- Douglas Adams
- Die letzten ihrer Art
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Hier Hühner
Das erste Tier, nach dem wir uns drei
Jahre später auf die Suche machten, war die Drachenechse von
Komodo. Wie bei den meisten Tieren, die wir uns ansehen wollten,
handelte es sich dabei um ein Tier, über das ich nur sehr wenig
wußte. Und das wenige, wovon ich wußte, war nicht gerade
liebenswert.
Sie sind
Menschenfresser.
Das ist an sich noch nicht so
schlimm. Auch Löwen und Tiger sind Menschenfresser, und obwohl wir
ihnen gegenüber höchst mißtrauisch sind und sie mit ängstlichem
Respekt behandeln, bewundern wir sie doch instinktiv. Wir wollen
zwar nicht von ihnen gefressen werden, aber die Idee als solche
verübeln wir ihnen nicht. Was vermutlich daran liegt, daß wir wie
sie Säugetiere sind. Es scheint hier so etwas wie ein
erzkonservatives Vorurteil gegenüber anderen Arten am Werk zu sein:
ein Löwe ist einer von uns, aber eine Echse nicht. Das gleiche gilt
übrigens auch für Fische und erklärt unsere wahnwitzige Angst vor
Haien.
Außerdem sind die Echsen von Komodo
groß. Sehr groß. Zur Zeit lebt eine auf Komodo, die fast vier Meter
lang und im Stehen knapp einen Meter hoch ist, was einem
unwillkürlich als völlig unpassende Größe für eine Echse erscheint,
vor allem, wenn sie ein Menschenfresser ist und man beabsichtigt,
sich auf derselben Insel wie sie aufzuhalten.
Obwohl sie Menschenfresser sind,
fressen sie nur selten Menschen, sondern ernähren sich größtenteils
von Ziegen, Schweinen, Wild und ähnlichen Tieren, die sie jedoch
nur töten, wenn sie nichts bereits Totes finden, weil sie im Grunde
ihres Herzens Aasfresser sind. Sie mögen ihr Fleisch am liebsten
verdorben und stinkend. Wir mögen unser Fleisch am liebsten anders
und neigen dazu, Viechern mit solchen Geschmacksvorstellungen nicht
über den Weg zu trauen. Was diese Echsen anging, traute ich ihnen
überhaupt nicht über den Weg.
Mark hatte während der vergangenen
drei Jahre viel Zeit damit zugebracht, unsere bevorstehenden
Expeditionen zu planen, zu recherchieren, Briefe zu schreiben, zu
telefonieren und vor allem Naturforschern zu telexen, die sich in
den entlegensten Teilen der Welt aufhielten, sowie Reiserouten zu
erarbeiten, Empfehlungen und Karten zu beschaffen. Außerdem hatte
er sämtliche Visa, Flüge, Schiffspassagen und Unterkünfte
organisiert und sie zu guter Letzt noch einmal von vorn
organisieren müssen, als sich herausstellte, daß ich mit meinen
beiden Romanen nicht fristgerecht fertig würde.
Schließlich war auch das erledigt.
Ich ließ mein Haus in der Obhut von Bauarbeitern zurück, die
behaupteten, nur noch drei Wochen daran arbeiten zu müssen, und
machte mich auf den Weg, meine letzte Verpflichtung zu erfüllen –
eine Lesereise durch Australien. Wenn Leute sich über Talkshows im
Rundfunk oder Fernsehen beschweren, bei denen sich Autoren über ihr
neuestes Werk verbreiten, kann ich das sehr gut nachfühlen.
Andererseits schaffen uns solche Auftritte außer Haus und bewahren
unsere Familien davor, sich das Gelaber über unser neuestes Werk
anhören zu müssen.
Nachdem auch das überstanden war,
konnten wir uns endlich auf die Suche nach den Riesenechsen
machen.
Wir trafen uns in einem Hotelzimmer
in Melbourne und inspizierten die Ausrüstung für unsere Expedition.
»Wir«, das waren Mark, ich und Gaynor Shutte, eine
Rundfunkjournalistin, die unsere Großtaten für die BBC mitschneiden
wollte. Unsere Ausrüstung bestand aus einem gewaltigen Haufen von
Kameras, Kassettenrecordern, Zelten, Schlafsäcken, Notapotheken,
Moskitonetzen, unidentifizierbaren Gegenständen aus Zeltstoff und
Nylon mit Metallösen und Plastikhaken, Regenkutten, Stiefeln,
Fackeln und einem Kricketschläger.
Keiner von uns wollte zugeben, den
Kricketschläger mitgebracht zu haben. Uns war vollkommen
schleierhaft, was er zwischen den anderen Sachen zu suchen hatte.
Wir riefen beim Zimmerservice an und baten, man möge uns ein paar
Dosen Bier hochbringen und den Kricketschläger wegschaffen, aber
niemand wollte ihn haben. Der Zimmerkellner meinte, falls wir uns
wirklich auf die Suche nach einer menschenfressenden Echse machen
wollten, wäre ein Kricketschläger doch ein ziemlich praktischer
Begleiter.
»Wenn ein Drache mit fünfzig
Stundenkilometern und schnappendem Kiefer auf Sie zukommt, können
Sie ihn so immer noch mit einem Befreiungsschlag durch die Deckung
dreschen«, sagte er, stellte das Bier ab und
verschwand.
Wir versteckten den Kricketschläger
unter dem Bett, öffneten die Bierflaschen und ließen uns von Mark
erklären, was auf uns zukommen würde.
»Seit Jahrhunderten«, sagte er,
»erzählt man sich in China Geschichten von großen, schuppigen,
feuerspeienden Ungeheuern, nur hielt man sie früher für Mythen und
schrullige Phantasiegebilde. Die alten Seefahrer haben von ihnen
berichtet und ›Hier Drachen‹ auf ihre Karten geschrieben, wenn sie
Land entdeckten, das ihnen schon von weitem nicht geheuer
war.
Dann, zu Beginn dieses Jahrhunderts,
unternahm ein holländischer Flugpionier den Versuch, von Insel zu
Insel über den indonesischen Archipel nach Australien zu hüpfen,
bekam dabei Probleme mit dem Motor und mußte auf einer kleinen
Insel namens Komodo notlanden. Im Gegensatz zu seiner Maschine
überstand er den Absturz unbeschadet.
Er suchte nach Wasser. Bei dieser
Suche stieß er am Strand auf eine seltsame breite Spur, folgte ihr
und sah sich plötzlich einem Ding gegenüber, dessen Anblick ihm
ganz und gar nicht geheuer war. Nämlich einem großen, schuppigen,
menschenfressenden, gute dreieinhalb Meter langen Ungeheuer. Und
was er da anstarrte, ist, wonach wir suchen werden – der
Komodo-Waran oder die Drachenechse von Komodo.«
»Hat er überlebt?« fragte ich ohne
Umschweife.
»Ja, hat er, im Gegensatz zu seinem
Ruf. Er schlug sich drei Monate lang durch und wurde dann gerettet.
Aber als er nach Hause kam, hielten ihn alle für verrückt und
glaubten ihm kein Wort.«
»Dann gehen also die chinesischen
Drachenlegenden auf die Komodo-Warane zurück?«
»Tja, so genau kann man das natürlich
nicht sagen. Ich zumindest nicht. Aber einiges spricht dafür. Die
Echse ist ein Lebewesen mit Schuppen, sie ist ein Menschenfresser,
und obwohl sie nicht gerade Feuer speit, hat sie von allen uns
bekannten Lebewesen den mit Abstand übelsten Mundgeruch. Und es
gibt noch etwas, was ihr über die Insel wissen
solltet.«
»Was?«
»Nimm dir erst noch ein Bier.« Ich
nahm mir noch ein Bier. »Auf Komodo«, sagte Mark, »gibt es pro
Quadratmeter Boden mehr Giftschlangen als in jedem vergleichbaren
Gebiet auf Erden.«
In Melbourne lebt ein Mann, der
vermutlich mehr über giftige Schlangen weiß als jeder andere
Mensch. Er heißt Dr. Struan Sutherland und hat sich zeit seines
Lebens mit dem Studium der Tiergifte beschäftigt.
»Und ich hab's satt«, sagte er, als
wir ihn am nächsten Morgen aufsuchten. »Nicht auszuhalten, diese
giftigen Biester, diese Schlangen und Insekten und Fische und das
ganze Zeug. Blöde Viecher, beißen jeden. Und dann erwarten die
Leute von mir, daß ich ihnen sage, was sie dagegen tun sollen. Ich
sage ihnen, was sie tun sollen. Sich grundsätzlich nicht beißen
lassen. Das ist die Antwort. Ich hab's satt. Hydrokulturen, ja, das
ist ein interessantes Thema. Kann Ihnen alles über Hydrokulturen
erzählen. Faszinierende Sache, Pflanzen künstlich in Wasser zu
züchten, sehr interessante Technik. Wenn man zum Mars oder
sonstwohin will, sollte man alles darüber wissen. Wo, sagten Sie,
wollen Sie hin?«
»Komodo.«
»Schön, lassen Sie sich nicht beißen,
mehr fällt mir dazu nicht ein. Und andernfalls kommen Sie bloß
nicht hier angelaufen, weil Sie es erstens nicht rechtzeitig
schaffen und ich zweitens wahrscheinlich sowieso nicht hiersein
werde. Ich hasse dieses Büro, sehen Sie sich das doch bloß mal an.
Alles vollgestopft mit giftigen Tieren. Sehen Sie mal hier, dieser
Behälter, randvoll mit Feuerameisen. Giftig. Langweilen mich zu
Tode. Na, was soll's. Ich hab Kuchen hier, falls Sie Appetit haben.
Möchten Sie ein Stück Kuchen? Wenn ich bloß wüßte, wo ich den
gelassen hab, Tee ist auch noch da, aber der schmeckt nicht
besonders. Herrgott, jetzt setzen Sie sich doch endlich
hin.
Sie wollen also nach Komodo. Na, ich
weiß zwar nicht, warum Sie da hinwollen, aber Sie werden schon Ihre
Gründe haben. Auf Komodo gibt es fünfzehn verschiedene
Schlangenarten, und davon ist die Hälfte giftig. Lebensgefährlich
sind aber nur die Kettenviper, die grüne Bambusotter und die
indische Kobra.
Auf der Liste der gefährlichsten
Schlangen steht die indische Kobra auf Platz fünfzehn, und die
anderen vierzehn Arten leben hier in Australien. Kein Wunder, daß
ich kaum Zeit für meine Hydrokulturen finde, wo es hier überall nur
so wimmelt von Schlangen.
Und Spinnen. Die giftigste Spinnenart
ist die Atrax robustus, und die beißt
jedes Jahr ungefähr fünfhundert Leute. Da viele von denen
anschließend zu sterben pflegten, mußte ich ein Gegengift
entwickeln, um nicht dauernd von irgendwelchen Leuten belästigt zu
werden. Hat uns Jahre gekostet. Dann haben wir diesen
Schlangenbißdetektor entwickelt. Nicht, daß man einen Detektor
brauchte, um herauszubekommen, daß man von einer Schlange gebissen
wurde – das merkt man ja normalerweise –, aber mit Hilfe des
Gerätes kann man erkennen, von was man gebissen wurde, und den Biß
anschließend richtig behandeln.
Möchten Sie mal eins von den Geräten
sehen? Ich habe ein paar hier, im Giftkühlschrank. Werfen Sie ruhig
einen Blick drauf. Ach, sieh an, da ist ja auch der Kuchen. Essen
Sie schnell ein Stück, solange er noch frisch ist. Hab ich selbst
gebacken.«
Er reichte uns den
Schlangenbißdetektor und die steinharten Kuchenstücke, zog sich
hinter seinen Schreibtisch zurück und strahlte uns von dort aus
über seine Fliege und den buschigen Bart hinweg vergnügt an. Wir
fanden die Geräte beeindruckender als den Kuchen und fragten
Sutherland, wie viele Schlangen ihn schon gebissen
hätten.
»Keine«, sagte er. »Ein weiteres
Gebiet, auf dem ich enorme Fähigkeiten entwickelt habe, ist das
Anfassen von Schlangen. Ich überlasse es anderen Leuten. Mach ich
nicht selbst. Will ich vielleicht gebissen werden? Wissen Sie, was
über mich im ›Who is Who‹ steht? ›Hobbys: Gartenarbeit – mit
Handschuhen; Angeln – mit Gummistiefeln; Reisen – mit Umsicht‹. So
sieht's aus. Ach, und ich trage ausgebeulte Hosen. Sobald eine
angreifende Schlange etwas im Maul hat, beginnt sie Gift zu
injizieren. Trägt man eine weite Hose, spritzt der Großteil des
Giftes an der Innenseite des Hosenbeines herunter, wo es erheblich
besser aufgehoben ist als im Bein. Sie essen Ihren Kuchen ja gar
nicht. Na los, runter damit, ist noch jede Menge im
Kühlschrank.«
Wir fragten zaghaft an, ob wir
vielleicht einen Schlangenbißdetektor nach Komodo mitnehmen
könnten.
»Klar können Sie das, klar können Sie
das. Nehmen Sie so viele, wie Sie wollen. Wird Ihnen bloß nicht die
Bohne nützen, weil die Dinger nur bei australischen Schlangen
funktionieren.«
»Na schön, was sollen wir also tun,
wenn wir von irgendwas Lebensgefährlichem gebissen werden?« fragte
ich.
Er sah mich an, als sei ich
bescheuert.
»Na, was machen Sie dann wohl?« sagte
er. »Sie sterben. Was denn sonst? Deshalb heißt es ja
lebensgefährlich.«
»Und was halten Sie davon, die Wunde
aufzuschneiden und das Gift herauszusaugen?« fragte
ich.
»Können Sie gerne machen«, sagte er.
»Ich persönlich halte nicht viel von einem Mund voll Gift.
Sämtliche Blutgefäße im Zungenbereich liegen sehr dicht an der
Oberfläche, und das Gift wandert direkt in die Blutbahn. Immer
vorausgesetzt, Sie bekommen viel von dem Gift heraus, was Ihnen
vermutlich nicht gelingt. Und auf einer Insel wie Komodo heißt das,
daß Sie sehr schnell sowohl mit einer infizierten Wunde als auch
mit einem giftgefüllten Bein zu kämpfen haben. Blutvergiftung,
Wundbrand, was Sie wollen. Sie würden es nicht
überleben.«
»Wie wär's mit einer
Aderpresse?«
»Wunderbar, solange es Ihnen nichts
ausmacht, sich nachher das Bein abnehmen zu lassen. Das müßten Sie
allerdings, weil es nämlich abgestorben wäre. Und falls Sie es in
diesem Teil Indonesiens irgend jemandem zutrauen, Ihnen ein Bein
abzunehmen, sind Sie bedeutend mutiger als ich. Nein, es sieht so
aus: Alles, was Sie tun können, ist, einen Druckverband genau über
der Wunde anzubringen und das gesamte Bein fest, aber nicht zu
fest, zu bandagieren. Verlangsamen Sie den Blutstrom, aber schnüren
sie ihn nicht ab, wenn Sie an ihrem Bein hängen. Halten Sie das
Bein oder jedes andere Körperteil, in das sie gebissen wurden,
unterhalb von Herz- und Kopfhöhe. Verhalten Sie sich sehr, sehr
ruhig, atmen Sie langsam, und rufen Sie sofort einen Arzt. Auf den werden Sie auf Komodo
einige Tage warten müssen, und bis dahin sind Sie sowieso
tot.
Die einzige Antwort ist, und das
meine ich ernst: Lassen Sie sich nicht
beißen. Warum sollten Sie? Sämtliche Schlangen gehen Ihnen
aus dem Weg, noch bevor Sie sie zu Gesicht bekommen. Solange Sie
vorsichtig sind, müssen Sie sich wegen der Schlangen wirklich keine
Sorgen machen. Nein, was Sie allerdings tatsächlich beunruhigen
sollte, sind die Meeresbewohner.«
»Was?«
»Seeskorpione, Steinfische,
Wasserschlangen. Wesentlich giftiger als das, was an Land lebt.
Wenn Sie sich von einem Steinfisch stechen lassen, werden Sie schon
vor Schmerz umkommen. Manche Leute ertränken sich, nur um die
Qualen zu beenden.«
»Und wo sind diese ganzen
Dinger?«
»Im Wasser. Tonnenweise. Würde an
Ihrer Stelle nicht zu dicht rangehen. Alles gerammelt voll mit
giftigen Tieren. Ich hasse das Zeug.«
»Gibt es irgend etwas, was Sie
mögen?«
»Hydrokulturen.«
»Nein, ich meine, gibt es irgendein
giftiges Lebewesen, das Sie besonders gern haben?«
Für einen Augenblick sah er aus dem
Fenster. »Gab's mal«, sagte er. »Aber sie hat mich
verlassen.«
Wir flogen nach Bali.
David Attenborough hat Bali als den
schönsten Ort auf Erden bezeichnet, muß aber länger als wir
dagewesen sein oder andere Ecken gesehen haben, denn das meiste von
dem, was wir während der Vorbereitungen zur Weiterreise dort zu
Gesicht bekamen, war gräßlich. Gesehen haben wir nur den
Tourismussektor, also jenen Teil, der im Interesse der Menschen,
die von weither wegen der Schönheit der Insel nach Bali anreisen,
fast genauso aussieht wie überall auf der Welt.
Die engen, matschigen Straßen von
Kuta waren gesäumt von Souvenirläden und Hamburgerständen und
bevölkert von Massen betrunkener, grölender Touristen,
Kamikaze-Motorradfahrern, Verkäufern gefälschter Uhren und kleinen
Hunden. Die Kamikaze-Motorradfahrer versuchten, die Touristen und
die kleinen Hunde von der Straße zu fegen, während der Kleinbus, in
dem wir unsere Koffer für den Großteil des Abends von einem vollen
Hotel zum nächsten vollen Hotel beförderten, mit
Videospiel-Geschwindigkeit durch die Uhrenverkäufer und
Kamikazefahrer raste. Irgendwo, nicht weit von diesem Ort entfernt,
in Richtung Inselmitte, mochte sich der Himmel auf Erden
verstecken, aber vor die Tore zu diesem Paradies hatte die Hölle
einen Haufen Arbeit gestellt.
Die Touristen mit ihren Bierdosen und
ihren »Fuck-Off«-T-Shirts mußten jedem ein vertrautes Bild sein,
der Engländer in Spanien oder Griechenland im Einsatz erlebt hat,
aber mir ging beim Betrachten dieser Szenen plötzlich auf, daß ich
mich ausnahmsweise nicht in Grund und Boden schämen mußte. Es waren
keine Engländer. Es waren Australier.
Andererseits war die Ähnlichkeit so
groß, daß sie mich ins Grübeln über konvergierende Evolution
brachte – einen Begriff, den ich vor weiteren Ausführungen besser
kurz erkläre.
Frappierend ähnliche, trotzdem ganz
und gar nicht miteinander verwandte Lebensformen entwickeln sich
aufgrund gleicher Lebensbedingungen in verschiedenen Erdteilen.
Beispielsweise verfügt das Aye-Aye, der Lemur, den Mark und ich bei
unserer ersten Reise nach Madagaskar aufgespürt hatten, über einen
besonders bemerkenswerten Körperteil. Sein Mittelfinger ist
bedeutend länger als die anderen Finger und knochendürr, fast wie
ein Zweig. Diesen Finger benutzt es, um die Larven, von denen es
sich ernährt, unter der Baumrinde herauszuklauben.
Ein anderes Tier, ein in
Papua-Neuguinea heimisches, langfingriges Opossum, verhält sich
ebenso. Es verfügt über einen langen, dürren Ringfinger für genau
denselben Zweck. Zwischen den beiden Tieren besteht keine
Verwandtschaft, und was sie verbindet, ist einzig dies: das Fehlen
von Spechten.
Es gibt keine Spechte auf Madagaskar,
und es gibt keine Spechte auf Papua-Neuguinea. Folglich liegt
Nahrung – die Larven unter der Rinde – brach, und in beiden Fällen
haben die Säugetiere einen Mechanismus entwickelt, an sie
heranzukommen. Der Mechanismus, dessen sich beide bedienen, ist der
gleiche – verschiedene Finger, gleicher Grundgedanke. Eine
Übereinstimmung, die einzig und allein dem Selektionsprozeß der
Evolution zuzuschreiben ist, da die Tiere nicht miteinander
verwandt sind.
Einander exakt entsprechende
Verhaltensmuster haben sich vollkommen unabhängig voneinander auf
beiden Hälften der Erdkugel entwickelt. In den Souvenirläden in
Spanien, Griechenland oder auf Hawaii lassen sich die Einheimischen
gegen Bezahlung fröhlich beleidigen oder ausnutzen, um das
eingenommene Geld dann zum intensiveren Raubbau an ihrem Lebensraum
zwecks Anziehung größerer Scharen geldbeladener Räuber
auszugeben.
»Schön«, sagte Mark, als wir uns an
diesem Abend zum Essen in einem Touristenrestaurant zwischen
Plastikblumen. Supermarktmusik und Papierschirmchen zur Verzierung
der Drinks einfanden, »ist doch zauberhaft. Jetzt müssen wir uns
nur noch eine Ziege besorgen.«
»Hier?«
»Nein. In Labuan Bajo. Labuan Bajo
liegt auf der Insel Flores und ist der Komodo nächstgelegene Hafen.
Wir werden eines der tückischsten Meere Asiens überqueren müssen.
An der Stelle treffen das Südchinesische Meer und der Indische
Ozean aufeinander, und das ganze Gebiet ist durchzogen von
Gegenströmungen, Stromkabbelungen und Strudeln. Die Überfahrt ist
sehr gefährlich und kann bis zu zwanzig Stunden
dauern.«
»Mit einer Ziege?«
»Einer toten Ziege.«
Ich spielte mit meinem Essen
herum.
»Ideal ist es«, fuhr Mark fort, »wenn
die Ziege schon seit gut drei Tagen tot ist und einen anständigen
Verwesungsgeruch entwickelt hat. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit,
daß sich die Drachen angezogen fühlen.«
»Du beabsichtigst, zwanzig Stunden
auf einem Boot...«
»Einem kleinen Boot«, ergänzte
Mark.
»... bei rauhem
Seegang...«
»Höchstwahrscheinlich.«
»... mit einer seit drei Tagen toten
Ziege zu verbringen?«
»Ja.«
»Mir fehlen die Worte.«
»Es gibt da noch was, das ich dir
vielleicht sagen sollte, und zwar, daß ich keine Ahnung habe, ob
irgend etwas von alldem eigentlich stimmt. Es kursieren die
widersprüchlichsten Geschichten, von denen einige vermutlich
einfach überholt oder komplett erfunden sind. Wir werden uns
hoffentlich einen besseren Überblick über die Lage verschaffen
können, wenn wir in Labuan Bajo sind. Wir fliegen morgen über Bima
und sollten rechtzeitig am Flughafen Denpasar sein. Es war ein
Alptraum, die Tickets und den Anschlußflug zu bekommen. Wir
dürfen diese Maschine einfach nicht
verpassen.«
Wir taten es trotzdem. Auf dem
Flughafen erwartete uns ein Ausbruch der Hölle, der aus einem
heillosen Durcheinander von Menschen und unüberhörbaren Andeutungen
von Gewalttätigkeit bestand. Der Mann am Schalter der
Fluggesellschaft teilte uns mit, unser Flug von Bima nach Labuan
Bajo sei vom Reisebüro nicht bestätigt worden, also hätten wir
keine Plätze. Achselzuckend gab er uns unsere Tickets
zurück.
Da man uns gesagt hatte, Indonesien
könne man nur in einem Gemütszustand äußerster Gelassenheit in
Angriff nehmen, beschlossen wir, es damit zu versuchen. Wir
versuchten, dem Mann gelassen klarzumachen, daß auf unseren
Tickets, genaugenommen, »bestätigt« stehe, woraufhin er uns
erklärte, »bestätigt« bedeute, genaugenommen, gar nicht
bestätigt, sondern werde lediglich auf
Wunsch gewisser Leute auf die Tickets geschrieben, weil man sich so
eine Menge Mühe spare und die Leute dazu bringe,
wegzugehen.
Er ging weg. Wir standen gelassen da
und fächelten uns mit den Tickets schlechte Luft zu. Hinter dem
Schalter war ein Fenster, durch das uns ein schlanker
Flughafenangestellter mit schmalem Schnurrbart, schmalem Schlips
und einem weißen Hemd mit schmalen Schulterstücken durch die dünnen
Rauchschwaden seiner Zigarette teilnahmslos anstarrte. Wir winkten
ihm mit unseren Tickets zu, aber er schüttelte nur sehr, sehr
bedächtig den Kopf.
Gelassen marschierten wir zum
Ticketbüro, wo man uns sagte, man sei nicht zuständig, wir sollten
uns an das Reisebüro wenden.
Nach einer Reihe zunehmend weniger
gelassener Telefongespräche mit dem Reisebüro auf Bali wußten wir
nur, daß die Tickets mit Sicherheit bestätigt worden waren und daß
mehr dazu nicht zu sagen sei. Im Ticketbüro sagte man uns, daß sie
das mit Sicherheit nicht seien und daß mehr dazu nicht zu sagen
sei.
»Wie sieht's denn mit einem anderen
Flug aus?« fragten wir. Vielleicht, sagten sie. Vielleicht nächste
oder übernächste Woche.
»Nächste oder übernächste Woche?«
beklagten wir uns lautstark.
»Moment«, sagte einer der Männer,
nahm unsere Tickets und verschwand. Nach ungefähr zehn Minuten
kehrte er zurück und gab sie einem anderen Mann, der »Moment« sagte
und verschwand. Er kam eine Viertelstunde später zurück, sah uns an
und sagte: »Ja? Was kann ich für Sie tun?« Nachdem wir ihm die
Situation noch einmal ausführlich geschildert hatten, nickte er,
sagte »Moment« und verschwand erneut. Als wir, nachdem einige Zeit
vergangen war, fragten, wo er sei, teilte man uns mit, er sei seine
Mutter in Jakarta besuchen gegangen, weil er sie seit drei Jahren
nicht gesehen habe.
Ob er unsere Tickets mitgenommen
habe, wollten wir wissen. Nein, die seien hier irgendwo. Ob wir sie
gern zurückhätten?
Ja, allerdings, erklärten wir. Wir
versuchten nämlich gerade, nach Labuan Bajo zu kommen.
Offenbar löste diese Nachricht
beträchtliche Bestürzung aus, denn binnen weniger Minuten waren
alle Angestellten des Büros zum Mittagessen gegangen.
Langsam wurde uns klar, daß die
Maschine ohne uns starten würde. Wir verwarfen die Möglichkeit, den
ersten Teil der Reise bis nach Bima zurückzulegen und dann dort auf
dem trockenen zu sitzen, und beschlossen statt dessen, auf Bali zu
bleiben und uns den Mann vom Reisebüro vorzunehmen. Schluß mit der
Gelassenheit.
Ein Kleinbus brachte uns zurück zum
Reisebüro, wo wir unter der Last unseres gesamten Gepäcks langsam
die Stufen hinaufstürmten und das Angebot, Platz zu nehmen, Kaffee
zu trinken und dabei einer Maschine zuzuhören, die bei jedem
Telefonklingeln »Greensleeves« anstimmte, wütend zurückwiesen. Es
lag eine Art stillschweigendes Entsetzen in der Luft, als ob einer
von uns gestorben wäre, aber da wir ungefähr eine Stunde lang von
niemandem beachtet wurden, begannen wir schließlich wieder zu
zetern und wurden unverzüglich ins Büro des Geschäftsführers
geleitet, der uns einen Platz anbot und sagte, die Indonesier seien
eine stolze Rasse, und darüber hinaus sei sowieso alles die Schuld
der Fluggesellschaft.
Er beruhigte uns anschließend
beträchtlich, teilte uns mit, er verfüge auf Bali über einigen
Einfluß, und machte uns klar, daß wir auch durch Wutausbrüche
nichts an unserer Lage ändern könnten.
Das war ein Standpunkt, mit dem ich
mich ziemlich problemlos anfreunden konnte, da ich von Natur aus
ohnehin eher ein stillschweigender Nicker und Lächler bin, der
Ärger und Frustrationen zunächst die gerunzelte Stirn bietet, um
dann einfach ins Bett zu gehen.
Andererseits führte kein Weg an der
Feststellung vorbei, daß unser Lächeln und Nicken und freundliches
Lachen als Reaktion auf Menschen, die uns freundlich anlachten,
praktisch nichts bewirkt hatte, außer, daß irgendwelche Leute
häufiger »Moment, Moment« gesagt hatten und nach Jakarta abgereist
waren oder uns teilnahmslos durch blasse Rauchschwaden angestarrt
hatten. Sobald wir uns allerdings in unsere Wut hineingesteigert
und ein bißchen mit den Füßen aufgestampft hatten, wurden wir
unverzüglich ins Büro des Reisebüroleiters geführt, der uns nun
eifrig versicherte, zu Wutausbrüchen bestehe überhaupt kein Anlaß
und daß er speziell für uns einen Sonderflug nach Labuan Bajo
arrangieren werde.
Die Sinnlosigkeit unseres
Herumgestampfes versuchte er uns mit Hilfe von Karten zu
verdeutlichen. »In diesem Bereich«, sagte er und zeigte auf eine
große Wandkarte, die halb Asien zeigte, »funktioniert es. Östlich
dieser Linie hier funktioniert es nicht.«
Er klärte uns auf, daß man bei Reisen
in Indonesien für alles Dringliche immer vier oder fünf Tage
einplanen müsse. Wie er sagte, passierten Dinge wie die Geschichte
mit unseren belegten Plätzen in der Maschine ständig. Häufig
benötige irgendein Regierungsbeamter oder eine andere hochrangige
Persönlichkeit überraschend einen Platz, was dann natürlich dazu
führe, daß jemand anders seinen Sitz verliere. Wir fragten, ob
genau das auch uns zugestoßen sei. Er sagte, nein, das sei nicht
der Grund gewesen, nur sollten wir diese Art Grund im Hinterkopf
behalten, wenn wir über derartige Probleme
nachdächten.
Es war der richtige Moment, den
Kaffee anzunehmen.
Er organisierte uns ein Hotelzimmer
für die Nacht und eine nachmittägliche Kleinbus-Tour über die
Insel.
Wie wir herausfanden, kann man auf
Bali gut davon leben, auf Tiere zu deuten. Zuerst muß man sein Tier
finden, dann deutet man darauf.
Wenn man es geschickt anstellt, kann
man sogar davon leben, auf die Person zu deuten, die auf das Tier
deutet. Ein besonders gutes Beispiel für diese Art von Broterwerb
entdeckten wir am Strand in der Nähe des berühmten Tempels von
Tanah Lot, und offenbar handelte es sich um ein alteingesessenes
und florierendes Unternehmen. Oberhalb des Strandes lag eine sehr
flache, breite Höhle, in deren Seitenwand sich ein paar gelbe
Schlangen häuslich eingerichtet hatten. Vor der Höhle saß ein Mann
auf einer Kiste, sammelte Geld ein und deutete auf den Mann in der
Höhle. Nachdem man bezahlt hatte, durfte man in die Höhle kriechen,
und der Mann in der Höhle deutete auf die Schlangen.
Von diesem Lichtblick abgesehen, war
die Tour mit unserem Reiseführer ausgesprochen deprimierend. Als
wir ihm erzählten, wir hätten keine Lust, uns die typischen
Touristenecken anzusehen, brachte er uns dorthin, wo sie alle
Touristen hinbringen, die keine Lust haben, sich die typischen
Touristenecken anzusehen. Natürlich sind diese Ecken voller
Touristen. Was nicht bedeuten soll, daß wir in irgendeiner Hinsicht
weniger Touristen waren als alle anderen, nur wirft es ein Licht
auf die leidige Erfahrung, daß alles, was man sehen will, allein
durch die Tatsache, daß man es sehen will, verändert wird, was,
nebenbei bemerkt, genau die Art von Problemstellung ist, mit der
sich Physiker seit Beginn dieses Jahrhunderts herumschlagen. Ich
werde nicht darauf herumreiten, daß Bali in einen
Original-Bali-Park verwandelt wird, wobei man die Insel nach und
nach zerstört, um Platz zu schaffen für einen billigen, künstlichen
Abklatsch dessen, was früher einmal da war, weil dieser Vorgang
schon zu bekannt ist, um noch irgend jemandem neu zu sein. Ich
möchte nur einmal frustriert und wütend aufschreien dürfen. Ich
fürchte, ich konnte es kaum erwarten, den schönsten Ort auf Erden
wieder zu verlassen.
Am nächsten Tag schafften wir es
endlich, vom Flughafen Denpasar aus nach Bima aufzubrechen. Wegen
des Tohuwabohus vom Vortag kannte uns praktisch jeder, und der
schlanke Mann, der uns durch seine dünnen Rauchschwaden angestarrt
hatte, lächelte ununterbrochen und war entsetzlich
hilfsbereit.
Aber das sollte uns nur mürbe
machen.
In Bima angekommen, teilte man uns
mit, vor dem nächsten Morgen werde keine Maschine nach Labuan Bajo
weiterfliegen.
Ob wir dann vielleicht wiederkommen
wollten? In diesem Augenblick begannen wir ein bißchen auszurasten,
wurden dann jedoch unerwartet gepackt, durch die Menge geschubst
und in eine baufällige kleine Maschine geschaufelt, die vollbesetzt
auf der Rollbahn hockte und auf die Starterlaubnis nach Labuan Bajo
wartete.
Auf dem Weg zum Flugzeug kamen wir
mitten auf der Rollbahn an einem kleinen, von niemandem beachteten
Gepäckwagen vorbei, auf dem sich unser atemberaubender Gepäckberg
türmte. Nachdem wir die Maschine bestiegen und Platz genommen
hatten, debattierten wir nervös die Frage, ob wir glaubten, daß
jemand auf die Idee verfallen würde, das Zeug
einzuladen.
Schließlich verlor ich die Nerven,
stieg aus dem Flugzeug und begann, über die Rollbahn
zurückzulaufen. Sofort wurde ich von Flughafenangestellten
aufgehalten und gefragt, was ich vorhätte. Ich sagte mehrmals
»Gepäck« und zeigte mit dem Finger darauf. Sie versicherten mir,
alles sei in Ordnung, es gebe keinerlei Probleme, und sie hätten
alles im Griff. Ich konnte sie schließlich überreden, mir zu dem
mitten auf der Rollbahn stehenden Gepäckwagen zu folgen. Ohne
nennenswert aus dem Takt zu geraten, hörten sie auf, mir zu
versichern, unser Gepäck sei an Bord der Maschine, und halfen mir,
es tatsächlich dorthin zu verfrachten.
Nachdem das erledigt war, konnten wir
wegen dieser Sache endlich beruhigt sein und anfangen, uns
ernsthafte Sorgen über den grauenhaften Zustand des Flugzeugs zu
machen.
Die Tür zum Cockpit blieb während der
gesamten Flugdauer geöffnet und hätte genausogut völlig fehlen
können. Mark erzählte mir, Air Merpati fliege ausschließlich mit
gebrauchten Maschinen von Air Uganda, aber das sollte vermutlich
ein Witz sein.
Ich betrachte Flugreisen dieser Art
immer mit fröhlicher Sorglosigkeit. Normalerweise kratzt mich das
alles überhaupt nicht. Ich glaube nicht, daß das etwas mit Mut zu
tun hat, denn in Autos bin ich häufig starr vor Schreck, besonders,
wenn ich selbst am Steuer sitze. In einem Flugzeug ist man jeder
Verantwortung enthoben und kann sich genausogut zurücklehnen und
das Knarren und Rütteln des alten Wracks, das von Turbulenzen durch
den Himmel geschleudert wird, mit einem schwachsinnigen Lächeln
über sich ergehen lassen. Man kann ja sowieso nichts daran
ändern.
Mark studierte die Instrumente im
Cockpit mit wachsender Neugier und sagte schließlich, die Hälfte
funktioniere schlichtweg nicht. Ich lachte, zugegebenermaßen ein
bißchen hysterisch, und sagte, das sei wahrscheinlich in Ordnung
so. Falls die Instrumente nämlich funktionierten, würden sie die
Piloten bestimmt ablenken und verunsichern, und mir wäre durchaus
lieb, wenn sie so weitermachten wie bisher. Mark fand diese
Bemerkung überhaupt nicht komisch, womit er zweifellos recht hatte,
hielt mich aber trotzdem nicht davon ab, noch mal richtig ausgiebig
zu lachen und auch während der restlichen Flugzeit nicht mehr damit
aufzuhören. Mark drehte sich um und fragte einen der Passagiere
hinter uns, ob diese Maschinen gelegentlich abstürzten. Ja, kam die
Antwort, aber keine Sorge – es habe schon seit Monaten keinen
schweren Absturz mehr gegeben.
In Labuan Bajo zu landen war
interessant, weil die Piloten nicht in der Lage waren, die
Landeklappen auszufahren. Besonders interessant war für uns auch
die Frage, ob wir angesichts der immer näher rückenden Bäume am
Ende der Landebahn und der mit vereinter Kraft an einem Hebel in
der Kabinendecke zerrenden Piloten weiterleben würden oder nicht.
Im letzten Moment gab der Hebel nach, und in gedämpfter und
besinnlicher Stimmung knallten wir auf die Rollbahn.
Wir kletterten aus dem Flugzeug und
brachten das Flughafenpersonal nach längeren Verhandlungen dazu,
auch unser Gepäck auszuladen, da wir es letztlich für eine gute
Idee hielten, es mitzunehmen.
In der Ankunftshalle oder vielmehr
-hütte des Flughafens erwarteten uns zwei Männer. Sie hießen Kiri
und Moose und waren wie die meisten Indonesier, die wir
kennenlernten, klein, gertenschlank und drahtig. Wir hatten keine
Ahnung, wer sie waren.
Kiri war ein charmanter Mann mit
einem nahezu quadratischen Gesicht, einem schwarzen, gewellten
Haarschopf und einem dichten schwarzen Schnurrbart, der wie ein
Riegel Schokolade auf seiner Oberlippe klebte. Er hatte eine tiefe
Stimme, die aber gleichzeitig so dünn und ohne jegliches Volumen
war, daß er nur eine Art supercooles Krächzen hervorbrachte. Die
meisten seiner Bemerkungen setzten sich aus einem behäbigen,
faulen, ausgebufften Lächeln und ein paar abgewürgten, rasselnden
Kehllauten zusammen. Er schien mit den Gedanken ständig woanders zu
sein. Wenn er einen anlächelte, kam das Lächeln nie an, sondern
blieb auf halber Strecke stecken, als gelte es ihm selbst. Moose
war wesentlich unkomplizierter, wenn sich auch nach kurzer Zeit
herausstellte, daß Moose gar nicht »Moose«, sondern »Mus« hieß, was
die Abkürzung von »Hieronymus« darstellte. Ich kam mir ein bißchen
blöd vor, weil ich »Moose« verstanden hatte. Es wäre schon ziemlich
ungewöhnlich gewesen, einen indonesischen Inselbewohner nach einem
großen kanadischen Elch zu benennen. Wohl fast so ungewöhnlich, wie
ihn mit unausgesprochener »Hieronie« Hieronymus zu
nennen.
Wir hatten eigentlich jemand anderen
erwartet, nämlich einen Mr. Condo (ausgesprochen Chondo), unseren
Führer. Was mich irritierte, war, daß er als einziger der
Indonesier, die wir bisher kennengelernt hatten, mit »Mr.«
angesprochen wurde. Den geheimnisvollen und glamourösen Anschein,
den ihm der Titel verlieh, konnte er nicht zerstreuen, da er
offensichtlich tauchen gegangen war. Kiri und Moose erläuterten
uns, er werde in Kürze wieder auftauchen, und sie seien gekommen,
um uns das zu sagen.
Wir bedankten uns, verstauten unser
gesamtes Gepäck auf der Ladefläche des Lieferwagens, setzten uns
obendrauf und holperten von der Ankunftshütte in Richtung der
Innenstadt von Labuan Bajo. Im Flugzeug hatte uns jemand erzählt,
auf der ganzen Insel Flores gebe es nur drei Lastwagen, und von
denen passierten wir auf dem Weg in die Stadt sechs. So gut wie
alles, was man uns in Indonesien erzählte, erwies sich als unwahr,
manchmal nahezu augenblicklich. Mit einer Ausnahme. Wenn man uns
erzählte, etwas werde augenblicklich geschehen, erwies sich das für
geraume Zeit als unwahr.
Aufgrund unserer Erfahrungen vom
Vortag hielten wir bei der Merpati-Airlines-Hütte und ließen uns
unsere Buchung für den Rückflug bestätigen. Das Büro war lediglich
mit einem Mann in Gummilatschen besetzt, der sämtliche
Flugbuchungen mit einem Armee-Funkgerät vornahm. Da er keinen Stift
hatte, mußte er sich an alles nach bestem Wissen erinnern. Ihm wäre
es lieber gewesen, wir hätten einfache Tickets statt Hin- und
Rückflug gebucht, weil wir die Rückflugtickets dann dort hätten
kaufen können. Niemand, sagte er, kaufe Tickets bei ihnen, obwohl
sie das Geld gut gebrauchen könnten.
Wir fragten ihn, wie viele Leute für
den Rückflug gebucht hätten. Er sah auf eine Liste und sagte
»Acht«. Mit einem Blick über seine Schulter stellte ich fest, daß
außer unseren drei Namen nur noch ein weiterer auf der Liste stand,
und ich fragte ihn, wie er auf die Zahl Acht komme. Er setzte mir
auseinander, das sei ganz einfach. Es flögen immer acht Leute
mit.
Wie sich einige Tage später
herausstellte, hatte er vollkommen recht. Möglicherweise verbirgt
sich hinter diesem Umstand ein schwer zu ergründendes Prinzip, das
British Airways, der Lufthansa und anderen Fluggesellschaften
enorme Gewinne einbrächte, wenn sie herausfänden, worum es sich
dabei handelt.
Die Straße in die Stadt war staubig.
Die Luft war bedeutend heißer und feuchter als auf Bah und voll von
den berauschenden Gerüchen der Bäume und Sträucher. Ich fragte
Mark, ob er die Bäume anhand ihrer Gerüche identifizieren könne,
und er sagte, nein, er sei Zoologe. Er meinte, einen
Gelbhaubenkakadu herauszuriechen, aber auf mehr wollte er sich beim
besten Willen nicht festlegen.
Kurz darauf wurden diese schwachen,
flüchtigen Düfte vom alles beherrschenden Gestank der Kanalisation
von Labuan Bajo verdrängt. Der Laster, mit dem wir in die Stadt
polterten, wurde von hüpfenden, lächelnden Kindern umringt, die
sich riesig freuten, uns zu sehen, und stolz mit ihrem neuesten
Spielzeug angaben, einem einbeinigen Huhn. Die lange Hauptstraße
war überfüllt von einigen der drei Laster, die es auf Flores gab,
hallte wider vom Lärm der Kinder und dem kratzigen Gurgeln eines
auf Band aufgenommenen Muezzins, das aus einem bedenklich unsicher
auf einer Wellblech-Moschee thronenden Minarett herunterplärrte.
Unerklärlicherweise schienen die Rinnsteine bis zum Rand mit
hellglänzendem, grünem Schleim gefüllt zu sein.
Eine Pension oder ein kleines Hotel
heißt in Indonesien »Losmen«, und im größten dieser Losmen warteten
wir auf Mr. Condos Erscheinen. Da wir noch am selben Nachmittag
nach Komodo weiterreisen wollten und das Losmen ohnehin so gut wie
leer war, hielten wir es für überflüssig, ein Zimmer zu buchen. Wir
vertrieben uns die Zeit im überdachten Innenhof, der zugleich das
Eßzimmer war, tranken Bier und plauderten mit den sonderbaren
Gästen, die von Zeit zu Zeit eintrudelten. Als wir, da der
Nachmittag sich ohne Mr. Condo seinem Ende näherte, endlich
kapierten, daß wir an diesem Tag bestimmt nicht mehr nach Komodo
kommen würden, hatte sich das Losmen anständig gefüllt, also
versuchten wir einigermaßen panisch, einen Schlafplatz
aufzutreiben.
Ein kleiner Junge kam zu uns heraus,
sagte, es sei noch ein Zimmer frei, falls wir das haben wollten,
und führte uns über eine wacklige Treppe nach oben. Wie sich
herausstellte, führte der Gang, den wir betraten, nicht in unser
Zimmer, sondern war das Zimmer. Wir hatten uns von der Tatsache,
daß in ihm keine Betten standen, in die Irre führen lassen,
erklärten uns jedoch trotzdem einverstanden und kehrten in den
Innenhof zurück, wo wir endlich von Mr. Condo begrüßt wurden, einem
kleinen, charismatischen Mann, der sagte, daß alles organisiert sei
und wir am nächsten Morgen um sieben in See stechen
könnten.
Was ist mit der Ziege? fragten wir
besorgt.
Er zuckte die Achseln. Welcher Ziege?
fragte er.
Ob wir denn etwa keine Ziege
brauchten?
Er versicherte uns, auf Komodo gebe
es eine Menge Ziegen.
Oder brauchten wir eine für die
Reise?
Wir sagten, das sei unserer
Auffassung nach wohl nicht unbedingt nötig, worauf er erwiderte, er
habe es nur erwähnt, weil es allem Anschein nach das einzige sei,
was wir nicht mitzunehmen beabsichtigten. Wir verstanden das als
eine Art satirische Anspielung auf den uns umgebenden kühnen
Gepäckberg, lachten höflich und ließen uns von ihm eine angenehme
Nachtruhe wünschen.
In Labuan Bajo zu schlafen hat was
von einem Ausdauertest.
Im Morgengrauen von den Hähnen
geweckt zu werden ist an sich kein Problem. Das eigentliche Problem
entsteht erst, wenn die Hähne nicht genau wissen, wann der Morgen
denn nun eigentlich graut. Gegen ein Uhr nachts erwachen sie
schlagartig kreischend und schreiend zum Leben. Gegen halb zwei
bemerken sie ihren Irrtum und halten den Schnabel, kurz bevor die
nächtlichen Hunde-Hauptkämpfe eingeläutet werden. Die Veranstaltung
beginnt normalerweise mit einigen unbedeutenden Gefechten
begeisterter Nachwuchstalente, bevor einem dann der komplette Chor
der Schwergewichtsmeister einen nachhaltigen Eindruck des Gefühls
vermittelt, mit dem London Symphony Orchestra geradewegs in die
Hölle zu rutschen.
Anschließend kann man die pädagogisch
wertvolle Erfahrung machen, daß zwei kämpfende Katzen problemlos
mehr Krach verursachen können als vierzig Hunde. Es ist
bedauerlich, das ausgerechnet um Viertel nach zwei Uhr nachts
lernen zu müssen, aber andererseits haben die Katzen von Labuan
Bajo auch allen Grund zur Klage. Ihre Schwänze werden bei der
Geburt kupiert, weil das angeblich Glück bringen soll, wenn auch
vermutlich nicht unbedingt den Katzen.
Sobald die Katzen ihre Ausführungen
beendet haben, legen die Hähne wieder los, weil sie urplötzlich
meinen, es dämmere. Was natürlich nicht der Fall ist. Bis zum
Morgengrauen sind es noch immer zwei Stunden, und bis dahin muß man
nur noch den Hup-Wettbewerb der Lieferwagenfahrer durchstehen, der
von überraschend im Nebenzimmer ausbrechenden, lautstarken
Scheidungsvorbereitungen untermalt wird.
Zu guter Letzt beruhigt sich alles,
und dankbar beginnen die Augen in der dämmrigen Ruhe zuzufallen,
bis die Hähne fünf Minuten später zum erstenmal ins Schwarze
treffen.
Verschlafen und nervös standen wir
eine oder zwei Stunden später inmitten unserer Berge von
Expeditionsgepäck am Wasser und starrten so unerschrocken wie
irgend möglich über das zwanzig Meilen breite, rauheste,
turbulenteste Stück Meer im gesamten Osten – den wilden und
gefährlichen Treffpunkt zweier gewaltiger aufeinanderprallender
Wassermassen, einen brodelnden Aufruhr aus Strudeln und
Kabbelungen.
Es sah aus wie ein
Mühlteich.
Winzige Wellen von weit entfernten
Fischerbooten breiteten sich über das endlose Meer in Richtung
Strand aus. Das Licht der Morgensonne lag auf dem Wasser wie auf
einem Laken. Mark zufolge drehten über uns kleine Fregattvögel und
weißbäuchige Seeadler gelassen ihre Runden. Für mich sahen sie aus
wie schwarze Flecken.
Wir waren da, Mr. Condo nicht. Nach
ungefähr einer Stunde tauchte aber immerhin Kiri auf, um seiner
gewohnten Rolle entsprechend zu erklären, Mr. Condo werde nicht
kommen, aber dafür sei ja er, Kiri, da und habe seine Gitarre
mitgebracht. Außerdem sei der Kapitän eigentlich gar nicht der
Kapitän, sondern dessen Vater. Und wir würden mit einem anderen
Boot fahren. Die gute Nachricht war, daß wir definitiv nach Komodo
fahren würden und daß die Reise höchstens vier Stunden dauern
werde.
Das Boot war ein wirklich schmucker,
sieben Meter langer Fischerkahn namens Raodah, und die vollständige Besatzung bestand,
nachdem wir alles verladen und vertäut hatten, aus uns dreien,
Kiri, dem Vater des Kapitäns, zwei ungefähr zwölfjährigen Jungen,
die das Boot steuerten, und vier Hühnern.
Es war ein ruhiger, herrlicher Tag.
Die beiden Jungen tollten über das Boot wie Katzen, entrollten und
hißten die Segel blitzartig, sobald sich ein Windhauch regte,
holten sie dann wieder ein, starteten den Motor und schliefen ein,
wann immer der Wind erstarb. Zum erstenmal gab es nichts, was wir
tun mußten oder tun konnten, also schlenderten wir an Deck herum,
blickten auf das vorbeirollende Meer, beobachteten
Haubenseeschwalben und Seeadler, die über uns kreisten, und die
fliegenden Fische, die gelegentlich um das Boot
herumschwirrten.
Die vier Hühner saßen im Bug des
Bootes und beobachteten uns. Eine der verwirrendsten
Begleiterscheinungen des Reisens in abgelegenen Gegenden ist die
Notwendigkeit, seine Nahrung in unverderblicher Form mit sich zu
führen. Für einen Mitteleuropäer, der seine Hühner gewöhnlich in
Zellophan verpackt aus dem Supermarkt bezieht, ist es eine
unangenehme Erfahrung, während einer langen Bootsreise von vier
lebenden Hühnern mit tiefem, grauenvollem Argwohn angestarrt zu
werden, ohne diesen irgendwie zerstreuen zu können.
Auch wenn man davon absieht, daß ein
indonesisches Inselhuhn vermutlich ein wesentlich natürlicheres und
glücklicheres Leben hinter sich hat als seine in englischen
Legebatterien gezüchteten Verwandten, wird ein Huhn, mit dem man in
einem Boot gesessen hat, wohl auch jene Leute ziemlich aus der
Fassung bringen, die sich normalerweise keine Gedanken über den
Kauf ofenfertiger Ware machen – was darauf schließen läßt, daß ein
tief in die westliche Psyche eingegrabenes Tabu existiert,
demzufolge man niemanden ißt, dem man persönlich vorgestellt
wurde.
Es war uns nicht bestimmt, alle vier
selbst aufzuessen. Jener Gott aus dem komplizierten Hindu-Pantheon,
zu dessen bescheidenen Aufgaben es gehört, über Hühnerschicksale zu
entscheiden, war an jenem Tag offenbar in ziemlicher
Randalierstimmung und hatte eigene Pläne für eine kleinere
Verwüstung geschmiedet.
Endlich lag die Insel Komodo vor uns
und kroch uns langsam vom Horizont aus entgegen. Die Farbe des
Meeres um uns verwandelte sich vom schweren, tintigen Schwarz der
letzten Stunden in ein sehr viel helleres, durchlässiges Blau, aber
die Insel selbst erschien uns, vielleicht auch nur unseren überaus
empfänglichen Sinnen, als eine düstere, finstere Masse, die
bedrohlich über die See heranrückte.
Im Näherkommen lösten sich ihre
düsteren Konturen allmählich zu großen, schroffen Felsformationen
und dahinterliegenden, mächtigen Verwerfungen auf. Kurz darauf
gelang es uns, Einzelheiten der Vegetation auszumachen. Es wuchsen
Palmen, allerdings nur sehr wenige. Sie steckten sporadisch in den
Abhängen, als habe die Insel Stacheln oder jemand Dartpfeile in die
Hügel geschleudert. Der Anblick erinnerte mich an eine Zeichnung
aus Gullivers Reisen, auf der Gulliver
von den Liliputanern am Boden festgezurrt worden ist und Dutzende
von winzigen Liliputanerspeeren in seinem Körper
stecken.
Die Bilder, die die Insel der
Phantasie aufnötigte, waren hartnäckig. Die felsigen Ausläufer
hatten die Form massiver Schneidezähne, und die dunklen, düster
stimmenden, graubraunen Hügel waren gewellt wie die schweren
Hautlappen einer Eidechse. Ich wußte, daß ich, wäre ich ein
Seefahrer in unbekannten Gewässern gewesen, »Hier Drachen« auf
meine Seekarte geschrieben hätte.
Je genauer ich die Insel betrachtete,
während sie auf der Steuerbootseite an uns vorbeikroch, und je mehr
ich mich bemühte, die Eingebungen meiner regen Phantasie zu
verscheuchen, desto unwiderruflicher drängten sich diese Bilder
auf. Der Kamm eines Hügels, der sich in dicken, tiefzerfurchten
Verwerfungen bis ins Wasser erstreckte, hatte die Konturen eines
Eidechsenbeines – wenn schon nicht durch seine tatsächliche Form,
so doch durch das natürliche Zusammenspiel seiner Umrisse und dank
seiner schwerfälligen, mächtigen Struktur.
Es war das erste Mal, daß ich diesen
Eindruck hatte, aber während der Reisen, die wir später in diesem
Jahr unternahmen, beschlich mich jedesmal wieder das gleiche
Gefühl: jedes neue Terrain, das wir irgendwo auf der Welt
erkundeten, schien durch eine einzigartige Palette von Farben,
Strukturen, Formen und Konturen charakterisiert zu sein; und die
Lebensformen, auf die man in diesen Gebieten stieß, schienen oft
mit der gleichen unverwechselbaren Palette gemalt. Natürlich kennen
wir einige einleuchtende Mechanismen, mit denen sich dieses
Phänomen erklären läßt: Für viele Lebewesen ist Tarnung ein
überlebenswichtiger Mechanismus, und die Evolution wird sich für
die günstigste entscheiden. Nur ist das Ausmaß dieser intuitiven,
vielleicht zur Hälfte eingebildeten Übereinstimmungen wesentlich
größer und umfassender, als mit diesem Mechanismus erklärt werden
kann.
Wir beginnen zur Zeit, viele neue
Vorstellungen über die Entstehung von Formen in der Natur zu
entwickeln, und so unvorstellbar ist es nicht, daß wir, je mehr wir
über die Fraktalgeometrie, die »chaotischen Attraktoren« lernen,
die jeder neuen Variante der Chaos-Theorie zugrunde liegen, je mehr
wir über die Interaktion zwischen Wachstum und Erosion wissen,
vielleicht herausfinden werden, daß diese augenscheinlichen
Übereinstimmungen von Form und Struktur nicht nur auf eine Laune
oder auf einen Zufall zurückzuführen sind. Vielleicht.
Ich machte Mark gegenüber ein paar
Bemerkungen in diese Richtung, und er meinte, ich sei albern. Da er
immerhin dieselbe Landschaft betrachtete wie ich, räume ich ein,
daß es sich bei der Geschichte um eine trotz der indonesischen
Sonne möglicherweise nur halbgare Idee gehandelt haben
könnte.
Wir legten an einem langen, wackligen
Holzsteg an, der von einem breiten Sandstrand aus ins Wasser ragte.
Am landwärts gelegenen Ende des Stegs stand ein Torbogen, von
dessen höchstem Punkt uns ein Holzbrett auf Komodo willkommen hieß
und so einen bescheidenen Beitrag leistete, unser Gefühl der
Unerschrockenheit weiter zu verringern.
Als wir den Torbogen durchquerten,
drang uns plötzlich ein starker Geruch in die Nase. Man mußte den
Torbogen hinter sich lassen, um ihn wahrnehmen zu können. Solange
man auf dem Steg stand, war man noch nicht richtig da und kam nicht
in den Genuß des starken, deftigen, abgestandenen Geruchs von
Komodo.
Den nächsten schweren Schlag bekam
unsere Unerschrockenheit von einem ziemlich ordentlich angelegten
Weg. Er führte vom Ende des Stegs aus parallel zum Ufer bis zum
nächsten und entscheidenden Schlag gegen unser Gefühl der
Unerschrockenheit – einem Besucherdorf.
Das Dorf bestand aus einer Ansammlung
leidlich zusammengezimmerter Holzbauten: einem Gebäude, von dem aus
die Insel (die ein Naturschutzgebiet ist) verwaltet wird, einer
Terrasse mit Cafeteria und einem kleinen Museum. Hinter diesen
Gebäuden standen, aufgereiht vor einer abschüssigen,
halbkreisförmigen Böschung, ungefähr ein halbes Dutzend
Besucherhütten – auf Pfählen.
Es war Mittagszeit, und ein gutes
Dutzend Leute saß auf der Terrasse, aß Nudeln und trank Seven-Up;
Amerikaner, Holländer, alles, was das Herz begehrt. Wo waren die
hergekommen? Und wie waren sie hergekommen? Was war hier eigentlich
los?
Vor der Verwaltungshütte stand ein
Schild voller Vorschriften, wie zum Beispiel »Melden Sie sich im
Nationalpark-Büro«, »Ausflüge außerhalb des Besucher-Zentrums nur
in Begleitung von Führern«, »Hosen und Schuhe tragen« und »Achten
Sie auf Schlangen«.
Auf dem Boden unter diesem Schild lag
ein kleiner, ausgestopfter Drache. Ich sage klein, weil er
höchstens einen Meter zwanzig lang war. Er lag flach auf dem Bauch,
die vor sich ausgestreckten Vorderbeine und die an seinen langen,
spitz zulaufenden Schwanz angelegten Hinterbeine platt auf dem
Boden. Als ich ihn entdeckte, war ich zuerst etwas erschrocken,
dann ging ich hinauf, um ihn mir anzusehen.
Er öffnete die Augen und sah mich an.
Mit einem überraschten Aufschrei machte ich einen Satz rückwärts,
was eine Welle höhnischen Gelächters auf der Terrasse
auslöste.
»Das ist doch nur ein Drache«, rief
ein amerikanisches Mädchen.
Ich ging zu ihr.
»Sind Sie alle schon länger hier?«
fragte ich.
»Ach, seit Stunden«, sagte sie. »Wir
sind mit der Fähre von Labuan Bajo rübergekommen. Haben die Drachen
besichtigt. Stinklangweilig. Das Essen ist
grauenhaft.«
»Welcher Fähre?« fragte
ich.
»Der, die jeden Tag
herfährt.«
»Aha. Verstehe. Von Labuan Bajo
aus?«
»Sie müssen rübergehen und sich im
Büro ins Gästebuch eintragen«, sagte sie und deutete auf einen
Holzbau.
Einigermaßen zerknirscht ging ich
zurück und gesellte mich zu Mark und Gaynor.
»Das hatte ich mir vollkommen anders
vorgestellt«, sagte Mark, der inmitten unseres kühnen Gepäckberges
stand und die vier Hühner in der Hand hielt. »Hätten wir die
mitbringen müssen?« fragte er Kiri.
Kiri sagte, es sei immer eine gute
Idee, Hühner für die Küche mitzubringen. Andernfalls gebe es nur
Nudeln und Fisch zu essen.
»Ich glaube, ich ziehe Fisch vor«,
sagte Gaynor.
Kiri erklärte ihr, das sei falsch und
daß sie eigentlich Huhn Fisch vorzöge. Leute aus dem Westen, setzte
er uns auseinander, zögen grundsätzlich Huhn vor. Das wisse
praktisch jeder. Fisch sei nichts weiter als ein billiges Essen für
Bauern. Wir würden also Huhn essen, weil das aufregend sei und wir
es bevorzugten.
Er nahm die Hühner, die mit einem
langen Band zusammengebunden waren, stellte sie neben unserem
Gepäck ab und drängte uns die Stufen zum Büro des Nationalparks
hinauf, wo uns einer der Parkwächter Fragebögen und Stifte in die
Hand drückte. Wir hatten gerade mit dem detaillierten Eintragen
unserer Reisepaßnummern, Geburtstage, Heimatländer, Geburtsorte und
ähnlichem begonnen, als es draußen mit einemmal zu einem heftigen
Tumult kam.
Zuerst beachteten wir den Lärm nicht,
weil wir alle Hände voll zu tun hatten, uns an die Mädchennamen
unserer Mütter zu erinnern und zu überlegen, wen wir als nächsten
Angehörigen auserwählen sollten, aber als der Radau zunahm,
begriffen wir plötzlich, daß es sich um das ängstliche Kreischen
von Hühnern in Not handelte. Unserer Hühner.
Wir rasten nach draußen. Der
ausgestopfte Drache griff unsere Hühner an. Er hatte eins von ihnen
im Maul und schüttelte es, verschwand jedoch, als er uns kommen
sah, in einer Staubwolke um die Hausecke und über die Lichtung, die
mißhandelten, noch immer zusammengebundenen, kreischenden Hühner
hinter sich herzerrend.
Als der Drache ungefähr dreißig Meter
von uns entfernt war, blieb er stehen, biß die Schnur mit einem
fiesen Kopfzucken durch und ließ die restlichen Hühner in Richtung
der Bäume wegrennen, wo sie sich kreischend und schreiend in immer
kleiner werdenden Kreisen bewegten, während die Parkwächter ihnen
hinterherjagten und sie zu umzingeln versuchten. Der Drache, nun
befreit von den überzähligen Hühnern, galoppierte ins dichte
Unterholz.
Unter allerlei
Höflichkeitsbekundungen wie »Nach dir, bitte« und »Nein, bitte nach
dir« liefen wir vorsichtig zu der Stelle, wo er verschwunden war,
und gelangten schließlich atemlos und etwas nervös dort an. Wir
spähten ins Gebüsch.
Der Drache war auf einen großen, vom
Unterholz überwucherten Erdwall gekrochen und dort stehengeblieben.
Wir konnten wegen der dichten Vegetation nicht näher als bis auf
einen Meter an ihn heran, gaben uns allerdings auch keine besondere
Mühe.
Er lag ruhig da. Zwischen seinen
Zähnen ragte das Hinterteil des Huhns heraus, dessen dürre Beine
lautlos in der Luft herumruderten. Die Drachenechse beobachtete uns
unbeteiligt mit jenem Auge, das uns zugewandt war – einem runden,
dunkelbraunen Auge.
Es hat etwas zutiefst Verstörendes,
in ein Auge zu starren, das einen anstarrt, besonders, wenn das
starrende Auge beinahe ebenso groß wie das eigene und das Ding, aus
dem es starrt, eine Echse ist. Das Blinzeln der Echse war ebenfalls
verstörend. Es war nicht die übliche, reflexartige Bewegung, die
man von einem Reptil erwartet, sondern ein langsames, bedachtes
Blinzeln, das einem das Gefühl vermittelte, die Echse sei sich
dessen bewußt, was sie tat.
Nachdem sich das Hühnerhinterteil
kurze Zeit freizukämpfen versucht hatte, lockerte der Drache seinen
Biß ein wenig, damit sich das Huhn durch seine Bewegungen weiter in
den Drachenschlund hineinstoßen konnte. Das wiederholte sich
mehrmals, bis nur noch ein einziges dürres Hühnerbein zu sehen war,
das grotesk aus dem Maul der Kreatur ragte. Ansonsten bewegte sich
die Echse nicht. Sie sah uns einfach nur an. Am Ende waren wir
diejenigen, die, von blankem Entsetzen geschüttelt,
davonschlichen.
Warum? fragten wir uns, als wir
wieder auf der Terrasse saßen und uns mit Seven-Up zu beruhigen
versuchten. Alle drei waren wir so aschfahl, als wären wir gerade
Zeugen eines gemeinen, heimtückischen Mordes geworden. Aber hätten
wir einen Mord beobachtet, hätte uns der Mörder wenigstens nicht so
ungerührt ins Auge gesehen wie diese Echse. Vielleicht war es der
Eindruck kühler, unerschütterlicher Arroganz, der uns derart aus
der Fassung brachte. Nur wußten wir bei all den bösartigen
Gefühlen, die wir der Echse anzudichten versuchten, daß es
überhaupt keine Echsengefühle waren, sondern unsere eigenen. Diese
Echse tat nicht mehr, als ihren Echsen-Beschäftigungen auf
einfache, unkomplizierte, echsige Art nachzugehen. Sie wußte nichts
von dem Entsetzen, der Schuld, der Schändlichkeit und
Widerwärtigkeit, die wir, beispiellos schuldige und schändliche
Tiere, ihr aufs Auge zu drücken versuchten. Also prallten all diese
Empfindungen, gespiegelt in jenem einen unbeweglichen,
desinteressierten Auge, auf uns zurück.
Überwältigt von der Vorstellung, daß
wir uns vor unserem eigenen Spiegelbild dermaßen erschrocken
hatten, saßen wir stumm da und warteten auf das
Mittagessen.
Mittagessen.
Angesichts der bisherigen Ereignisse
dieses Tages fiel es uns plötzlich schwer, ein Mittagessen auch nur
in Erwägung zuziehen.
Wie sich herausstellte, gab es zum
Essen kein Huhn. Es gab kein Huhn, weil der Drache es gegessen
hatte. Wie die Küche herausgefunden hatte, daß ausgerechnet das
Drachenfutter-Huhn jenes gewesen war, das wir andernfalls zum
Mittagessen verspeist hätten, war uns nicht ganz klar, aber
immerhin hatten wir es diesem Umstand offenbar zu verdanken, daß
wir Nudeln ohne alles bekamen.
Wir unterhielten uns darüber, wie
leicht man den Fehler begeht. Tiere zu vermenschlichen und seine
eigenen Gefühle und Wahrnehmungen unangemessener- und
unpassenderweise auf sie zu übertragen. Wir konnten uns einfach
nicht vorstellen, wie es ist, eine
extrem große Echse zu sein, genausowenig wie übrigens die Echse,
die sich ja gar nicht bewußt war, eine extrem große Echse zu sein,
sondern nur den damit zusammenhängenden Tätigkeiten nachging. Auf
ihr Verhalten mit Abscheu zu reagieren bedeutete, fälschlicherweise
nach Kriterien zu urteilen, die nur bei der Beurteilung
menschlichen Verhaltens angemessen sind. Wir alle richten uns in
der Welt häuslich ein und lernen auf unterschiedliche Art und Weise
zu überleben. Ein für uns erfolgreiches Verhalten funktioniert bei
den Echsen nicht und umgekehrt.
»Zum Beispiel«, sagte Mark, »essen
wir unsere eigenen Kinder nicht auf, wenn sie zufällig in
Reichweite sind und wir gerade Kohldampf haben.«
»Was?«
sagte Gaynor und ließ Messer und Gabel sinken.
»In den Augen eines Erwachsenen ist
ein Jungdrache nichts weiter als Futter«, fuhr Mark fort. »Er
bewegt sich und hat ein bißchen Fleisch auf den Knochen. Das ist
Futter. Natürlich wäre es nicht besonders sinnig, wenn sie all ihre
Nachkommen auffressen würden, weil dann die Art aussterben müßte.
Die meisten Arten überleben, weil die Erwachsenen den Instinkt
entwickelt haben, ihre Kinder nicht zu fressen. Die Drachen
überleben, weil ihre Kinder den Instinkt entwickelt haben, auf
Bäume zu klettern. Die Erwachsenen sind dazu zu schwer, also sitzen
die Kleinen oben in den Bäumen, bis sie groß genug sind. Trotzdem
werden einige Babys gefressen, aber das erfüllt auch seinen Zweck.
Es hilft den Drachen, wenn das Futter knapp ist, und trägt dazu
bei, die Population auf einem gleichbleibenden Niveau zu halten.
Manchmal fressen sie die Kleinen aber auch einfach
so.«
»Wie viele von den Dingern gibt es
denn noch?« fragte ich leise. »Ungefähr fünftausend.«
»Und wie viele waren es
ursprünglich?«
»Ungefähr fünftausend. Man geht davon
aus, daß, grob geschätzt, immer so viele da waren.«
»Also sind sie eigentlich nicht
besonders gefährdet?«
»Doch, sind sie, weil von diesen
fünftausend nur dreihundertfünfzig tragende Weibchen sind. Ob das
die normale Anzahl ist oder nicht, wissen wir nicht, aber sie
erscheint uns eher niedrig. Außerdem sind Tiere, die, wie die
Drachen auf diesen paar Inseln hier, in geringer Anzahl auf
begrenztem Raum zusammenleben, besonders anfällig für Veränderungen
ihrer Lebensräume, und wenn irgendwo Menschen auftauchen, verändern
sich diese Lebensräume ausgesprochen schnell.«
»Also sollten wir nicht hier
sein.«
»Darüber kann man streiten«, sagte
Mark. »Es würde höchstwahrscheinlich irgendwas schiefgehen, wenn
das alles hier niemanden interessieren würde. Ein einziger
Waldbrand oder eine krankheitsbedingte Abnahme der Wildbestände
könnte die Drachen auslöschen. Außerdem stünde zu befürchten, daß
die ständig wachsende Inselbevölkerung zu dem Schluß käme, daß es
sich ganz gut ohne diese Viecher leben läßt. Es sind äußerst
gefährliche Tiere. Es besteht ja nicht bloß die Gefahr, von ihnen
gefressen zu werden. Auch wenn man nur gebissen wird, hat man schon
richtigen Ärger am Hals. Also, wenn ein Drache ein Pferd oder einen
Büffel angreift, wird er nicht unbedingt davon ausgehen, sein Opfer
gleich an Ort und Stelle umbringen zu können. Falls der Drache nun
in einen Kampf verwickelt wird, könnte er verletzt werden, und da
das eigentlich nichts bringt, beißt er sein Opfer manchmal einfach
und geht wieder weg. Da die Bakterien, die sich im Speichel des
Drachen befinden, allerdings so virulent sind, daß die Wunden nicht
verheilen, wird das gebissene Tier normalerweise innerhalb weniger
Tage an einer Blutvergiftung eingehen, und anschließend kann der
Drache es in aller Ruhe fressen. Er oder ein anderer Drache, wenn
der es zufällig vorher findet – sie sind wirklich nicht kleinlich.
Für die Art ist es gut und wichtig, daß die Versorgung mit
schwerverletzten und sterbenden Tieren überall auf der Insel
sichergestellt ist.
Es gab mal einen sehr bekannten Fall,
bei dem ein Franzose von einem Drachen gebissen wurde und
schließlich zwei Jahre später in Paris gestorben ist. Die Wunde
eiterte und heilte einfach nicht. Da es in Paris unglücklicherweise
keine Drachen gab, die davon hätten profitieren können, ist die
Strategie in diesem einen Fall gescheitert, aber normalerweise
funktioniert sie prima. Der Punkt ist einfach, daß man diese
Scheißkerle hier auf der Türschwelle liegen hat, und trotz der
Toleranz der Dorfbewohner von Komodo und Rinca hat es eine ganze
Reihe von Angriffen und Todesfällen gegeben. Also könnte mit der
Bevölkerungszunahme auch ein größerer Interessenkonflikt entstehen
und gleichzeitig die Bereitschaft abnehmen, sich bei jedem Ausflug
in die Gefahr zu begeben, ein Bein abgebissen zu kriegen oder sich
die Eingeweide von einem vorbeilaufenden Drachen aus dem Leib
reißen zu lassen.
Wie wir ja gesehen haben, ist Komodo
mittlerweile ein geschützter Nationalpark. Wir haben den Punkt
erreicht, an dem ein aktives und unverzügliches Einschreiten zum
Schutz seltener Arten notwendig ist, was üblicherweise durch
öffentliches Interesse unterstützt wird. Und öffentliches Interesse
wird durch öffentlichen Zugang aufrechterhalten. Wenn man diesen
Zugang sorgfältig kontrolliert und die Zerstörung auf ein Minimum
begrenzt, funktioniert es prima und ist schön und gut. Glaube ich. Obwohl ich nicht behaupten kann, daß
mir dabei ganz wohl ist.«
»Mir ist bei dieser ganzen Insel
überhaupt nicht wohl«, sagte Gaynor fröstelnd. »Als ob hier von
überallher irgendwas Heimtückisches auf einen
zukriecht.«
»Bildest du dir nur ein«, sagte Mark.
»Für einen Naturforscher ist es das Paradies.«
Vom Dach der Terrasse war plötzlich
ein Glitschen zu hören, und eine große Schlange fiel neben uns zu
Boden. Sofort kamen einige Wächter angelaufen und jagten sie zurück
in den Busch.
»Das hab ich mir ja wohl nicht
eingebildet«, sagte Gaynor. »Ich weiß«, sagte Mark begeistert. »Es
ist einfach herrlich.«
Begleitet von Kiri und einem Wächter,
zogen wir am Nachmittag los, um die Gegend zu erforschen. Wir
fanden zwar keine Drachen, als wir uns unbekümmert durch das
Unterholz schlugen, entdeckten aber statt dessen einen Vogel, der
mir sofort ans Herz wuchs.
Meinen Ruf als ziemlicher
Technik-Freak habe ich mir schwer erarbeitet, und ich bin selten
glücklicher als an jenen Tagen, die ich von morgens bis abends
damit zubringe, meinen Computer auf das automatische Erledigen
einer Aufgabe zu programmieren, die mich bei eigenhändiger
Ausführung gute zehn Sekunden kosten würde. Zehn Sekunden, sage ich
mir, sind zehn Sekunden. Zeit ist kostbar, und die Einsparung von
zehn Sekunden ist es allemal wert, einen Tag fröhlicher Aktivität
auf die Suche nach ihrer Einsparungsmöglichkeit zu
verwenden.
Der Vogel, auf den wir stießen, heißt
Taubenwallnister und hat eine sehr ähnliche Einstellung zum
Leben.
Er sieht ein bißchen aus wie ein
mageres, lebhaftes Huhn, obwohl er Hühnern gegenüber den Vorteil
hat – wenn auch etwas schwerfällig –, fliegen und so den Drachen
besser entwischen zu können, die nur in Märchen und einigen der
Alpträume fliegen können, von denen ich während meiner
Schlafversuche auf Komodo heimgesucht wurde.
Entscheidend ist, daß sich der
Taubenwallnister eine wundervolle Methode zur Arbeitseinsparung
ausgedacht hat. Die Arbeit, die er sich ersparen möchte, ist das
zeitraubende Auf-dem-Nest-Hocken und Eier-Ausbrüten, während er
doch zur gleichen Zeit unterwegs sein und etwas erledigen
könnte.
An dieser Stelle muß ich einräumen,
daß wir genaugenommen nicht auf den Vogel selbst stießen, obwohl
wir glaubten, einen durchs Unterholz abzischen gesehen zu haben.
Dafür stießen wir aber auf seine arbeitsparende Erfindung, die kaum
zu übersehen war. Es handelte sich um einen ungefähr einsachtzig
hohen und am Fuß ebenso breiten kegelförmigen Erdwall aus
dichtgepreßter Erde und verrottendem Laub. Tatsächlich war der Wall
noch wesentlich höher, als er wirkte, weil er selbst in einer
wiederum etwa einen Meter tiefen Mulde errichtet worden
war.
Ich habe gerade eine gute Stunde
damit zugebracht, an meinem Computer ein Programm zu schreiben, das
mir unverzüglich das Volumen des Walls mitteilt. Das Programm ist
übersichtlich und aufregend, mit allen möglichen Pop-up-Menüs und
solchem Zeug, und der Vorteil meiner Arbeitsweise besteht darin,
daß ich, falls ich irgendwann den Inhalt eines
Taubenwallnister-Nestes ausrechnen will, nur die Grundmaße eingeben
muß und von meinem Computer nach einer knappen Sekunde die Antwort
erhalte, was natürlich eine wundervolle Zeitersparnis darstellt.
Die Kehrseite könnte sein, daß ich wohl nie wieder in die
Verlegenheit kommen werde, den Inhalt eines Taubenwallnister-Nestes
ausrechnen zu wollen, aber was soll's: Der Rauminhalt dieses Walls
betrug knapp sieben Kubikmeter.
Der Wall ist ein vollautomatischer
Brutkasten. Die durch die chemischen Reaktionen im verrottenden
Laub entstehende Hitze hält die tief im Inneren des Walls
verbuddelten Eier warm – und nicht bloß einfach warm. Indem der
Taubenwallnister das Material wohlüberlegt aufstockt oder
reduziert, kann er genau die Temperatur einstellen, die die Eier
benötigen, um angemessen vor sich hin zu brüten.
Der Taubenwallnister muß also zum
Ausbrüten seiner Eier nicht mehr tun, als zweieinhalb Kubikmeter
Erde auszuheben, das entstandene Loch mit zweieinhalb Kubikmetern
verrottendem Laub zu füllen, weitere viereinhalb Kubikmeter Laub zu
sammeln, daraus einen Wall zu bauen und die darin entstehende Hitze
anschließend ständig im Auge zu behalten und herumzurennen, um hier
ein bißchen was draufzulegen und dort ein bißchen was
wegzunehmen.
Womit er sich die ganze Mühe erspart,
ab und zu auf seinen Eiern zu hocken.
Das heiterte mich unheimlich auf und
versetzte mich in eine ausgelassene Stimmung, die während des
ganzen Rückwegs zum Besucherdorf anhielt, bis zu genau dem
Augenblick, in dem wir die Hütte betraten, die man uns als
Schlafquartier zugewiesen hatte.
Sie war ziemlich groß und stand, wie
ich schon sagte, auf Pfählen – aus naheliegenden Gründen. Nur war
das Holz, das man zum Bau benutzt hatte, halb verfault, in den
kleinen Schlafzimmern lagen feuchte, stinkende Matratzen, in allen
Ecken hingen bedenklich große Spinnennetze, auf dem Boden lagen
tote Ratten, und über allem schwebte der Gestank einer verstopften
Toilette.
Wir versuchten spaßeshalber, dort zu
schlafen, wurden aber letztlich von den Geräuschen der Ratten
vertrieben, die über uns, in den Hohlräumen des Daches, mit
irgendwelchen Schlangen kämpften, brachten unsere Schlafsäcke
schließlich hinunter zum Boot und schliefen an Deck.
Wir erwachten früh am nächsten
Morgen, ausgekühlt und feucht vom Tau, aber in dem guten Gefühl, in
Sicherheit zu sein. Wir rollten unsere Schlafsäcke zusammen und
machten uns auf den Rückweg über den wackligen Steg und durch den
Torbogen.
Wieder fiel uns der Geruch der Insel
an, kaum daß wir den Torbogen hinter uns gelassen hatten, und
empfing uns in der heimtückischen anderen Welt, auf
Komodo.
Man hatte uns angekündigt, daß wir
die Drachen an diesem Morgen definitiv zu sehen bekämen. Große
Drachen. Wir wußten nicht genau, was uns erwartete, aber es war
nicht das, womit wir ursprünglich gerechnet hatten. Es hatte nicht
den Anschein, als müßten wir eine tote Ziege am Boden festpflocken
und uns dann den ganzen Tag über auf einem Baum versteckt
halten.
An diesem Tag sollten sich fast
ausschließlich Dinge ereignen, mit denen wir nicht gerechnet
hatten, was schon mit der Ankunft von ungefähr zwei Dutzend
amerikanischen Touristen auf einem extra gecharterten Boot begann.
Die meisten waren im Frührentner-Alter, ausgerüstet mit Kameras,
Freizeitanzügen aus Polyamid, goldgeränderten Brillen, kamen, ihrem
Akzent nach zu urteilen, aus dem mittleren Westen und sahen in
meinen Augen auch nicht unbedingt aus, als wollten sie den ganzen
Tag auf einem Baum hocken.
Durch ihre Ankunft gingen wir schwer
angeschlagen in die Knie und spürten, daß sich in diesem Moment
auch der letzte Hauch von Unerschrockenheit verabschiedete, an den
wir uns noch geklammert hatten.
Wir fanden einen Wächter und fragten
ihn, was eigentlich los sei. Er sagte, wir könnten vorausgehen,
falls wir der großen Gruppe aus dem Weg gehen wollten, also brachen
wir unverzüglich auf. Wir wanderten über einen drei oder vier
Meilen langen Waldweg, der offenbar sorgfältig angelegt und ebenso
sorgfältig ausgetreten war. Die Luft war heiß und stickig, und wir
hatten wegen der uns bevorstehenden Ereignisse ein flaues,
unsicheres Gefühl in der Magengegend. Nach einiger Zeit hörten wir
irgendwo vor uns das leise Läuten einer Glocke und beschleunigten
unsere Schritte, um die Ursache herauszufinden. Wir bogen um eine
Ecke und sahen uns mit einer Realität konfrontiert, die einem
wirklich den Magen umdrehte.
Bis zu diesem Augenblick hatte dem
ganzen Erlebnis etwas Traumartiges angehaftet. Es war, als
versetzten einen das Durchqueren des Torbogens und das Einatmen des
abgestandenen Geruchs dieser Insel in eine Traumwelt, in der
Begriffe wie »Drachen«, »Schlange« und »Ziege« fantastische
Bedeutungen erlangten, die in der wirklichen Welt weder
Entsprechungen noch Konsequenzen hatten. Jetzt aber beschlich mich
das Gefühl, der Traum gehe den Bach runter und verwandle sich in
genau die Art Alptraum, aus dem man erwacht und feststellen muß,
daß man tatsächlich ins Bett gemacht hat, daß einen tatsächlich
jemand schüttelt und anschreit und daß der beißende Rauchgeruch
tatsächlich daher rührt, daß einem gerade das Dach über dem Kopf
abbrennt.
Vor uns stand eine junge Ziege. Sie
trug ein Halsband mit Glocke und ließ sich widerwillig von einem
Wächter über den Weg führen. Betäubt schlichen wir ihr nach.
Gelegentlich trottete sie unschlüssig einige Schritte hinter dem
Wächter her, schien dann jedoch plötzlich von einer grauenhaften
Vorahnung gepackt zu werden, stemmte die Vorderbeine in den Boden,
senkte den Kopf und wehrte sich, verzweifelt meckernd und blökend,
gegen das Zerren des Mannes. Der Wächter riß energisch am Seil und
schlug der Ziege mit einem Büschel belaubter Zweige, das er in der
anderen Hand hielt, gegen die Hinterbeine, bis sie schließlich,
weggetreten vor Angst, ein paar Schritte weitertaumelte und
-trottete. Für die Ziege bestand kein sichtbarer Anlaß, sich
derartig zu fürchten, und, soweit wir das beurteilen konnten, auch
kein hörbarer; aber wer weiß schon, was die Ziege von jenem Ort
her, auf den wir zusteuerten, riechen konnte.
Unsere ohnehin schon schwer gedrückte
Stimmung erhielt die nächste Abreibung von der Seite, aus einer
vollkommen unerwarteten Richtung. Wir stießen auf eine runde
Betonfläche, die sich mitten auf einer Lichtung befand. Der Kreis
hatte einen Durchmesser von zirka sechs Metern und war mit zwei
parallel verlaufenden Streifen bemalt, die in der Mitte durch einen
geraden schwarzen Strich verbunden waren. Es dauerte eine Weile,
bis wir das Symbol erkannten. Dann begriffen wir. Es war ein »H«,
nichts weiter. Der Kreis war ein Hubschrauberlandeplatz. Um sich
anzusehen, was dieser Ziege bevorstand, reisten also Leute mit dem
Hubschrauber an.
Betäubt und benebelt trotteten wir
weiter und fanden vollkommen bedeutungslose Dinge urplötzlich zum
Brüllen komisch, als marschierten wir vorsätzlich auf etwas zu, das
auch uns vernichten sollte.
Der Weg, der vom
Hubschrauberlandeplatz wegführte, war noch ordentlicher als der,
der hinter uns lag. Er war mehrere Meter breit und zu beiden Seiten
von einem stabilen, ungefähr einen halben Meter hohen Holzzaun
begrenzt. Wir folgten ihm ein paar hundert Meter weit, bis wir
schließlich eine breite, drei Meter tiefe Grube erreichten, in
deren Nähe es einiges zu sehen gab.
Links von uns war eine Art
Tribüne.
Mehrere Sitzbänke waren, von einem
schrägen Dach gegen die Sonne oder andere Witterungseinflüsse
geschützt, hintereinander aufgereiht. Am vorderen Geländer der
Tribüne waren die beiden Enden eines langen blauen Nylonseils
befestigt, das hinunter in die Grube führte und über eine
Flaschenzugrolle lief, die ihrerseits an den Ästen eines kleinen,
krummen Baumes befestigt war. Am Seil hing ein kleiner
Eisenhaken.
Um den Baum herumgruppiert aalten
sich sechs große, matschiggraue Drachenechsen im trüben Licht
dieses heißen, aber bedeckten Tages und im Verwesungsgestank des
Todes. Die größte von ihnen war ungefähr drei Meter
lang.
Anfangs fiel es mir wirklich schwer,
ihre Größe zu schätzen. Wir waren noch nicht nahe genug, das Licht
war zu dunstig und zu grau, um sie mit dem Auge richtig erfassen zu
können, und das Auge war schlicht und einfach nicht daran gewöhnt,
etwas dermaßen Großes mit einer Echsenform in Verbindung zu
bringen.
Ich starrte sie eine Zeitlang
entgeistert an, bis ich merkte, daß Mark mir auf den Arm klopfte.
Ich sah mich um. Ein großer Drache näherte sich uns von der anderen
Zaunseite her.
Er war aus dem Unterholz aufgetaucht,
wohl wissend, daß die Ankunft von Menschen mit der Fütterungszeit
gleichzusetzen war. Später erfuhren wir, daß die in Grubennähe
herumhängende Drachengruppe sich kaum mehr von dort entfernte und
eigentlich nur noch darauf beschränkte, herumzuliegen und auf die
Fütterung zu warten.
Der Waran tappte auf uns zu,
klatschte seine Füße aggressiv auf den Boden, zuerst den linken
Vorder- und rechten Hinterfuß, dann das andere Beinpaar, und
bewegte sich trotz seines großen Gewichtes leicht und federnd mit
der schwingenden, entschlossenen Gangart eines Schlägers. Er ließ
seine lange, dünne, bleiche, gespaltene Zunge vor- und
zurückschnellen und versuchte, den Geruch toter Dinge aus der Luft
zu schmecken.
Er erreichte die gegenüberliegende
Zaunseite, begann dort unwirsch auf und ab zu wandern und schwang
und schürfte seinen schweren Schwanz erwartungsvoll über den
staubigen Boden. Die grobe, schuppige Haut hing ihm locker wie ein
Kettenhemd vom Körper und bildete unmittelbar hinter seinem
länglichen Totenschädel von einem Gesicht eine Reihe kuhartiger
Hautfalten. Die Beine des Warans waren stämmig und muskulös und
endeten in Klauen, die man normalerweise am Ende von
Messingtischbeinen vorzufinden erwartet.
Das Ding ist nur ein Waran und doch
bis zu einem geradezu unwirklichen Grad massiv. Wenn er den Kopf
über den Zaun hebt und beim Abdrehen mitschwenkt, fragt man sich
unwillkürlich, wie es funktioniert und was für ein Trick
dahintersteckt.
In diesem Augenblick kam die
Touristengruppe fröhlich, unbeeindruckt und neugierig auf das, was
anstand, über den Pfad in unsere Richtung gezottelt. Guck mal, da
ist einer von diesen Drachen. Ooh, das ist aber 'n Großer. Sieht ja
übel aus, der Bursche!
Das Schlimmste sollte aber noch
kommen.
Die Ziege wurde in taktvoller
Entfernung hinter der Tribüne geschlachtet. Zwei der Parkwächter
drückten die ausschlagende, meckernde Kreatur zu Boden, legten
ihren Nacken auf einen Holzklotz und hackten ihr mit einer Machete
den Kopf ab. Um die heftige Blutung zu stillen, drückten sie das
Büschel Laubzweige auf die Wunde. Es dauerte einige Minuten, bis
die Ziege sich nicht mehr regte.
Unmittelbar danach schnitten die
Wächter ein Hinterbein für den Drachen hinter dem Zaun ab, nahmen
den Rest des Ziegenkadavers und befestigten ihn mit dem Haken an
dem blauen Nylonseil. Er schaukelte und schwankte im Wind hin und
her, als sie ihn zu den in der Grube liegenden Drachen
hinunterkurbelten.
Eine Weile zeigten sich die Drachen
allenfalls mäßig interessiert. Es waren wohlgenährte und schläfrige
Drachen. Schließlich raffte sich einer auf, näherte sich dem
hängenden Kadaver und schlitzte sanft dessen weichen Bauch auf. Ein
Riesenschlamassel aus Gedärm glitschte aus der Ziege und ergoß sich
über den Kopf des Warans. Dort blieb es eine Zeitlang dampfend
liegen. Der Waran schien, jedenfalls für den Augenblick, nicht
weiter daran interessiert.
Dann wuchtete sich einer der anderen
Drachen in Bewegung und kam näher. Er beschnüffelte und bezüngelte
die Luft und begann daraufhin, dem ersten Drachen die Innereien der
toten Ziege vom Kopf zu fressen, bis dieser ihn anschnauzte und
einen Teil der Mahlzeit für sich beanspruchte. Beim ersten
Zuschnappen floß eine grüne Flüssigkeit aus dem glänzenden grauen
Knäuel, und im weiteren Verlauf der Mahlzeit wurden die Köpfe aller
Drachen triefend naß von dieser grünen Flüssigkeit.
»Mensch, so sind sie richtig riesig.
Pauline«, sagte ein neben mir stehender Mann, der durch einen
Feldstecher sah. »So wirken sie viel größer, als sie sind. Ich sag
dir, wenn man da durchguckt, sind sie tatsächlich so groß, wie ich
immer gedacht hab.«
Er gab den Feldstecher an seine Frau
weiter.
»O ja, das macht wirklich was aus!«
sagte sie.
»Der Feldstecher ist echt große
Klasse, Pauline. Und nicht mal schwer.«
Andere Mitglieder der Reisegruppe
versammelten sich um die beiden.
»Darf ich auch mal gucken? Wem gehört
der?«
»Mann, das war was für
Howard!«
»Al? Al, guck dir mal den Feldstecher
hier an – und fühl mal, wie schwer der ist!«
Als ich gerade nachsichtig anmerkte,
der Feldstecher stelle eigentlich nur eine willkommene Ablenkung
dar, um sich die höllische Vorstellung in der Grube nicht wirklich
ansehen zu müssen, rief die Frau, die ihn im Moment mit Beschlag
belegt hatte, fröhlich: »Gulp, gulp, gulp! Alles weg! Was für ein
Verdauungssystem! Jetzt hat er uns gewittert!«
»Der will bestimmt richtig frisches
Fleisch«, brummte ihr Mann. »Lebendiges, das noch
zuckt.«
Tatsächlich dauerte es fast eine
Stunde, bis die Ziege restlos verschwunden war, und zu diesem
Zeitpunkt hatte die Gruppe bereits schnatternd den Rückweg zum Dorf
angetreten. Beim Aufbruch gestand uns eine einsame Engländerin, sie
mache sich eigentlich nicht viel aus den Drachen. »Mir gefällt die
Gegend«, sagte sie verträumt. »Die Drachen kriegt man halt dazu.
Und natürlich ist das Ganze mit all diesen Haken und Ziegen und
Touristen wirklich nur eine große Show. Wenn man allein rumlaufen
und auf einen von denen treffen würde, ja, das wäre schon was
anderes, aber so ist es einfach nur Kasperletheater.«
Nachdem sie alle verschwunden waren,
sagte uns der Wächter, wir könnten, falls wir wollten, in die Grube
hinunterklettern und uns die Drachen aus der Nähe ansehen, was wir
dann auch unter heftigen Schwindelgefühlen taten. Zwei Wächter
begleiteten uns, bewaffnet mit langen Stöcken, die sich am Ende
gabelten. Damit drückten sie die Drachen am Nacken weg, wenn sie
uns zu nahe kamen oder anfingen, aggressiv zu wirken.
Viel zu verängstigt, um wirklich zu
begreifen, was wir eigentlich taten, kraxelten und rutschten wir
durch eine Rinne nach unten, und binnen weniger Minuten fand ich
mich vor dem größten Drachen wieder. Da er schon reichlich
gefressen hatte, betrachtete er mich ohne besonderes Interesse. Ein
Streifen tropfendes Gedärm hing ihm aus dem offenen Maul, und sein
Gesicht glänzte von Blut und Speichel. Das Innere seines Maules war
blaß hellrosa gefärbt, und sein stinkender Atem sorgte zusammen mit
dem der heißen, fauligen Grubenluft für einen dermaßen
überwältigenden Gestank, daß unsere Augen brannten und tränten und
wir vor Ekel halb bewußtlos wurden.
Alles, was von der meckernden Ziege
übriggeblieben war, der wir über den Weg hinterhergestolpert waren,
war ein blutiges, zerfetztes Bein, das am Knöchel vom Haken an dem
blauen Nylonseil herunterhing. Nur einer der Drachen interessierte
sich noch dafür und kaute lustlos an den Oberschenkelmuskeln herum.
Dann bekam er das ganze Bein richtig zu fassen und versuchte, es
mit fiesen, ruckartigen Kopfbewegungen vom Haken zu reißen, aber es
saß fest. Der Waran zog und zerrte und manövrierte sich selbst
immer weiter nach vorn, so daß mehr und mehr von dem Bein in seinem
Rachen verschwand, bis nur noch der Huf und der Haken herausragten.
Doch schon nach kurzer Zeit gab der Drache es auf, sich damit
abzumühen, hockte sich einfach hin und blieb in dieser Pose
mindestens zehn Minuten lang reglos sitzen, bis ihm einer der
Wächter den Gefallen tat, das Bein unterhalb des Hakens mit der
Machete abzuschlagen. Der letzte Ziegenüberrest rutschte dem
Echsenmagen entgegen, um dort zusammen mit Knochen, Hufen, Hörnern
und allem anderen langsam von den zersetzenden Kräften der Enzyme
aufgelöst zu werden, die sich im Verdauungstrakt eines
Komodo-Warans aufhalten.
Wir entschuldigten uns und
verschwanden.
Das erste der restlichen drei Hühner
hatte seinen Auftritt beim Mittagessen, aber uns war nicht nach
Huhn. Lustlos schubsten wir die knochigen Teile über unsere Teller
und fanden kaum Gesprächsstoff.
Am Nachmittag fuhren wir mit dem Boot
zur Hauptsiedlung auf Komodo und trafen uns dort mit einer Frau,
die als einzige Überlebende eines Drachenangriffs galt. Sie war bei
der Feldarbeit von einer riesigen Echse angefallen worden, und bis
die Nachbarn und deren Hunde auf ihre Schreie hin herbeigeeilt
waren und die Bestie in die Flucht geschlagen hatten, war eines
ihrer Beine vollkommen zerfetzt gewesen. Langwierige Operationen
auf Bali bewahrten sie vor einer Amputation, und wie durch ein
Wunder schüttelte sie die Infektion ab und überlebte, wenn auch ihr
Bein verstümmelt blieb. Man erzählte uns, auf Rinca, der
Nachbarinsel, sei ein vierjähriger Junge von einem Drachen
geschnappt worden, als er auf der Treppe vor seinem Elternhaus
gelegen und gespielt hatte. Die Lebenden bauen ihre Häuser auf
Pfählen, aber auf diesen Inseln sind nicht einmal die Toten sicher,
und über ihren Gräbern werden scharfkantige Felsbrocken
aufgetürmt.
Meinem rationalen westlichen
Intellekt und meiner Erziehung zum Trotz überkam mich in diesem
Augenblick das Gefühl, in einer archaischen Welt zu leben, die von
einem heimtückischen, perversen Gott regiert wurde, und trübte
meinen Blick auf alles, was ich an diesem Nachmittag sah – sogar
auf die Kokosnüsse. Die Dorfbewohner verkauften uns ein paar und
schlugen sie für uns auf. Kokosnüsse sind nahezu perfekt
konstruiert. Zuerst bohrt man sie an und trinkt die Milch, dann
schlägt man die Nuß mit einer Machete auf und schneidet ein Stück
Schale ab, das als Werkzeug zum Herausschneiden des
Kokosnußfleisches dient. Was einen an dem verantwortlichen
Götterwesen verwundert, ist, daß es etwas zum menschlichen Gebrauch
dermaßen perfekt Geeignetes erfindet und es dann in sieben Metern
Höhe an einem astlosen Baum aufhängt.
Ich hab mir was Kniffliges einfallen
lassen, mal sehen, wie sie damit klarkommen. Oh, sieh mal einer an!
Sie haben herausbekommen, wie man auf die Bäume klettert. Hätte ich
ihnen nicht zugetraut. Na fein, mal sehen, wie sie das Ding
aufkriegen. Hmm, jetzt haben sie also auch noch spitzgekriegt, wie
man Stahl härtet. Also gut, Schluß mit der netten Tour. Wenn sie
das nächste Mal auf diesen Baum klettern wollen, wird sie unten ein
Drache erwarten.
Die Geschichte mit dem Apfel muß ihn
doch mehr verärgert haben, als ich gedacht hatte.
Ich ging und setzte mich neben einem
Mangrovenbaum an den Strand und betrachtete die sich sanft
kräuselnde See.
Ein paar Fische hüpften über den
Strand und auf einen Baum, und obwohl ich es eher komisch finde,
wenn Fische solche Dinge tun, gab ich mir Mühe, sie nicht dafür zu
verdammen. Ich hatte ein ziemlich flaues Gefühl, was meine eigene
Art anging, und verspürte keine Neigung, wegen anderer spöttisch
die Augenbrauen hochzuziehen. Wenn es ihnen Spaß machte, sollten
diese Fische in den Bäumen spielen, soviel sie wollten; solange sie
nicht versuchten, sich zu rechtfertigen oder einander weiszumachen,
ein heimtückischer Gott sorge dafür, daß sie gern in den Bäumen
spielten.
Was meine eigene Art anging, hatte
ich ein ziemlich flaues Gefühl, weil wir uns anmaßen, eine
Entscheidung zwischen dem, was wir als gut, und dem, was wir als
böse bezeichnen, zu treffen. Die Verkörperung dessen, was wir als
böse bezeichnen, entdecken wir in Dingen, die nicht in uns sind,
sondern in Lebewesen, die von all diesen Fragen nichts wissen,
weshalb wir uns von ihnen abgestoßen und uns im Gegensatz zu ihnen
gut fühlen können. Und falls es ihnen nicht aus eigener Kraft
gelingt, uns ausreichend anzuwidern, heizen wir sie mit einer Ziege
an. Sie wollen die Ziege nicht, sie brauchen sie nicht. Falls sie
eine wollten, würden sie sie ohne fremde Hilfe finden. Das einzig
wirklich Abstoßende, was mit der Ziege geschieht, verursachen in
Wirklichkeit wir.
Warum also hatten wir nichts gesagt?
Zum Beispiel: »Bringt die Ziege nicht um!«
Tja, dafür gibt es eine ganze Reihe
von möglichen Gründen:
- Wenn man die Ziege nicht
unseretwegen getötet hätte, dann für andere – zum Beispiel für die
amerikanische Touristengruppe.
- Wir begriffen erst, als es bereits
zu spät war, was da vor sich gehen sollte.
- Die Ziege hatte sowieso kein
besonders angenehmes Leben. Besonders heute nicht.
- Wahrscheinlich hätte sie sonst
später ein anderer Drache gekriegt.
- Wenn es nicht die Ziege gewesen
wäre, hätten die Drachen eben etwas anderes bekommen, einen Hirsch
oder ähnliches.
- Wir mußten für dieses Buch und für
die BBC von dem Vorfall berichten. Die vollständige Erfahrung war
wichtig, um die Leute detailliert darüber informieren zu können.
Eine Ziege wird das ja wohl wert sein.
- Wir waren uns zu fein, »bitte,
bringt die Ziege nicht unseretwegen um« zu sagen.
- Wir waren ein Haufen stockfeiger,
rationalistischer Drecksäcke.
Das Tolle daran, die einzige zwischen
richtig und falsch unterscheidende Art zu sein, ist, daß wir uns
immer genau die Regeln ausdenken können, die uns gerade in den Kram
passen.
Die Fische hoppelten noch immer
unschuldig den Baumstamm rauf und runter. Sie waren ungefähr acht
Zentimeter lang und braun-schwarz, mit kleinen Bommelaugen, die
dicht nebeneinander auf ihren Köpfen klebten. Sie hoppelten vorbei
und benutzten ihre Flossen als Krücken.
»Schlammspringer«, sagte Mark, der in
diesem Moment vorbeikam. Er ging in die Hocke, um sie sich
anzusehen.
»Was machen sie auf dem Baum?« fragte
ich.
»Man könnte sagen, daß sie am
Experimentieren sind«, sagte Mark. »Sollte sich herausstellen, daß
sie an Land besser zurechtkommen als im Wasser, entwickeln sie sich
im Laufe der Zeit möglicherweise zu Landbewohnern. Im Augenblick
nehmen sie eine bestimmte Sauerstoffmenge durch die Haut auf, aber
von Zeit zu Zeit müssen sie zurück ins Meer, um sich einen Mundvoll
Wasser zu holen und es durch die Kiemen zu schleusen. Aber das kann
sich ändern. Hat es ja schon gegeben.«
»Was meinst du?«
»Na, es ist mehr als wahrscheinlich,
daß das Leben auf diesem Planeten im Wasser begonnen hat und daß
die Meereslebewesen auf der Suche nach neuen Lebensräumen aufs
Festland gezogen sind. Vor mehr als 350 Millionen Jahren gab es mal
einen Fisch, der große Ähnlichkeit mit dem Schlammspringer hatte.
Er kam an Land, indem er seine Flossen als Krücken benutzte.
Durchaus möglich, daß das der Urahn aller an Land lebenden
Wirbeltiere war.«
»Ehrlich? Wie hieß der?«
»Ich glaube nicht, daß er damals
schon einen Namen hatte.« »Also ist dieser Fisch, was wir vor 350
Millionen Jahren waren?«
»Gut möglich.«
»Also könnte in 350 Millionen Jahren
einer seiner Nachkommen hier mit einer Kamera um den Hals am Strand
sitzen und andere Fische aus dem Meer hoppeln sehen?«
»Keine Ahnung. Über so was sollen
sich Science-fiction-Autoren den Kopf zerbrechen. Als Zoologen
können wir nur sagen, was unserer Meinung nach bisher passiert
ist.«
Ich fühlte mich plötzlich, tja,
entsetzlich alt, als ein
Schlammspringer mit seinem mir jetzt so wunderbar hoffnungslos,
grenzenlos und naiv erscheinenden Optimismus an mir vorbeihoppelte.
Er hatte einen noch so schrecklich, schrecklich, schrecklich weiten
Weg vor sich. Ich hoffte, daß sein Nachfahre, falls er in 350
Millionen Jahren mit einer Kamera um den Hals an diesem Strand
säße, das Gefühl hätte, die Reise habe sich gelohnt. Ich hoffte,
daß er ein besseres Verständnis seiner selbst und seiner Umwelt
haben würde als wir. Ich hoffte, daß ihm etwas Besseres einfallen
möge, als andere Lebewesen in Horror-Zirkusnummern zu verwandeln,
um ihr Überleben zu sichern. Ich hoffte, daß er, falls jemand nur
der schaurigen Show zuliebe versuchte, den entfernten Nachkommen
einer Ziege an den entfernten Nachkommen eines Drachen zu
verfüttern, dies für falsch halten würde.
Ich hoffte, er würde nicht zu feige
sein, dann auch den Schnabel aufzureißen.