- Douglas Adams
- Die letzten ihrer Art
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Ein Pillenschachtel-Hütchen aus
Leopardenfell
Indem wir entgegen unserer
ursprünglichen Absicht einen Missionsflug nach Zaire nahmen, jagten
wir uns selbst einen gehörigen Schrecken ein. Alle planmäßigen
Flüge von und nach Kinshasa waren wegen des plötzlichen Ausbruchs
eines häßlichen Streits zwischen Zaire und dessen
Ex-Kolonialherren, den Belgiern, eingestellt worden, und die
Hintertür-Strecke via Nairobi hatten wir nur Marks raffinierten
Schachzügen zu verdanken, der von Godalming aus durch die Nacht
telexte.
Wir waren gekommen, um Nashörner
aufzutreiben: die nördliche Unterart der weißen Nashörner, von
denen noch zwanzig in Zaire lebten und acht in der
Tschechoslowakei. Die tschechoslowakischen Nashörner leben
natürlich nicht in freier Wildbahn und haben es lediglich der
lebenslangen fanatischen Arbeit eines Mitte dieses Jahrhunderts
verstorbenen Sammlers weißer Nashörner zu verdanken, daß sie
überhaupt in der Tschechoslowakei sind. Außerdem leben noch ein
paar Exemplare im Zoo von San Diego in Kalifornien. Wir hatten
beschlossen, über einen Umweg ins Nashorngebiet zu fahren, um uns
unterwegs noch ein paar andere Dinge anzusehen.
Das Flugzeug war ein Sechzehn-Sitzer,
der mit uns dreien – Mark, unserem BBC-Tontechniker Chris Muir und
mir – sowie dreizehn Missionaren besetzt war. Oder, besser gesagt,
nicht mit dreizehn richtigen Missionaren, sondern einer Mischung
aus Missionaren, Missionsschullehrern und einem älteren
amerikanischen Ehepaar, das sich sehr für Missionsarbeit
interessierte und Strohhüte aus Miami, Kameras und entrückte,
gütige Blicke zur Schau trug, die es jedem unverhohlen zuteil
werden ließ, ob man sie nun wollte oder nicht.
Wir waren zwei Stunden in der
brütenden Hitze um das baufällige Zoll- und Einreisebüro in einer
der hintersten Ecken des Flughafens von Nairobi herumgekrochen, um
unsere Maschine und unsere Mitreisenden auszumachen. Es ist nicht
leicht, einen Missionar auf den ersten Blick zu erkennen, aber
irgend etwas eindeutig Komisches ging vor sich, denn jedermann
bemühte sich, seinen Platz auf der einzigen Sitzgelegenheit, einer
schmalen, dreisitzigen Bank, die unter einem Dach im Schatten
stand, aufzugeben und seinem Nachbarn anzubieten, so daß die Bank
letztlich leer blieb und wir alle blinzelnd und verwelkend in der
erblühenden Morgenhitze herumstanden. Nachdem wir das eine Stunde
lang getan hatten, murmelte Chris irgend etwas Schottisches in
seinen Bart, stellte seine Ausrüstung ab, legte sich auf die leere
Bank und schlief, bis die Maschine startbereit war. Ich wünschte,
das wäre mir eingefallen.
Einer ganzen Reihe von Marks
Bemerkungen hatte ich entnommen, daß er Missionare nicht ausstehen
konnte, denen er bei seiner Tätigkeit in Afrika und Asien häufig
begegnet war, und als wir über das heiße Flugfeld zur Maschine
gingen und unsere zierlichen, engen Sitze einnahmen, wirkte er
ungewöhnlich angespannt und verschlossen. Als das Flugzeug dann
über die Piste zu rollen begann, nahm auch meine eigene Anspannung
zu, da die Begrüßung des Piloten aus einer Beschreibung unserer
Reiseroute, einer Erklärung der Sicherheitsvorkehrungen und einem
kurzen Gebet zusammensetzte.
Das »Herr, gepriesen sei Dein Name,
weil Du diesen Tag für uns gesegnet hast« machte mir noch nicht
besonders zu schaffen, aber »Wir legen unser Leben in Deine Hände,
Herr« ist, ehrlich gesagt, nicht gerade das, was man von einem
Piloten hören möchte, wenn er Vollgas gibt. Unsere Fingerknöchel
waren kalkweiß, als wir über die Rollbahn rasselten, und als wir
aufstiegen, kam uns eine große, alte, zigarrenförmige Dakota
entgegen, die wegen Schlechtwetters über dem Großen Rift Valley mit
dreißig Jahren Verspätung zur Landung ansetzte.
Im krassen Widerspruch zu all unseren
vernünftigen Erkenntnissen über Geographie und Geometrie ist der
Himmel über Kenia schlicht und einfach größer als irgendwo sonst.
Wenn man in ihn hineingehoben wird, sieht man sich angesichts des
immensen, unbegrenzten Raumes zwischen sich und dem unendlich weit
entfernten Horizont von einem Gefühl gesteigerter Ehrfurcht
überwältigt.
Andererseits war die Atmosphäre an
Bord der Maschine so klaustrophobisch nett, daß einem die Galle
hochkam. Alle waren nett, alle lächelten, alle lachten dieses
gräßlich gütige, ersterbende Lachen, das einem den letzten Nerv
raubt, und alle trugen eigenartigerweise Brillen. Und zwar nicht
bloß einfach Brillen. Sie trugen fast alle die gleiche Brillen, mit
oben schwarzen und unten durchsichtigen Fassungen, genau die Art,
die nur englische Vikare, Chemielehrer und eben Missionare tragen.
Wir saßen da und rissen uns zusammen.
Es fällt mir sehr schwer, nicht
unmelodisch zu summen wenn ich versuche, mich zusammenzureißen, und
dieses Summen muß wohl den Missionar neben mir irgendwie verärgert
haben, was er mir signalisierte, indem er mich so lange mit seinem
entsetzlich gütigen, ersterbenden Lachen bedachte, bis ich ihn am
liebsten gebissen hätte.
Der Missionsgedanke gefällt mir
nicht. Genauer gesagt, löst dieses Geschäft bei mir nur Angst und
Sorge aus. Ich glaube nicht an Gott, zumindest nicht an jenen Gott,
den wir Engländer uns ausgedacht haben, um unseren eigenartigen
englischen Bedürfnissen gerecht zu werden, und ganz bestimmt nicht
an jene Götter, die man in Amerika erfunden hat und die ihre
Schäfchen mit Toupets, Fernsehstationen und – was am
allerwichtigsten ist – gebührenfreien Telefonnummern versorgen. Ich
wünschte, diejenigen, die an diese Dinge glauben, würden das Zeug
für sich behalten und nicht in die Entwicklungsländer exportieren.
Ich saß da und betrachtete die Miami-Hüte, die aus dem Fenster auf
Afrika herabsahen – da saßen sie zwischen einer unermeßlichen
Landmasse und einem unermeßlichen Himmel und lächelten
unbegreiflicherweise einen Kontinent an. Ich glaube, Conrad hat mal
etwas Ähnliches über ein Boot gesagt.
Sie lächelten dem Mount Kenya zu,
strahlten den Kilimandscharo an und waren liebreizend gütig zum
Großen Rift Valley, während es majestätisch unter uns durchzog. Sie
waren sogar hoch erfreut und glücklich über eine kurze
Zwischenlandung in Mwanza, Tansania, was man, wie sich
herausstellen sollte, von uns nicht behaupten konnte.
Vor einer Art
Bushaltestellenhäuschen, das Mwanza als Flughafen diente, trudelte
die Maschine zum Stillstand, und wir wurden gebeten, für eine halbe
Stunde auszusteigen und in der »International Transit Lounge« zu
warten. Diese Lounge bestand aus einem großen Betonverschlag mit
zwei großen, durch einen Gang verbundenen Räumen. Das Gebäude
wirkte wie frisch bombardiert – die Wände hatten riesige Löcher,
und ein rostiges Drahtgewirr quoll aus ihrem Inneren und durch
vergilbte Italienposter. Wir gingen hinein, um die halbe Stunde
abzuwarten, stellten die Taschen mit unserer Fotoausrüstung auf den
Boden und ließen uns in die lädierten Sitze sacken. Ich kramte eine
Zigarette heraus, und Mark kramte seine Kamera heraus, um mich beim
Rauchen zu fotografieren. Mehr konnten wir ja nicht
tun.
Kurz darauf sah ein Mann in einem
braunen schmutzabweisenden Anzug zu uns herein, fand unseren
Anblick nicht gerade berauschend und fragte, ob wir
Transit-Passagiere wären. Wir sagten, ja, wären wir. Er schüttelte
grenzenlos verdrossen den Kopf und sagte, wenn wir
Transit-Passagiere wären, müßten wir in dem anderen der beiden
Räume sein. Wer das nicht wußte, mußte offensichtlich geisteskrank
oder zumindest ziemlich beschränkt sein. Gegen den Türrahmen
gesackt, stand er da und zog pikiert die Augenbrauen hoch, bis wir
unseren Kram zusammenpackten und durch den Gang in den Nebenraum
schleiften. Er sah uns nach, schüttelte den Kopf, verwundert und
betroffen darüber, wie heillos dämlich die Menschheit im
allgemeinen und wir im besonderen waren, und schloß dann hinter uns
die Tür.
Der zweite Raum sah genauso aus wie
der erste, abgesehen von einer in eine Wand eingelassenen Luke. In
dieser Luke, ein Schalter, lehnte ein großes, abwesend wirkendes
Mädchen mit aufgestützten Armen und gegen die Wangenknochen
gedrückten Fäusten. Sie beobachtete an der Wand hochkrabbelnde
Fliegen, ohne dabei besonderes Interesse an den Tag zu legen, weil
die Fliegen nichts Überraschendes taten, aber immerhin taten sie
überhaupt irgend etwas. Hinter dem Mädchen stand ein mit Keksen,
Schokoladentafeln, Cola und einer Kanne Kaffee vollgestapelter
Tisch, und wie eine Horde Wiesel marschierten wir sofort darauf zu.
Kurz bevor wir den Tisch erreichten, wurden wir allerdings von
einem Mann in einem blauen schmutzabweisenden Anzug abgefangen, der
uns fragte, was wir hier zu suchen hätten. Wir setzten ihm
auseinander, wir seien Transit-Passagiere auf dem Weg nach Zaire,
woraufhin er uns ansah, als habe sich unser Verstand jetzt
vollständig verabschiedet.
»Transit-Reisende?« fragte er. »Transit-Reisende
dürfen sich hier überhaupt nicht aufhalten.« Er winkte uns mit
einer erhabenen Geste vom Snack-Tresen weg, ließ uns unseren ganzen
Kram wieder aufsammeln und scheuchte uns durch die Tür und den Gang
zurück in den ersten Raum, wo uns der Mann in dem braunen
schmutzabweisenden Anzug eine Minute später erneut
entdeckte.
Er sah uns an.
Ein zentnerschweres Unverständnis
überkam ihn, gefolgt von Traurigkeit, Wut, tiefer Enttäuschung und
dem Gefühl, daß die Welt einzig und allein erschaffen worden war,
um ihm Verdruß zu bereiten. Er lehnte sich gegen die Wand, runzelte
die Stirn, schloß die Augen und kniff sich in den
Nasenrücken.
»Sie sind im falschen Raum«, sagte er
schlicht. »Sie sind Transit-Passagiere. Bitte gehen Sie in den
anderen Raum.«
In Situationen wie dieser fühlt man
eine herrliche Ruhe in sich aufsteigen, ganz besonders, wenn auch
ein Kiosk mit Erfrischungen darin verwickelt ist. Wir nickten,
packten unseren Kram in Zen-Manier zusammen und machten uns durch
den Gang auf den Rückweg in den zweiten Raum. Dort sprach uns der
Mann im blauen schmutzabweisenden Anzug wieder an, aber diesmal
erklärten wir ihm geduldig, daß er sich verpissen könne. Wir
brauchten Schokolade, wir brauchten Kaffee, vielleicht sogar ein
erfrischendes Päckchen Kekse und beabsichtigten darüber hinaus, das
alles auch zu bekommen. Wir ließen ihn sprachlos zurück, warfen
unsere Taschen zu Boden, marschierten aufrecht zum Schalter und
trafen auf ein größeres, unvorhergesehenes Hindernis.
Das Mädchen wollte uns nichts
verkaufen. Es schien sie zu überraschen, daß wir uns überhaupt die
Mühe machten, das Thema anzuschneiden. Ohne die Wangenknochen von
den Fäusten zu heben, schüttelte sie langsam den Kopf und starrte
weiter die Fliegen an der Wand an.
Während des folgenden Gesprächs, das
fast so anregend vor sich hin plätscherte wie Gummi aus einem Baum,
kristallisierte sich allmählich heraus, daß das Problem folgendes
war: Sie war nicht bereit, anderes als tansanisches Geld
anzunehmen. Ohne zu fragen, wußte sie, daß wir keins hatten, weil
schlicht und ergreifend noch nie jemand tansanisches Geld gehabt
hatte. Wir befanden uns in einer internationalen Wartehalle, und im
Flughafen gab es keine Wechselstube, folglich konnte jemand, der
hierherkam, unmöglich irgendwelche tansanischen Zahlungsmittel bei
sich haben, folglich konnte sie auch niemandem etwas
verkaufen.
Nach einer mehrminütigen, sinnlosen
Diskussion mußten wir uns ihren makellosen Argumenten beugen und
die restliche Zeit damit zubringen, mit von nutzlosen Dollar,
Pfund, Franc und Kenia-Schillingen ausgebeulten Hosentaschen
dazusitzen und den Kaffee und die Schokoriegel trübsinnig
anzuschmachten. Das Mädchen sah abwesend die Fliegen an und hatte
sich ganz offensichtlich damit abgefunden, daß sie niemals mit
jemandem ins Geschäft kommen würde. Nach einer Weile beobachteten
auch wir interessiert die Fliegen.
Schließlich sagte man uns, die
Maschine sei jetzt wieder startklar, und wir kehrten zu unserer
Flugzeugladung Missionare zurück.
Wo, wunderten wir uns, waren sie
gewesen, während all das passiert war? Wir fragten nicht. Etwa eine
Stunde später landeten wir endlich in Bukavu, und als wir auf die
Terminalbaracken des Flughafens zurollten, hallte die Maschine von
fröhlichen »Oh, wie schön, der Bischof ist gekommen, um uns zu
begrüßen«-Rufen wider. Und da stand er. groß und freudestrahlend in
seiner lila Tunika, und er trug eine Brille mit oben schwarzer und
unten durchsichtiger Fassung. Die Missionare, die
Missionsschullehrer und das amerikanische Paar, das sich sehr für
Missionsarbeit interessierte, kletterten lächelnd aus der Maschine,
und nachdem wir unsere Kamerataschen unter den Sitzen hervorgezogen
hatten, folgten wir ihnen nach draußen.
Wir waren in Zaire.
Was in Zaire so grauenhaft
schiefläuft, läßt sich, wenn man mich fragt, am besten durch den
Abdruck einer Karte verdeutlichen, die uns einige Tage später von
einem Beamten des Fremdenverkehrsverbandes überreicht
wurde.
Ein Absatz ist den Touristen zuliebe
in englischer Sprache abgefaßt. Er lautet wie folgt:
»Madam, Sir,
im Namen des Vorsitzenden und
Gründers des MPR (Mouvement Populaire de la Révolution), des
Präsidenten der Republik, seiner Regierung und meiner Landsleute
wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen einen wundervollen Aufenthalt
in der Republik Zaire.
Sie werden in diesem Land
majestätische Sehenswürdigkeiten, eine üppige Flora und eine
einzigartige Fauna vorfinden.
Die Aufgeschlossenheit und
Gastfreundlichkeit der zairischen Menschen wird Ihnen den Einblick
in die Traditionen und Gebräuche unseres Volkes
erleichtern.
Unsere junge Nation erhofft sich viel
von Ihren Anregungen und dankt Ihnen, daß Sie selbst uns durch Ihre
Vorschläge dabei helfen, die Freunde, die Sie zu uns schicken, noch
besser willkommen heißen zu können.
Der
Fremdenverkehrsminister.«
Das klingt doch ganz anständig. Was
einen ins Grübeln darüber bringt, was man denn nun wirklich
vorfinden wird, ist der andere Absatz. Den soll man nämlich jedem
Zairer zeigen, dem man begegnet, und er lautet wie
folgt:
»ZAIRER, HELFT UNSEREN
BESUCHERN!
Der Freund, der diese Karte bei sich
hat, ist zu Besuch in unserem Land. Er ist unser Gast.
Falls er Fotos machen will, seid
zuvorkommend und freundlich. Tragt dazu bei, daß er seinen
Aufenthalt genießt, dann wird er wiederkommen und seine Freunde
mitbringen.
Indem ihr ihm helft, helft ihr
unserem Land. Denkt immer daran, daß uns der Tourismus mit
Einnahmen versorgt, die uns die Schaffung neuer Arbeitsplätze, den
Bau neuer Schulen, Krankenhäuser, Fabriken und anderer
Einrichtungen ermöglichen.
Die Zukunft unseres Fremdenverkehrs
hängt davon ab, wie wir unsere Gäste empfangen.«
Es ist schon alarmierend genug, daß
eine Ermahnung wie diese überhaupt für notwendig erachtet wird,
aber noch wesentlich alarmierender ist, daß dieser Abschnitt
ebenfalls nur auf englisch abgedruckt ist.
Kein Zairer – oder »Zairois«, wie sie
sich selbst normalerweise nennen – spricht englisch, oder
jedenfalls kaum einer.
Das Prinzip, nach dem Zaire
funktioniert und das zu korrigieren diese Karte ein herrlich
hoffnungsloser Versuch war, ist ausgesprochen simpel. Jeder Beamte,
an den man herantritt, wird einem das Leben so schwer wie nur
irgend möglich machen, bis man ihn dafür bezahlt, es zu lassen. Mit
amerikanischen Dollar. Danach reicht er einen an den nächsten
Beamten weiter, der wieder von vorn beginnt, einem das Leben
schwerzumachen. Verglichen mit den alptraumhaften Ausmaßen, die
dieser Prozeß später annahm, war unser aus einem zweistündigen
feuchten, elenden Hüttenaufenthalt bestehender Einstieg in Zaire
bloß ein relativ sanfter Zermürbungsversuch.
Das erste, was wir in der Zollhütte
sahen, war ein Bild, das uns eine Vorstellung davon vermittelte,
was uns bei unserer Suche nach bedrohten Tierarten in Zaire
erwarten würde. Auf dem Bild war ein Leopard zu sehen. Das heißt,
auf dem Bild war nur ein Teil des Leoparden zu sehen. Der bewußte
Leopardenteil war zu einem ziemlich adretten
Pillenschachtel-Hütchen umgestaltet worden und schmückte den Kopf
von Marschall Mobuto Sésé Séko Kuku Ngbendu Wa Za Banga, dem
Präsidenten der Republik Zaire, der mit gebieterischer Ruhe auf uns
herabsah, während zwei seiner Beamten uns in die Mangel
nahmen.
Einer der beiden war ein eher
freundlicher Mann, der uns gelegentlich Zigaretten anbot, und der
andere war ein kleiner, fieser Mann, der unsere Zigaretten klaute.
Was natürlich der klassischen Verhörmethode entspricht, die dem
Zweck dient, das um Gnade winselnde Opfer an den Rand eines
vollständigen seelischen Zusammenbruchs zu treiben. Offenbar hatten
sie diese Vorgehensweise irgendwo gelernt und konnten sie sich
jetzt einfach nicht mehr abgewöhnen, obwohl sie eigentlich nicht
mehr von uns wissen wollten als unsere Namen, Paßnummern und die
Seriennummern sämtlicher Ausrüstungsstücke, die wir
mitführten.
Da vor allem der Große nichts gegen
uns persönlich zu haben schien, während er uns pflichtgemäß durch
den Irrsinn geleitete, dem er uns auszusetzen hatte, beschlich mich
ein Gefühl merkwürdiger Nähe und bewegender Freundschaft, das ich
aus den Beschreibungen der Beziehungen zwischen Folterknechten und
ihren Opfern oder Kidnappern und ihren Geiseln kannte. Es entsteht
das Gefühl, man sitze im gleichen Boot. Da im Briefkopf der
Formulare, die wir ausfüllen mußten, »Belgisch-Kongo«
durchgestrichen und mit Bleistift durch »Zaire« ersetzt worden war,
mußten sie mindestens achtzehn Jahre alt sein. Das einzige
Formular, das sie offenbar nicht vorrätig hatten, war jenes, das
wir eigentlich brauchten. Wir waren von Freunden dringend darauf
hingewiesen worden, daß wir uns bei der Einreise in Zaire eine
Devisen-Einfuhrbestätigung besorgen sollten, um späteren Ärger zu
vermeiden. Nach mehrfachem Bitten bekamen wir zu hören, die sei
ausgegangen. Man sagte uns, in Goma könnten wir so was bekommen,
und das sei dann schon in Ordnung.
Sie spielten mit dem Gedanken, meinen
Laptop-Computer zu konfiszieren – für den Fall, daß wir die
Regierung damit stürzen wollten –, aber am Ende begnügte sich der
kleine, fiese Mann damit, lediglich Chris' Autozeitschrift zu
beschlagnahmen – mit der Begründung, er möge Autos –, und dann
waren wir frei, jedenfalls fürs erste.
Wir ließen uns von einem entfernt
taxiähnlichen Gefährt nach Bukavu bringen. Wie sich herausstellte,
war die Stadt enorm weit vom Flughafen entfernt,
höchstwahrscheinlich, weil die Taxifahrer darauf bestanden hatten.
Während wir über die erschreckend zerfurchte Straße hoppelten, die
am Rand des Sees entlangführte und auf der ein Großteil der
Bevölkerung von Zaire spazierenzugehen schien, tauchte unser Fahrer
immer wieder für geraume Zeit unter das Armaturenbrett. Ich
verfolgte das mit einiger Besorgnis, die sich schließlich, als ich
mitbekam, was er da eigentlich tat, gehörig steigerte. Er bediente
die Kupplung per Hand. Ich überlegte, ob ich den anderen davon
erzählen sollte, entschied mich aber schließlich dagegen, weil es
sie nur beunruhigt hätte. Mark erwähnte später, während der
gesamten Fahrt sei kein anderes Fahrzeug auf der Straße zu sehen
gewesen, abgesehen von ein paar Lastern, die schon so lange
standen, daß sie keine Hinterachsen mehr hatten. Mir war das nicht
aufgefallen, weil ich, nachdem mir klargeworden war, was der Fahrer
mit der Kupplung anstellte, die Augen während der restlichen Reise
einfach nicht mehr aufgemacht hatte.
Als wir endlich das Hotel erreichten,
das für eine so verfallene Stadt wie Bukavu erstaunlich vornehm und
geräumig war, waren wir zerschlagen und erschöpft und begannen uns
ausgiebig anzugähnen. Das war eine Art wortloses Signal, daß jeder
von uns den Anblick der beiden anderen gründlich satt hatte, auch
wenn es erst sechs Uhr abends war. Wir gingen in die Zimmer und
setzten uns zwischen unsere jeweiligen Gepäckberge.
Ich saß am Fenster und sah zu, wie
die Sonne über dem See zu versinken begann, dessen Name mir nicht
einfiel, weil alle Karten in Marks Zimmer lagen. Aus dieser
Perspektive betrachtet, sah Bukavu, das auf einer in den See
ragenden Halbinsel liegt, ziemlich idyllisch aus. Der Kivu-See.
Jetzt war mir der Name wieder eingefallen. Ich fühlte mich noch
immer ausgesprochen kribblig und schlotterig und kam zu dem Schluß,
das Hinausstarren auf den See könne mir helfen.
Er lag freundlich und schimmernd da
und ging in der Ferne, wo er auf die Ausläufer der ihn umgebenden
Hügel traf, langsam in einen Grauton über. Das half.
Das Licht des frühen Abends warf
lange Schatten über die belgischen Kolonialhäuser, die in
leuchtende Blüten und Palmen gekuschelt am Hang vor dem Hotel
standen. Auch das tat gut. Sogar die gewellten Dächer der weniger
feinen, neueren Gebäude wirkten im sanften Licht weniger abweisend.
Ich sah den schwarzen Falken zu, die über dem See kreisten, und
merkte, daß ich ruhiger wurde. Ich stand auf, fing an, die Sachen
auszupacken, die ich für die Nacht brauchte, und wurde von einem
friedlichen, wohligen Gefühl erfüllt, einem Gefühl, das nur von der
plötzlichen Erkenntnis beeinträchtigt wurde, daß ich bei unserer
letzten Übernachtung mal wieder meine Zahnpasta vergessen hatte.
Und mein Schreibpapier. Und mein Feuerzeug. Ich kam zu dem Schluß,
daß es Zeit war, die Stadt zu erkunden.
Die Hauptstraße war eine finstere
Anhöhe, breit, ungepflegt und mit Abfall übersät. Die Läden
bestanden größtenteils aus Beton und Schmutz, und da Zaire eine
ehemalige belgische Kolonie ist, war jeder zweite Laden, wie in
Belgien und Frankreich, eine Pharmacie,
nur mit dem Unterschied, daß man zu meiner Verwunderung in keinem
dieser Läden Zahnpasta kaufen konnte.
Die meisten anderen Geschäfte waren
unidentifizierbar. Als ein Laden auftauchte, dessen Angebot sich
unter anderem aus Ghetto-Blastern, Socken, Seife und Hühnern
zusammensetzte, erschien es mir nicht allzu abwegig, hineinzugehen
und zu fragen, ob sie in einem ihrer Regale auch Zahnpasta oder
Papier vergraben hätten, woraufhin sie mich ansahen, als sei ich
vollkommen übergeschnappt. Ob ich denn nicht bemerkt hätte, daß
dies ein Ghetto-Blaster-, Socken-, Seifen- und Hühnergeschäft sei?
Nachdem ich mich eine halbe Meile weit die Straße rauf- und wieder
runtergeschleppt hatte, fand ich schließlich beides bei einem
winzigen Straßenstand, der, wie sich herausstellte, auch
Kugelschreiber, Luftpostumschläge und Feuerzeuge verkaufte und
wahrhaftig so ungewöhnlich auf meine Bedürfnisse zugeschnitten zu
sein schien, daß ich beinahe gefragt hätte, ob sie nicht auch noch
eine Ausgabe des New Scientist
hätten.
Als nächstes fiel mir auf, daß man
alles Lebenswichtige auf der Straße kaufen konnte. Zum Beispiel
Fotokopien. Hier und da standen am Straßenrand alte Fotokopierer
auf klapprigen Tapeziertischen, und ein- oder zweimal wurde ich von
Straßengaunern abgefangen und gefragt, ob ich vielleicht irgend
etwas fotokopiert haben oder mit ihren Schwestern schlafen wolle.
Ich kehrte ins Hotel zurück, machte mir einige Notizen auf dem
Schreibpapier, das aus unerfindlichen Gründen rosa war, und schlief
wie ein Toter.
Am nächsten Morgen flogen wir nach
Goma. Dort stellten wir fest, daß man auch bei Inlandsflügen in
Zaire wieder die ganze Einwanderungs- und Zollsalbaderei über sich
ergehen lassen mußte. Im Büro eines großen, verrohten
Flughafenbeamten wurden wir von bewaffneten Männern zu der Frage
verhört, weshalb wir aus Bukavu keine Devisen-Einfuhrbestätigung
mitgebracht hatten.
Der Hinweis, daß in Bukavu die
Formulare ausgegangen waren, zog nicht.
»Fünfzig Dollar«, sagte der
Beamte.
Abgesehen von einem kleinen
Schreibtisch, in dessen Schublade zwei Bögen Papier lagen, war sein
großes, karges Büro leer. Er lehnte sich zurück und starrte an die
Decke, die offenbar schon häufiger Zeuge solcher Vorfälle gewesen
war. Dann beugte er sich wieder vor und fuhr sich mit den
Handflächen langsam von oben nach unten über das Gesicht, als wolle
er es abpellen. Er sagte wieder: »Fünfzig Dollar. Pro Person.« Dann
starrte er hohl auf eine der Schreibtischecken und ließ einen
Bleistift langsam zwischen den Fingern herumrollen. Eine Stunde
lang waren wir dem ausgesetzt, dann hatte er unser erbärmliches
Französisch satt und ließ uns gehen.
Blinzelnd verließen wir den Flughafen
und trafen, wie durch ein Wunder, auf den Fahrer, den Freunde von
Mark geschickt hatten und der uns zu den Virunga-Vulkanen bringen
sollte, wo die Berggorillas leben.
Wir waren nicht nach Zaire gekommen,
um uns die Gorillas anzusehen. Nur ist es kaum möglich, den weiten
Weg nach Zaire auf sich zu nehmen und sie sich dann entgehen zu
lassen. Ich wollte das gerade damit begründen, daß sie unsere
engsten Verwandten sind, bin aber nicht ganz sicher, ob diese
Erklärung ausreicht. Meiner Erfahrung nach ist es normalerweise so,
daß man sich bei einem Besuch in einem Land, in dem man Verwandte
hat, am liebsten flach hinlegen und hoffen möchte, sie bekämen gar
nicht mit, daß man in der Gegend ist. Bei den Gorillas setzt man
sich aber wenigstens nicht der Gefahr aus, zum Essengehen gezwungen
zu werden und sich ein paar Millionen Jahre Familiengeschichte
anhören zu müssen, also kann man ungestraft vorbeischauen.
Natürlich sind sie nur entfernte Verwandte – n-te Cousins, n-ten
Grades. Wir stammen beide vom selben Vorfahren ab, der
bedauerlicherweise nicht mehr unter uns weilt und seit Darwins
Zeiten Anlaß zu endloser Spekulation darüber gegeben hat, was für
eine Art Lebewesen er/sie denn eigentlich gewesen ist.
Der Zweig der Primatenfamilie, dem
wir angehören (als reiche, erfolgreiche Angehörige der Familie,
diejenigen, denen es gut geht und die sich in jeder Hinsicht um die
anderen, weniger gut weggekommenen Familienmitglieder kümmern
sollten), ist der der großen Menschenaffen – wir sind große
Menschenaffen.
Die anderen großen Menschenaffen sind
die Gorillas (die in drei Unterarten eingeteilt sind: Berggorillas,
Östliche Flachlandgorillas und Westliche Flachlandgorillas), zwei
Schimpansenarten sowie die Orang-Utans von Borneo und Sumatra.
Unter diesen sind wiederum die Gorillas, die Schimpansen und wir am
engsten verwandt. Von den Gorillas haben wir uns –
evolutionsgeschichtlich gesehen – vor kürzerer Zeit getrennt als
von den anderen großen Menschenaffen, und deswegen sind die
Gorillas enger mit uns verwandt als mit den Orang-Utans. Wir sind
wirklich sehr, sehr nahe Verwandte – einander so nah wie der
Indische und der Afrikanische Elefant, die ebenfalls einen
gemeinsamen ausgestorbenen Vorfahren haben.
Die Virunga-Vulkane, auf denen die
Berggorillas leben, erstrecken sich entlang der Grenze zwischen
Zaire, Ruanda und Uganda. Etwa zwei Drittel der ungefähr
zweihundertachtzig in diesem Gebiet ansässigen Gorillas leben in
Zaire, das restliche Drittel in Ruanda. Ich sage ungefähr, weil die
Gorillas hinsichtlich evolutionärer Rahmenbedingungen bisher noch
nicht weit genug entwickelt sind, um den Nutzen von Pässen,
Devisen-Einfuhrformularen und Beamtenbestechung herausgefunden zu
haben, und deshalb dazu neigen, hin und her über die Grenze zu
wandern, wann immer sie diese tierische, primitive Laune packt.
Obwohl einige Versprengte ab und zu einen Abstecher nach Uganda
machen, gibt es grundsätzlich keine ständig dort lebenden Gorillas,
weil der ugandische Teil der Virungas nur fünfundzwanzig
Quadratkilometer groß, ungeschützt und voller Menschen ist, denen
die Gorillas, sofern man ihnen die Wahl läßt, lieber aus dem Weg
gehen.
Die Fahrt von Goma dauert ungefähr
fünf Stunden, und wir brachen so zügig auf, wie das nach
zweieinhalb zermürbenden Stunden mit einem Reisebüromitarbeiter,
einem Hotel-Manager, einem Mittagessen und einem Besuch in einer
der größeren Nationalbanken möglich war – deren Namen hier zu
erwähnen stinklangweilig wäre, wenn auch nicht halb so langweilig,
wie sich in ihr aufhalten zu müssen.
Zum Überlaufen kam das Faß allerdings
erst, als ich in einer Bäckerei von einem Taschendieb ausgenommen
wurde.
Ich merkte überhaupt nicht, daß ich
von einem Taschendieb ausgenommen wurde – was mich freut, weil ich
grundsätzlich am liebsten mit Profis zusammenarbeite. Dafür
bemerkten es alle anderen im Laden, und während ich noch mit der
Auswahl meiner Brötchen beschäftigt war, wurde der Mann weggereicht
und hastig auf die Straße befördert. Dank meiner bescheidenen
Zairois-Französischkenntnisse begriff ich nicht, was der Bäcker mir
klarzumachen versuchte, glaubte, er empfehle mir seine
Rosinenbrötchen, und kaufte ihm deshalb sechs Stück
ab.
In diesem Moment traf Mark mit ein
paar Dosen Birnen, unseren Passierscheinen für das Gorillagebiet
und unserem Fahrer ein, der die Situation sofort erfaßte und mir
auseinandersetzte, was passiert war. Er erklärte mir außerdem, die
Rosinenbrötchen seien nicht gut, meinte aber, wir sollten sie
trotzdem behalten, da die anderen auch nicht besser seien, und
irgend etwas brauchten wir schließlich. Er war ein dünner,
schlaksiger Moslem mit einem gewinnenden Lächeln, und er reagierte
ausgesprochen positiv auf unseren Vorschlag, schleunigst die Kurve
zu kratzen.
Wenn Leute vom »schwärzesten Afrika«
sprechen, meinen sie in der Regel Zaire. Zaire ist das Land der
Dschungel, der Berge, der gewaltigen Flüsse und der Vulkane; das
Land, in dem es mehr exotische Tiere gibt, als man
vernünftigerweise mit einem Stock in die Flucht zu schlagen
versuchen sollte, in dem von der westlichen Zivilisation noch immer
weitgehend unberührte Jäger- und Sammler-Pygmäenstämme leben und
das weltweit über eines der schlechtesten Verkehrssysteme verfügt.
Dies ist das Afrika, in dem Stanley auf Dr. Livingstone zu treffen
hoffte.
Bis zum 19. Jahrhundert war dieser
riesige Abschnitt Afrikas nichts weiter als ein schwarzes Loch auf
jeder europäischen Karte des Schwarzen Kontinents, aber kaum war
Livingstone in das Innere dieses schwarzen Lochs vorgedrungen,
begann es eine ungeheuerliche Anziehungskraft auf die restliche
Welt auszuüben.
Die ersten, die ins Land strömten,
waren die Missionare: Katholiken, die kamen, um den Eingeborenen
von den Irrwegen der Prostestanten zu erzählen, und Protestanten,
die kamen, um den Eingeborenen von den Irrwegen der Katholiken zu
erzählen. Einig waren sich Protestanten und Katholiken nur in dem
Punkt, daß die Eingeborenen sich zweitausend Jahre lang auf einem
Irrweg befunden hatten.
Kurz nach den Missionaren folgten
Kaufleute auf der Suche nach Sklaven, Elfenbein, Kupfer und
geeignetem Land für Plantagen. Mit Hilfe von Stanley, der einen
Fünf-Jahres-Vertrag zur Erschließung von Zentralafrika
abgeschlossen hatte, beanspruchte König Leopold von Belgien diesen
ausgedehnten Landstrich 1885 erfolgreich für sich und setzte dessen
Einwohner umgehend einer einzigartig brutalen und skrupellosen Form
der Kolonialisierung aus, um ihnen so die Bedeutung des Wortes
»falsch« überaus anschaulich und überzeugend zu
vermitteln.
Als Nachrichten von den schlimmsten
Greueltaten nach außen durchsickerten, zwang man Leopold, »sein«
Land der belgischen Regierung zu übergeben, die anschließend
tatkräftig dafür sorgte, daß sich so gut wie nichts an den dortigen
Zuständen änderte. In den fünfziger Jahren jedoch, als sich die
Unabhängigkeitsbewegungen wie ein Lauffeuer über Afrika
ausbreiteten, waren die Kolonialherren 1959 nach Unruhen und
grauenvollen Massakern in der Hauptstadt Kinshasa derartig
angeschlagen, daß sie dem Land für das folgende Jahr die
Unabhängigkeit zusicherten. 1971 wurde der Landesname
»Belgisch-Kongo« schließlich in »Zaire« geändert.
Zaire ist, am Rande bemerkt, ungefähr
achtzigmal so groß wie Belgien.
Wie die meisten Kolonien hatte sich
auch Zaire eine alles erstickende Bürokratie zugelegt, deren
alleinige Funktion darin bestand, Entscheidungen nach oben an die
Kolonialherren des Landes zu verweisen. Beamte vor Ort waren selten
befugt, Dinge zu tun, sondern nur, sie zu verhindern, bis die
Bestechungsgelder eingegangen waren. Sind die Kolonialherren dann
vertrieben, zappelt die Bürokratie weiter wie ein kopfloses Huhn,
zu nichts anderem fähig, als sich selbst ein Bein zu stellen, allem
und jedem im Weg zu stehen und sich, falls die nötigen Waffen zur
Hand sind, in den Fuß zu schießen. Ehemalige Kolonien erkennt man
immer an der unverhältnismäßigen Zahl von Menschen, deren einzige
Beschäftigung darin besteht, Menschen mit einer Beschäftigung an
deren Ausübung zu hindern.
Nach fünf Stunden schläfrigen
Geholpers in einem Lastwagen trafen wir in Bukima ein, jenem Dorf
am Fuß der Virungas, an dem die Straße endet und von dem aus wir zu
Fuß weiterreisen mußten.
Oberhalb des Dorfes, vor einem großen
Platz, stand ein lächerlich imposantes Ex-Kolonial-Gebäude, das,
abgesehen von einem lächerlich kleinen, in den letzten Winkel
gezwängten Büro, leer stand, in dem ein kleiner, uniformierter Mann
sich düster grinsend in unsere Gorilla-Passierscheine vertiefte,
als habe er so etwas noch nie oder wenigstens seit einer guten
Stunde nicht mehr gesehen. Anschließend beschäftigte er sich einige
Minuten lang mit einem Kurzwellenfunkgerät, bevor er sich wieder
uns zuwandte und sagte, er wisse genau, wer wir seien, habe uns
erwartet und werde uns wegen unserer guten Kontakte zum World
Wildlife Fund in Nairobi einen zusätzlichen Tag bei den Gorillas
zugestehen, und wer zum Teufel wir eigentlich seien, und warum ihm
niemand erzählt habe, daß wir kämen?
Da wir nicht meinten, ihm bei der
Beantwortung dieser Fragen behilflich sein zu können, ließen wir
ihn allein und machten uns auf die Suche nach ein paar Trägern, die
uns auf dem dreistündigen Fußmarsch zu unserem Nachtquartier, der
Hütte des Wildhüters, begleiten sollten. Sie waren nicht schwer zu
finden. Vor unserem Transporter hatte sich eine hoffnungsvolle
Schar von ihnen versammelt, und unser Fahrer wollte unbedingt
wissen, wie viele wir zum Transport aller unserer Taschen brauchen
würden. Er schien das Wort »aller« ziemlich nachdrücklich zu
betonen.
Plötzlich wurde uns etwas mit
schrecklicher Deutlichkeit bewußt. Wir waren so scharf darauf
gewesen, möglichst schnell aus Goma wegzukommen, daß wir einen
entscheidenden Aspekt unseres Planes vergessen hatten, nämlich den
Großteil unserer Sachen in einem Hotel in der Stadt zurückzulassen.
Infolge dieser Nachlässigkeit hatten wir mehr Gepäck bei uns, als
wir für den Ausflug zu den Gorillas tatsächlich
brauchten.
Wesentlich mehr.
Außer der
Gorilla-Beobachtungs-Grundausrüstung – Jeans, T-Shirt, irgendwas
Wasserdichtes, einer Tonne Kameras und Dosenbirnen – hatte ich
einen immensen Vorrat an schmutziger Wäsche dabei, einen Anzug und
Schuhe, die ich bei einem Treffen mit meinem französischen Verleger
in Paris getragen hatte, ein Dutzend Computerzeitschriften, ein
Wörterbuch, zig Bände von Dickens' »Gesammelten Werken« und das
Holzmodell eines Komodo-Warans. Ich halte es für richtig, mit wenig
Gepäck zu reisen, aber ich halte es auch für richtig, mit dem
Rauchen aufzuhören und rechtzeitig vor Weihnachten einkaufen zu
gehen.
Ohne uns anmerken zu lassen, wie
entsetzlich peinlich uns die Sache war, wählten wir eine
Trägermannschaft aus, die diesen kleinen Berg für uns auf die
Virunga-Vulkane schaffen sollte. Es störte sie nicht. Solange wir
sie dafür bezahlen konnten, Dickens und Drachen zu den Gorillas
rauf- und wieder runterzutragen, war für sie alles in bester
Ordnung. Der weiße Mann hatte in Zaire wesentlich Schlimmeres
angestellt, wenn auch vielleicht nichts wesentlich
Dämlicheres.
Der lange Aufstieg zur Wildhüterhütte
war mühsam und häufig von Pausen unterbrochen, in denen wir unsere
Zigaretten und Coca-Cola-Vorräte mit den Trägern teilten, während
sie die mit Dickens und den Computermagazinen gefüllten Taschen
regelmäßig untereinander austauschten und verschiedene neuartige
Methoden ausprobierten, sie auf dem Kopf zu behalten.
Die meiste Zeit trampelten wir durch
feuchte Sagofelder, und mir kam plötzlich ein ebenso lächerlicher
wie beglückender Gedanke. Wir marschierten durch das einzige mir
bekannte Anagramm meines Namens – nämlich »Sago Mud Salad«. Ich
stellte alberne Mutmaßungen an, welche tiefere, kosmische Bedeutung
sich möglicherweise dahinter verbarg, und als ich den Gedanken
endlich fallenließ, lag die Hütte, ein eher spartanischer, aber
immerhin neuer und solider Holzbau, im schwächer werdenden
Abendlicht vor uns.
Feuchte, schwere Nebelschwaden hingen
über der Gegend und verhüllten die weit entfernten Vulkangipfel
fast vollständig. Den unerwartet kalten Abend verbrachten wir im
Schein zischender Grubenlampen; wir aßen unsere Dosenbirnen und das
letzte verbliebene Brötchen und unterhielten uns in gebrochenem
Französisch mit unseren beiden Führern, die Murara und Serundori
hießen.
Beide, unnachahmlich elegante Typen
in Tarnanzügen und schwarzen Uniformmützen, hingen schlapp über dem
Tisch und streichelten gelangweilt ihre Gewehre. Wie sie uns
erklärten, liefen sie bloß in diesem Aufzug herum, weil sie früher
zu einer Kommandoeinheit gehört hatten. Alle Führer müßten Waffen
tragen, erzählten sie uns, zum einen zum Schutz vor den wilden
Tieren, vor allem aber für den Fall, daß sie auf Wilderer stießen.
Murara sagte, er selbst habe schon fünf Wilderer erschossen.
Achselzuckend fuhr er fort, so was sei pas de
problème. Kein Ärger mit Ermittlungen oder ähnlichem; er
hatte sie einfach erschossen und war nach Hause gegangen. Er lehnte
sich auf seinen Stuhl zurück und befingerte beiläufig das Visier
seines Gewehrs, während wir nervös mit unseren Birnenhälften
herumspielten.
Natürlich stellt jede Form von
Wilderei die größte Bedrohung für das Überleben der Berggorillas
dar, aber man fragt sich doch unwillkürlich, ob man das Problem
wirklich löst, indem man die Jagdsaison auf Menschen für eröffnet
erklärt. Noch sind wir zwar keine gefährdete Art, aber es ist nicht
so, daß wir nicht oft genug versucht hätten, eine zu
werden.
Die Wilderei verliert heutzutage
allerdings an Bedeutung – zumindest teilweise. Vier Fünftel der
derzeit in Zoos lebenden Gorillas wurden ursprünglich aus freier
Wildbahn geholt, aber kein öffentlicher Zoo würde heute mehr einen
Gorilla annehmen, außer von einem anderen Zoo, weil er andernfalls
Schwierigkeiten hätte, seine Herkunft zu erklären.
Trotzdem besteht von Seiten privater
Sammler noch immer Nachfrage, und der ungeschützte ugandische Teil
der Virungas bleibt das schwache Glied in der Kette. Im September
1988 wurde auf ugandischer Seite ein Gorillababy gefangen. Zwei
ausgewachsene Mitglieder seiner Familie wurden erschossen und das
Jungtier später von einem Jagdaufseher (der mittlerweile im
Gefängnis sitzt) für 15000 Pfund an ruandische Schmuggler verkauft.
Das ist der bedrückendste Aspekt dieser Art von Wilderei – für
jedes gefangene Jungtier sterben in der Regel mehrere andere
Familienmitglieder, weil sie das Junge zu schützen
versuchen.
Schlimmer als jene, die Gorillas für
ihre privaten Zoos sammeln, sind allerdings diejenigen, die
Gorillateile sammeln. Jahrelang herrschte ein reger Handel mit
Schädeln und Händen, die an Touristen und Auswanderer verkauft
wurden, die irrtümlicherweise glaubten, die Gorillateile würden auf
ihrem Kaminsims besser wirken als am Körper der ursprünglichen
Besitzer. Auch das geht, Gott sei Dank, mittlerweile zurück, seit
eine Vorliebe für beinharte Brutalität als nicht mehr ganz so
schicke Lebensart wie früher gilt.
In ein paar Gebieten Afrikas erlegt
man Gorillas noch immer, um sie zu essen, allerdings nicht in der
Gegend um die Virunga-Vulkane – zumindest nicht vorsätzlich. Das
Problem besteht darin, daß sehr viele andere Tiere gejagt werden
und Gorillas häufig in Buschbock- oder Ducker-Fallen geraten.
Beispielsweise verfing sich im August 1988 ein junger weiblicher
Gorilla namens Jozi mit der Hand in einer Antilopen-Fußangel und
starb schließlich an einer Blutvergiftung. Zum Schutz der Gorillas
sind Patrouillen gegen Wilderer also nach wie vor
notwendig.
Außer uns saßen an diesem Abend noch
zwei weitere Personen in der Hütte. Und zwar zwei deutsche
Studenten, deren Namen ich zwar zwischenzeitlich wieder vergessen
habe, die ich aber, da sie nicht von all den anderen deutschen
Studenten zu unterscheiden waren, denen wir auf unseren Reisen
gelegentlich begegneten, einfach Helmut und Kurt nennen
werde.
Helmut und Kurt waren jung, blond,
tatkräftig, unglaublich gut ausgerüstet und uns in so gut wie jeder
Hinsicht weit überlegen. Am frühen Abend bekamen wir sie kaum zu
Gesicht, weil sie schwer mit der Zubereitung ihrer Mahlzeit
beschäftigt waren. Dazu gehörte das Errichten eines Steinofens im
Freien und anschließend allerlei Hin- und Hergelaufe mit Schüsseln
voll kochenden Wassers, Stoppuhren, Taschenmessern und
zerstückelten Teilen des örtlichen Wildbestandes. Schließlich
setzten sie sich, verspeisten ihr Festmahl mit unerbittlicher
Effizienz und weigerten sich auf beleidigende Art und Weise,
unseren Dosenbirnenhälften wenigstens einen verächtlichen Blick
zuzuwerfen.
Dann kündigten sie an, sie gingen
jetzt schlafen, allerdings nicht etwa in der Hütte, sondern in
einem mitgebrachten Zelt, das wesentlich besser sei. Es war ein
deutsches Zelt. Sie verabschiedeten sich mit einem kur(t)zen Nicken
und verschwanden.
Nachdem ich in dieser Nacht einige
Zeit wach gelegen und mir Sorgen wegen Muraras und Serundoris
gelegentlicher Neigung zum Leute-Erschießen gemacht hatte, begann
ich mir schließlich dessen Sorgen wegen Helmut und Kurt zu machen.
Ich wünschte mir, sie wären, wenn sie sich schon so verhalten
mußten, nicht auch noch ausgerechnet Deutsche. Das war zu leicht.
Zu offensichtlich. Es war, als begegnete man einem wahrhaftig
dummen Iren, einer wahrhaftig fetten Schwiegermutter oder einem
amerikanischen Geschäftsmann, der seinen zweiten Vornamen
wahrhaftig mit einer Initiale abkürzt und Zigarre raucht. Man hat
das Gefühl, gegen seinen Willen in einer Varietenummer aufzutreten,
und möchte sich am liebsten hinsetzen und das Buch umschreiben.
Wären Helmut und Kurt Brasilianer oder Chinesen oder Letten oder
sonstwas gewesen, hätten sie sich genauso benehmen können, und es
wäre überraschend und faszinierend und, was vor allem mich betraf,
auch wesentlich einfacher zu beschreiben gewesen. Schriftsteller
sollten nicht am Aufrechterhalten von Klischees mitwirken. Ich
fragte mich, was ich dagegen unternehmen sollte, kam zu dem Schluß,
daß sie einfach Letten sein konnten, wenn ich es wollte, und ging
anschließend sehr friedvoll dazu über, mir Sorgen wegen meiner
Stiefel zu machen.
Vor dem Schlafengehen hatte Mark mir
geraten, nach dem Aufstehen zuerst mal meine Stiefel umzudrehen und
auszuschütteln.
Ich fragte ihn, weshalb.
»Skorpione«, erwiderte er. »Gute
Nacht.«
Früh am nächsten Morgen erwarteten
uns Murara und Serundori vor der Hütte, streichelten ihre Gewehre
und Macheten und trugen dabei einen bedeutungsvollen Blick zur
Schau, bei dem wir uns nicht sicher waren, ob er uns gefiel.
Immerhin hatten sie gute Nachrichten für uns. Da Gorillas nicht
dazu neigen, ihre persönlichen Verpflichtungen wegen zu Besuch
kommender entfernter Verwandter umzustoßen, begegnete man ihnen
manchmal erst nach einem achtstündigen Fußmarsch von der
Wildhüterhütte aus. An diesem Tag allerdings, so die gute
Nachricht, waren sie nur ungefähr eine Stunde von uns entfernt,
also stand uns ein geruhsamer Tag bevor. Wir sammelten unseren
Gorilla-Beobachtungs- Kram zusammen, ließen den Drachen, den
Dickens und unsere Blitzleuchten wohlbedacht zurück, weil wir davon
ausgingen, daß diese Dinge die Gorillas in unterschiedlichem Maße
verärgern würden, wünschten Helmut und Kurt, die uns bei der
Expedition begleiteten, einen guten Morgen und machten uns
gemeinsam auf die Suche nach den Gorillas. Im dunstigen Morgenlicht
ragte vor uns der Buckel des Mikeno-Vulkans auf.
Der Wald, in den wir eintauchten, war
dicht und feucht, und darüber beschwerte ich mich bei
Mark.
Er setzte mir auseinander, daß
Gorillas gern in Gebirgsregenwäldern oder Wolkenwäldern leben. Und
die befinden sich dreitausend Meter über dem Meeresspiegel, über
der Wolkengrenze und sind ständig klamm. Ständig tropft Wasser von
den Bäumen.
»Das ist etwas anderes als der
primäre Regenwald im Flachland«, sagte Mark. »Eher ein sekundärer
Regenwald, der entsteht, wenn ein ursprünglicher Regenwald abbrennt
oder abgeholzt wird.«
»Ich dachte immer, das Hauptproblem
bei den Regenwäldern wäre, daß sie nicht nachwachsen, wenn man sie
abholzt«, sagte ich.
»Es entsteht kein neuer primärer
Regenwald. Na, vielleicht doch, das weiß man nicht. Vielleicht nach
Hunderten oder Tausenden von Jahren. Jedenfalls dauert es bedeutend
länger, als unsere bisherigen Aufzeichnungen zurückreichen. Und der
ursprüngliche Wildbestand wird bis dahin mit Sicherheit ein für
allemal verschwunden sein.
Primärer Regenwald ist ein
unglaublich komplexes System, aber wenn man dann wirklich
mittendrin steht, sieht er halb leer aus. In der Wachstumsphase
entsteht ein sehr hohes, dichtes Blätterdach, weil alle Bäume
miteinander um das Sonnenlicht wetteifern. Da aber nur sehr wenig
Licht durch dieses Dach dringt, hält sich das Pflanzenwachstum am
Boden in Grenzen. Dafür entsteht das komplexeste ökologische System
der Welt, das nur dazu da ist, die von den Bäumen absorbierte
Sonnenenergie über den gesamten Wald zu verteilen.
Wolkenwälder wie dieser hier sind
wesentlich einfacher. Die Bäume sind viel niedriger und stehen
besser verteilt, deswegen ist auch der Boden dicht bewachsen, was
den Gorillas gefällt, weil sie sich gut verstecken können. Und es
gibt eine Menge Futter in Reichweite.«
Für uns allerdings wurde das
Durchqueren des Waldes wegen der dichten, feuchten Vegetation zu
einem harten Stück Arbeit. Murara und Serundori schwangen ihre
Macheten so lässig durch das nahezu undurchdringliche Unterholz,
daß mir erst nach einiger Zeit aufging, daß mehr dahintersteckte
als vages Herumhacken.
Macheten haben eine ganz bestimmte
Form, ein bißchen wie die Silhouette einer Banane mit verdicktem
Ende. Nicht nur die Neigung und der Winkel der Klinge sind überall
verschieden, sie ist auch an jeder Stelle unterschiedlich
gewichtet. Es war faszinierend zu beobachten, wie unsere Führer die
Richtung ihrer Schläge von einem Hieb zum anderen genau der
Pflanzenform anpaßten, die sie abzuschlagen versuchten – mal war es
ein dicker Ast, mal waren es Nesselbänke und dann verheddert
herunterhängende Kletterpflanzen. Es sah aus wie ein sehr lässiges
Tennisspiel, bei dem ein äußerst geschicktes Spielerpaar auf dem
Platz stand.
Der Wald war aber nicht nur dicht,
sondern auch kalt, feucht und voller großer schwarzer Ameisen, die
uns alle bissen – nur Helmut und Kurt nicht, die sich aus Lettland
spezielle ameisensichere Socken mitgebracht hatten.
Wir beglückwünschten sie zu ihrer
weisen Voraussicht, aber sie zuckten die Achseln und taten es
einfach ab. Letten sind immer gut vorbereitet. Sie musterten unsere
Aufnahmegeräte und zeigten sich überrascht, daß wir diese
Ausrüstung für angemessen hielten. In Lettland gäbe es wesentlich
bessere Geräte als unsere. Wir sagten, das könne schon sein, nur
wären wir sehr zufrieden mit ihnen, und auch die BBC scheine sie
für diesen Auftrag bestens geeignet zu halten. Helmut (oder war es
Kurt?) erklärte uns, daß sie in Lettland wesentlich bessere
Fernsehanstalten hätten.
Der Ausbruch offener Feindseligkeiten
wurde in diesem Moment glücklicherweise von einem Signal unserer
Führer verhindert, die uns bedeuteten, uns still zu verhalten. Wir
waren nahe bei den Gorillas.
»War doch klar«, sagte Kurt, und ein
leichtes Lächeln kräuselte seine schmalen Lippen, als habe er die
ganze Zeit über gewußt, daß die Gorillas an genau dieser Stelle
sein würden.
Nur war es kein Gorilla, der die
Aufmerksamkeit unserer Führer auf sich gezogen hatte, sondern ein
Gorillabett. Im Unterholz neben dem Pfad, auf dem wir uns bewegten,
war eine tiefe Einbuchtung, in der ein Gorilla die Nacht verbracht
hatte. Pflanzen waren abgerissen und übereinandergelegt worden,
damit der Gorilla nicht auf dem nachts kalten und klammen Boden
liegen mußte.
Was Laien an Zoologen in hohem Maße
eigenartig finden, ist ihre unersättliche Begeisterung für
Tierexkremente. Ich verstehe ja, daß man aus diesen Exkrementen
eine Menge Informationen über die Gewohnheiten und die
Ernährungsweise der betreffenden Tiere herauslesen kann, aber
nichts erklärt in meinen Augen die ungetrübte Verzückung, die diese
Objekte auszulösen vermögen.
Ein kurzer Freudenjapser sagte mir,
daß Mark welche gefunden hatte. Er fiel auf die Knie und begann
seine Nikon über einem kleinen Haufen Gorillakot
abzufeuern.
»Es ist im Nest«, erklärte er mir,
nachdem er fertig war, »das ist sehr interessant, mußt du wissen.
Die Berggorillas, also die, die hier leben, entleeren sich
grundsätzlich in ihre Nester, weil es nachts zu kalt zum Aufstehen
ist. Die Westlichen Flachlandgorillas tun das nicht. Für die ist es
nicht so problematisch, nachts aufzustehen, weil sie in einem
wärmeren Klima leben. Davon abgesehen, ernähren sich die Westlichen
Flachlandgorillas von Früchten, was wohl ein weiterer Anreiz ist,
sich nicht ins Nest zu scheißen.«
»Verstehe«, sagte ich.
Helmut wollte irgendwas sagen,
vermutlich, daß sie in Lettland Gorillas hätten, die diesen weit
überlegen seien, aber ich unterbrach ihn, weil ich plötzlich den
merkwürdigen, unbehaglichen Eindruck hatte, von einem Laster
angestarrt zu werden.
Wir blieben ganz ruhig und sahen uns
sehr vorsichtig um. Es war nichts in unserer Nähe, es war nichts in
den Bäumen über uns, und es war auch nichts in den Büschen, das uns
verstohlen anspähte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis wir
überhaupt etwas sahen, aber dann bemerkten wir aus den Augenwinkeln
eine kurze Bewegung. Ohne jede Deckung stand etwa dreißig Meter
hinter uns auf dem Pfad etwas, das so groß war, daß wir es gar
nicht bemerkt hatten. Es war ein Berggorilla oder vielleicht sollte
ich besser sagen, ein Gorilla-Berg, der, auf seine Vorderknöchel
gestützt, dastand und in dieser Haltung die Form eines großen,
muskulösen, schrägen Hauszelts annahm.
Sie werden bestimmt schon häufiger
gehört haben, daß diese Geschöpfe furchterregende Bestien sind, und
ich möchte hier meinen ureigensten Eindruck hinzufügen: Diese
Lebewesen sind furchterregende Bestien. Ich wüßte wirklich nicht,
wie man sie sonst beschreiben sollte.
Eine Art summende geistige Lähmung
überkommt einen, wenn man einem derartigen Lebewesen zum erstenmal
in freier Wildbahn begegnet, und tatsächlich gibt es ja auch keine
anderen derartigen Lebewesen. Alle möglichen wilden und
schwindelerregenden Gefühle steigen einem ins Hirn, die man nicht
einordnen oder benennen kann, vielleicht, weil es Tausende oder
Millionen von Jahren her ist, seit diese Gefühle zum letztenmal
erweckt wurden.
Ich werde jetzt kurz abschweifen,
weil man kaum anders kann, wenn dem rationalen, zivilisierten
Verstand (ich verwende diese Begriffe im weitestmöglichen Sinn)
Dinge zustoßen, die ebenso unbegreiflich wie unerklärlich, aber
nichtsdestotrotz überwältigend sind.
Ich habe von einem Ansatz gehört –,
weiß allerdings nicht, wie ernst er zu nehmen ist –, mit dem sich
das Gefühl der Höhenangst erklären läßt. Es ist eine Überlegung,
die mir instinktiv gefällt und wie folgt lautet.
Das Schwindelgefühl, das wir in der
Höhe empfinden, ist nicht allein auf die Angst vor dem Fallen
zurückzuführen. Häufig ist es so, daß wir, wenn überhaupt, nur
wegen des Schwindelgefühls selbst abstürzen könnten, womit es sich
bei dieser Angst bestenfalls um eine ausgesprochen irrationale,
sich selbst verwirklichende Befürchtung handeln würde. Nun haben
wir aber in längst vergangenen Zeiten auf Bäumen gelebt. Wir sind
von Baum zu Baum gehüpft. Gewisse Leute vertreten sogar die
Ansicht, wir hätten etwas Vogelartiges in unserer Ahnenreihe. Falls
das zutrifft, könnte also irgendein Teil unseres Bewußtseins
angesichts eines Abgrunds meinen, er könne einfach reinhüpfen, und
versuchen, auch uns dazu zu drängen. Was dabei am Ende herauskommt,
ist also ein Konflikt zwischen einem primitiven, atavistischen Teil
unseres Bewußtseins, der »Spring!« sagt, und einem modernen,
rationaleren Teil des Bewußtseins, der »Um
Himmels willen, laß es!« sagt.
Mit Sicherheit hat diese Höhenangst
wesentlich mehr mit widerstreitenden inneren Konflikten und
Verwirrung zu tun als mit schlichter Furcht. Falls es sich nämlich
um Furcht handelt, dann um eine, mit der wir gern herumspielen, die
wir als angenehmen Nervenkitzel empfinden und mit der Achterbahn-
und Riesenradbauer ihren Lebensunterhalt verdienen.
Das Gefühl, das mich angesichts
meines ersten Silberrücken-Gorillas in der Wildnis überkam, war
schwindelerregend. Es war, als sollte ich irgend etwas tun, als
würde eine Reaktion von mir erwartet, ohne daß ich wußte, was oder
wie ich es tun sollte. Mein modernes Bewußtsein sagte einfach:
»Lauf weg!«, aber ich konnte nichts weiter tun als dastehen,
zittern und glotzen. Es war, als ob uns der richtige Zeitpunkt
zwischen den Fingern hindurchglitt, zwischen uns und dem Gorilla in
einen unüberbrückbaren Abgrund stürzte und uns hilflos gaffend auf
unserer Seite zurückließ. Dem Gorilla war mittlerweile offenbar
aufgegangen, daß wir gerade mit dem Fotografieren seines Kots
beschäftigt gewesen waren, also stapfte er zurück ins
Unterholz.
Wir nahmen die Verfolgung auf, waren
aber – im Gegensatz zu ihm – nicht in unserem Element. Wir hätten
nicht mal sagen können, wo ungefähr er eigentlich in seinem Element
war, und nach einer Weile gaben wir auf und begannen, das Gebiet
wieder etwas grundsätzlicher zu erforschen.
Der Gorilla, den wir gesehen hatten,
war ein großer, männlicher Silberrücken gewesen. Silberrücken
bedeutet, daß sein Rücken silbrig oder grauhaarig war. Nur die
Rücken der Männchen verfärben sich, und das auch erst, wenn sie
ausgewachsen sind. Gerüchte besagen, daß nur der männliche Anführer
einer Gruppe einen silbernen Rücken bekommt, und zwar binnen
weniger Tage oder gar Stunden, nachdem er die Führung übernommen
hat, aber das ist offensichtlich Blödsinn. Weit verbreiteter und
verlockender Blödsinn, aber eben Blödsinn. Und da wir schon beim
Thema Blödsinn sind, sollte ich etwas erwähnen, das wir ein paar
Tage später während eines Gesprächs mit Conrad Aveling erfuhren,
einem Feldforscher aus Goma, der jahrelang für den Schutz der
Gorillas in diesem Gebiet zuständig gewesen war.
Als wir Conrad erzählten, wie sehr
uns Muraras und Serundoris Schilderungen vom
Einfach-Losziehen-und-Wilderer-Umnieten beunruhigt hatten, ließ er
sich in seinen Stuhl zurücksinken, klatschte sich auf die Schenkel
und brüllte vor Lachen.
»Es ist einfach nicht zu fassen, was
diese Burschen den Touristen so alles auftischen! Jetzt sagt bloß,
die haben euch auch noch von ihrer Kommando-Vergangenheit
erzählt?«
Einigermaßen schüchtern räumten wir
ein, sie hätten. Conrad griff sich an die Augenbraue und schüttelte
den Kopf.
»Das einzige, was an denen
kommandomäßig ist«, sagte er, »ist ihre Uniform. Die kaufen sie
nämlich von den Kommandos. Weil sie so gut wie nie bezahlt werden,
verscherbeln die Kommandos die Dinger, um sich Essen leisten zu
können. Das ist alles völliger Quatsch. Ich hab kürzlich schon mal
so eine tolle Geschichte gehört. Ein Tourist hatte einen Führer
gefragt – und zwar in Rawindi, wo es keine Gorillas gibt –, also
dieser Tourist hatte gefragt: ›Was passiert, wenn ein Gorilla auf
einen Löwen trifft?‹ Statt nun zu antworten: ›Tja, da Löwen und
Gorillas in völlig verschiedenen Gegenden leben und gar nicht
aufeinandertreffen können, ist das eine ziemlich dämliche Frage‹,
meinte dieser Führer offenbar, er müsse sich eine originelle
Antwort einfallen lassen. Also sagte er: ›Folgendes passiert: Der
Gorilla prügelt den Löwen windelweich, rollt seinen Körper in
Blätter und Zweige ein und trampelt dann darauf herum.‹ Ich hab von
der Geschichte gehört, weil der Tourist anschließend zu mir kam und
mir erzählt hat, wie irrsinnig faszinierend er das gefunden habe.
Es gefällt mir nicht, wenn sie sich diese originellen Antworten
ausdenken. Wenn man ihnen bloß klarmachen könnte, daß sie, falls
sie die Antwort nicht wissen oder für nicht besonders interessant
halten, das lieber zugeben sollen, als sich kompletten Schwachsinn
auszudenken.«
Außer Frage aber stand, daß sich
unsere Führer, wenn sie sich nicht gerade irgendwas ausdachten oder
ihre Rambo-Phantasien auslebten, wirklich gut im Wald auskannten
und eine Menge über Gorillas wußten. Sie hatten (wie Conrad Aveling
durchgehend begeistert bestätigte) zwei Mitglieder der
Gorillagruppe an den Kontakt mit Menschen »gewöhnt«. Dieses
»Gewöhnen« ist ein sehr langwieriges, kompliziertes und heikles
Unterfangen, besteht aber, kurz gesagt, darin, Kontakt zu einer
Gruppe in der Wildnis aufzunehmen, sie über einen Zeitraum von
Monaten oder gar Jahren tagtäglich zu besuchen – sofern man sie
findet – und sie so zu trainieren, daß sie die Gegenwart von
Menschen dulden, um sie schließlich studieren und selbst in
Begleitung von Touristen aufsuchen zu können.
Die Dauer dieser Gewöhnungszeit hängt
allein vom dominanten Silberrücken ab. Er ist derjenige, dessen
Vertrauen man gewinnen muß. Bei der Familiengruppe, die wir
besuchten, hatte es volle drei Jahre gedauert. Conrad Aveling hatte
die ersten acht Monate bei diesem Projekt damit verbracht, mit den
Gorillas durchs Unterholz zu kriechen, ohne dabei jemals einen von
ihnen tatsächlich zu Gesicht zu bekommen, obwohl er häufig nicht
weiter als fünf oder zehn Meter von ihnen entfernt
war.
»Eins der Probleme bei der Gewöhnung
in einer solchen Umgebung ist«, erklärte er uns, »daß man sich vor
lauter Dickicht nicht sehen kann und deshalb ständig mit diesen
plötzlichen Begegnungen in nur drei, vier Metern Entfernung rechnen
muß, wobei man sich aber noch immer nicht sehen kann. Da fährt
natürlich jeder aus der Haut. Der Gorilla fährt aus seiner Haut und
ich aus meiner. Das ist unglaublich aufregend. Man bekommt einen
richtigen Adrenalinstoß. Das Problem mit der Gruppe aus Bukavu war,
daß der Silberrücken nicht auf mich losgehen wollte. Ich wollte
aber, daß er das tat, weil er sich dann hätte zeigen müssen und
begriffen hätte, daß ich keine Bedrohung darstellte. Aber er machte
es einfach nicht, sondern umkreiste mich nur weiter. Normalerweise
gehen sie auf einen los, und wenn sie das tun und man ihnen Auge in
Auge gegenübersteht, haben beide Parteien einen Augenblick Zeit zu
begreifen, daß keiner für den anderen eine Bedrohung darstellt, und
der Gorilla wird sich zurückziehen.«
»Aber man nimmt doch wohl eine
Unterwerfungshaltung ein, oder?« fragte Mark. »Man stellt sich ihm
doch nicht?«
»Nein, ich nehme grundsätzlich keine
Unterwerfungshaltung ein. Normalerweise kann ich mich vor Angst
nicht bewegen.«
Hat der Silberrücken den Menschen
erst einmal akzeptiert, schließt sich nicht nur der Rest der Gruppe
zügig an, sondern lassen sich interessanterweise auch andere, im
selben Gebiet lebende Gruppen gewöhnlich bedeutend schneller an die
Gegenwart von Menschen gewöhnen. Ärger gibt es dabei so gut wie
nie, vorausgesetzt, alle Beteiligten behandeln einander mit
angemessenem Respekt. Die Gorillas sind absolut imstande, deutlich
zu machen, wenn sie nicht gestört werden wollen. In einem Fall
hatte eine Gorillagruppe wegen eines Zusammentreffens mit einer
anderen Gorillagruppe einen besonders stressigen Vormittag
verbracht und wollte um nichts in der Welt nachmittags von Menschen
belästigt werden; als ein Spurenleser einige Touristen anschleppte
und länger als erwünscht blieb, griff sich der Silberrücken die
Hand des Spurenlesers und biß ihm ganz behutsam die Uhr
ab.
Das Geschäft mit dem Tourismus ist
und bleibt vertrackt. Ich selbst hatte die Gorillas schon seit
Jahren besuchen wollen, mich jedoch aus Sorge, der Tourismus könne
sowohl ihren Lebensraum als auch ihre Lebensgewohnheiten
beeinträchtigen, abschrecken lassen. Außerdem besteht die Gefahr,
die Gorillas Krankheiten auszusetzen, gegen die sie nicht immun
sind. Bekanntlich war ja auch Dian Fossey, die berühmte,
einzigartige Vorkämpferin des Gorillaschutzes, die meiste Zeit
ihres Lebens eine leidenschaftliche Gegnerin des Tourismus und
wollte die Welt von ihren Gorillas fernhalten. Dennoch hat aber
auch sie sich gegen Ende ihres Lebens, wenn auch schweren Herzens,
zu einer anderen Auffassung durchringen können, und nach heute
vorherrschender Meinung ist der Tourismus, solange er sorgfältig
kontrolliert und überwacht wird, der einzige Garant für den
künftigen Fortbestand der Gorillas. Es ist traurig, aber leider
nicht von der Hand zu weisen, daß es letztlich auf simple Ökonomie
hinausläuft. Ohne Touristen stellt sich nur die Frage, was zuerst
passiert – entweder wird der Lebensraum der Gorillas vollständig
zerstört, um als Anbaufläche oder Feuerholz zu dienen, oder die
Gorillas werden von Wilderern gejagt, bis sie ausgerottet sind.
Ungeschminkt formuliert, sind die Gorillas heute für die
Einheimischen (und die Regierung) tot weniger wert als
lebendig.
Die Beschränkungen, die mit Nachdruck
durchgesetzt werden, sehen so aus: Jede Gorillafamilie darf nur
einmal täglich, normalerweise eine Stunde lang, von einer höchstens
sechs Personen umfassenden Gruppe besucht werden, deren Mitglieder
für dieses Privileg je einhundert US-Dollar zu zahlen haben. Wofür
sie die Gorillas unter Umständen nicht mal zu sehen
bekommen.
Wir hatten Glück; wir fanden sie.
Obwohl es nach unserem ersten kurzen Zusammentreffen mit dem
Silberrücken eine Zeitlang nicht so aussah, als sollten wir auf
weitere Gorillas stoßen. Wir bewegten uns langsam und vorsichtig
durchs Unterholz, während Murara und Serundori regelmäßig Keuch-
und Grunzlaute ausstießen. Sinn dieser Übungen war, den Gorillas
unser Kommen anzukündigen und zu unterstreichen, daß wir nichts
Böses im Schilde führten. Die Geräusche sind Nachahmungen von
Lauten, die die Gorillas selbst von sich geben. Obwohl es wohl
ziemlich egal ist, ob man sie nun zu imitieren versucht oder nicht.
Reinlegen kann man damit sowieso niemanden. Es beruhigt die
Gorillas einfach, wenn man immer dasselbe Geräusch macht. Ginge es
nach ihnen, könnte man genausogut die Nationalhymne
absingen.
Als wir schon kurz davor waren,
aufzugeben und umzukehren, versuchten wir es noch einmal mit einem
Richtungswechsel, und plötzlich schien der Wald mit Gorillas
regelrecht vollgestopft zu sein. In einem Baum, knapp einen Meter
über unseren Köpfen, rekelte sich ein Weibchen, das träge mit den
Zähnen Rinde von einem Zweig rupfte. Es nahm uns zur Kenntnis, war
aber nicht interessiert. Zwei Babys alberten in vier Metern Höhe
verwegen in einem ausgesprochen schmächtigen Bäumchen herum, und
ein junges Männchen tuckerte auf der Suche nach Eßbarem durchs nahe
gelegene Unterholz. Wir starrten die beiden Babys an, erstaunt und
fasziniert von der herrlich ausgelassenen Hingabe, mit der sie
umeinander und um das grauenhaft dürre Bäumchen wirbelten, das sie
für diese Übung auserkoren hatten. Es war kaum zu fassen, daß der
Baum sie überhaupt tragen konnte, und tatsächlich konnte er das
auch nicht. In völligem Irrglauben, was die Gravitationsgesetze
betraf, rauschten sie plötzlich durch die Äste zu Boden und
trollten sich verzagt ins Unterholz.
Wir folgten ihnen und begegneten
einem Gorilla nach dem anderen, bis wir schließlich auf einen
Silberrücken stießen, der unter einem Busch auf der Seite lag, sich
mit seinem hinter dem Kopf verschränkten langen Arm am
gegenüberliegenden Ohr kratzte und dabei ein einigermaßen untätiges
Astbüschel betrachtete. Uns war sofort klar, was er tat. Er
lungerte herum. Das war ganz offensichtlich. Oder besser: Die
Versuchung, es ganz offensichtlich zu finden, war
überwältigend.
Sie sehen aus wie Menschen, sie
bewegen sich wie Menschen, sie halten Dinge in den Händen wie
Menschen, und ihre Mimik und die ungemein menschlichen Blicke
drücken etwas aus, das wir ganz instinktiv als Ausdruck
menschlicher Gefühle empfinden. Wir sehen ihnen ins Gesicht und
denken: »Wir wissen, wie sie sind«, aber genau das wissen wir
nicht. Oder blockieren zumindest jeden möglichen
Verständnisschimmer, indem wir uns mit ebenso einfachen wie
verlockenden Mutmaßungen begnügen.
Auf Händen und Knien kroch ich
langsam und ruhig dichter an den Silberrücken heran, bis ich nur
noch einen halben Meter von ihm entfernt war. Er warf mir einen
unbeteiligten Blick zu, als sei ich nur irgendwer, der gerade ins
Zimmer gekommen war, und setzte seine Betrachtungen fort. Ich
schätzte, daß das Tier ungefähr so groß war wie ich – fast zwei
Meter –, hielt es aber für ungefähr doppelt so schwer. Größtenteils
Muskeln, mit weicher schwarzgrauer Haut, die ihm ziemlich locker
und, von groben schwarzen Haaren bedeckt, von der Vorderseite
hing.
Als ich mich erneut bewegte, rückte
er von mir ab, ungefähr fünfzehn Zentimeter, als ob ich mich etwas
zu dicht neben ihn aufs Sofa gesetzt hätte und er jetzt grummelnd
ein bißchen Platz machte. Dann legte er sich, die Faust unter das
Kinn gestemmt, auf den Bauch und kratzte sich träge mit der anderen
Hand die Wange. Ich blieb so ruhig und still wie möglich sitzen,
obwohl mir aufging, daß ich gerade von Ameisen zu Tode gebissen
wurde. Er sah uns ohne besondere Anteilnahme nacheinander an und
wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder seinen Händen zu, während
er sich mit dem Daumen träge einige Schmutzflecken von einem der
Finger kratzte. Ich hatte den Eindruck, daß wir für ihn ungefähr so
interessant waren wie ein langweiliger Sonntagnachmittag vor dem
Fernseher. Er gähnte.
Es ist so verflucht schwierig, Tiere
nicht zu vermenschlichen. Derartige Eindrücke drängen sich einem
ununterbrochen auf, weil sie soviel spontanes Wiedererkennen
auslösen, wie illusorisch dieses Wiedererkennen auch immer sein
mag. Nur auf diese Art und Weise läßt sich vermitteln, an was es
erinnerte.
Nach einer längeren schweigsamen
Pause zog ich vorsichtig mein rosa Schreibpapier aus der Tasche und
begann mir die Notizen zu machen, von denen ich gerade abschreibe.
Das schien ihn schon mehr zu interessieren. Ich nehme mal an, daß
er vorher einfach noch nie rosa Schreibpapier gesehen hatte. Er
verfolgte meine über das Blatt kritzelnde Hand eine Zeitlang mit
den Augen, stand schließlich auf und berührte zuerst das Papier und
dann die Spitze meines Kugelschreibers – nicht, um ihn mir
wegzunehmen oder mich auch nur zu unterbrechen, sondern um zu
sehen, was das war und wie es sich anfühlte. Ich war wirklich
gerührt und wurde von dem albernen Impuls gepackt, ihm auch noch
meine Kamera zu zeigen.
Er zog sich ein Stück zurück und
legte sich etwa einen Meter von mir entfernt wieder hin, das Kinn
wie zuvor auf die Faust gestützt. Mir gefielen sein ungewöhnlich
nachdenklicher Gesichtsausdruck und die Art und Weise, wie sich
seine Lippen durch den nach oben gerichteten Druck der Faust
aufbauschten. Der beunruhigendste Hinweis auf Intelligenz
allerdings schien mir aus den plötzlichen Seitenblicken
hervorzugehen, die er mir nicht infolge bestimmter Bewegungen
meinerseits zuwarf, sondern offenbar immer dann, wenn ihm gerade
eine Idee gekommen war.
Ich begriff, welche Überheblichkeit
hinter unserer Annahme steckt, wir könnten ihre Intelligenz
beurteilen – als wäre die unsere irgendeine Norm, an der alles
andere zu messen ist. Also versuchte ich mir vorzustellen, wie er
uns sah, nur ist das natürlich so gut wie unmöglich, weil man beim
Versuch, seine Vorstellungslücken zu überbrücken, unwillkürlich
wieder bei den eigenen Annahmen landet und die irreführendsten
Annahmen zudem ausgerechnet jene sind, von denen man gar nicht
bewußt ausgeht.
Ich malte mir aus, wie er da
unbeschwert in seiner eigenen kleinen Welt lag, meine Gegenwart
darin tolerierte, obwohl er mir, wie ich glaube, womöglich Signale
zuschickte, auf die ich nicht zu reagieren wußte. Und dann malte
ich mir aus, wie ich da neben ihm saß, geschmückt mit meinen
Intelligenzapparaten – meiner Gore-Tex-Kutte, meinem Stift und
meinem Papier, meiner autofokussierenden, belichtungsautomatischen
Nikon F4 – und meiner ganzen Unfähigkeit, auch nur irgend etwas von
dem Leben zu begreifen, das wir hinter uns im Wald zurückgelassen
haben – Aber irgendwo in der genetischen Geschichte, die wir alle
in jeder einzelnen Körperzelle mit uns herumtragen, bestand eine
innige Verbindung zu diesem Lebewesen – für uns so unerreichbar wie
die Träume vom letzten Jahr, aber, genau wie diese Träume, immer
unsichtbar und unergründlich gegenwärtig.
Was mir daraufhin in den Sinn kam,
war, glaube ich, die vage Erinnerung an einen Film, in dem ein New
Yorker, Sohn osteuropäischer Einwanderer, aufbricht, um das Dorf zu
finden, aus dem seine Familie ursprünglich stammt. Er ist
wohlhabend und erfolgreich und erwartet, aufgeregt in Empfang
genommen und bestaunt zu werden.
Statt dessen wird er zwar nicht
gerade abgelehnt oder gar weggeschickt, aber in einer für ihn
vollkommen unverständlichen Art und Weise empfangen. Es irritiert
ihn, daß man nicht angemessen auf seine Anwesenheit reagiert, bis
er begreift, daß die Zurückhaltung, mit der man ihm begegnet, keine
Ablehnung ist, sondern nur der Friede, in dem er als Gast, aber
nicht als Störer, jederzeit willkommen ist. Die Geschenke, die er
aus der Zivilisation mitgebracht hat, zerfallen in seinen Händen zu
Staub, als ihm klar wird, das alles, was er besitzt, nur ein
Abglanz dessen ist, was er verloren hat.
Wieder betrachtete ich die Augen des
Gorillas, weise und wissende Augen, und machte mir meine Gedanken
über die Versuche, Affen eine Sprache beizubringen. Unsere Sprache.
Wozu? Es gibt doch genügend Mitglieder unserer eigenen Spezies, die
in und mit dem Wald leben und diese Sprache kennen und verstehen.
Denen hören wir doch auch nicht zu. Wie kommen wir also darauf, daß
wir uns ausgerechnet das anhören würden, was uns ein Affe zu sagen
hätte? Oder darauf, daß er uns etwas von seinem Leben mitteilen
könnte, in einer Sprache, die nicht aus diesem Leben entstanden
ist? Vielleicht, dachte ich, ist es gar nicht so, daß sie eine
Sprache erwerben müßten, sondern daß wir eine verloren
haben.
Unsere Anwesenheit schien den
Silberrücken schließlich doch zu ermüden. Er wuchtete sich auf die
Füße und schleppte sich gemächlich in einen anderen Teil seiner
Behausung.
Auf dem Rückweg zur Hütte entdeckte
ich in meiner Kameratasche eine kleine Dose Thunfisch, die wir nach
unserer Rückkehr zusammen mit einer Flasche Bier gierig
vernichteten, und das bedeutete, um zwei Uhr nachmittags, das Ende
der spaßigen Ereignisse dieses Tages, es sei denn, man hält es für
spaßig, einem Paar deutscher, Verzeihung, lettischer Studenten
zuzuhören, das einem die Vorzüge seiner Taschenmesser
auseinandersetze.
Mark wurde dabei langsam ziemlich
fuchsig, was sich daran zeigte, daß er seine Bierflasche
ausgesprochen fest mit den Händen umklammert hielt und sie dauernd
anstarrte. Kurt fragte uns, was wir als nächstes vorhätten, und wir
sagten, wir würden zum Garamba-Nationalpark fliegen und mal sehen,
ob wir irgendwelche weißen Nashörner auftreiben könnten. Kurt
nickte und sagte, er selbst werde wohl heute nacht mal nach Uganda
wandern.
Marks um die Bierflasche geschlungene
Fingerknöchel wurden weißer. Nun zieht er es zwar wie die meisten
Zoologen ohnehin vor, sich mit Tieren und nicht mit Menschen
abzugeben, aber in diesem Fall waren wir uns vollkommen einig. Mir
kam in den Sinn, daß wir einen Tag damit zugebracht hatten, völlig
verzückt ein paar Berggorillas anzustaunen, daß uns besonders ihre
scheinbare Ähnlichkeit mit uns Menschen ergriffen hatte und daß wir
gerade diese Eigenschaft für eine ihrer faszinierendsten und
fesselndsten hielten. Um anschließend herauszufinden, daß ein paar
in Gesellschaft von wirklichen Menschen verbrachte Stunden bloß
lästig und etwas verwirrend waren.
Drei Tage später fand ich mich auf
einem Termitenhügel stehend wieder, von dem aus ich durch ein
Fernglas einen anderen Termitenhügel anstarrte.
Ich wußte, daß ich auf einem
Termitenhügel stand, war aber enttäuscht, daß das Ding, das ich
anstarrte, kein nördliches weißes Nashorn war, weil wir mehr als
eine Stunde lang in der Mittagshitze und mitten in einer Gegend,
die man wirklich nur Afrika nennen konnte, entschlossen darauf
zugewandert waren.
Außerdem war uns das Wasser
ausgegangen. Es war kaum zu glauben, daß ich, der ich vollgestopft
mit H. Rider Haggard, Noël Coward und »The Eagle« aufgewachsen war,
bei meiner ersten Begegnung mit der wirklichen, echten
afrikanischen Savanne zuerst mal geradewegs in der Mittagshitze in
sie reinmarschierte und mir dann auch noch das Wasser
ausging.
Ich gebe es natürlich nur ungern zu,
eben weil ich mit einer gehörigen Portion H. Rider Haggard und so
weiter groß geworden bin, aber ich hatte wirklich ein bißchen
Angst. Der Grund, weshalb einem nicht mitten in der Savanne das
Wasser ausgehen sollte, ist nämlich, daß man das Zeug wirklich
braucht. Man kriegt von seinem Körper ständig zu hören, daß er es
braucht, und nach einiger Zeit wird er ziemlich ausfallend, was
dieses Thema angeht. Davon abgesehen, steckten wir meilenweit im
Nirgendwo, und obwohl eine ganze Reihe von Theorien in bezug auf
den Standort unseres Landrovers herumschwirrten, hatte bis dahin
keine von ihnen einer ernsthaften Überprüfung standhalten
können.
Ich weiß nicht, wie beunruhigt Mark
und Chris zu diesem Zeitpunkt waren, weil man sie – besonders Chris
– kaum zu irgendwelchen verständlichen Aussagen bewegen konnte.
Chris kommt aus Edinburgh und ist unverkennbar Angehöriger einer
nordischen Rasse: rothaarig, bleichhäutig und selig, wenn er, in
etwas gehüllt, das wie ein großer, toter Hase aussieht, einen
DAT-Recorder und ein Mikrofon durch die schottischen Moore
schleppen darf, während Wind und Regen gegen seine
zusammengebissenen Zähne klatschen. Die Savanne entspricht nicht
ganz seinem Naturell. Inzwischen zog er immer kleiner werdende
Kreise, sprach über immer unvernünftiger werdende Dinge und
leuchtete wie eine Ampel. Mark wurde rot und
einsilbig.
Die beiden Frauen, die uns
begleiteten, hielten uns für totale Nieten. Es handelte sich um Kes
Hillman-Smith, eine Nashornexpertin, und Annette Lanjouw, eine
Schimpansenexpertin.
Kes Hillman-Smith löste mich auf dem
Termitenhügel ab. Kes ist eine Expertin für weiße Nashörner, war
aber überfordert hinsichtlich des momentanen Aufenthaltsortes der
verbliebenen zweiundzwanzig Exemplare in einem Nationalpark, der so
groß ist wie Schottland.
Es kann sein, daß ich nicht ganz
richtig informiert bin. Was die Größe des Garamba-Nationalparks
angeht, scheinen meine Informationen im Widerspruch zu denen
anderer Leute zu stehen. Falls es tatsächlich stimmt, daß er nur
fünftausend Quadratkilometer groß ist, müßte ich natürlich zugeben,
daß er nur so groß wie ein Teil von Schottland ist, aber immerhin
groß genug, um zweiundzwanzig Nashörner ausgesprochen wirkungsvoll
zu verstecken.
Kes war, wie es sich für eine
weltweit anerkannte Nashornexpertin gehörte, von Anfang an sehr
skeptisch hinsichtlich des Termitenhügels gewesen, hatte aber, da
es die einzige Erscheinung in dem weit entfernten Hitzeflimmern
gewesen war, die einem Nashorn zumindest entfernt ähnelte, und wir
schon so weit marschiert waren, trotzdem vorgeschlagen, einfach mal
hinzugehen.
Kes ist eine imponierende Frau und
wirkt, als sei sie gerade aus einem etwas zweifelhaften
Abenteuerfilm gesprungen: hager, durchtrainiert, auffallend hübsch
und normalerweise mit einem alten Kampfanzug bekleidet, dem eine
ganze Reihe von Knöpfen fehlt. Sie kam zu dem Schluß, es sei
langsam an der Zeit, sich ernsthaft mit der Karte zu befassen,
einer eher holprigen Darstellung der eher holprigen Landschaft. Sie
legte unwiderruflich fest, wo der Landrover zu sein hatte, und zwar
mit einer derartigen Unbarmherzigkeit, daß der Landrover es kaum
wagen konnte, nicht genau dort zu sein – wo wir ihn dann nach einem
meilenweiten Marsch auch tatsächlich hinter einem Busch entdeckten,
hinter dem er sich mit einer Thermoskanne Tee auf der Rückbank
versteckt hatte.
Nachdem wir uns mit einem Becher Tee
von der Sorte, die die Wüste zum Blühen und die Engel zum Singen
bringt, wiederbelebt hatten, ratterten und rollten wir zurück zu
unserer Basis, einem kleinen, nur durch einen schmalen Fluß vom
Garamba-Nationalpark getrennten Hüttendorf für Besucher. Wir waren
die einzigen Besucher des Parks, der, wie ich bereits sagte, so
groß ist wie ein Teil von Schottland. Das ist insofern etwas
überraschend, als der Park einer der schönsten von ganz Afrika ist.
Er liegt im Nordosten von Zaire, an der Grenze zum Sudan, und ist
nach dem Garamba-Fluß benannt, der den Park von Osten nach Westen
durchschneidet. Die Vegetation besteht aus einer Mischung aus
Savanne, Galeriewald und Papyrussümpfen und beherbergt zur Zeit
53000 Büffel, 5000 Elefanten, 3000 Flußpferde, 175 Kongo-Giraffen,
270 Vogelarten, um die 60 Löwen und einige riesige Elen-Antilopen
mit Korkenzieherhörnern. Daß diese riesigen Elen-Antilopen sich
überhaupt im Park aufhalten, wissen wir nur, weil wir eine gesehen
haben. Zuletzt hatte in den fünfziger Jahren jemand eine dieser
Antilopen gesehen. Wir waren hochzufrieden.
Daß der Park nur so spärlich besucht
ist, liegt vermutlich zum einen an dem alptraumartigen
Verwaltungsirrsinn, der auf jeden Zaire-Besucher einstürmt, zum
anderen aber auch daran, daß er vom nächstgelegenen Flughafen,
Bunia, mit dem Wagen eine Dreitagesreise weit entfernt ist und sich
deshalb nur die wirklich entschlossenen Besucher überhaupt auf den
Weg machen.
Wir hatten Glück. Der Senior
Management Adviser des Garamba-Rehabilitations-Projekts, Charles
Mackie, holte uns mit einer Cessna, die normalerweise zum Verfolgen
von Wilddieben eingesetzt wird, vom Flughafen ab. Die unmittelbar
neben dem Park gelegene Piste, auf der wir landeten, war nicht mehr
als ein flachgeklopftes Stück Gras, über das wir prallten und
hüpften, bis die Maschine endlich schlingernd zum Stillstand kam.
Es war eine gravierende Veränderung gegenüber den nebligen, kühlen
Wäldern um die Virunga-Vulkane – Grasland, das sich in alle
Himmelsrichtungen bis zum Horizont erstreckte, heiße, trockene
Luft, ein Landrover, der über staubige Straßen durch die Savanne
holperte, und Elefanten, die sich schwerfällig durch die flimmernde
Ferne schleppten.
Am Abend waren wir bei Kes und ihrem
Mann Fraser, einem der Park-Aufseher, zum Essen eingeladen. Sie
hatten ihr Haus selbst gebaut, draußen im Busch, am Ufer des
Flusses. Das Haus ist ein langer, flacher, verschachtelter Bau
voller Bücher und größtenteils nicht wettergeschützt – wenn es
regnet, hängen sie Planen vor die Fensteröffnungen, in denen die
Scheiben fehlen. Während der zweijährigen Bauzeit hatten sie in
einer kleinen Lehmhütte gewohnt; mit einem Haus-Mungo, der auf der
Suche nach Würmern ständig den Boden aufbuddelte, einem Hund, zwei
Katzen – und einem Baby.
Da ihr Haus so offen ist, ist es
grundsätzlich voller Tiere. Ein junges Flußpferd kommt zum Beispiel
regelmäßig vorbei, um auf den Topfpflanzen im Wohnzimmer
herumzukauen. Es bleibt dann häufig über Nacht und schläft, den
Kopf neben das Bett des (zweiten) Babys gebettet, im Schlafzimmer.
Im Garten gibt es Schlangen und Elefanten, Ratten, die dauernd die
Seife auffressen, und Termiten, die hin und wieder die tragenden
Pfosten des Hauses wegknabbern.
Die einzigen Tiere, die Kes und
Fraser jedoch wirklich beunruhigen, sind die Krokodile, die im Fluß
am Ende des Gartens leben. Ihr Hund wurde von einem
gefressen.
»Es ist schon ein bißchen
besorgniserregend«, erzählte Kes. »Aber wir müssen unser Leben halt
den Umständen entsprechend gestalten. In der Stadt müßten wir uns
Sorgen darüber machen, daß unsere Kinder von einem Bus überfahren
oder entführt werden könnten, genau wie wir uns hier wegen der
Krokodile sorgen.«
Nach dem Essen meinten sie, falls wir
auch nur den Hauch einer Chance haben wollten, eines der weißen
Nashörner zu Gesicht zu bekommen, wäre es ausgesprochen hilfreich
zu wissen, wo sie zur Zeit steckten. Sie schlugen vor, wir sollten
uns morgen von Charles mit der Cessna herumfliegen lassen und am
Tag darauf noch mal mit dem Landrover rausfahren und sehen, wie
dicht wir an die Nashörner herankämen. Sie riefen Charles über ihr
wackliges, altes Funkgerät und arrangierten alles für
uns.
Charles fliegt seine Maschine so, wie
meine Mutter ihr Auto über die Landstraßen in Dorset fährt. Wenn
man nicht wüßte, daß sie das seit Jahren tagtäglich eisern tut,
würde man sich bibbernd vor Angst im Fußraum verkriechen, statt
glasig zu lächeln und »Warte, warte noch ein Weilchen« zu
summen.
Charles ist ein schlanker, etwas
angespannter Mann und zudem auch noch schüchtern. Manchmal meint
man, ihn mit irgend etwas zutiefst beleidigt zu haben, und merkt
einen Augenblick später, daß sein plötzliches Schweigen nur darauf
zurückzuführen ist, daß er nicht weiß, was er als nächstes sagen
soll und es deshalb einfach aufgegeben hat. Andererseits gibt es
vom Flugzeug aus soviel zu sehen, daß er erstens sehr gesprächig
und zweitens natürlich kaum zu verstehen ist.
Er mußte es dreimal wiederholen,
bevor ich meinen Ohren endlich traute – er sagte, er wolle nur
schnell die Eier in dem Sattelstorchnest in der Baumkrone zählen,
auf die wir zurasten.
Er ging über dem Baumwipfel abrupt in
die Schräglage und zog dann anscheinend die Handbremse, während er
sich aus dem Fenster lehnte und die Eier zählte – Das Cockpit war
erfüllt von »Warte, warte noch ein Weilchen«-Klängen, als die
Maschine langsam seitlich abwärtszutrudeln begann. Charles
verzählte sich offenbar zweimal, bevor er mit dem Ergebnis
zufrieden war, zog den Kopf daraufhin wieder durch das Fenster nach
innen, drehte sich um und fragte, ob es uns gut ginge, blickte nach
vorn und riß die Maschine Sekundenbruchteile vor unser aller Tod
wieder hoch in die Luft.
Aus der Luft wirkt die Savanne wie
über das Land gespannte Straußenhaut. Wir passierten eine kleine
Elefantenhorde, die nickend und sich verbeugend über die Ebene
stampfte. Charles rief uns über die Schulter zu, im
Garamba-Nationalpark versuche man Elefanten zu trainieren, und man
habe auf diesem Gebiet die ersten nennenswerten Erfolge seit
Hannibals Zeiten erzielt. Afrikanische Elefanten sind intelligent,
aber berüchtigt für ihre Untrainierbarkeit, weshalb in den alten
Tarzanfilmen Indische Elefanten mit angeklebten großen Ohren
eingesetzt wurden. Letztlich will man mit dem Projekt erreichen,
daß die Elefanten bei Patrouillen gegen Wilderer und bei
Touristensafaris eingesetzt werden können. Auch hier werden also
Einnahmen aus dem Tourismus als der einzig sichere Weg angesehen,
den Fortbestand der bedrohten Tierwelt in ihrem Lebensraum zu
gewährleisten.
Wir drehten immer größere Runden und
hielten nach allem Ausschau, was entfernt an ein Nashorn erinnerte.
Von hier oben wären sie wesentlich einfacher von einem
Termitenhügel zu unterscheiden als vom Boden aus, und sei es auch
nur wegen der Geschwindigkeit, mit der sie sich
bewegen.
Plötzlich sahen wir eins. Und dann,
als wir an einer Baumgruppe vorbeiflogen, sahen wir noch
eins.
Tatsächlich waren es sogar zwei; eine
Mutter und ihre Tochter, die sich nicht weit von uns entfernt wie
trabende Felsbrocken über die Steppe bewegten. Sogar aus ein paar
hundert Metern Höhe ist es äußerst beeindruckend, solche
Gewichtsmassen in Bewegung zu sehen. Als wir den geraden Pfad
kreuzten, auf dem Mutter und Tochter liefen, und vor ihnen tiefer
gingen und beidrehten, schien es fast, als seien wir Teil einer
dreiteiligen physikalischen Versuchsanordnung, deren einer
Bestandteil – das Flugzeug – im Gravitationssog der Nashörner
herumpendelte.
Beim nächsten Überfliegen gingen wir
noch tiefer, folgten, so dicht über ihnen wie nur irgend möglich,
genau ihrer Spur, und diesmal hatte ich das Gefühl, an einem
militärischen Manöver teilzunehmen, bei dem wir einer monströsen,
über die Ebene scheppernden Kavallerie Deckung aus der Luft geben
sollten.
Durch den Lärm im Cockpit riefen wir
Charles zu, ob es den Nashörnern nichts ausmache, wenn wir so dicht
über Ihnen flögen.
»Nicht halb soviel, wie es euch
ausmacht«, sagte er. »Nein, das stört die absolut nicht. Ein
Nashorn hat vor nichts wirklich Angst und interessiert sich nur
dafür, wie irgendwelche Sachen riechen. Wir fliegen ziemlich oft
dicht über sie weg, um sie uns genau ansehen zu können, sie zu
identifizieren, zu sehen, was sie so machen, ob sie gesund sind und
so weiter. Wir kennen sie alle ganz gut, und wir wüßten, wenn sie
wegen irgendwas sauer wären.«
Wieder ging mir schlagartig etwas
auf, das sich auf diesen Reisen zu einer echten Binsenweisheit
entwickelte, nämlich, daß ein Zoobesuch einen ganz und gar nicht
darauf vorbereitete, diese Tiere in freier Wildbahn zu erleben –
große Tiere, die sich als unumschränkte Herrscher ihrer ureigenen
Welt in einem scheinbar grenzenlosen Raum bewegen.
Oder jedenfalls fast unumschränkt.
Das nächste Nashorn, das wir ein paar Meilen weiter entdeckten,
hatte gerade eine Auseinandersetzung mit einer Hyäne. Die Hyäne
umkreiste ihren Gegner argwöhnisch, während das Nashorn sie
kurzsichtig über sein gesenktes Horn hinweg beäugte. Nashörner
sehen wirklich nicht besonders viel, und wenn sie irgend etwas
unbedingt genau erkennen wollen, begutachten sie es in der Regel
zuerst mit dem einen und dann mit dem anderen Auge – geradeaus
können sie nämlich nicht sehen, weil ihre Augen an den Seiten des
Schädels liegen. Charles wies uns beim Überfliegen des Nashorns
daraufhin, daß es schon vorher Ärger mit Hyänen gehabt haben mußte:
Die Hälfte seines Schwanzes fehlte.
Da ich zu diesem Zeitpunkt ernstlich
luftkrank wurde, machten wir uns auf den Rückweg. Sinn des Ausflugs
war ja nur gewesen herauszufinden, wo sich die Nashörner
aufhielten, und von der vollständigen Population von zweiundzwanzig
Exemplaren hatten wir insgesamt acht gesehen. Am nächsten Tag
wollten wir auf dem Landweg aufbrechen und versuchen, uns ihnen auf
dem Boden zu nähern.
Was viele Leute, die nichts über
weiße Nashörner wissen, an ihnen am interessantesten finden, ist
ihre Farbe.
Weiß ist es nicht.
Nicht mal annähernd. Es ist eher ein
hübsches Dunkelgrau.
Nicht mal irgendein helles Grau, das
man gerade noch als nicht ganz lupenreines Weiß durchgehen lassen
könnte, sondern ein schlichtes Dunkelgrau. Aus diesem Grund nehmen
manche Leute an, die Zoologen seien entweder pervers oder
farbenblind, aber das stimmt nicht; sie sind nur ungebildet. »Weiß«
ist eine falsche Übersetzung des aus dem Afrikaans stammenden
Begriff »weit«, der »breit« bedeutet und sich auf das Maul des
Nashorns bezieht, das breiter ist als das des schwarzen Nashorns.
Wie es der Zufall will, ist das weiße Nashorn tatsächlich nur ein
winziges bißchen heller als das schwarze Nashorn. Wäre das weiße
Nashorn dunkler als das schwarze Nashorn, würden viele Leute wohl
ziemlich stinkig werden, was schade wäre, weil man beim Nachdenken
über das weiße Nashorn wegen einer ganzen Reihe anderer Dinge
stinkig werden könnte – zum Beispiel wegen der Dinge, die mit
seinem Horn passieren.
Es gibt einen weitverbreiteten
Mythos, der erklärt, wozu man Rhinozeroshörner braucht –
genaugenommen sind es zwei Mythen. Dem ersten Mythos zufolge ist
gemahlenes Rhinozeroshorn ein Aphrodisiakum. Das ist, wie man wohl
ungestraft behaupten darf, genau das, wonach es sich anhört –
Aberglaube. Es hat wenig mit irgendwelchen medizinischen
Erkenntnissen zu tun, dafür aber eine Menge damit, daß ein
Rhinozeroshorn ein großes, hochstehendes, hartes Ding
ist.
Der zweite Mythos ist, das so gut wie
jeder an den ersten Mythos glaubt.
Wahrscheinlich war die Geschichte
eine Zeitungsente oder bestenfalls ein Mißverständnis. Es ist nicht
schwer zu verstehen, woher diese Idee stammte, wenn man die Unzahl
von Dingen berücksichtigt, die zum Beispiel die Chinesen für
Aphrodisiaka halten – Affenhirne, Spatzenzungen, die menschliche
Nachgeburt, den Penis von weißen Pferden, Hasenhaare aus alten
Pinseln und die getrockneten, anschließend sechs Monate in
europäischem Branntwein eingeweichten Geschlechtsteile eines
Tigermännchens. Ein großes, hochstehendes, hartes Ding wie ein
Rhinozeroshorn ist wie geschaffen für eine solche Liste, auch wenn
in diesem Zusammenhang vielleicht nicht mehr ganz so leicht
nachzuvollziehen ist, was am Zerstampfen von dem Ding so anziehend
sein soll. Tatsache ist, daß es keinen Hinweis darauf gibt, daß die
Chinesen Rhinozeroshorn für ein Aphrodisiakum halten. Die einzigen
Leute, die es glauben, sind Leute, die irgendwo gelesen haben, daß
andere Leute es glauben, und die nur zu gern bereit sind, einfach
alles zu glauben, was in ihren Ohren irgendwie prima
klingt.
Vom Handel mit Rhinohorn als
Aphrodisiakum ist nichts bekannt. (Das ist, wie so vieles, nicht
mehr ganz richtig. Inzwischen weiß man, daß ein paar Leute im
Norden Indiens es verwenden, aber die tun es auch nur, um andere zu
ärgern.)
Häufig findet Horn in der
traditionellen fernöstlichen Medizin Verwendung, aber der größte
Teil des Handels mit Rhinohorn kommt aus einem wesentlich
absurderen Grund zustande, und dieser Grund heißt: Mode.
Dolchgriffe aus Rhinozeroshorn gelten im Jemen als außerordentlich
modische Schmuckstücke für Männer. Das ist es:
Modeschmuck.
Sehen wir uns mal die Auswirkungen
dieser Mode an.
Bis zu ihrer Entdeckung im Jahre 1903
waren die nördlichen weißen Nashörner in der westlichen Welt
unbekannt. Damals waren sie in fünf verschiedenen Ländern äußerst
zahlreich vertreten; im Tschad, in der Zentralafrikanischen
Republik, dem Sudan, in Uganda und Zaire. Ihre Entdeckung jedoch
beschwor Unheil herauf, denn zu seinem eigenen Unglück hat das
weiße Nashorn zwei Hörner – womit es für Wilderer gleich doppelt
attraktiv ist. Das vordere, längere Hörn wird durchschnittlich
sechzig Zentimeter lang; das Horn des Weltrekordhalters war
sagenhafte hundertachtzig Zentimeter lang und bedauerlicherweise um
die fünftausend Dollar wert.
Bis 1980 waren bis auf tausend
Nashörner alle von Wilderern getötet worden. Trotzdem wurden keine
ernsthaften Maßnahmen zu ihrem Schutz ergriffen, und fünf Jahre
später erreichte die Population einen Rekord-Tiefstand von dreizehn
Tieren, die alle im Garamba-Nationalpark lebten. Die Art stand
unmittelbar vor dem Aussterben.
Bis 1984 wurde der fünftausend
Quadratkilometer große Garamba-Nationalpark nur von sehr wenigen
Angestellten beaufsichtigt. Diese Angestellten waren nicht
geschult, wurden oft nicht bezahlt und hatten weder Fahrzeuge noch
irgendwelche Ausrüstung. Wenn ein Wilderer ein Nashorn töten
wollte, mußte er bloß im Park vorbeischauen. Sogar die Zairer aus
der Gegend töteten die Nashörner, um kleine Hornteile zu Ringen zu
verarbeiten, die sie vor Gift und bösen Mitmenschen schützen
sollten. Der Großteil des Horns aber wurde von Wilderern aus dem
Sudan eingesackt. Es wurde in den Sudan geschafft und von dort aus
auf den illegalen internationalen Markt geworfen.
Seit dem Beginn des 1984 ins Leben
gerufenen Rehabilitationsprojekts hat sich die Situation in Garamba
deutlich verbessert. Den heute dort beschäftigten
zweihundertsechsundvierzig Mitarbeitern stehen elf Fahrzeuge und
ein Leichtflugzeug zur Verfügung, und der Park wird rund um die Uhr
von Wachtposten und einer mobilen Patrouille kontrolliert, die in
ständigem Funkkontakt miteinander stehen. Zwei im Mai 1984,
unmittelbar nach der Aufnahme der Rehabilitationsarbeit, gewilderte
Nashörner waren die letzten, die im Park getötet wurden. Der
Wilderer wurde geschnappt und festgenommen, konnte später jedoch
entkommen. Mittlerweile hat sich die Einstellung zu diesem Thema
allerdings so grundlegend geändert, daß man ihn heute nicht wieder
entkommen lassen würde. Andere Arten werden weiterhin gewildert,
aber zumindest zeigen die intensiven Schutzmaßnahmen der letzten
fünf Jahre mittlerweile erste Wirkung. Was bedeutet, daß einige
Nashörner geboren wurden und die Population jetzt den geringfügig
besseren Stand von zweiundzwanzig Exemplaren erreicht
hat.
Zweiundzwanzig.
Ein erstaunlicher Gesichtspunkt der
Situation ist folgender: Wenn das Rhinozeroshorn aus Afrika
ausgeführt und zu einem geschmacklosen Stück Modeschmuck
verarbeitet worden ist, mit dem ein junger Jemenit rumprotzen und
Mädchen aufreißen kann, hat es einen Endwert von mehreren tausend
US-Dollar. Der Wilderer aber, jener Mann also, der in den Park geht
und sein Leben riskiert, um eines der Nashörner zu erschießen, die
mit viel Mühe, Zeit- und Geldaufwand geschützt werden, bekommt für
das Horn zwischen zehn und fünfzehn Dollar. Der Unterschied
zwischen Leben und Tod eines der seltensten und herrlichsten Tiere
der Welt beträgt demnach nur ungefähr zwölf Dollar.
Da stellt sich natürlich schnell die
Frage – die ich auch tatsächlich stellte –, warum man die Wilderer
nicht einfach dafür bezahlt, die Tiere nicht umzubringen. Die Antwort liegt auf der Hand.
Wenn jemand einem Wilderer, sagen wir mal, fünfundzwanzig Dollar
dafür bietet, ein Tier nicht zu erschießen, und ihm dann jemand
anders zwölf Dollar dafür bietet, es zu erschießen, wird der
Wilderer höchstwahrscheinlich zu dem Schluß kommen, daß er unter
diesen Umständen siebenunddreißig Dollar an einem einzigen Tier
verdienen kann. Solange die Hörner wert sind, was sie wert sind,
wird immer ein Anreiz für irgendwen bestehen, sich das Geld zu
verdienen. Also muß die Frage anders lauten: Wie macht man einem
jungen Jemeniten klar, daß ein Dolchgriff aus Rhinozeroshorn kein
Männlichkeitssymbol ist, sondern nur signalisiert, daß man ein
derartiges Symbol nötig hat?
Vor kurzem wurden zwei voneinander
unabhängige, wenn auch nicht bestätigte Sichtungen von weißen
Nashörnern im Southern National Park im Sudan gemeldet. Wegen der
momentanen politischen Lage dort kann man allerdings nur sehr wenig
für sie tun, was letztlich bedeutet, daß lediglich die seit Mitte
der achtziger Jahre im Garamba-Park gehaltenen Tiere eine echte
Überlebenschance haben. Und obwohl ihre Lage noch immer prekär ist,
gibt es zumindest einen Hoffnungsschimmer: sie mit den weiter im
Süden lebenden weißen Nashörnern zu kreuzen.
Nördliche und südliche weiße
Nashörner gehören zur selben Art, aber ihre Bestände sind schon
seit so langer Zeit voneinander getrennt, daß sie eine ganze Reihe
von ökologischen und Verhaltensunterschieden entwickelt haben.
Wichtiger aber ist, daß die genetischen Unterschiede so gravierend
sind, daß Forscher sie als eigenständige Unterarten ansehen und
daraus die Vermutung ableiten, daß sie seit über zwei Millionen
Jahren voneinander getrennt leben. Heutzutage sind sie durch
Tausende von Meilen afrikanischen Regenwaldes, durch Waldgebiete
und Savannen permanent voneinander abgeschnitten.
Für einen Laien sind die beiden Arten
kaum zu unterscheiden – obwohl der nördliche Vertreter seinen Kopf
normalerweise etwas höher trägt als sein südliches Pendant und sie
sich auch in den Körperproportionen ziemlich deutlich voneinander
unterscheiden.
Zur Zeit ihrer Entdeckung war die
nördliche Art wesentlich verbreiteter. Das südliche weiße Nashorn
war zwar ein gutes Jahrhundert früher entdeckt worden, galt aber um
1882 als ausgestorben. Um die Jahrhundertwende wurde dann ein
kleiner Bestand von etwa elf Tieren in Umfolozi, im Zululand,
entdeckt. Um ihr Aussterben zu verhindern, wurden alle Hebel in
Bewegung gesetzt, und bis zum Beginn der sechziger Jahre war der
Bestand wieder auf ungefähr fünfhundert Tiere angewachsen. Das
genügte, um mit dem Umsiedeln einzelner Tiere in andere Parks,
Reservate und ins Ausland zu beginnen. Über die gesamte Südhälfte
von Afrika verteilt, gibt es heute mehr als fünftausend südliche
Nashörner, und damit ist die Art nicht mehr unmittelbar
bedroht.
Entscheidend ist jetzt, sofort mit
der Rettung der nördlichen weißen Nashörner zu
beginnen.
Mit der untergehenden Sonne machten
wir uns auf den Weg und setzten uns zu den ortsansässigen
Flußpferden. An einer breiten Flußbiegung bildete das Wasser ein
tiefes, stilles Becken, und in diesem Becken lagen ungefähr
zweihundert grunzende und grölende Exemplare von ihnen. Durch die
gegenüberliegende, sehr hohe Böschung entstand eine Art natürliches
Amphitheater, in dem sie singen konnten, und so verblüffend klar,
wie der Klang um uns herumhallte, kann ich mir nicht vorstellen,
daß es in ganz Afrika einen besseren Ort gibt, um Flußpferde
grunzen zu hören. Das Licht war warm und klar, und ich saß
strahlend vor Staunen da und beobachtete sie eine geschlagene
Stunde lang. Die Flußpferde, die uns am nächsten lagen,
betrachteten uns mit einer Art begriffsstutziger Angriffslust, die
wir ja schon von den Flughäfen in Zaire kannten, aber die meisten
lagen einfach mit den Köpfen auf den Hinterteilen ihrer Nachbarn da
und trugen ein breites, dümmlich-glückseliges Grinsen zur Schau.
Auf meinem Gesicht wird sich wohl etwas Ähnliches abgezeichnet
haben.
Mark sagte, er habe auf keiner seiner
Reisen in Afrika etwas Vergleichbares gesehen. Garamba, sagte er,
biete einem einzigartige Freiheiten, wenn es darum gehe, sich
Tieren zu nähern und von anderen Menschen zu entfernen. Das hat
natürlich auch seine Kehrseite. Vor kurzem hörten wir, daß ein paar
Wochen später jemand, der an genau derselben Stelle saß wie wir,
von einem Löwen angegriffen und getötet wurde.
Als ich mich an diesem Abend hinlegen
wollte, entdeckte ich etwas sehr Interessantes. Beim ersten
Betreten meiner Hütte am Vortag war mir aufgefallen, daß man das
Moskitonetz über dem Bett zu einem riesigen Knoten zusammengebunden
hatte. Ich benutze den Begriff »aufgefallen« im weitestmöglichen
Sinne. Es war zusammengeknotet, und als ich ins Bett gehen wollte,
mußte ich es auswickeln, um es über das Bett zu drapieren. Weiter
hatte ich mir darüber keine Gedanken gemacht.
In dieser Nacht fand ich heraus,
weshalb man Moskitonetze zu Knoten zusammenbindet. Es hat einen
unangenehm einfachen Grund, und ich mag es kaum zugeben. Man macht
es, damit keine Moskitos reinkommen.
Ich kletterte ins Bett und stellte
allmählich fest, daß in meinem Netz fast so viele Moskitos waren
wie draußen. Das Netz war also ungefähr so sinnvoll wie der
wunderbare Zaun, den die Australier quer durch ihren Kontinent
gebaut hatten, um die Karnickel fernzuhalten, die sich schon auf
beiden Seiten davon tummelten. Nervös leuchtete ich mit meiner
Taschenlampe in die Netzkuppel. Sie war schwarz von
Moskitos.
Ich versuchte sie rauszufegen und
wurde ein paar los. Ich nahm das Netz vom Deckenhaken und
schüttelte es energisch aus. Das weckte erstens die Mücken und
zweitens ihr Interesse. Ich wendete das ganze Ding, trug es nach
draußen, schüttelte es dort noch ein ganzes Stück kräftiger, bis es
aussah, als sei ich die meisten von ihnen losgeworden, nahm es
wieder mit ins Zimmer, hängte es auf und kletterte ins Bett. Sofort
wurde ich von allen Seiten wie wild gestochen. Ich leuchtete mit
der Taschenlampe in die Kuppel. Sie war noch immer schwarz von
Mossies. Ich nahm das Netz wieder herunter, breitete es auf dem
Boden aus und versuchte die Moskitos mit der Kante meines tragbaren
Computers abzukratzen, der, da die Batterien rausgefallen waren,
ohnehin zu nichts mehr nutze war. Funktionierte nicht. Ich startete
einen zweiten Versuch, diesmal mit der Kante meines Schreibblocks.
Das war schon etwas wirkungsvoller, hätte mich jedoch gezwungen, in
den nächsten Tagen zwischen Dutzenden verschmierter Moskitoleichen
zu schreiben. Ich hängte das Netz wieder auf und ging ins Bett. Es
war noch immer voller Moskitos, die jetzt allesamt in der richtigen
Stimmung waren, kraftvoll zuzustechen. Wütend und aufgeregt summten
und sirrten sie um mich herum.
Na gut.
Ich nahm das Netz ab, legte es auf
den Boden und sprang darauf herum. Ich sprang so lange darauf
herum, bis ich sicher war, mindestens sechsmal auf jeden
Quadratzentimeter des Dings gesprungen zu sein, und sprang dann
noch ein bißchen weiter darauf herum. Dann fand ich ein Buch und
klatschte alles damit ab. Dann sprang ich noch ein bißchen darauf
herum, klatschte wieder mit dem Buch auf das Netz, trug es nach
draußen, schüttelte es aus, nahm es wieder mit nach drinnen, hängte
es auf und krabbelte zurück ins Bett. Das Netz wimmelte jetzt von
sehr wütenden Moskitos. Zu diesem Zeitpunkt war es vier Uhr
morgens, und als Mark mich um sechs Uhr wecken kam, um zum
Nashörnersuchen aufzubrechen, war ich nicht in der Stimmung für
wilde Tiere und sagte ihm das auch. Er lachte aufmunternd, wie er
immer lachte, und bot mir ein halbes Dosenwürstchen zum Frühstück
an. Ich nahm das Würstchen und einen Becher Pulverkaffee und
marschierte runter zum ungefähr vierzig Meter weit entfernten
Flußufer. Ich stand knöcheltief im kühlen, sanft fließenden Wasser,
lauschte den frühmorgendlichen Geräuschen der Vögel und Insekten,
biß in mein Würstchen und begann nach einiger Zeit unter die
Lebenden zurückzukehren, weil mir dämmerte, wie grotesk ich
aussehen mußte.
Als Charles und Annette Lanjouw mit
dem Landrover eintrafen, luden wir unseren Kram für den Tag ein und
machten uns auf den Weg.
Während wir über die Savanne in das
Gebiet holperten und ratterten, in dem wir die Nashörner am Vortag
vom Flugzeug aus gesehen hatten, fragte ich ganz beiläufig, ganz
sachlich, einfach nur interessehalber, ob Nashörner eigentlich
gefährlich seien oder nicht.
Mark grinste und schüttelte den Kopf.
Er sagte, wir müßten schon wirkliches Pech haben, um von einem
Nashorn verletzt zu werden. Das schien mir zwar die Frage nicht
ganz zu beantworten, aber andererseits wollte ich auch nicht
unnötig darauf herumreiten. Ich hatte ja nur aus beiläufiger
Neugier heraus gefragt. Mark fuhr trotzdem fort.
»Man hört eine Menge Zeug, das
einfach nicht stimmt«, sagte er, »oder zumindest bis zur
Unkenntlichkeit aufgebauscht ist, damit es dramatisch klingt. Es
stört mich wirklich, wenn Leute so tun, als wären die Tiere, auf
die sie treffen, gefährlich. Nur, damit man sie für besonders mutig
oder unerschrocken hält. Das ist wie Seemannsgarn. Viele von den
frühen Entdeckern waren wirklich entsetzliche Aufschneider. Wenn
die Schlangen gesehen haben, waren sie nachher, in den Erzählungen,
doppelt oder viermal so lang, Absolut unschuldige Anakondas wurden
zu zwanzig Meter langen Monstern, die nur auf der Lauer lagen, um
Leute zu Tode zu quetschen. Alles völliger Quatsch. Nur der Ruf der
Anakonda ist ein für allemal im Eimer.«
»Aber die Nashörner sind absolut
ungefährlich?«
»Ach, mehr oder weniger. Auf schwarze
Nashörner sollte man ein bißchen achtgeben, wenn man zu Fuß
unterwegs ist. Man sagt ihnen nach, daß sie ohne ersichtlichen
Grund aggressiv werden, und ich nehme mal an, daß sie sich diesen
Ruf größtenteils selbst zu verdanken haben. In Kenia hat mich mal
ein schwarzes Nashorn erwischt, als ich nicht aufgepaßt hab, und
meinen Wagen, den ich mir für den Tag von einem Freund geliehen
hatte, schwer verbeult. Er hatte den Wagen erst seit ein paar
Wochen. Sein vorheriger Wagen, den ich mir fürs Wochenende geliehen
hatte, war von einem Büffel schrottreif getrampelt worden. Das war
alles äußerst peinlich. Hallo, haben wir was
gefunden?«
Charles hatte den Landrover zum
Stehen gebracht und suchte den Horizont mit seinem Feldstecher
ab.
»Okay«, sagte er. »Ich glaube, ich
sehe eins. Ungefähr zwei Meilen entfernt.«
Wir sahen alle durch unsere eigenen
Feldstecher und folgten seinen Anweisungen. Noch war die frühe
Morgenluft kühl, und kein Hitzenebel briet den Horizont. Nachdem
ich endlich begriffen hatte, welche Baumgruppe vor dem buschigen
Hügel wir ansehen sollten, entdeckte ich schließlich links davor
etwas, was verdächtig nach dem Termitenhügel aussah, bei dessen
Verfolgung wir uns zwei Tage zuvor beinahe umgebracht hätten. Es
verhielt sich sehr ruhig.
»Sicher, daß es ein Nashorn ist?«
fragte ich höflich.
»Klar«, sagte Charles. »Todsicher.
Wir lassen den Landrover hier stehen. Sie haben ein sehr feines
Gehör, und wenn wir näher ranfahren, vertreibt sie das Geräusch des
Wagens. Also gehen wir zu Fuß.«
Wir packten unsere Kameras zusammen
und gingen los. »Leise«, sagte Charles.
Wir gingen leiser.
Es war schwierig, sich so leise durch
eine sumpfige Senke zu kämpfen, während unsere Stiefel und sogar
unsere Knie fröhlich im Matsch herumfurzten und -rülpsten. Mark
unterhielt uns zusätzlich, indem er uns interessante Dinge
zuflüsterte.
»Wußtet ihr eigentlich«, sagte er,
»daß Bilharziose die nach Zahnfäule zweithäufigste Krankheit der
Welt ist?«
»Nein, wirklich?« sagte
ich.
»Hochinteressante Krankheit«, sagte
Mark. »Man bekommt sie vom Waten in verseuchtem Wasser. Im Wasser
brüten winzige Schnecken und dienen winzigen Parasitenwürmern als
Wirte, die sich dann ihrerseits an deine Haut klammern. Wenn das
Wasser durch die Poren einzieht, rutschen sie mit in den Körper und
greifen deine Blase und die Eingeweide an. Man merkt es, wenn man's
hat. Es ist wie eine wirklich üble Grippe mit Durchfall, und
außerdem pißt man Blut.«
»Ich dachte, wir sollten leise sein«,
sagte ich.
Nachdem wir die andere Seite der
Senke erreicht hatten, versammelten wir uns hinter ein paar Bäumen,
wo Charles die Windrichtung überprüfte und uns weitere Anweisungen
gab.
»Ihr müßt noch was über die Art und
Weise wissen, wie ein Nashorn seine Welt sieht, bevor wir einfach
reinplatzen«, flüsterte er uns zu. »Trotz ihrer Größe und Hörner
und dem ganzen Zeug sind sie im Prinzip sanfte und friedliche
Lebewesen. Auf ihre Sehkraft, die gering ist, verlassen sie sich
nur, wenn es um sehr grundlegende Informationen geht. Falls dieses
Nashorn jetzt fünf Tiere wie uns auf sich zukommen sieht, wird es
nervös werden und weglaufen. Also müssen wir dicht hintereinander
im Gänsemarsch gehen. Dann wird es uns für ein einziges Tier halten
und nicht so beunruhigt sein.«
»Ein ganz schön großes Tier«, sagte
ich.
»Das macht nichts. Vor großen Tieren
hat es keine Angst, nur vor vielen. Außerdem müssen wir uns gegen
den Wind nähern, also von hier aus einen weiten Bogen um es herum
machen. Ihr Geruchssinn ist wirklich enorm ausgeprägt. Eigentlich
ist das ihr wichtigster Sinn. Ihr ganzes Weltbild setzt sich aus
Gerüchen zusammen Sie ›sehen‹ in Gerüchen. Die Nasengänge eines
Nashorns nehmen sogar mehr Platz in Anspruch als sein
Gehirn.«
Von unserem Standort aus war es
endlich möglich, das Tier mit bloßem Auge auszumachen. Wir waren
etwas weiter als eine halbe Meile von ihm entfernt. Das Nashorn
stand auf freier Flur da und wirkte, wann immer es sich für einen
Augenblick völlig still hielt, wie ein freiliegender Felsvorsprung.
Ab und zu schwenkte es seinen langen, schrägen Kopf von einer Seite
zur anderen und bewegte seine Hörner ruckartig auf und ab, während
es sanft und friedfertig das Gras abrupfte. Das war kein
Termitenhügel.
Wir machten uns wieder auf den Weg,
sehr leise, ständig anhaltend, uns duckend und die Richtung
wechselnd, damit das Nashorn unsere Witterung nicht aufnehmen
konnte, während der Wind, dem das ganze Hin und Her völlig schnurz
war, ebenfalls ständig die Richtung wechselte. Schließlich
erreichten wir eine weitere kleine Baumgruppe, die knapp hundert
Meter von dem Geschöpf entfernt war, das sich durch unser
Näherkommen bisher offenbar nicht gestört fühlte. Von jetzt an lag
allerdings nur noch freies Feld zwischen ihm und uns. Wir blieben
ein paar Minuten stehen, um es zu beobachten und zu fotografieren.
Falls unser nächster Annäherungsversuch es tatsächlich
verscheuchte, wäre dies dafür die letzte Gelegenheit. Das Tier
stand leicht von uns abgewandt und rupfte weiterhin Gras ab. Der
Wind wehte schließlich doch aus einer für uns günstigen Richtung,
und wir machten uns nervös und leise wieder auf den
Weg.
Es war ein bißchen wie dieses Spiel
aus meiner Kinderzeit, bei dem ein Kind mit dem Gesicht zur Wand
steht, während die anderen sich von hinten anzuschleichen und es zu
berühren versuchen. Wer mit dem Gesicht zur Wand steht, dreht sich
ab und zu um, und jeder, der sich in diesem Moment bewegt, muß den
ganzen Weg zurückgehen und noch mal von vorn anfangen.
Normalerweise wird das Kind dabei zwar nicht in der Lage sein,
jeden, der ihm nicht in den Kram paßt, mit einem neunzig Zentimeter
langen Horn zu durchbohren, aber sonst war es so ziemlich das
gleiche.
Das Nashorn ist natürlich ein
Pflanzenfresser. Es lebt vom Grasen. Je näher wir herankrochen und
je monströser es vor uns aufragte, desto widersinniger wirkte sein
sanftes Tun. Es war, als beobachtete man einen Bagger, der in aller
Ruhe Unkraut jätete.
Als wir noch ungefähr vierzig Meter
entfernt waren, hörte das Nashorn plötzlich auf zu kauen und
blickte auf. Langsam wandte es den Kopf in unsere Richtung und
betrachtete uns mit tiefstem Argwohn, während wir uns alle
erdenkliche Mühe gaben, wie möglichst kleine und friedfertige Tiere
auszusehen. Es betrachtete uns eingehend, ohne dabei erkennbar
etwas zu begreifen, aus kleinen, schwarzen Augen, die uns von
beiden Seiten seines Hornes aus träge anstarrten. Man versucht
unweigerlich, den Gedankengängen eines Tieres zu folgen, und muß,
wenn es sich dabei um ein drei Tonnen schweres Nashorn handelt,
dessen Nasengänge mehr Platz einnehmen als sein Gehirn, ebenso
unweigerlich scheitern.
Die Welt der Gerüche ist dem modernen
Menschen so gut wie verschlossen. Nicht, daß wir etwa keinen
Geruchssinn hätten – wir schnüffeln an unserem Essen oder unserem
Wein, wir riechen gelegentlich eine Blume und merken gewöhnlich,
wenn irgendwo Gas austritt, aber normalerweise ist alles irgendwie
verschwommen. Wenn wir lesen, daß Napoleon in einem Brief an
Josephine »Wasch dich nicht – ich komme heim« schrieb, finden wir
das amüsant und tun es gern als leicht schrulliges Verhalten ab.
Wir sind so sehr daran gewöhnt, das Sehen, dicht gefolgt vom Hören,
für die beherrschende Wahrnehmungsart zu halten, daß wir uns eine
Welt, die sich vor allem mit Hilfe des Geruchssinns erschließen
läßt, nicht vorstellen können (wobei sich das Wort »vorstellen«
eigentlich schon selbst verrät). Es ist eine Welt, die sich von
unseren geistigen Zentraleinheiten nicht erhellen läßt – oder
zumindest, mangels Übung, nicht mehr erhellen läßt. Für den
Großteil der Tiere aber ist der Geruchssinn der wichtigste Sinn. Er
verrät ihnen, was eßbar ist und was nicht (während wir uns nach dem
Verpackungstext und dem Verfalldatum richten). Er führt sie zu
Futterquellen außer Sichtweite (wir wissen immer schon, wo die
Läden sind). Er funktioniert auch nachts (wir machen das Licht an).
Er verrät ihnen die Anwesenheit und die Stimmung anderer Lebewesen
(wir verwenden Sprache). Außerdem verrät er ihnen, welche anderen
Lebewesen sich in der näheren Umgebung herumgetrieben und was sie
in den letzten ein oder zwei Tagen getan haben (wir wissen es
einfach nicht, solange sie keine Nachricht hinterlassen haben).
Nashörner verdeutlichen anderen Tieren ihre Bewegungen und grenzen
ihr Territorium ab, indem sie in ihrem Kot herumstampfen und
überall auf ihrem Weg Geruchsspuren hinterlassen – was nicht die
Art von Nachricht ist, die wir sonderlich schätzen.
Wenn wir unerwartet etwas riechen,
das wir nicht sofort zuordnen können und das nicht besonders lästig
ist, ignorieren wir es einfach, und das entspricht vermutlich der
Reaktion des Nashorns, als es uns entdeckte. Es schien keine
bestimmte Entscheidung wegen uns zu treffen, sondern einfach zu
vergessen, daß es eine Entscheidung zu treffen hatte. Das Gras
präsentierte ihm einen unermeßlich reichhaltigeren und
interessanteren Sinneseindruck, also fuhr das Tier fort, es
abzurupfen.
Wir krochen dichter heran. Als wir
uns schließlich bis auf fünfundzwanzig Meter Entfernung genähert
hatten, gab Charles uns ein Zeichen anzuhalten. Wir waren nah genug
dran. Wirklich nah genug. Wir waren sogar atemberaubend nah
dran.
Das Tier war an den Schultern
ungefähr einen Meter achtzig hoch, und bis zum Hinterteil und den
muskelbepackten Hinterbeinen nahm seine Höhe gleichmäßig ab. Schon
die bloße Größe jedes einzelnen seiner Körperteile übte eine
erschreckende Anziehungskraft auf den Verstand aus. Als das Nashorn
ein Bein leicht bewegte, rollten die mächtigen Muskeln unter seiner
dicken Haut so mühelos wie einparkende Volkswagen.
Da die Geräusche unserer Kameras es
zu verwirren schienen, sah es wieder auf, aber nicht in unsere
Richtung. Offenbar wußte es nicht, was es davon halten sollte, und
nach einer Weile graste es weiter.
Der leichte Windhauch, der uns
entgegengeweht hatte, begann die Richtung zu ändern, und wir
wanderten mit und lagen dem Nashorn kurz darauf etwas frontaler
gegenüber. Das erschien uns in unserer von visueller Wahrnehmung
beherrschten Weltsicht etwas eigenartig, aber solange uns das
Nashorn nicht riechen konnte, war es ihm völlig egal, wie wir
aussahen. Dann drehte es sich von selbst noch etwas weiter in
unsere Richtung, und plötzlich kauerten wir voll im Blickfeld des
Monsters. Es schien ein bißchen nachdenklicher zu kauen, beachtete
uns aber für den Moment nie weiter. Ein paar Minuten lang
beobachteten wir es aus dieser Position, und auch unsere
Kamerageräusche schienen nicht länger zu stören. Wir wurden, was
Lärm betraf, etwas sorgloser, fingen an, uns über unsere Reaktionen
zu unterhalten und brachten das Nashorn endlich doch dazu, etwas
unruhiger zu werden. Es hörte mit dem Grasen auf, hob den Kopf und
sah uns etwa eine Minute lang unbewegt an, wußte aber noch immer
nicht genau, was es tun sollte.
Und wieder stelle ich mir vor, wie
ich hier den ganzen Nachmittag schreibend in meinem Arbeitszimmer
sitze und mir allmählich klar wird, daß der Geruch, den ich vorhin
bemerkt habe, noch immer da ist, und wie ich mich langsam frage, ob
ich mich nicht nach irgendwelchen Anhaltspunkten für seine Herkunft
umsehen sollte. Ich würde beginnen, mich nach etwas umzusehen, nach
etwas Sichtbarem: einer Flasche, die umgekippt ist, oder irgendwas
Elektrischem, das durchschmort. Der Geruch ist ein Hinweis daß ich
mich nach etwas umsehen sollte.
Für das Nashorn war unser Anblick nur
der Hinweis, da es nach etwas schnüffeln sollte, also begann es,
die Luft etwas sorgfältiger zu durchschnuppern. In diesem Moment
drehte der Wind und nahm uns die letzte Deckung. Das Nashorn fuhr
zusammen, wandte sich von uns ab und polterte wie ein gelenkiger
Kleinpanzer über die Ebene davon.
Wir hatten unser nördliches weißes
Nashorn gesehen, und es war Zeit, nach Hause zu gehen.
Am nächsten Tag flog Charles uns über
die Straußenhautsavanne zurück zum Flughafen von Bunia, von wo aus
wir gezwungen waren, mit einem Missionarsflug nach Nairobi
zurückzufliegen. Die Maschine stand bereits abflugbereit auf der
Piste, und ein Vertreter der Fluggesellschaft versicherte uns, daß
es trotz all unserer bisherigen Erlebnisse keine Probleme geben
werde und daß wir direkt zur Maschine gehen könnten. Ein paar
Minuten später wurden wir aufgefordert, noch mal kurz ins
Einwanderungsbüro zu kommen. Unsere Taschen könnten wir in der
Maschine lassen. Wir gingen zum Einwanderungsbüro, wo man uns
aufforderte, unsere Taschen mitzubringen. Wir brachten unsere
Taschen hin. Teuer aussehende Kameraausrüstungen.
Dann sahen wir uns einem großen
zairischen Beamten in schmuckem blauem Anzug gegenüber, den wir
schon beim Ausladen des Gepäcks aus Charles' Maschine auf der
Rollbahn hatten herumlungern sehen. Ich hatte das Gefühl gehabt, er
taxiere uns äußerst sorgfältig.
Er untersuchte ausgiebig unsere
Pässe, bevor er unsere Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis nahm, und
ließ, als er uns dann schließlich ansah, ein breites Lächeln über
sein Gesicht kriechen.
»Sie sind über Bukavu eingereist?«
fragte er uns. In Wirklichkeit sagte er das auf französisch, also
taten wir, was uns die Erfahrung gelehrt hatte, und stellten uns
mit dem Verstehen ziemlich blöd an. Schließlich räumten wir ein,
sofern wir die Frage richtig verstanden hätten, sei die Antwort,
ja, wir seien über Bukavu eingereist. »Dann«, sagte er ruhig und
triumphierend, »müssen Sie auch über Bukavu wieder
ausreisen.«
Er machte keine Anstalten, uns unsere
Pässe zurückzugeben.
Wir sahen ihn verdutzt
an.
Er erklärte es uns behutsam.
Touristen, sagte er, hätten das Land von genau dem Flughafen aus zu
verlassen, über den sie eingereist seien. Grinsen.
Wir verstanden keine Silbe von dem,
was er gesagt hatte. Das entsprach sogar fast der Wahrheit. Es war
die abwegigste Idee aller Zeiten. Er hielt noch immer unsere Pässe
in der Hand. Neben ihm saß ein junges Mädchen und schrieb
gewissenhaft Daten aus den Pässen anderer Besucher ab,
Informationen, die höchstwahrscheinlich nie wieder das Tageslicht
erblicken würden.
Wir standen herum und diskutierten,
während unsere Maschine draußen auf der Piste wartete, nach Nairobi
starten zu können, aber der Beamte saß einfach da und hielt unsere
Pässe zurück. Wir wußten, daß es Blödsinn war. Er wußte, daß wir
wußten, daß es Blödsinn war. Ohne dieses Wissen hätte es nicht halb
soviel Spaß gemacht. Er lächelte uns wieder an, bedachte uns mit
einem träge zufriedenen Achselzucken und bürstete sich beiläufig
einen kleinen Fussel vom Arm des schmucken blauen Anzuges, an
dessen Kosten wir uns ganz offensichtlich nicht unerheblich
beteiligen sollten.
Von der Wand über ihm blickte die
Gestalt des Präsidenten Mobuto ernst aus einem lädierten Rahmen ins
Leere, das prachtvolle Pillenschachtel-Hütchen aus Leopardenfell
auf dem Kopf.