasser gefüllt hatte. Für
mich war das ein ziemlicher Rückschlag. Obwohl ich eine Zeitlang
versuchte, das Wasser abzukühlen, indem ich es von einem Glas ins
andere goß, blieb es so heiß, daß mir die Zahnbürste im Mund
verwelkte.
Mir wurde bewußt, daß ich mir eine
raffiniertere Strategie zurechtlegen mußte, falls ich noch zum
Zähneputzen kommen wollte. Ich füllte das Glas wieder auf, stellte
es vorsichtig außer Sichtweite hinten in einen Wäscheschrank und
versuchte dann eine der Rasierwasserflaschen loszuwerden, indem ich
sie unter dem Bett versteckte.
Mit Sonnenbrillen und Kameras
bewaffnet, zogen wir los und verbrachten den ganzen Tag damit, uns
in Badaling, eine knappe Stunde von Peking entfernt, die Große
Mauer anzusehen. Sie wirkte bemerkenswert frisch errichtet für ein
derart altertümliches Monument, und an den Stellen, die wir uns
ansahen, war sie das vermutlich auch.
Ich erinnerte mich an einen länger
zurückliegenden Besuch in Japan, bei dem ich mir den
Gold-Pavillon-Tempel in Kyoto angesehen hatte und einigermaßen
überrascht gewesen war, wie unbeschadet er den langen Zeitraum seit
seiner Erbauung im 14. Jahrhundert überstanden hatte. Soweit ich
wußte, hatte er die Zeit ganz und gar nicht unbeschadet
überstanden, sondern war in diesem Jahrhundert schon zweimal bis
auf die Grundmauern niedergebrannt.
»Also ist es nicht das ursprüngliche
Gebäude?« hatte ich meinen japanischen Führer gefragt.
»Aber doch, natürlich ist es das«,
sagte er nachdrücklich und ziemlich erstaunt über meine
Frage.
»Aber es ist
abgebrannt?«
»Ja.«
»Zweimal.«
»Öfter.«
»Und wiederaufgebaut
worden?«
»Natürlich. Es ist ein historisch
bedeutsames Gebäude.«
»Aus völlig neuen
Materialien.«
»Aber natürlich. Es war ja
abgebrannt.«
»Wie kann es dann dasselbe Gebäude
sein?«
»Es ist immer dasselbe
Gebäude.«
Ich mußte mir eingestehen, daß das
wahrhaftig ein makellos rationaler Standpunkt war, wenn er auch von
einer überraschenden Prämisse ausging. Der Geist eines Gebäudes,
die dahinterstehende Absicht, seine Gestaltung, all das ist
unveränderlich und wesentlich. Was bestehenbleibt, ist die Absicht
der ursprünglichen Erbauer. Das Holz, aus dem die Form entsteht,
vermodert und wird gegebenenfalls ersetzt. Den ursprünglichen
Materialien, die nicht mehr sind als sentimentale Souvenirs aus der
Vergangenheit, allzuviel Gewicht beizumessen hieße, das Wesentliche
des Gebäudes nicht wahrzunehmen.
Ich konnte mich mit dieser Sichtweise
nicht restlos anfreunden, weil sie in krassem Widerspruch zu meinen
westlichen Grundvoraussetzungen stand, mußte den Standpunkt jedoch
akzeptieren.
Ob dieses Prinzip auch dem
Wiederaufbau der Großen Mauer zugrunde liegt, weiß ich nicht, weil
ich niemanden auftreiben konnte, der die Frage verstand. Da der
erneuerte Bereich allerdings von Touristen und Coca-Cola-Buden und
Läden wimmelte, in denen man Mauer-T-Shirts und elektrische
Pandabären kaufen konnte, gibt es vermutlich auch noch andere
Gesichtspunkte.
Wir kehrten ins Hotel zurück. Das
Zimmermädchen hatte mein verstecktes Wasserglas gefunden und
ausgespült. Sie mußte gründlich danach gesucht haben, denn sie
hatte auch die Rasierwasserflasche unter dem Bett gefunden und
wieder ordentlich neben die anderen auf den Tisch
gestellt.
»Warum benutzt du das Zeug nicht
einfach?« fragte Mark. »Weil ich an allen gerochen hab und sie
eklig finde.«
»Dann schenk sie doch irgendwelchen
anderen Leuten zu Weihnachten.«
»Ich will sie aber nicht bis dahin
rund um die Welt schleppen.« »Erklär mir doch bitte noch mal, warum
du sie gekauft hast.« »Weiß ich nicht mehr. Laß uns zum Essen
gehen.« Wir gingen in ein Restaurant namens »Crispy Fried Duck« und
stießen anschließend, auf unserem Rückmarsch durch den Stadtkern,
auf den sogenannten Tiananmen, den Platz des Himmlischen
Friedens.
Ich sollte wohl erwähnen, daß das im
Oktober 1988 war. Ich hatte, wie die meisten Menschen auf der Welt,
noch nie vom Platz des Himmlischen Friedens gehört.
Der Platz ist riesig. Wenn man nachts
darauf steht, kann man seine am Horizont verschwimmenden Grenzen
kaum erahnen. Am einen Ende ist ein Durchgang zur Verbotenen Stadt,
das Tiananmen-Tor, von dem aus das erhabene Antlitz des Großen
Vorsitzenden Mao über die Weite des Platzes blickt, bis hin zu
dessen entferntestem Punkt, wo das Mausoleum steht, in dem sein
Körper zur letzten Ruhe gebettet ist.
Auf dem Platz, unter Maos Blick,
herrschte Festtagsstimmung. Große, kunstvoll zu Cartoon-Tieren
zurechtgestutzte Büsche waren auf den Platz geschafft worden, um
die Olympischen Spiele zu feiern.
Der Platz war nicht voll oder
überlaufen – man brauchte mehrere zehn- oder gar hunderttausend
Menschen, um das zu bewerkstelligen –, aber er war belebt. Familien
mit Kindern (oder häufiger: mit einem Kind) waren unterwegs. Sie
gingen herum, plauderten mit Freunden, flanierten so unbeschwert
und frei durch die Gegend, als seien sie in ihrem eigenen Garten,
und ließen ihre Kinder davonlaufen und mit anderen spielen, allem
Anschein nach, ohne sich deswegen Gedanken zu machen. Etwas
Vergleichbares ist auf den berühmten europäischen Plätzen kaum
vorstellbar und in Amerika vollkommen undenkbar.
Ich wüßte wirklich nicht, daß ich
mich in der Öffentlichkeit jemals so ungezwungen und entspannt
gefühlt hätte, besonders abends nicht. Das allgegenwärtige
Grundrauschen einer argwöhnischen Paranoia – die unwillkürliche
Begleiterscheinung, sobald man in westlichen Städten eine Straße
betritt – machte sich plötzlich bemerkbar, indem es verstummte. Es
war eine äußerst wundersame Stille.
Trotzdem muß ich zugeben, daß dies
wahrscheinlich das einzige Mal war, daß wir uns in China so
ungezwungen fühlten – beziehungsweise überhaupt ungezwungen.
Während der meisten Zeit fanden wir China vertrackt, ärgerlich und
weitgehend undurchschaubar; nur dieser eine Abend auf dem Platz des
Himmlischen Friedens war ungezwungen. Um so größer war unsere
Bestürzung, als dieser Platz einige Monate später jene brutale
Verwandlung erfuhr, die im öffentlichen Bewußtsein allen
Schauplätzen von Katastrophen widerfährt: Sie werden zu zeitlichen
Bezugspunkten, statt wirkliche Orte zu bleiben. Es war »Vor dem
Platz des Himmlischen Friedens«, als wir dort waren. Es war »Nach
dem Platz des Himmlischen Friedens«, als ihn die Panzer überrollt
hatten.
Früh am nächsten Morgen, als die Luft
noch feucht und neblig war, kehrten wir auf den Platz zurück und
stellten uns in den Schlangen an, die sich tagtäglich um den Platz
herum bilden, um in das Mausoleum zu spazieren und am Körper des in
einer Plexiglaskiste ruhenden, toten Vorsitzenden Mao
vorbeizudefilieren.
Die Länge der Schlange überstieg
jedes Vorstellungsvermögen. Sie schlängelte sich im Zickzack hin
und her über den Platz und rückte Glied um Glied, Reihe um Reihe
mit jeder Windung bedrohlich aus dem Nebel näher, um wieder in ihm
zu verschwinden. Zu dritt oder zu viert standen die Menschen
nebeneinander aufgereiht, schlurften munter vorwärts über den
Platz, wendeten und schlurften munter wieder zurück, wieder und
wieder, dabei immer den Befehlen von Beamten folgend, die in
Schlaghosen und gelben Anoraks auf und ab marschierten und durch
Megaphone bellten. Die ungezwungene Atmosphäre des Vorabends hatte
sich im Morgennebel verflüchtigt, und der Platz war zu einem
gigantischen Rangierbahnhof degradiert worden.
Nach einigem Zögern stellten wir uns
an, mehr oder weniger in der Erwartung, den halben Tag dort
zubringen zu müssen, aber die Menschen bewegten sich in
gleichmäßigem Tempo an den bellenden Rangiermeistern vorbei, und
wir spürten sogar, daß wir beschleunigten, als wir uns der Spitze
näherten. Knapp drei Stunden, nachdem wir uns an den
Schlangenschwanz gestellt hatten, wurden wir in das mit einem roten
Läufer ausgelegte Allerheiligste gehetzt und liefen so respektvoll
wie möglich an dem winzigen, pausbackigen , wächsernen Körper
vorbei.
Die während ihrer Verfütterung an das
Mausoleum so streng und unnachgiebig kontrollierte Schlange löste
sich nach dem Ausgang auf der anderen Seite vor den Souvenirshops
in ihre Bestandteile auf. Aus der Luft gesehen, mußte das Gebäude
große Ähnlichkeit mit einem gigantischen Fleischwolf
haben.
Der gesamte Platz und die
angrenzenden Straßen waren mit unzähligen Lautsprechern für
öffentliche Ansprachen bestückt, aus denen ganztätig Musik quoll.
Was während der meisten Zeit gespielt wurde, war schwer
auszumachen, weil das ganze System ziemlich im Eimer war und der
Klang völlig undechiffrierbar um uns herumhämmerte und -plärrte und
-hallte, aber als wir ein paar Minuten später auf das Tiananmen-Tor
kletterten, hörten wir wesentlich besser, womit wir beschallt
wurden.
Das Tiananmen-Tor ist ein hohes
Gebilde mit flacher Front, Torbögen am Boden, durch die man in die
Verbotene Stadt gelangt, und einem großen Balkon obendrauf, hinter
dem sich eine Reihe von Sitzungssälen befindet.
Das Tor wurde während der
Ming-Dynastie gebaut und von den Kaisern zu öffentlichen Auftritten
und Bekanntmachungen genutzt. Wie der Platz des Himmlischen
Friedens war auch das Tor schon immer ein Brennpunkt in Chinas
politischer Geschichte. Wenn man auf den Balkon klettert, kann man
an genau der Stelle stehen, von der aus der große Vorsitzende Mao
am 1.Oktober 1949 die Gründung der Volksrepublik China proklamiert
hat. Um die deutlich markierte Stelle herum ist eine Ausstellung
mit Fotos von dem Ereignis gruppiert.
Von dort oben hat man einen
außerordentlich guten Blick auf die ungeheure Ausdehnung des
Platzes. Es ist, als sehe man von einem Berghang über eine Ebene.
In politischen Kategorien gedacht, ist der Ausblick sogar noch
erstaunlicher, weil er eine Nation umfaßt, die beinahe ein Viertel
der Bevölkerung unseres Planeten ausmacht. Die gesamte chinesische
Geschichte ist hier sinnbildlich gebündelt, an genau dieser Stelle,
und es fällt schwer, dort oben zu stehen und von dieser Macht nicht
gelähmt zu sein. Es fällt ebenso schwer, von der Vision des Bauern
aus Shao-Shan nicht zutiefst ergriffen zu sein, der diese Macht im
Namen des Volkes ergriff und von seinem Volk noch immer, trotz der
Greueltaten der Kulturrevolution, als Vater der Nation verehrt
wird.
Und als wir an diesem Punkt standen;
dem Punkt, an dem Mao stand, als er die Gründung der Volksrepublik
China proklamierte, dröhnte aus den öffentlichen Lautsprechern rund
um den Platz zuerst »Viva Espana« und dann die Erkennungsmelodie
von »Hawaii Fünf Null«.
Ich konnte mich des Gefühls nicht
erwehren, daß irgend jemand irgendwo nicht begriffen hatte, worauf
es ankam. Ich war nicht mal sicher, daß nicht ich derjenige
war.
Am nächsten Tag flogen wir nach
Shanghai und fingen an, über die Delphine nachzudenken, auf die wir
langsam durch China zukrochen. Um über sie nachzudenken, gingen wir
in die Bar des »Peace Hotel«. Es erwies sich als ein zum Denken
völlig ungeeigneter Ort, weil man vor lauter Lärm seine eigenen
Gedanken nicht verstand, aber wir hatten uns das Hotel sowieso
ansehen wollen.
Es ist ein imposantes Überbleibsel
aus jener Zeit, als Shanghai noch eine der glanzvollsten und
kosmopolitischsten Hafenstädte der Welt war. In den dreißiger
Jahren war das Hotel unter dem Namen »Cathay« jedem ein Begriff und
der prachtvollste Treffpunkt in der ganzen Stadt gewesen. Hierher
kamen die Leute, um sich einander in strahlendem Glanz zu
präsentieren. In einer der Suiten schrieb Noël Coward einen Entwurf
von »Private Lives«.
Heute blättert die Farbe ab, ist die
Halle dunkel und zugig, sind die Plakate, die für die »World Famous
Peace Hotel Jazz Band« werben, mit Filzstiften geschrieben und mit
Klebeband an den Wandtäfelungen befestigt, aber der Geist der
vergangenen »Cathay«-Pracht lauert noch immer zwischen den
Kronleuchtern und fragt sich, was in den letzten vierzig Jahren
bloß passiert ist.
Die Bar war ein dunkler, niedriger
Raum unmittelbar hinter der Eingangshalle. Die »World Famous Peace
Hotel Jazz Band« hatte an diesem Abend frei, aber dafür spielte
eine Stellvertreterband. Man behauptet, dies sei einer der letzten
Orte auf Erden, wo die Musik der Dreißiger noch immer so gespielt
würde wie früher. Mag sein, daß die World-Famous-Kapelle dieses
Versprechen hält, aber ihre Stellvertreter tun es nicht. Sie
hämmerten sich durch endlose Wiederholungen von »Edelweiß«,
»Greensleeves« und »Auld Lang Syne«, in die sie gelegentliche
Versuche einstreuten, »New York, New York«, »Chicago«, und »I Left
My Heart in San Francisco« zu spielen.
Daran waren zwei Dinge eigenartig.
Erstens taten sie das nicht nur wegen der Touristen. Dies war die
Musik, die wir überall in China hörten, vor allem die ersten drei
Titel: im Rundfunk, in Läden, in Taxis, in Zügen, auf den großen
Fähren, die ununterbrochen den Yangtse rauf- und runterdampfen. Der
Interpret war gewöhnlich Richard Clayderman. Falls sich irgend
jemand mal gefragt hat, wer in aller Welt
Richard-Clayderman-Platten kauft: Es sind die Chinesen, und von
denen gibt es eine Milliarde.
Zweitens war eigenartig, daß die
Musik ihnen sichtlich vollkommen fremd war. Na schön, es war ja
auch unbestreitbar fremde Musik, aber es wirkte, als spielten sie
sie aus einem Sprachführer ab. Jeder vom Trompeter aus dem Stegreif
improvisierte Schnörkel, jeder zusätzliche Trommelschlag war durch
die Bank ebenso hörbar wie schmerzhaft falsch. Genauso müssen sich
die Inder gefühlt haben, als George Harrison in den Sechzigern mit
dem Sitarspielen anfing, bevor es dann, nach kurzem Schwelgen, auch
allen Nicht-Indern so ging; unbeholfene Wiedergaben indischer Musik
haben die im Westen beliebte Musik nie ausstechen können. Wenn die
Chinesen den entstellten Versionen von »Auld Lang Syne« und »Little
Brown Jug« hingebungsvoll lauschten, hörten sie unbestreitbar etwas
ganz anderes als ich, aber ich bekam nicht heraus, was es
war.
Während des Reisens in China
entdeckte ich mit der Zeit, daß es die Geräusche waren, die mich am
meisten irritierten und durcheinanderbrachten.
Als wir in einer der gedämpfteren
Ecken der Bar nach einem Tisch suchten, kam mir der Gedanke, daß
die Delphine, nach denen wir suchen wollten, mit den gleichen
Schwierigkeiten zu kämpfen haben mußten. Ihre Sinne müssen restlos
überfordert und durcheinander sein.
Es fängt schon damit an, daß der
Baiji-Delphin halb blind ist.
Und zwar deswegen, weil es im Yangtse
nichts zu sehen gibt.
Das Wasser ist mittlerweile so trüb,
daß die Sichtweite lediglich ein paar Zentimeter beträgt, und
infolgedessen sind die Augen des Baiji durch Nichtgebrauch
verkümmert.
Merkwürdigerweise lassen sich häufig
Schlüsse auf gewisse, während der Evolution eines Tieres
aufgetretene Veränderungen aus der Entwicklung seines Fötus ziehen.
Es ist wie eine Zeitlupenwiederholung.
Die Augen des Baiji liegen, schwach,
wie sie sind, ziemlich weit oben auf seinem Kopf, um das Beste aus
dem bißchen Licht zu machen, das sie überhaupt erreicht, das heißt
aus dem von oben.
Die Augen der meisten anderen
Delphine liegen tiefer, an den Seiten des Kopfes, von wo aus sie
alles wahrnehmen können, was um sie herum und unter ihnen vorgeht;
und an genau diesen Stellen befinden sich auch die Augen des
Baiji-Fötus.
In der Wachstumsphase des Fötus
wandern die Augen dann jedoch allmählich an den Seiten des Kopfes
nach oben, und die Muskeln, die normalerweise für die
Abwärtsbewegung des Augapfels zuständig sind, geben sich nicht die
Mühe, sich zu entwickeln. Unten gibt es nichts zu
sehen.
Es könnte daher durchaus möglich
sein, die vollständige Geschichte der Erderosion in den Yangtse
durch die Augenwanderung eines Baiji-Fötus graphisch wiederzugeben.
(Es könnte ebensogut möglich sein, daß der Baiji einen bereits
schlammigen Yangtse vorgefunden und sich lediglich seiner neuen
Umgebung angepaßt hat; wir wissen es nicht. In jedem Fall ist der
Yangtse aber während der Geschichte der Baiji-Art wesentlich trüber
geworden, und zwar vor allem durch menschliches
Zutun.)
Um sich zurechtzufinden, muß der
Baiji folglich einen anderen Sinn benutzen. Er verläßt sich auf
Töne. Er hat ein ungeheuer feines Gehör und »sieht« durch
Echopeilung, was bedeutet, daß er Folgen kurzer Schnalzer aussendet
und auf das Echo achtet. Außerdem kommuniziert er mit anderen
Baijis, indem er Pfeifgeräusche ausstößt.
Seit der Mensch den Motor erfunden
hat, muß sich die Flußwelt des Baiji zu einem absoluten Alptraum
entwickelt haben.
Die chinesische Infrastruktur ist
eher bescheiden. Es gibt Bahnlinien, aber da diese nirgendwo
hinführen, ist der Yangtse (der in China »Chang Jiang« – »Langer
Fluß« – heißt) die Hauptverkehrsader des Landes. Er ist und war
schon immer vollgestopft mit Schiffen – nur daß es früher
Segelboote waren. Heute wird der Fluß ununterbrochen von den
Motoren rostiger alter Dampfboote, Frachtschiffe, riesiger Fähren,
Passagierdampfer und Barkassen aufgewühlt.
»Im Wasser muß es ununterbrochen
zugehen wie im Irrenhaus«, sagte ich zu Mark.
»Was?«
»Ich habe gesagt, daß es zwar schon
hier bei diesem Krach von der Band schwierig ist, sich zu
unterhalten, aber im Wasser ununterbrochen wie im Irrenhaus zugehen
muß.«
»Hast du deswegen die ganze Zeit
dagesessen und nachgedacht?«
»Ja.«
»Hab mich schon gefragt, warum du so
still bist.«
»Ich hab mir vorzustellen versucht,
wie man sich als Blinder fühlen würde, der versucht, in einer Disco
zu wohnen.
Beziehungsweise in mehreren
konkurrierenden Discos.«
»Es ist sogar noch schlimmer«, sagte
Mark. »Die Delphine brauchen Töne, um sich zu
orientieren.«
»Na gut, dann ist es also wie bei
einem Tauben, der in einer Disco wohnt.«
»Wieso?«
»All diese Stroboskoplampen und
Lichtorgeln und Spiegel und Laser und so weiter. Ununterbrochen
verwirrende Informationen. Nach ein, zwei Tagen würde man restlos
konfus und desorientiert anfangen, über die Möbel zu
stolpern.«
»Stimmt, und genau das passiert ja
auch tatsächlich. Die Delphine werden dauernd von Booten gerammt
oder geraden in deren Schrauben oder verheddern sich in
Fischernetzen. Normalerweise findet der Delphin mit Hilfe seiner
Echopeilung sogar einen kleinen Ring auf dem Meeresboden, also muß
die Lage schon ziemlich ernst sein, wenn er nicht mal mehr merkt,
daß er kurz davor steht, ein Boot über den Schädel gezogen zu
kriegen.
Und dann sind da natürlich auch noch
die Abwässer, die Chemie- und Industrieabfälle und die Kunstdünger,
die in den Fluß geleitet werden und das Wasser genauso vergiften
wie den Fisch.«
»Also«, sagte ich, »was tut man, wenn
man entweder halb blind oder halb taub ist, in einer Disco mit
Stroboskop-Light-Show lebt, in der die Abwasserrohre überquellen,
einem ständig die Decke und die Ventilatoren auf den Kopf fallen
und das Essen schlecht ist?«
»Ich glaube, ich würde mich bei der
Geschäftsleitung beschweren.«
»Das können sie nicht.«
»Nein. Sie müssen warten, bis die
Geschäftsleitung es selbst merkt.«
Etwas später schlug ich, sozusagen
als Vertreter der Geschäftsleitung, vor, wir sollten versuchen, uns
anzuhören, wie der Yangtse wirklich unter der Wasseroberfläche
klang – ihn also aufnehmen. Da uns das erst jetzt einfiel, hatten
wir unglücklicherweise kein Unterwasser-Mikrofon
dabei.
»Tja, eins könnten wir machen«, sagte
Chris. »Es gibt eine BBC-Standardmethode, Mikros im Notfall
wasserdicht zu machen. Man nimmt das Mikrofon und stopft es in ein
Kondom. Hat einer von euch beiden Kondome dabei?«
»Äh, nein.«
»Und in euren Kulturbeuteln lungern
auch keine rum?« »Nein.«
»Tja, dann sollten wir wohl besser
einkaufen gehen.«
Von diesem Zeitpunkt an begann ich in
Klangbildern zu denken. In China gibt es zwei unverwechselbare
Klänge, drei, wenn man Richard Clayderman mitzählt.
Der erste ist Spucken. Alle spucken.
Wo man sich auch aufhält, hört man unentwegt diesen Klang: das
langgezogene, saugende Räuspergeräusch, das beim Ansaugen von
Schleim in den Mund entsteht, gefolgt vom zischenden
Abschußgeräusch der losfliegenden Ladung und, wenn man Glück hat,
dem klingenden »Fing« beim Einschlag in einem Spucknapf, von denen
es Unmengen gibt. In jedem Zimmer steht mindestens einer. In der
Hotelhalle zählte ich ein Dutzend, strategisch günstig in Ecken und
Nischen verteilt. Auf den Straßen von Shanghai ist an jeder Ecke
ein Spucknapf ins Pflaster eingelassen, der bis oben hin mit
Zigarettenstummeln, Abfall und dickem, knotigem, blasigem Schleim
gefüllt ist. Man entdeckt auch eine Menge Schilder mit der
Aufschrift »Spucken verboten«, aber da sie bevorzugt auf englisch
und nicht auf chinesisch beschriftet sind, vermute ich stark, daß
sie bloß kosmetischen Wert haben. Ich mußte mir sagen lassen, das
Spucken auf der Straße gelte mittlerweile eigentlich als Vergehen,
das mit einer Geldstrafe geahndet wird. Sollten diese Bußgelder
jemals eingefordert werden, würde die gesamte chinesische
Wirtschaft vermutlich zusammenbrechen.
Der andere Klang ist der einer
chinesischen Fahrradklingel. Es gibt nur einen Klingeltyp, und der
wird von der Seagull-Company hergestellt, die auch chinesische
Kameras baut. Die Kameras sind wohl nicht die besten der Welt, aber
die Klingeln könnten es durchaus sein, da sie zum intensiven
Gebrauch gefertigt sind. Es sind große, solide, rasselnde
Chromtrommeln mit einem lang nachhallenden Klingeln, das man
unentwegt durch die Straßen tönen hört.
In China fährt jeder Rad. Da private
Autos so gut wie unbekannt sind, besteht der Verkehr in Shanghai
aus Straßenbahnen, Taxis, Lieferwagen, Lastern und Flutwellen von
Fahrradfahrern.
Wenn man zum erstenmal als Beobachter
an einer größeren Kreuzung steht, ist man überzeugt, gleich ein
größeres Blutbad mitzuerleben. Aus allen Richtungen strömen
Fahrradmassen auf die Kreuzung. Laster und Straßenbahnen kacheln
bereits darauf herum. Fahrradglocken bimmeln, es wird gehupt wie
verrückt, und niemand macht irgendwelche Anstalten anzuhalten. Kurz
vor dem unvermeidlichen Zusammenprall schließt man die Augen und
wartet auf das grauenhafte Kreischen von zerreißendem Metall, das
aber seltsamerweise ausbleibt. Man glaubt es kaum. Ein paar Dutzend
Fahrräder und Laster sind geradeaus durcheinandergefahren, als
seien sie nichts weiter als Lichtstrahlen.
Beim nächstenmal läßt man die Augen
geöffnet und versucht zu begreifen, wie der Trick funktioniert;
aber auch bei genauestem Hinsehen kann man die tanzenden, wiegenden
Figuren nicht entwirren, mit denen sich die Fahrräder scheinbar
körperlos und unter ständigem Klingeln aneinander
vorbeibewegen.
In der westlichen Welt ist das
Klingeln oder Hupen gewöhnlich ein Ausdruck von Aggressivität. Es
beinhaltet eine Warnung oder eine Anweisung: »Mach Platz«, »Komm in
die Socken« oder »Wie blöd bist du eigentlich, Schwachkopf?«. Wenn
man auf einer New Yorker Straße ein Hupkonzert hört, weiß man, daß
die Leute in einer gefährlichen Stimmung sind.
In China bedeutet das Geräusch, wie
man mit der Zeit feststellt, etwas vollkommen anderes. Es bedeutet
nicht: »Mach Platz, Arschloch«, sondern bloß ein fröhliches »Jetzt
komm ich«. Oder vielmehr: »Jetzt komm ich jetzt komm ich jetzt komm
ich jetzt komm ich jetzt komm ich .. .«, weil es niemals
endet.
Während wir uns auf der Suche nach
Kondomen durch die überlaufenen, lauten Straßen von Shanghai
schlängelten, kam mir der Gedanke, daß vielleicht auch die
chinesischen Radfahrer mit Hilfe einer Art Echopeilung navigieren.
»Was denkst du?« fragte ich Mark. »Ich denke, daß du ein paar ganz
schön seltsame Ideen hast, seit wir in China angekommen
sind.«
»Ja, aber wenn man sich in einem
Rudel Radfahrer durch die Gegend schlängelt und alles wie wild
klingelt, führt das doch wahrscheinlich zu einer deutlichen
räumlichen Vorstellung davon, wo sich alle anderen Radler befinden.
Ist dir aufgefallen, daß keiner Licht an seinem Fahrrad hat?«
»Ja...«
»Ich habe irgendwo gelesen, daß der
Schriftsteller James Fenton mal versucht hat, in China nachts mit
einem Fahrrad mit Lampe zu fahren, und von der Polizei angehalten
und aufgefordert wurde, sie abzubauen. Sie sagten: ›Wo kämen wir
denn hin, wenn alle mit Lampen an ihren Fahrrädern herumfahren
würden?‹ Also müssen sie sich wohl auf ihr Gehör verlassen.
Außerdem finde ich die innere Ruhe der Radfahrer bemerkenswert.«
»Was?«
»Na, ich weiß nicht, wie man das
sonst nennen soll. Diese bemerkenswerte, unbeschwerte
Gleichgültigkeit, mit der ein Radfahrer schnurstracks in den Weg
eines sich nähernden Busses fährt. Sie kommen gerade so um eine
Kollision herum, die, wenn wir mal ehrlich sind, den Bus nicht
besonders kratzen würde. Aber obwohl sie sich nur um knapp neun
Millimeter verfehlen, scheint der Radfahrer das nicht mal
mitzukriegen.«
»Was soll er denn da mitkriegen? Der
Bus hat ihn doch verfehlt.«
»Aber nur haarscharf.«
»Aber er hat ihn verfehlt. Das ist
der entscheidende Punkt.
Wenn du mich fragst, beunruhigen uns
solche Beinahezusammenstöße nur, weil sie eine Verletzung unserer
Freiräume darstellen. Die Chinesen machen sich nicht viel aus
privaten oder persönlichen Freiräumen. Wahrscheinlich halten sie
uns in dieser Hinsicht für völlig neurotisch.«
Der »Friendship Store« erschien uns,
was den Kondomkauf anging, recht vielversprechend, nur hatten wir
mit gewissen Schwierigkeiten zu kämpfen, unsere Kaufabsicht zu
verdeutlichen. Von Ladentisch zu Ladentisch zogen wir durch das
weitläufige Mammut-Kaufhaus, das aus vielen einzelnen Kabinen,
Verkaufsständen und Ladentischen besteht, aber niemand konnte uns
weiterhelfen.
Wir begannen an den Ständen, die
aussahen, als ob sie medizinische Artikel verkauften, hatten aber
kein Glück. Als wir die Stände erreicht hatten, deren Angebot sich
aus Buchstützen und Eßstäbchen zusammensetzte, wußten wir, daß wir
eine Niete gezogen hatten, aber schließlich fanden wir doch noch
eine junge Verkäuferin, die englisch sprach.
Wir versuchten ihr zu erklären, was
wir wollten, schienen allerdings ziemlich schnell an die Grenzen
ihres Vokabulars zu stoßen. Ich holte mein Notizbuch heraus und
zeichnete sehr sorgfältig ein Kondom auf, einschließlich des
kleinen Zusatzballons am Ende. Sie betrachtete es stirnrunzelnd,
begriff aber noch immer nicht. Sie brachte uns einen Holzlöffel,
eine Kerze, eine Art Flaschenöffner und überraschenderweise ein
kleines Porzellanmodell des Eiffelturms, bevor sie sich schließlich
geschlagen gab.
Ein paar andere Mädchen vom Stand
versammelten sich hilfsbereit um uns, mußten vor unserer Zeichnung
aber ebenfalls die Waffen strecken. Schließlich nahm ich all meinen
nichtvorhandenen Mut und gab eine mimische Darstellung der damit
verbundenen Aktivität, und endlich fiel der Groschen.
»Ah!« sagte das erste Mädchen und
grinste übers ganze Gesicht. »Ah ja!« Sie strahlten uns alle
vergnügt an, als sie endlich begriffen.
»Haben Sie es verstanden?« fragte
ich.
»Ja! Ja, ich verstehe.«
»Haben Sie welche da?«
»Nein«, sagte sie. »Haben
nicht.«
»Oh.«
»Aber, aber, aber...«
»Ja?«
»Ich dir sagen, wohin du gehen,
okay?«
»Haben Sie vielen Dank. Danke
sehr.«
»Du gehen Nanking Road 616. Okay. Da
haben. Du fragen nach ›Übergummi‹. Okay?«
»Übergummi?«
Ȇbergummi. Du fragen. Sie haben.
Okay. Du schönen Tag.«
Dabei giggelte sie fröhlich hinter
vorgehaltener Hand.
Wir dankten ihnen noch einmal
überschwenglich und machten uns unter viel Gewinke und Gelächle auf
den Weg. Die Nachricht schien sich in Windeseile verbreitet zu
haben, und alle winkten uns zu. Sie waren offenbar ganz
fürchterlich erfreut, daß wir sie gefragt hatten.
Als wir in der Nanking Road 616
ankamen – ein weiteres kleineres Kaufhaus und kein Bordell, wie wir
fast befürchtet hatten –, ließ uns unsere Aussprache von
»Übergummi« zunächst im Stich und sorgte für eine neuerliche Welle
verdatterten Nichtbegreifens.
Diesmal ging ich direkt zu meiner
mimischen Darstellung über, die uns vorher soviel genützt hatte,
und scheinbar erfüllte sie auch hier ihren Zweck. Die Verkäuferin,
eine nicht mehr ganz junge Dame mit strenger Frisur, marschierte
schnurstracks auf einen Schubladenschrank zu, brachte von dort ein
Päckchen mit und legte es triumphierend vor uns auf die
Ladentheke.
Geschafft, dachten wir, öffneten das
Päckchen und stellten fest, daß es einen albernen Plastikstreifen
mit Pillen enthielt.
»Richtige Idee«, sagte Mark mit einem
Seufzer. »Falsche Methode.«
Wir gerieten schnell wieder ins
Schwimmen, als wir der jetzt leicht gekränkten Dame zu erklären
versuchten, daß das nicht genau das sei, was wir suchten. Zu diesem
Zeitpunkt hatte sich bereits eine Menge von ungefähr fünfzehn
Schaulustigen um uns versammelt, von denen uns einige meiner
Überzeugung nach den ganzen Weg vom »Friendship Store« aus gefolgt
waren.
Was man in China sehr schnell
herausfindet, ist, daß wir alle irgendwie im Zoo sind. Wenn man
sich auch nur eine Minute lang nicht bewegt, versammeln sich die
Leute um einen herum und starren einen an. Das Entnervende daran
ist, daß sie nicht gespannt oder wißbegierig starren, sondern bloß,
oft genau vor einem, dastehen und einen so ausdruckslos ansehen wie
einen Werbespot für Hundefutter.
Schließlich schob sich ein junger,
käsiger Mann mit Brille durch die Menge und sagte, er spreche ein
bißchen englisch und ob er helfen könne.
Wir bedankten uns und sagten ja, wir
wollten Kondome kaufen, Übergummis, und wären ihm sehr dankbar,
wenn er das für uns erklären könne.
Er warf uns einen verwirrten Blick
zu, nahm das von uns abgelehnte Päckchen vom Tisch vor der
gekränkten Verkäuferin und sagte: »Nicht wollen Übergummi. Das
besser.«
»Nein«, sagte Mark. »Wir wollen
unbedingt Übergummi, keine Pillen.«
»Warum wollen Übergummi? Pillen
besser.«
»Sag du's ihm«, sagte
Mark.
»Um Delphine aufzunehmen«, sagte ich.
»Also, eigentlich nicht die Delphine selbst. Was wir vorhaben, ist,
die Geräusche im Yangtse aufzunehmen, im ... Sehen Sie, wir
brauchen eins, um es über das Mikrofon zu ziehen
und...«
»Ach, erzähl ihm doch einfach, daß du
jemanden flachlegen willst«, murmelte Chris auf schottisch. »Und
daß du's nicht mehr aushältst.«
Aber inzwischen wich der junge Mann
schon nervös vor uns zurück, plötzlich begreifend, daß wir
gemeingefährliche Irre waren, denen man am besten jeden Gefallen
tat und dann aus dem Weg ging. Er raunte der Verkäuferin etwas zu
und zog sich eilig in die Menge zurück.
Die Verkäuferin zuckte die Achseln,
sackte die Pillen wieder ein, öffnete eine andere Schublade und zog
eine Schachtel mit Kondomen heraus.
Wir kauften neun, nur um
sicherzugehen.
»Die haben auch Rasierwasser«, sagte
Mark, »Falls es dir ausgeht.«
Nachdem es mir bereits gelungen war,
eine der Rasierwasserflaschen im Hotel in Peking wegzuwerfen,
versteckte ich im Zug nach Nanking eine weitere unter meinem
Sitz.
»Weißt du eigentlich, was du da
tust?« sagte Mark, als er mich dabei erwischte. Ich hatte geglaubt,
er schlafe.
»Ja. Ich versuche, diese blöden
Dinger loszuwerden. Hätte ich das Zeug bloß nie
gekauft.«
»Nein, es steckt mehr dahinter. Ein
Tier, das in einem neuen Territorium herumstreunt, einem, mit dem
es nicht vertraut ist, markiert seinen Weg mit Düften, um es für
sich zu beanspruchen. Erinnerst du dich an die ringelschwänzigen
Lemuren auf Madagaskar? Die haben Duftdrüsen an den Handgelenken.
Sie reiben ihre Schwänze zwischen den Handgelenken und schwenken
die Schwänze dann durch die Luft, um den Duft zu verteilen und das
Territorium so für besetzt zu erklären. Deswegen pinkeln Hunde auch
an Laternenpfähle. Du tust nichts weiter, als deinen Weg durch
China mit Duftmarkierungen zu versehen. Alte Gewohnheiten sind
schwer totzukriegen.«
»Weiß einer von euch zufällig«,
fragte Chris, der seit ungefähr einer Stunde, schläfrig gegen das
Fenster gelümmelt, dagelegen hatte, »wie Nanjing auf chinesisch
ungefähr aussieht? Ich frag bloß, damit wir's wissen, wenn wir da
sind.«
In Nanking konnten wir zum erstenmal
einen Blick auf den Fluß werfen. Obwohl Shanghai als Tor zum
Yangtse gilt, liegt es in Wirklichkeit nicht am Yangtse selbst,
sondern an einem damit verbundenen Fluß namens Huangpu. Nanking
liegt direkt am Yangtse.
Es ist eine finstere Stadt, oder
zumindest kam sie uns so vor. Das Gefühl, in die Fremde verschlagen
zu sein, bekam uns fester in den Griff. Die Menschen hier, die wir
restlos undurchschaubar fanden, starrten uns entweder an oder
ignorierten uns. Ich mußte an ein Gespräch denken, das ich auf dem
Flug nach Peking mit einem Franzosen geführt hatte.
»Es ist schwierig, mit den
chinesischen Menschen ins Gespräch zu kommen«, hatte er gesagt.
»Was einerseits an der Sprache liegt, sofern man nicht chinesisch
spricht, aber auch daran, daß sie wirklich sehr, sehr viel hinter
sich haben. Deswegen halten sie es für sicherer, einen zu
ignorieren. Man zahlt ihnen dasselbe, ob sie nun mit einem reden
oder nicht, also... pfffft. Kann schon sein, daß sie vielleicht ein
bißchen mehr reden, wenn man sie besser kennt, aber...
pfffft.«
Das Gefühl, entwurzelt zu sein, wurde
durch das Jing Ling, ein im Stadtzentrum befindliches, größeres
Hochhaushotel im westlichen Stil, verstärkt. Es war ein
unpersönlich riesiges, konferenztaugliches,
Drehtür-und-Atrium-beherrschtes, modernes Hotel von der Sorte, die
ich grundsätzlich von ganzem Herzen hasse, aber plötzlich erschien
es uns wie eine Oase.
Wie Ratten aus einem sinkenden Schiff
machten wir uns schnurstracks auf den Weg zur Bar im obersten
Stockwerk und verschanzten uns hinter einer Schar von
Gin-Tonic-Gläsern. Nachdem wir etwa zwanzig Minuten in dieser
unerwartet vertrauten Umgebung verbracht hatten, stellten wir beim
Betrachten der riesigen, fremden, düsteren Stadt durch die
Panoramafenster fest, daß wir alle uns wie Astronauten in einem
monströsen Lebenserhaltungssystem fühlten, die auf das feindliche
und unfruchtbare Terrain eines unbekannten Planeten
hinabsahen.
Wir alle wurden plötzlich von dem
Wunsch gepackt, nicht mehr nach da draußen gehen, uns nicht mehr
anstarren, ignorieren und anspucken oder Fahrräder in unsere
Privatsphäre eindringen lassen zu müssen. Unglücklicherweise waren
im Jing Ling keine Zimmer frei, und so wurden wir in die Nacht
hinausgeworfen, um in einem wirklich finsteren, verfallenen Hotel
am Stadtrand unterzukommen, wo wir mal wieder dasaßen und über die
Delphine und darüber nachdachten, wie wir unsere Aufnahmen machen
sollten.
An einem grauen, nieselregnerischen
Tag standen wir am Ufer des Yangtse und blickten auf das große,
vorbeiströmende Meer aus Schlick, das sich träge aus Chinas
Innerstem ergießt. Der einzige Farbklecks in der finsteren, von
dunkelbraun zu grau übergehenden Landschaft, vor der die langen,
schwarzen, rauchspeienden Silhouetten der dieselgetriebenen
Dschunken den Fluß hinaufstampften und -brummten, war ein kleines
zugeknotetes rosa Kondom, das schlaff am Ende eines an Chris'
Bandgerät befestigten Kabels baumelte. Das gedämpft an unsere Ohren
dringende Vorbeizischen unsichtbarer Fahrradmassen klang wie
Hufgetrappel in der Ferne. Von hier aus betrachtet, erschien uns
unsere Verwirrung in Shanghai wie eine verschwommene, angenehme
Erinnerung an zu Hause.
Da der Fluß am Ufer für unser
Klangexperiment nicht tief genug war, stapften wir durch den
stärker werdenden Regen auf die Docks zu, um nach einer tieferen
Stelle zu suchen.
Wir erwiderten die gelegentlichen,
hartnäckigen Rufe von Fahrradrikschas mit einem Kopfschütteln,
schon viel zu tief in unsere düstere Stimmung versunken, um eine
Erleichterung überhaupt noch in Betracht ziehen zu
können.
Wir fanden eine vorübergehend
verlassene, am knarrenden Dock herumlungernde Passagierfähre und
stapften mühsam über die Gangway. Die Fähren sind große, klotzige
Fünfdecker-Keile, die sich tagtäglich – jeweils mit mindestens
tausend eingeklemmten, Richard-Clayderman-beschallten Passagieren
an Bord – wie monströse, fleckige Zitronentortenstücke den Yangtse
rauf- und runterquälen. Durch eine Reihe von Schotten gelangten wir
auf ein über dem Wasser liegendes Deck, von dem aus Chris einige
hoffnungslose Versuche unternahm, das kleine rosa Ding mit dem
Knopfmikrofon in die trüben Fluten zu schlenkern. Zunächst kam es,
vom Winde verweht, überhaupt nicht bis nach unten und trieb dann,
als es endlich ins Wasser fiel, dreist auf der
Oberfläche.
Unter uns war ein weiteres Deck, das
jedoch, wie sich herausstellte, nicht ganz leicht zu finden war –
das Innenleben des Bootes leitete uns ununterbrochen mit
verriegelten Türen um. Am Ende entkamen wir dem Irrgarten und
betraten erneut ein über dem Wasser gelegenes Deck, diesmal einige
Meter tiefer.
Das Mikrofon weigerte sich weiterhin
beharrlich, in den dickflüssigen, braunen Fluten zu versinken, bis
wir es mit meinem Hotelzimmerschlüssel aus Peking beschwerten, den
ich versehentlich mitgenommen hatte. Das Mikro machte sich, in sein
Kondom gehüllt, auf den Weg in die Tiefe, und Chris begann mit der
Aufnahme.
Ein Boot nach dem anderen kroch
donnernd an uns vorbei über den Fluß. Es waren größtenteils sechs
bis zehn Meter lange, rußgeschwärzte Dschunken, deren kleine
Besatzungen uns manchmal mit verwirrter Neugier und manchmal
überhaupt nicht ansahen. Am Heck jeder Dschunke rüttelte und
brüllte ein betagter Dieselmotor, der schwarze Wolken in die Luft
stieß und die Schraube im Wasser antrieb.
Nachdem wir einige Minuten auf Deck
verbracht hatten, tauchte plötzlich ein Mitglied der
Fährenbesatzung auf und zeigte sich überrascht, uns dort
anzutreffen. Wir verstanden natürlich kein Mandarin, aber die Frage
»Was, zum Teufel, macht ihr denn da?« hat in jeder Sprache einen
vertrauten Klang.
Allein die Vorstellung, einen
Erklärungsversuch für unser Verhalten zu unternehmen, gab uns den
Rest. Wir einigten uns darauf, ihm mit Hilfe von eindeutigen
mimischen Bemühungen und symptomatischem Gelächter klarzumachen,
daß wir völlig irre wären. Es klappte. Er schluckte es, hing aber
trotzdem weiterhin im Hintergrund herum, um uns im Auge zu
behalten. Schließlich zerrte Chris unsere Vorrichtung aus dem
Wasser nach oben, trocknete sie ab und zeigte sie ihm. Als der
Matrose erkannte, daß es ein Kondom war, das wir im Wasser hatten
herumbaumeln lassen, schien ihm ein Licht aufzugehen.
»Ah!« sagte er. »Ficky ficky!« Er
grinste glückselig und stieß sich den rechten Zeigefinger ein
paarmal in die geballte linke Hand. »Ficky ficky!«
»Ja«, stimmten wir ihm zu. »Ficky
ficky.«
Hocherfreut über diese endgültige
Klärung, marschierte er davon und ließ uns mit der Aufnahme allein,
die wir uns abwechselnd über Kopfhörer anhörten.
Was wir hörten, waren nicht genau die
Geräusche, die wir erwartet hatten. Da sich Wasser bestens zur
Ausbreitung von Schallwellen eignet, hatte ich damit gerechnet, den
schweren, hämmernden Widerhall der Boote deutlich zu hören, die an
uns vorbeigestampft waren. Aber weil das Wasser den Schall so gut
überträgt, hörten wir mehr, das heißt alles, was; in der Umgebung
von vielen, vielen Meilen im Yangtse passierte. Es war ein
grandioses, kakaphonisches Durcheinander.
Was wir statt des Dröhnens jeder
einzelnen Schiffsschraube hörten, war ein unaufhörliches, gellendes
Schmettern, in dem man nichts, überhaupt nichts auseinanderhalten
konnte.
Zum Glück existierte Professor Zhou
wirklich. Und er existierte nicht nur, sondern war, als Mark ihn an
der Universität von Nanking besuchen ging (ich war an dem Tag
krank), sogar anwesend und erklärte sich bereit, vorbeizukommen und
mit uns im Jing-Ling-Hotel zu Abend zu essen (bis dahin ging es mir
wieder besser, weil das Restaurant ziemlich gut war.)
Er war ein kultivierter,
freundlicher, ungefähr sechzigjähriger Mann. Er wies uns gnädig in
die ungewohnte Speisekarte ein und machte uns mit einer örtlichen
Spezialität bekannt, der sogenannten Nanking-Ente. Was, wie sich
herausstellte, einer Peking-Ente annähernd entsprach
(beziehungsweise »Beijing-Ente«, wie man heute sagt – oder, um
absolut genau zu sein, Szechwan-Ente, was genau das ist, was wir
jahrelang unter dem Namen »Peking-Ente« gegessen haben. Man hatte
uns in Peking eine wunderbare Szechwan-Ente aufgetischt, weil man
in Peking Szechwan-Ente ißt. »Peking-Ente« ist etwas anderes und
wird in zwei Gängen aufgetragen, von denen man den zweiten
normalerweise vernachlässigen kann.) Um das Ganze zu beenden: Wie
sich zeigte, hatte die Nanking-Ente sehr viel Ähnlichkeit mit einer
Peking-Ente, abgesehen davon, daß das ganze Ding durch das
Auftragen einer festen, zentimeterdicken Salzschicht ungenießbar
wird. Professor Zhou gab zu, daß die Ente auf diese Art und Weise
nicht annähernd so angenehm schmecke, aber so werde sie in Nanking
nun mal zubereitet.
Professor Zhou hieß uns in China
willkommen, zeigte sich überrascht und erfreut, daß wir einen so
weiten Weg auf uns genommen hatten, um uns die Delphine anzusehen,
sagte, er werde alles in seinen Kräften Stehende tun, um uns zu
helfen, glaube aber nicht, daß es uns etwas nützen werde. In China
sei alles ein bißchen schwierig, vertraute er uns an. Er versprach
zu versuchen, die Leute vom Delphin-Projekt anzurufen und ihnen
unsere Ankunft anzukündigen, hielt das aber nicht für besonders
aussichtsreich, weil er sie, unabhängig von unserem Besuch, schon
seit Wochen zu erreichen versuchte.
Er sagte, ja, wir hätten recht. Der
Lärm im Yangtse sei ein ernstzunehmendes Problem für die Delphine
und beeinträchtige ihre Echopeilung erheblich. Die Delphine hätten
es sich angewöhnt, beim Klang eines Bootes weit zu tauchen, unter
Wasser die Richtung zu wechseln, unter dem Boot hindurchzuschwimmen
und hinter ihm wieder an die Oberfläche zu kommen. Wenn sie jetzt
unter dem Boot seien, gerieten sie durcheinander und tauchten zu
früh wieder auf, genau unter den Schiffsschrauben.
All diese Veränderungen seien sehr
plötzlich eingetreten, sagte er. Der Yangtse sei für Millionen
Jahre unverschmutzt geblieben, die Wasserqualität habe sich jedoch
in den letzten paar Jahren dramatisch verschlechtert, und den
Delphinen sei keine Zeit geblieben, sich umzugewöhnen.
Daß es die Delphine überhaupt gab,
war erst seit relativ kurzer Zeit bekannt. Die Fischer hatten schon
immer von ihnen gewußt, aber Fischer unterhielten sich nicht oft
mit Zoologen, und in der chinesischen Geschichte habe es außerdem
eine schmerzliche Phase gegeben, in der niemand mit irgendwelchen
Wissenschaftlern gesprochen, sondern sie bloß wegen des Tragens von
Brillen ständig bei der Partei denunziert hatte.
Der erste Delphin wurde 1914
entdeckt, nicht im Yangtse, sondern im Dongting-See, als ein zu
Besuch in China weilender Amerikaner ihn tötete und mit zurück ans
Smithsonian Institut nahm. Unbestreitbar hatte man es mit einer
neuen Flußdelphinart zu tun, aber darüber hinaus interessierte sich
niemand sonderlich für die Tiere.
Als Professor Zhou dann in den späten
fünfziger Jahren von einer Feldforschungsreise, auf der er Vögel
studiert hatte, zurückkehrte, erwartete ihn ein nicht
klassifiziertes Skelett. Es handelte sich um die gleiche
Delphinspezies, nur daß dieses Exemplar nicht im Dongting-See
entdeckt worden war, wo die Art nicht mehr existierte, sondern im
Yangtse.
Er befragte einige der ortsansässigen
Fischer, die sagten, sie würden ab und zu einen Delphin sehen. Und
daß sie die versehentlich gefangenen als Futter verkauften.
Diejenigen, die sich in den Angelleinen verfingen, mußten lange
leiden, denn die Leinen, die die Fischer an den Ufern des Yangtse
traditionell verwenden, sind mit Hunderten von langen, blanken
Haken gespickt.
Im Umkreis von Nanking wurden eine
Reihe von Untersuchungen durchgeführt, aber für einige Zeit
beendete dann die Kulturrevolution all diese Aktivitäten. Die
Forschungen wurden in den siebziger Jahren wieder aufgenommen,
blieben aber wegen der enormen Kommunikationsprobleme in China
örtlich begrenzt, so daß niemand wirklich genau sagen konnte, wie
selten das Tier tatsächlich war oder in was für einer mißlichen
Lage es sich befand.
Das änderte sich 1984.
Einige Bauern fanden ein Stück
stromaufwärts von Tonking einen gestrandeten Baiji im seichten
Wasser. Sie meldeten den Fund der Landwirtschaftlichen Kommission
der Kommunalregierung von Tongling, wo man sich der Sache annahm
und jemanden losschickte, sich den Fisch anzusehen.
Das förderte unverzüglich eine ganze
Menge Dinge zutage.
Alle möglichen Leute tauchten
plötzlich auf und sagten, sie hätten auch einen Delphin gesehen,
der von einem Boot gerammt, in einem Netz gefangen oder irgendwo
als blutiges Schlamassel angeschwemmt worden sei.
Das Gesamtbild, das sich aus all
diesen Einzelinformationen ergab, war alarmierend. Sehr schnell
wurde erschreckend deutlich, daß dieser Delphin nicht nur selten,
sondern akut vom Aussterben bedroht war.
Professor Zhou wurde aus Nanking
hinzugezogen, um die weiteren Schritte festzulegen. An dieser
Stelle nimmt die Geschichte eine ungewöhnliche und dramatische
Wendung, denn nachdem er die weiteren Schritte festgelegt hatte ...
folgten die Einwohner von Tongling seinen Anweisungen.
Innerhalb von Monaten wurde ein
gewaltiges Projekt mit dem Ziel in Angriff genommen, im Yangtse ein
Schutzgebiet für die Delphine einzurichten, das heute, fünf Jahre
später, nahezu fertig ist.
»Das sollten Sie sich ansehen«, sagte
Professor Zhou. »Es ist sehr gut. Ich werde alles tun, um Ihr
Kommen dort telefonisch anzukündigen, also können Sie ruhig... wie
sagt man?«
Ich sagte, »ruhig« klinge in meinen
Ohren prima. Gegen Ruhe hatte ich absolut nichts
einzuwenden.
»Gewiß? Bestimmt? Ah... sicher. Sie
können daher ruhig sicher sein, daß man sie nicht erwarten wird.
Also werde ich Ihnen auch noch einen Brief mitgeben.«
Aus mehreren Gründen, die damit
zusammenhingen, daß wir einen Umweg machten, um uns eine
Alligatorfarm anzusehen, von der wir dann von der Polizei weggejagt
wurden, weil wir nicht die erforderlichen Alligator-Passierscheine
hatten, nahmen wir letztendlich ein Taxi nach Tongling, eine
Strecke von höchstens hundertzwanzig Meilen. Was das Taxi betraf,
hatten wir eine besondere Vereinbarung getroffen. Teil dieser
Vereinbarung war, daß wir keinen besonders guten Fahrer hatten und
das Taxi auch nicht besser war; wir erreichten Tongling in eher
angespannter Verfassung.
Ausländer dürfen in China nicht Auto
fahren, und die Gründe liegen auf der Hand. Die Chinesen fahren
oder radeln nach Gesetzen, die für einen nichteingeweihten
Betrachter einfach undurchschaubar sind, wobei ich nicht nur an die
Gesetze der Straßenverkehrsordnung denke, sondern auch an die
Gesetze der Physik. Gegen Ende unseres Aufenthaltes in China hatte
ich mich damit abgefunden, daß der eigene Chauffeur, wenn er hinter
einem anderen Wagen oder Laster auf einer zweispurigen Straße fährt
und ihm zwei andere Fahrzeuge entgegenkommen, von denen eins gerade
das andere überholt, unverzüglich ebenfalls ausschert und zum
Überholen ansetzt. Wundersamerweise geht es letztlich immer
gut.
Nicht gewöhnen konnte ich mich
allerdings an folgende Situation: Das Fahrzeug vor einem überholt
das Fahrzeug davor, und der eigene Chauffeur schert aus und
überholt das überholende Fahrzeug genau in dem Moment, da einem
drei andere Fahrzeuge entgegenkommen, die das gleiche Manöver
veranstalten. Man darf wohl davon ausgehen, daß Sir Isaac Newton
schon vor langer Zeit als bourgeoiser, kapitalistischer
Speichellecker enttarnt worden ist.
In Tongling angekommen, übermannte
uns wiederum eine wehmütige Sehnsucht nach der fröhlichen,
vertrauten Behaglichkeit von Nanking.
Um die Empfangsbroschüre für
Touristen zu zitieren, die ich in meinem kahlen Hotelzimmer
vorfand: »Als aufstrebende industrielle Bergbaustadt hat Tongling
bereits die Gründung etlicher Nichteisenmetall-Hütten, Chemie-,
Textilmaterial-, Elektronik- und Maschinenbau-Industrien sowie
eisen-, stahl- und kohleverarbeitender Betriebe erlebt; besonders
die nichtmetallischen, verhütteten Baustoffe und die chemische
Industrie tragen bei unverändert besten Entwicklungsaussichten dazu
bei, Tongling zum Hauptproduktionszentrum der Region zu
machen.«
Tongling war nicht schön. Es war ein
öder, grauer, abweisender Ort, und ich faßte unverzüglich den Plan,
hier eine territoriale Rasierwassermarkierung
abzuschlagen.
Ich nahm die Broschüre mit und traf
mich im ebenfalls kahlen Restaurant des Hotels mit Mark und Chris.
Wir waren Vorschlägen gegenüber, zumindest was das chinesische
Essen betraf, bisher sehr aufgeschlossen und bereit, manchmal
geradezu verwegen bereit gewesen, alles zu essen, was man uns
vorsetzte. Vieles war köstlich gewesen, vieles weniger und einiges
für einen westlichen Gaumen eher erschreckend.
Das Hotelessen in Tongling fiel
eindeutig in die erschreckende Kategorie, auch und vor allem die
Tausendjährigen Eier. Die Bezeichnung ist natürlich nicht wörtlich
zu verstehen, sondern bloß als eine Art Hinweis darauf, wie
erschreckend sie sind.
Die Eier werden in grünem Tee
angekocht und dann drei Monate lang in einer Packung aus Schlamm
und Stroh begraben. In dieser Zeit wird das Eiweiß hellgrün und
fest, und das Eigelb wird sehr, sehr dunkelgrün und matschig.
Erschreckend ist daran, daß man sie anschließend als Delikatesse
vorgesetzt bekommt, während man, wenn man so was zu Hause in der
Speisekammer fände, erst mal ein paar Fachleute zu Rate ziehen
würde. Wir kämpften ein bißchen mit dem Gericht, gaben es
schließlich auf und sahen die Broschüre noch einmal durch, in der
ich einen weiteren Abschnitt entdeckte: »Bereits beschlossen wurde
die Schaffung eines Wasserschutzgebietes im Yangtse-Fluß, um den
Lipotes vexillifer, eine äußerst
seltene Säugetiergattung zu schützen, die heute als ›Panda des
Wassers‹ angesehen wird.«
»Hast du dir mal das Bier angesehen,
das du da trinkst?« fragte mich Mark.
Ich betrachtete die Flasche. Es hieß
»Baiji-Bier«. Auf dem Etikett war ein Delphinbild, und auf dem
Deckel stand sein lateinischer Name, Lipotes
vexillifer.
»Als wir heute nachmittag in die
Stadt gefahren sind, ist mir noch ein anderes Hotel aufgefallen«,
sagte Chris. »Ich hab gedacht, das ist ja ein ziemlich komischer
Zufall, es heißt Baiji-Hotel. Sah einen Hauch besser aus als diese
Bruchbude.«
Aber auch wenn wir nicht im richtigen
Hotel waren, so doch jedenfalls am richtigen Ort.
Ein weiterer Tag verging, bevor wir
mit Hilfe von Professor Zhous Schreiben einen englischsprechenden
Führer und ein kleines Boot auftreiben konnten, um endlich zu tun,
weshalb wir gekommen waren: auf den Yangtse hinausfahren und selbst
nach Baiji-Delphinen suchen.
Bis zu diesem Zeitpunkt lagen wir
bereits zwei oder drei Tage hinter unserer ursprünglichen Planung
zurück und mußten am nächsten Morgen mit einer Fähre nach Wuhan
aufbrechen. Uns blieben folglich nur ein paar Stunden Zeit, nach
einem der seltensten im Wasser lebenden Säugetiere der Welt zu
suchen, und zwar in einem Fluß, in dem man kaum die Hand vor Augen
sehen konnte.
Unser kleines Boot tuckerte von einem
kleinen, überlaufenen Kai hinaus zu einer breiten Stelle des
dreckig-braunen Flusses. Wir fragten Mr. Ho, unseren Führer, wie er
unsere Erfolgsaussichten einschätze.
Er zuckte die Achseln.
»Na ja, es leben nur zweihundert
Baijis auf diesen zweitausend Kilometern. Und der Yangtsee ist sehr
breit. Nicht gut, glaube ich.«
Wir tuckerten für einige Zeit dahin
und fuhren am gegenüberliegenden Ufer entlang langsam zwei
Kilometer flußaufwärts. Dort war das Wasser seichter, und es
herrschte kein so starker Bootsverkehr. Aus genau diesem Grund
halten sich auch die Delphine bevorzugt in Ufernähe auf, womit ihre
Chancen steigen, sich in den Fischernetzen zu verfangen, die, wie
wir im Vorbeifahren sahen, von am Ufer stehenden Bambusspanten ins
Wasser hingen. Die Fischbestände im Yangtse nehmen ab, und bei all
dem Krach fällt es den Delphinen immer schwerer, die verbliebenen
Fische zu »sehen«. Ich konnte mir gut vorstellen, daß sich ein
Delphin von einem Netz voller Fische in Lebensgefahr locken
ließ.
Wir erreichten eine vergleichsweise
ruhige Stelle in Ufernähe, und der Bootsführer schaltete den Motor
aus.
Mr. Ho erklärte uns, dies sei eine
gute Stelle zum Warten. Vielleicht. Hier waren vor kurzem Delphine
gesehen worden. Er sagte, das könne vorteilhaft sein oder auch
nicht. Entweder seien sie hier, weil sie vor kurzem hiergewesen
seien, oder sie seien nicht hier, weil sie vor kurzem hiergewesen
seien. Damit schienen alle Möglichkeiten erschöpft, also setzten
wir uns und warteten.
Die ungeheure Ausdehnung des Yangtse
wird einem besonders bewußt, wenn man ihn sorgfältig zu beobachten
versucht. Welchen Abschnitt? Wo? Eine leichte Brise wehte,
kräuselte die Oberfläche, und nachdem wir den Fluß bloß ein paar
Minuten lang betrachtet hatten, begannen unsere Augen zu flattern.
Jeder flüchtige schwarze Schatten einer tanzenden Welle sieht im Nu
aus wie das, was man sehen möchte, und ich hatte nicht mal ein
vernünftiges Bild dessen vor meinem geistigen Auge, wonach ich
eigentlich Ausschau halten sollte.
»Weißt du, wie lange sie an der
Oberfläche bleiben?« fragte ich Mark.
»Ja...«
»Und?«
»Sieht nicht gut aus. Der Delphin
durchstößt die Oberfläche zuerst beim Blasen, mit der ›Fettlinse‹
seiner Stirn, dann kommt seine kleine Rückenflosse hoch, und dann
taucht er wieder weg.«
»Und wie lange dauert
das?«
»Nicht mal eine
Sekunde.«
»Oh.« Das mußte ich erst mal
verdauen. »Dann werden wir wohl kaum einen zu sehen kriegen,
stimmt's?«
Mark wirkte deprimiert. Seufzend
öffnete er eine Dose Baiji-Bier und nahm einen kräftigen, eher
komplizierten Schluck, um die Augen nicht vom Wasser wenden zu
müssen.
»Na, vielleicht sehen wir ja
wenigstens einen finnenlosen Schweinswal«, sagte er.
»Die sind nicht so selten wie die
Delphine, oder?«
»Na ja, sie sind im Yangtse nicht
ernsthaft bedroht. Man schätzt, daß es noch ungefähr vierhundert
gibt. Sie haben hier die gleichen Probleme, nur kommen sie auch in
den chinesischen Küstengewässern und weiter westlich vor, bis rüber
nach Pakistan, sind also als Art nicht so akut gefährdet. Sie sehen
wesentlich besser als der Baiji, deswegen kann man davon ausgehen,
daß sie noch nicht solange existieren. Da! Da ist einer! Ein
finnenloser Schweinswal!«
Ich kam gerade noch rechtzeitig, um
einen schwarzen Umriß ins Wasser zurückfallen und verschwinden zu
sehen. Er war weg.
»Finnenloser Schweinswal!« rief Mr.
Ho uns zu. »Haben Sie gesehen?«
»Ja, haben wir, danke!« sagte
Mark.
»Woher wußtest du, daß es ein
finnenloser Schweinswal war?« fragte ich ziemlich
beeindruckt.
»Aus zwei Gründen, wenn man's
genaunimmt. Zum einen konnten wir ihn richtig erkennen. Er ist hoch
aus dem Wasser aufgestiegen. Finnenlose Schweinswale tun so was.
Baijis tun es nicht.«
»Du meinst, wenn man ihn richtig
erkennt, muß es ein finnenloser Schweinswal sein.«
»So ungefähr.«
»Und was ist der andere
Grund?«
»Na, er hatte keine
Finne.«
Eine Stunde verstrich. Ein paar
hundert Meter von uns entfernt brummten große Frachtschiffe und
Barkassen den Fluß hinauf. Ein Ölfleck trieb an uns vorbei. Hinter
uns flatterten die Fischernetze im Wind. Ich dachte, daß der
Begriff »gefährdete Art« zu einer Phrase geworden war, die keine
lebendige Bedeutung mehr hatte. Man hört es einfach zu oft, um noch
unbelastet darauf reagieren zu können.
Als ich dem Wind beim Kräuseln der
galligen Yangtse-Oberfläche zusah, wurde mir mit schmerzhafter
Deutlichkeit bewußt, daß irgendwo unter mir oder um mich herum
intelligente Lebewesen, deren Wahrnehmungswelt wir uns nicht einmal
andeutungsweise vorstellen können, in einer gärenden, vergifteten,
betäubenden Welt lebten und daß sie ihr Leben höchstwahrscheinlich
in ständiger Verwirrung, ständigem Hunger, ständigem Schmerz und
ständiger Furcht verbrachten.
Wir erlebten keinen Delphin in freier
Wildbahn. Wir wußten, daß wir uns zumindest einen würden ansehen
können, denjenigen, der als einziger seiner Art im
Hydrobiologischen Institut in Wuhan in Gefangenschaft gehalten
wird, waren aber trotzdem deprimiert und enttäuscht, als wir am
frühen Abend in unser Hotel zurückkehrten.
Dort stellten wir umgehend fest, daß
es Professor Zhou schließlich doch gelungen war, jemanden wegen
unserer Ankunft zu alarmieren, und wurden zu unserer Überraschung
von einer ungefähr zwölfköpfigen Delegation des Tongling Baiji
Conservation Committee der Kommunalverwaltung von Tongling
begrüßt.
Leicht verdattert wegen dieses
unerwarteten, offiziellen Interesses, wo wir uns gerade darauf
eingestellt hatten, uns gemütlich in ein Bier zu vertiefen, wurden
wir in einen großen Sitzungssaal des Hotels geführt und zu einem
großen Tisch geleitet. Etwas besorgt, nahmen wir neben einem extra
zu diesem Anlaß herbeigeschafften Dolmetscher an der einen
Tischseite Platz, während sich die Mitglieder des Komitees auf der
anderen Seite formierten.
Für einen Augenblick saßen sie still
da, alle mit vor sich auf dem Tisch ordentlich aufeinandergelegten
Händen, und sahen uns distanziert an. Kurzzeitig schwirrte mir die
Halluzination im Kopf herum, wir würden gleich die Anklageschrift
eines ideologischen Tribunals zu hören bekommen, aber dann ging mir
auf, daß ihr distanziertes, förmliches Verhalten vermutlich nur
bedeutete, daß sie uns gegenüber mindestens so gehemmt waren wie
wir ihnen gegenüber.
Einige von ihnen hatten eine Art
grauen Uniformrock an, einer trug den alten, blauen maoistischen
Waffenrock, die anderen waren zwangloser gekleidet. Ihr Alter
reichte von etwa Mitte Zwanzig bis Mitte Sechzig.
»Das Komitee heißt Sie in Tonling
willkommen«, begann der Dolmetscher, »und fühlt sich durch Ihren
Besuch geehrt.« Er stellte sie der Reihe nach vor, woraufhin die
Genannten uns jeweils mit einem leicht nervösen Lächeln zunickten.
Einer war der stellvertretende Leiter des Projekts, ein anderer der
leitende Schriftführer der Gesellschaft, ein anderer der
stellvertretende leitende Schriftführer und so weiter.
Ich saß mit dem Gefühl da, daß wir
mitten in einem gigantischen Mißverständnis steckten, und gab mir
alle erdenkliche Mühe, intelligent auszusehen und mir nicht
anmerken zu lassen, daß ich bloß ein
Science-Fiction-Komödienschreiber auf Urlaub war.
Mark hingegen schien sich absolut
wohl zu fühlen. Er erklärte kurz und bündig, wer wir waren, ließ
dabei den Teil mit der Science-Fiction-Komödie aus, umriß Sinn und
Gegenstand unseres Projekts, schilderte, weshalb wir uns für den
Baiji interessierten, und stellte ihnen eine intelligente
Eröffnungsfrage zum Bau des Schutzgebietes.
Meine Anspannung ließ nach.
Natürlich, wurde mir klar, war es ein fester Bestandteil von Marks
Art und Weise, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, geistreich in
ihm unbekannten Sprachen mit großen Komitees über Schutzprojekte zu
sprechen.
Sie erkärten uns, das
Delphin-Schutzgebiet sei ein sogenanntes »halbnatürliches
Schutzgebiet«. Das angestrebte Ziel sei, die Tiere in einem
eingegrenzten Bereich zu halten, ohne sie aus ihrer natürlichen
Umgebung zu entfernen.
Ein Stück flußaufwärts von Tongling,
gegenüber der Stadt Datong, befindet sich eine ellenbogenförmige
Flußbiegung. In der Beuge dieses Ellenbogens liegen zwei dreieckige
Inseln, zwischen denen sich ein Kanal gebildet hat. Der Kanal ist
ungefähr eineinhalb Kilometer lang, fünf Meter tief und zwischen
vierzig und zweihundert Meter breit, und genau dieser Kanal wird
das halbnatürliche Schutzgebiet der Delphine sein.
An beiden Enden des Kanals werden zur
Zeit Zäune aus Bambus und Metall errichtet, durch die das Wasser
des Hauptflusses ununterbrochen strömen kann. Um das zu
bewerkstelligen, müssen gewaltige Umbauarbeiten vorgenommen werden.
Auf einer der beiden Inseln werden eine große Tierklinik und
Auffangbecken zum Halten verletzter oder frisch gefangener Delphine
errichtet. Auf der anderer entsteht eine Fischfarm, um ihnen
Nahrung zu bieten.
Es ist ein enorm umfangreiches
Projekt.
Es ist sehr, sehr kostspielig, sagte
das Komitee feierlich und dabei könne man nicht einmal sicher sein,
daß es funktionieren werde. Trotzdem müßten sie es versuchen. Der
Baiji, erklärten sie uns, bedeute ihnen sehr viel, und es sei ihre
Pflicht, ihn zu schützen.
Mark fragte sie, wie in aller Welt
sie das Geld dafür aufgetrieben hätten. Alles sei in so unglaublich
kurzer Zeit in dis Tat umgesetzt worden.
Ja, sagten sie, wir mußten sehr, sehr
schnell arbeiten.
Sie hatten das Geld aus vielen
Quellen bekommen. Ein beträchtlicher Anteil stammte von der
Zentralregierung und die Kommunalregierung hatte sogar noch etwas
mehr beigesteuert. Außerdem waren große Summen von der Menschen und
von Firmen aus der Gegend gespendet worden.
Darüber hinaus, sagten sie etwas
zögernd, hätten sie begonnen, sich mit Öffentlichkeitsarbeit zu
beschäftigen, und würden es sehr begrüßen, wenn wir uns dazu
äußerten. Chinesen verstünden wenig von solchen Dingen, während wir
als Leute aus dem Westen, doch gewiß Experten wären.
Zuerst, sagten sie, hatten sie die
örtliche Brauerei überredet, den Baiji als ihr Markenzeichen zu
verwenden. Ob wir Baiji-Bier probiert hätten? Es sei ein gutes Bier
und heute in ganz China sehr beliebt. Danach waren andere gefolgt.
Das Komitee hatte begonnen...
An dieser Stelle stießen wir auf ein
geringfügiges Vokabelproblem, und erst nach einer kurzen Diskussion
mit dem Dolmetscher kam die richtige Formulierung schließlich zum
Vorschein.
Sie hatten begonnen,
Lizenzvereinbarungen zu treffen. Ortsansässige Firmen mußten Geld
in das Projekt investieren und durften im Gegenzug das Baiji-Symbol
verwenden, das dadurch seinerseits wieder für eine gute Publicity
für den Baiji-Delphin sorgte.
Und so gab es mittlerweile nicht nur
Baiji-Bier, sondern auch ein Baiji-Hotel, Baiji-Schuhe, Baiji-Cola,
Baiji-computergesteuerte-Waagen, Baiji-Toilettenpapier,
Baiji-Phosphordüngemittel und Baiji-Bentonit.
Bentonit kannte ich nicht, also
fragte ich, was das sei.
Sie erläuterten, Bentonit sei ein
Bergbauprodukt, das man zur Herstellung von Zahnpasta, beim Eisen-
und Stahlgießen sowie als Zusatz für Schweinefutter verwende.
Baiji-Bentonit sei ein sehr erfolgreiches Produkt. Ob wir, als
Experten, ihre Öffentlichkeitsarbeit für gut hielten?
Wir sagten, sie sei ganz wunderbar,
und gratulierten ihnen.
Es freue sie sehr, sagten sie, das
von westlichen Experten zuhören.
Wir waren wegen dieser Lobpreisungen
mehr als nur ein bißchen beschämt. Es war kaum vorstellbar, daß man
irgendwo in der westlichen Welt imstande wäre, mit einer solch
sagenhaften Geschwindigkeit, Phantasie und gemeinschaftlichen
Entschlossenheit auf ein derartiges Problem zu reagieren. Obwohl
uns das Komitee mitgeteilt hatte, man hoffe, nachdem Tongling vor
kurzem zum erstenmal für Besucher geöffnet worden sei, daß die
Delphine und das halbnatürliche Schutzgebiet der Gegend Touristen
und Touristikeinnahmen brächten, lag auf der Hand, daß diese
Einnahmen nicht der ausschlaggebende Beweggrund gewesen
waren.
Zum Schluß sagten sie: »Die in diesem
Gebiet lebenden Menschen verdienen etwas daran – das ergibt sich
von selbst –, aber wir haben weiterreichende Pläne, nämlich, den
Delphin als Art zu schützen, ihn nicht in unserer Generation
aussterben zu lassen. Es ist unsere Pflicht, ihn zu schützen. Da
wir wissen, daß nur noch zweihundert Exemplare dieser Tierart
existieren, könnte sie aussterben, falls wir keine Maßnahmen
ergreifen, es zu verhindern, und sollte das geschehen, müßten wir
uns vor unseren Nachfahren und späteren Generationen schuldig
fühlen.«
Als wir das Zimmer verließen, waren
wir, zum erstenmal in China, gehobener Stimmung. Es schien uns, als
hätten wir – trotz der gestelzten und unbeholfenen Förmlichkeit des
Treffens – zum ersten und einzigen Mal einen flüchtigen Einblick in
die chinesische Denkweise erhalten. Sie begriffen es als ihre
natürliche Pflicht, dieses Tier zu schützen, sowohl um seiner
selbst willen als auch für zukünftige Generationen. Es war das
erste Mal, daß wir über unsere eigenen Grundvoraussetzungen
hinausblicken und ihre hatten einsehen können.
Wild entschlossen, sie zu genießen,
bestellte ich an diesem Abend noch einmal Tausendjährige
Eier.