Drei
Jul kam, Jul ging, und Stürme folgten, jagten von der Nordsee herein und trieben Schnee über das wintertote Land. Pater Willibald, die westsächsischen Priester, die mercischen Zwillinge und die singenden Mönche waren gezwungen, in Buccingahamm zu bleiben, bis sich das Wetter besserte. Dann gab ich ihnen Cerdic und zwanzig Speermänner als Begleitmannschaft für den sicheren Nachhauseweg. Sie nahmen den magischen Fisch mit und auch Ivann, den Gefangenen. Alfred, sofern er noch lebte, würde wollen, dass man ihm ausführlich von Eohrics Verrat berichtete. Ich gab Cerdic einen Brief für Æthelflæd, und bei seiner Rückkehr versicherte er mir, ihn einer ihrer vertrauenswürdigen Dienerinnen gegeben zu haben, doch er brachte keine Antwort mit. «Ich wurde nicht zur Herrin Æthelflæd vorgelassen», erklärte er mir, «sie haben sie eingesperrt.»
«Eingesperrt?»
«Im Palast, Herr. Dort herrscht ein einziges Jammern und Wehklagen.»
«Alfred hat doch noch gelebt, als du wieder abgereist bist, oder?»
«Er hat noch gelebt, Herr, aber die Priester haben gesagt, er würde einzig von den Gebeten am Leben gehalten.»
«Das passt zu ihnen.»
«Und der Herr Edward ist verlobt.»
«Verlobt?»
«Ich war bei der Zeremonie, Herr. Er wird die Herrin Ælflæd heiraten.»
«Die Tochter des Aldermanns?»
«Ja, Herr. Der König hat sie ausgewählt.»
«Armer Edward», sagte ich und dachte an Pater Willibalds Tratsch, dass Alfreds Thronerbe ein Mädchen aus Cent hatte heiraten wollen. Ælflæd war die Tochter Æthelhelms, des Aldermanns von Sumorsæte, und vermutlich hatte Alfred diese Ehe gewollt, um Edward an die mächtigste Adelssippe von Wessex zu binden. Ich fragte mich, was wohl aus dem Mädchen aus Cent geworden war.
Sigurd war auf seine Besitzungen zurückgekehrt, von wo aus er in seiner Wut Plünderer ins sächsische Mercien schickte, damit sie Brände legten, töteten, versklavten und stahlen. Es war ein Grenzkrieg, der sich nicht von den ständigen Kämpfen zwischen den Schotten und den Northumbriern unterschied. Keiner seiner Plünderer kam auf mein Gebiet, aber meine Felder lagen südlich von Beornnoths weitläufigen Ländereien, und Sigurd ließ seinen Ärger vor allem Aldermann Ælfwold spüren, den Sohn des Mannes, der an meiner Seite in der Schlacht bei Beamfleot gestorben war, Beornnoths Besitzungen jedoch ließ er unangetastet; und das erschien mir auffällig. Also nahm ich im März, als Sternmieren weiße Tupfen auf die Böschungen malten, fünfzehn Männer mit zu Beornnoths Palas. In einem Beutel brachte ich Käse, Ale und gepökeltes Lammfleisch als Neujahrsgabe mit. Ich traf den alten Mann in einen Pelzumhang gewickelt und auf seinem Stuhl zusammengesunken an. Sein Gesicht war eingefallen, seine Augen wässrig, und seine Unterlippe zitterte unbeherrschbar. Er starb. Beortsig, sein Sohn, betrachtete mich mürrisch.
«Es ist an der Zeit», sagte ich, «Sigurd eine Lektion zu erteilen.»
Beornnoth sah mich finster an. «Hört mit dem Herumgelaufe auf», befahl er mir, «dabei fühle ich mich alt.»
«Ihr seid alt», sagte ich.
Er verzog das Gesicht. «Mir geht es wie Alfred», sagte er, «ich werde vor meinen Schöpfer treten. Ich werde vor dem Richterstuhl stehen und hören, wer das ewige Leben bekommt und wer in der Hölle brennen muss. Alfred lassen sie in den Himmel, oder?»
«Sie werden ihn sogar besonders willkommen heißen», stimmte ich ihm zu. «Und Ihr?»
«Zumindest ist es warm in der Hölle», sagte er, dann wischte er sich mit einer schwachen Bewegung etwas Speichel aus dem Bart. «Ihr wollt also mit Sigurd kämpfen?»
«Ich will den Bastard umbringen.»
«Ihr hattet Eure Gelegenheit vor Weihnachten», sagte Beortsig. Ich ging nicht darauf ein.
«Er wartet», sagte Beornnoth. «Er wartet, dass Alfred stirbt. Davor wird er nicht angreifen.»
«Er greift doch jetzt schon an.»
Beornnoth schüttelte den Kopf. «Das sind nur kleine Beutezüge», sagte er wegwerfend, «und er hat seine Flotte bei Snotengaham aufs Ufer gezogen.»
«Snotengaham?», fragte ich überrascht. Weiter konnte ein seetüchtiges Schiff in Britannien nicht ins Inland kommen.
«Das sagt Euch, dass er außer ein paar Plünderungen nichts im Sinn hat.»
«Es sagt mir, dass er keine Plünderungen auf dem Seeweg plant», sagte ich, «aber was sollte ihn davon abhalten, über Land zu marschieren?»
«Möglicherweise tut er das», räumte Beornnoth ein, «wenn Alfred stirbt. Bis jetzt stiehlt er nur ein bisschen Vieh.»
«Dann will ich ihm auch ein bisschen von seinem Vieh stehlen», sagte ich.
Beortsig sah mich böse an, und sein Vater fragte: «Warum den Teufel am Schwanz ziehen, wenn er gerade schläft?»
«Ælfwold denkt nicht, dass er schläft.»
Beornnoth lachte. «Ælfwold ist jung», sagte er leichthin, «und er ist ehrgeizig, er sucht geradezu nach Schwierigkeiten.»
Man konnte die sächsischen Herren Merciens in zwei Lager einteilen. In diejenigen, die etwas gegen die westsächsische Vorherrschaft in ihrem Land hatten, und diejenige, die sie begrüßten. Ælfwolds Vater hatte Alfred unterstützt, während Beornnoth auf Zeiten zurückblickte, in denen Mercien seinen eigenen König hatte, und er hatte es, ebenso wie andere seiner Gesinnung, abgelehnt, mir Unterstützungstruppen für den Kampf gegen Haesten zu schicken. Er hatte es vorgezogen, seine Männer unter Æthelreds Kommando zu stellen, was bedeutete, dass sie die Garnison in Gleawecestre bemannt hatten, um die Stadt vor einem Angriff zu schützen, der niemals gekommen war. Seither hatte es viel Groll zwischen den beiden Lagern gegeben, aber Beornnoth war ein recht vernünftiger Mann, oder vielleicht war er auch dem Tod so nahe, dass er keine alten Feindschaften fortsetzen wollte. Er lud uns ein, über Nacht zu bleiben. «Erzählt mir Geschichten», sagte er, «ich mag Geschichten. Erzählt mir von Beamfleot.» Es war großzügig, uns einzuladen, und es war ein stillschweigendes Eingeständnis, dass seine Männer im vergangenen Sommer am falschen Ort gewesen waren.
Ich erzählte nicht die ganze Geschichte. Stattdessen erzählte ich dort in seinem Palas, als das große Feuer die Balken beleuchtete und das Ale die Männer ausgelassen werden ließ, wie der ältere Ælfwold gestorben war. Wie er gemeinsam mit mir angegriffen hatte und wie wir das dänische Lager auseinandergetrieben hatten und wie wir am Rande des Hügels unter den entsetzten Männern gewütet hatten und dann, wie die dänischen Unterstützungstruppen ihren Gegenangriff führten und es zu einem erbitterten Kampf gekommen war. Die Männer hörten aufmerksam zu. Nahezu jeder Mann im Palas hatte schon im Schildwall gestanden, und sie kannten die Angst, die dort umgeht. Ich erzählte, wie mein Pferd getötet wurde, und wie wir uns mit unseren Schilden im Kreis aufstellten, um gegen die kreischenden Dänen zu kämpfen, die so unvermittelt in der Überzahl waren, und ich beschrieb einen Tod, wie ihn sich Ælfwold gewünscht haben würde, erzählte, wie er seine Gegner tötete, wie er die heidnischen Widersacher in ihr Grab geschickt hatte und wie er Mann auf Mann besiegte, bis zuletzt ein Axthieb in seinen Helm fuhr und ihn niederwarf. Ich beschrieb nicht, wie vorwurfsvoll er mich zuletzt angesehen hatte, oder den Hass in seinen letzten Worten, weil er fälschlich glaubte, ich hätte ihn verraten. Er starb an meiner Seite, und in jenem Moment war ich zum Sterben bereit, und ich wusste, dass uns die Dänen bis auf den letzten Mann in dieser bluttriefenden Dämmerung töten würden, dann aber war Steapa mit den westsächsischen Truppen gekommen, und die Niederlage hatte sich mit einem Mal in einen unerwarteten Sieg verwandelt. Beornnoths Gefolgsleute hämmerten auf die Tische, um zu zeigen, wie sehr ihnen die Erzählung gefallen hatte. Männer mögen Schlachtenbeschreibungen, und deshalb beschäftigen wir Dichter und Sänger, um uns abends mit Geschichten von Kriegern und Schwertern und Schilden und Äxten zu unterhalten.
«Eine gute Geschichte», sagte Beornnoth.
«Ælfwolds Tod war Eure Schuld», tönte in diesem Augenblick eine Stimme durch den Palas.
Zuerst glaubte ich, nicht recht gehört zu haben, oder dass ich nicht gemeint war. Mit einem Schlag herrschte Stille, und alle fragten sich dasselbe.
«Wir hätten niemals kämpfen sollen!» Es war Sihtric, der da redete. Er stand auf, um mich anzuschreien, und ich sah, dass er betrunken war. «Ihr habt keine Späher in die Wälder geschickt!», knurrte er wütend. «Und wie viele Männer sind in den Tod gegangen, weil Ihr keine Späher in die Wälder geschickt habt?» Ich weiß noch, dass ich ein zu entsetztes Gesicht machte, um sprechen zu können. Sihtric war mein Diener gewesen, ich hatte ihm das Leben gerettet, ich hatte ihn als Jungen bei mir aufgenommen und einen Krieger aus ihm gemacht, ich hatte ihm Gold gegeben, ich hatte ihn belohnt, wie ein Herr seine Gefolgsleute entlohnen soll, und nun starrte er mir mit schierem Hass entgegen. Beortsig, das versteht sich, genoss den Auftritt und ließ seinen Blick zwischen Sihtric und mir hin- und herwandern. Rypere, der mit seinem Freund Sihtric auf derselben Bank gesessen hatte, legte dem stehenden Mann die Hand auf den Arm, aber Sihtric schüttelte sie ab. «Wie viele Männer habt Ihr an diesem Tag durch Eure Leichtfertigkeit getötet?», rief er mir zu.
«Du bist betrunken», sagte ich grob, «und morgen wirst du vor mir um Gnade winseln, und vielleicht werde ich dir verzeihen.»
«Herr Ælfwold würde noch leben, wenn Ihr einen Funken Verstand besessen hättet», brüllte er.
Ein paar von meinen Männern versuchten ihn zu übertönen, aber ich schrie noch lauter. «Komm her! Auf die Knie!»
Stattdessen spuckte er in meine Richtung. Nun herrschte Aufruhr im Palas. Beornnoths Männer feuerten Sihtric an, während ihn meine Männer nur entsetzt anstarrten. «Gebt ihnen Schwerter!», rief jemand.
Sihtric streckte die Hand aus. «Eine Klinge!», forderte er.
Ich wollte mich auf ihn stürzen, aber Beornnoth beugte sich vor und erwischte meinen Ärmel mit schwachem Griff. «Nicht in meinem Palas, Herr Uhtred», sagte er, «nicht in meinem Palas.» Ich trat wieder einen Schritt zurück, und Beornnoth kämpfte sich auf die Füße. Er musste sich mit einer Hand an der Tischkante festhalten, um aufrecht stehen zu können, während er mit der anderen, bebenden Hand auf Sihtric deutete. «Bringt ihn weg!», befahl er.
«Und bei mir lässt du dich nicht mehr blicken!», schrie ich. «Und deine Frau muss auch verschwinden!»
Sihtric versuchte sich von den Männern loszureißen, die ihn festhielten, aber sie hatten ihn im Griff, und er war zu betrunken. Sie schleppten ihn unter dem Gejohle von Beornnoths Gefolgsleuten aus dem Palas. Beortsig hatte es genossen, mich so in Verlegenheit gebracht zu sehen, und er lachte. Sein Vater sah ihn stirnrunzelnd an, dann ließ er sich schwerfällig wieder auf seinem Stuhl nieder. «Ich bedaure dieses Vorkommnis», ächzte er.
«Aber Sihtric wird es noch viel mehr bedauern», sagte ich rachsüchtig.
Am nächsten Morgen war von Sihtric nichts zu sehen, und ich fragte nicht, wo Beornnoth ihn versteckt hatte. Wir machten uns zum Aufbruch bereit, und Beornnoth ließ sich von zwei Männern in den Hof tragen. «Ich fürchte», sagte er, «dass ich noch vor Alfred sterbe.»
«Ich hoffe, Ihr lebt noch viele Jahre», sagte ich pflichtschuldig.
«Britannien wird leiden, wenn Alfred geht», sagte er. «Alle Gewissheiten werden mit ihm sterben.» Seine Stimme versiegte. Der Streit in seinem Palas bereitete ihm weiter Unbehagen. Er hatte zugesehen, wie ich von einem meiner Männer beleidigt wurde, und er hatte mich daran gehindert, diesen Mann zu bestrafen, und der Vorfall lag zwischen uns wie ein Stück glühender Kohle. Dennoch gaben wir beide vor, es wäre nichts Wesentliches geschehen.
«Alfreds Sohn ist ein guter Mann», sagte ich.
«Edward ist jung», erwiderte Beornnoth verächtlich, «und wer weiß, was aus ihm wird?» Er seufzte. «Das Leben ist eine unendliche Geschichte», sagte er, «aber ich würde vor meinen Tod gern noch ein paar Kapitel hören.» Kopfschüttelnd fügte er hinzu: «Edward wird nicht regieren.»
Ich lächelte. «Da hat Edward möglicherweise eine andere Vorstellung.»
«Die Prophezeiung wird sich erfüllen, Herr Uthred», sagte er feierlich.
Einen Augenblick lang war ich sprachlos. «Die Prophezeiung?»
«Es gibt da eine Zauberin», sagte er, «und sie kann die Zukunft lesen.»
«Ælfadell?», fragte ich. «Habt Ihr sie gesehen?»
«Beortsig hat sie gesehen», sagte er und warf einen Blick auf seinen Sohn, der sich bei Ælfadells Namen bekreuzigte.
«Was hat sie gesagt?», fragte ich den mürrischen Beortsig.
«Nichts Gutes», gab er knapp zurück und weigerte sich, mehr zu sagen.
Ich stieg in den Sattel. Auf der Suche nach Sithric ließ ich meinen Blick über den Hof wandern, doch er wurde immer noch versteckt, also ließ ich ihn dort, und wir ritten nach Hause. Finan konnte sich Sihtrics Verhalten nicht erklären. «Er muss betrunkener gewesen sein, als man es sich nur vorstellen kann», sagte er verständnislos. Ich schwieg. In vieler Hinsicht stimmte das, was Sihtric gesagt hatte. Ælfwold war aufgrund meiner Unvorsichtigkeit gestorben, aber das gab Sihtric nicht das Recht, mich vor aller Welt anzuklagen. «Er war immer ein guter Mann», fuhr Finan fort, «aber in letzter Zeit war er missmutig. Ich verstehe es nicht.»
«Er wird wie sein Vater», sagte ich.
«Kjartan der Grausame?»
«Ich hätte Sihtric niemals das Leben retten sollen.»
Finan nickte. «Willst du, dass ich für seinen Tod sorge?»
«Nein», sagte ich fest, «nur ein Mann tötet ihn, und dieser Mann bin ich. Verstanden? Er gehört mir, und bis ich ihm die Eingeweide herausreiße, will ich seinen Namen nie mehr hören.»
Zu Hause angekommen, verbannte ich Ealhswith, Sihtrics Frau, und ihre zwei Söhne aus meinem Palas. Ihre Freunde flehten und weinten, aber ich ließ mich nicht erweichen. Sie ging.
Und am nächsten Tag ritt ich los, um Sigurd meine Falle zu stellen.
Es herrschte Verunsicherung in jener Zeit. Ganz Britannien wartete auf die Nachricht von Alfreds Tod, in der sicheren Gewissheit, dass sein Sterben die Runenstäbe durcheinanderwirbeln würde. Ein neues Muster würde Britannien ein neues Schicksal voraussagen, doch welches Schicksal dies war, das wusste niemand, es sei denn, die Schreckenszauberin kannte die Antworten. In Wessex würden sie wieder einen starken König wollen, der sie beschützte, und in Mercien würden sich einige das Gleiche wünschen, während sich andere wieder ihren eigenen König herbeisehnten, wogegen im gesamten Norden, wo die Dänen das Land hielten, alle von der Eroberung von Wessex träumten. Doch der Frühling und der Sommer kamen, und Alfred lebte weiter, und die Männer warteten und träumten, und die neue Saat ging auf, und ich ritt mit sechsundvierzig Männern nach Nordwesten, wo Haesten seinen Schlupfwinkel gefunden hatte.
Ich hätte gern dreihundert Mann gehabt. Man hatte mir viele Jahre zuvor gesagt, dass ich eines Tages Armeen durch Britannien führen würde, doch um eine Armee zu haben, muss ein Mann Land besitzen, und das Land, auf dem ich saß, reichte gerade aus, um eine einzige Schiffsmannschaft zu ernähren und zu bewaffnen. Ich sammelte Abgaben, und ich erhob Zollgebühren bei den Händlern, die auf der Römerstraße an Æthelflæds Besitzungen vorbeizogen, aber dieses Einkommen reichte kaum aus, und so konnte ich nur sechsundvierzig Männer nach Ceaster führen.
Wahrhaftig, das war ein trostloser Ort. Im Westen waren die Waliser und im Osten und Norden regierten dänische Herren, die keinen Mann als König anerkannten, es sei denn, es war einer von ihnen. Die Römer hatten in Ceaster ein Kastell gebaut, und es waren die Überreste dieser Festung, in denen Haesten Zuflucht gesucht hatte. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Haestens Name jeden Sachsen in Furcht und Schrecken versetzte, doch nun war er nur noch ein Schatten seiner einstigen Stärke, hatte weniger als zweihundert Männer, und selbst deren Gefolgschaftstreue war zweifelhaft. Zu Winteranfang hatte er noch dreihundert Krieger gehabt, doch Männer erwarten von ihren Herren mehr als Essen und Ale. Sie wollen Silber, sie wollen Gold, sie wollen Sklaven, und deshalb war Haestens Gefolgschaft auf der Suche nach anderen Herren immer weiter geschwunden. Sie gingen zu Sigurd oder Cnut, zu den Männern, die Goldgeber waren.
Ceaster lag im wilden Grenzland Merciens, und ich fand Æthelreds Truppen etwa drei Meilen südlich von Haestens Festung. Es waren knapp über einhundertfünfzig Männer, deren Aufgabe darin bestand, Haesten zu beobachten und ihn durch Behinderungen seiner Versorgungstrupps zu schwächen. Angeführt wurden sie von einem jungen Mann namens Merewalh, der sich über meine Ankunft zu freuen schien. «Seid Ihr gekommen, um den erbärmlichen Bastard zu töten, Herr?», fragte er mich.
«Nur, um ihn mir anzusehen», sagte ich.
In Wahrheit war ich dort, um mich selbst sehen zu lassen, allerdings wagte ich es nicht vor jedem, über meine wahren Absichten zu sprechen. Ich wollte den Dänen zeigen, dass ich in Ceaster war, also paradierte ich mit meinen Männern südlich des alten Römerkastells und ließ mein Banner mit dem Wolfskopf flattern. Ich ritt in meiner besten Rüstung, die mein Diener Oswi so lange poliert hatte, bis sie leuchtend schimmerte, und ich ritt nahe genug an das alte Gemäuer heran, dass einer von Haestens Männern sein Glück mit einem Jagdpfeil versuchen konnte. Ich sah die Befiederung durch die Luft zucken und den schmalen Pfeil ein paar Schritt vor den Hufen meines Pferdes in die Erde fahren.
«Er kann nicht die gesamten Wallmauern verteidigen», sagte Merewalh sehnsüchtig.
Er hatte recht. Das Römerkastell bei Ceaster war riesenhaft, beinahe eine eigene Stadt, und Haestens wenige Männer wären niemals imstande gewesen, die gesamte Länge seiner heruntergekommenen Wälle zu besetzen. Merewalh und ich hätten unsere Kräfte zusammenlegen und bei Nacht angreifen können, und vielleicht hätten wir einen unbemannten Wallabschnitt gefunden und uns dann in erbittertem Kampf durch die Straßen vorgearbeitet, doch unsere Truppenstärke und die von Haesten waren zu ausgeglichen, um solch einen Angriff wagen zu können. Wir hätten Männer verloren, um einen Gegner zu besiegen, der schon besiegt war, also begnügte ich mich damit, Haesten wissen zu lassen, dass ich gekommen war, um ihn zu verspotten. Er musste mich hassen. Kaum ein Jahr zuvor war er der größte Machthaber unter den Nordmännern gewesen, und jetzt hockte er wie ein geschundener Fuchs in seinem Bau, und ich wusste, dass er darüber nachdachte, wie er seine Macht wiedergewinnen konnte.
Die alte Festung war in einer weiten Flussschleife des Dee errichtet worden. Knapp vor ihrem Südwall befanden sich die Ruinen eines immensen Steingebäudes, einst eine Arena, in der, so erklärte mir Merewalhs Priester, Christen an wilde Tiere verfüttert wurden. Manches ist einfach zu schön, um wahr zu sein, und deshalb wusste ich nicht so recht, ob ich ihm glauben sollte. Die Überreste der Arena hätten für eine so kleine Truppe wie die von Haesten ein großartiges Bollwerk abgegeben, doch er hatte sich stattdessen dafür entschieden, seine Männer am nördlichen Ende der Festung zu sammeln, wo der Fluss am dichtesten an den Wällen vorbeifloss. Dort hatte er zwei kleine Schiffe liegen, sie waren nichts weiter als alte Handelsboote, die, weil sie offenkundig leckten, halb aufs Ufer gezogen worden waren. Wenn er angegriffen und von der Brücke abgeschnitten wurde, konnte er mit diesen Schiffen über den Dee und dann durch die Wildnis dahinter entkommen.
Merewalh wunderte sich über mein Verhalten. «Versucht Ihr, ihn zu einem Kampf zu verleiten?», fragte er mich am dritten Tag, an dem ich bis dicht an die alten Wälle ritt.
«Er wird keinen Kampf wollen», sagte ich, «aber ich will ihn zu mir herauslocken. Und er wird kommen. Er wird einfach nicht widerstehen können.» Ich war auf der alten Römerstraße stehen geblieben, die so gerade wie ein Speerschaft auf das Doppelbogentor der Festung zuführte. Das Tor war mit dicken Balken versperrt. «Wisst Ihr, dass ich ihm einmal das Leben gerettet habe?»
«Das wusste ich nicht.»
«Es gibt Momente», sagte ich, «da halte ich mich für einen ausgemachten Tölpel. Ich hätte ihn töten sollen, als er mir das erste Mal unter die Augen gekommen ist.»
«Tötet ihn jetzt, Herr», empfahl Merewalh, denn gerade war Haesten vor dem Westtor der Festung aufgetaucht und ritt nun langsam auf uns zu. Er hatte drei weitere Reiter bei sich. Bei der südwestlichen Ecke der Festung hielten sie zwischen den Wällen und der eingestürzten Arena an, dann hob Haesten beide Hände, um anzuzeigen, dass er nur reden wolle. Ich ließ mein Pferd umdrehen, drückte ihm die Fersen in die Flanken und trabte auf Haesten zu, achtete aber darauf, ein gutes Stück außerhalb der Pfeilschussweite vor den Wällen anzuhalten. Ich nahm nur Merewalh mit, die übrigen Männer unserer Truppen beobachteten uns aus der Entfernung.
Haesten nährte sich grinsend, als wäre dieses Treffen ein seltenes Vergnügen. Er hatte sich kaum verändert, außer dass er jetzt einen grauen Bart hatte, wenn auch sein dichtes Haar immer noch blond war. Seine Miene war irreführend offen, voller Liebenswürdigkeit, mit freundlich blitzenden Augen. Er trug ein Dutzend Armringe und, obwohl es ein warmer Frühlingstag war, einen Umhang aus Robbenfell. Haesten hatte schon immer gern einen wohlhabenden Eindruck hervorgerufen. Männer folgen keinem armen Herrn, und schon gar keinem geizigen, und solange er die Hoffnung hatte, seinen Reichtum wiederzugewinnen, musste er den Anschein von Zuversicht erwecken. Er erweckte außerdem den Anschein, überglücklich über unser Treffen zu sein. «Herr Uhtred!», rief er.
«Jarl Haesten», sagte ich und ließ den Titel so ungenügend klingen, wie ich es nur vermochte, «war es nicht vorgesehen, dass du mittlerweile König von Wessex bist?»
«Das Vergnügen dieses Thronamtes ist aufgeschoben», sagte er, «lasst mich Euch fürs Erste in meinem gegenwärtigen Königreich willkommen heißen.»
Darüber lachte ich, wie er es beabsichtigt hatte. «Dein Königreich?»
Mit einer weiten Handbewegung schloss er die öde Talsenke des Dee ein. «Kein anderer Mann nennt sich hier König, warum sollte ich es also nicht tun?»
«Das ist Herrn Æthelreds Land», sagte ich.
«Und Herr Æthelred ist so großzügig mit seinen Besitzungen», sagte Haesten, «und sogar, wie ich höre, mit den Gefälligkeiten seiner Frau.»
Neben mir zuckte Merewalh zusammen, und ich hob mahnend die Hand. «Der Jarl Haesten scherzt», sagte ich.
«Gewiss scherze ich», sagte Haesten ohne zu lächeln.
«Das ist Merewalh», stellte ich meinen Begleiter vor, «und er dient dem Herrn Æthelred. Er könnte sich das Wohlwollen meines Cousins erwerben, wenn er dich tötet.»
«Er würde sich noch viel größeres Wohlwollen erwerben, wenn er Euch tötet», sagte Haesten hinterlistig.
«Das stimmt», räumte ich ein und sah Merewalh an. «Wollt Ihr mich töten?»
«Herr!», sagte er entsetzt.
«Mein Herr Æthelred», sagte ich zu Haesten, «wünscht, dass du dieses Land verlässt. Er hat hier auch ohne dich schon genügend Misthaufen.»
«Der Herr Æthelred», sagte Haesten, «darf sehr gern kommen und mich vertreiben.»
Das alles war so bedeutungslos, wie es gemeint war. Haesten war nicht aus der Festung gekommen, um sich Drohungen anzuhören, sondern weil er wissen wollte, was meine Anwesenheit zu bedeuten hatte. «Vielleicht», sagte ich, «hat der Herr Æthelred ja mich geschickt, um dich zu vertreiben.»
«Und wann habt Ihr das letzte Mal einen seiner Befehle befolgt?», fragte Haesten.
«Vielleicht will seine Frau, dass du vertrieben wirst», sagte ich.
«Es wäre ihr noch lieber, wenn ich tot wäre, glaube ich.»
«Auch wieder wahr», sagte ich.
Haesten lächelte. «Ihr seid, Herr Uhtred, mit einer Schiffsmannschaft gekommen. Wir fürchten Euch, gewiss, denn wer würde Uhtred von Bebbanburg nicht fürchten?» Er verbeugte sich in seinem Sattel, als er diese Schmeichelei von sich gab. «Aber eine Mannschaft genügt nicht, um der Herrin Æthelflæd ihren Wunsch zu erfüllen.» Er wartete auf eine Erwiderung, aber ich sagte nichts. «Soll ich Euch sagen, was mich vor ein Rätsel stellt?», fragte er.
«Sag es.»
«Seit Jahren, Herr Uhtred, habt Ihr nun Alfreds Arbeit getan. Ihr habt seine Feinde getötet, seine Armeen angeführt, sein Königreich zu einem sicheren Ort gemacht, doch als Dank für all diese Dienste habt Ihr nur eine einzige Kriegertruppe. Andere Männer haben Land, mehr als einen großen Palas, sie haben in Schatzkammern Kostbarkeiten aufgehäuft, ihren Frauen Gold um die Hälse gehängt, und sie können Hunderte von Schwurmännern in die Schlacht führen, doch der Mann, der für ihre Sicherheit gesorgt hat, geht leer aus. Warum bleibt Ihr solch einem knauserigen Herrn treu?»
«Ich habe dir das Leben gerettet», sagte ich, «und nun stellt dich Undankbarkeit vor ein Rätsel?»
Darüber lachte er entzückt. «Er hungert Euch aus, weil er Euch fürchtet. Haben sie schon einen Christen aus Euch gemacht?»
«Nein.»
«Dann schließt Euch mir an. Ihr und ich, Herr Uhtred. Wir jagen Æthelred aus seinem Palas und teilen Mercien unter uns auf.»
«Ich biete dir Land in Mercien an», sagte ich.
Er lächelte. «Einen Besitz von zwei Schritt Länge und einem Schritt Breite?», fragte er.
«Und zwei Schritt Tiefe», sagte ich.
«Mich bringt man nicht so leicht um», sagte er. «Die Götter lieben mich anscheinend, ebenso wie Euch. Ich habe gehört, dass Euch Sigurd am Julfest verflucht hat.»
«Und was hörst du sonst noch so?»
«Die Sonne geht auf und wieder unter.»
«Sieh es dir gut an», sagte ich, «weil du nämlich möglicherweise nicht mehr viele Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge erlebst.» Dann trieb ich unvermittelt mein Pferd voran, sodass Haestens Hengst zurückweichen musste. «Hör zu», sagte ich schroff, «du hast zwei Wochen, um von hier zu verschwinden. Verstehst du mich, du undankbarer Hundeschiss? Wenn du in vierzehn Tagen noch hier bist, mache ich mit dir dasselbe wie mit deinen Männern bei Beamfleot.» Ich sah seine beiden Begleiter an und richtete meinen Blick dann wieder auf Haesten. «Zwei Wochen», sagte ich, «und dann kommen die westsächsischen Truppen, und ich mache aus deinem Schädel eine Trinkschale.»
Ich log natürlich, jedenfalls, was die Ankunft der westsächsischen Truppen anging, aber Haesten wusste, dass es diese Einheiten gewesen waren, mit deren Verstärkung ich bei Beamfleot hatte siegen können, also war es eine glaubhafte Lüge. Er wollte etwas sagen, doch ich ließ mein Pferd umdrehen, galoppierte los, und winkte Merewalh hinter mir her. «Ich lasse Euch Finan und zwanzig Männer hier», erklärte ich dem Mercier, als wir ein gutes Stück außer Haestens Hörweite waren, «und noch bevor die beiden Wochen um sind, müsst Ihr mit einem Angriff rechnen.»
«Von Haesten?», fragte Merewalh zweifelnd.
«Nein, von Sigurd. Er wird mit mindestens dreihundert Mann kommen. Haesten braucht Unterstützung, und er wird versuchen, sich bei Sigurd einen Gefallen zu sichern, indem er ihm mitteilt, dass ich hier bin, und Sigurd wird kommen, weil er meinen Tod will.» Ich konnte freilich nicht sicher sein, dass irgendetwas davon wirklich geschehen würde, aber ich glaubte nicht, dass Sigurd dem Köder widerstehen konnte, den ich vor seiner Nase baumeln ließ. «Wenn er kommt», fuhr ich fort, «werdet Ihr Euch zurückziehen. Geht in die Wälder, bleibt weit vor ihm, und verlasst Euch auf Finan. Sigurds Männer sollen umsonst in einem verlassenen Gebiet herumziehen. Macht nicht einmal den Versuch, gegen ihn zu kämpfen, bleibt einfach nur vor ihm.»
Merewalh erhob keine Einwände. Stattdessen sah er mich nach einem Moment fragend an. «Herr», sagte er, «warum hat Alfred Euch nicht belohnt?»
«Weil er mir nicht vertraut», sagte ich, und meine Ehrlichkeit entsetzte Merewalh. Er starrte mich mit aufgerissenen Augen an. «Und wenn Ihr auch nur die geringste Pflichttreue gegenüber Eurem Herrn empfindet», fuhr ich fort, «dann berichtet Ihr ihm, dass mir Haesten ein Bündnis angeboten hat.»
«Und ich werde ihm berichten, dass Ihr dieses Bündnis abgelehnt habt.»
«Ihr könnt ihm erzählen, dass ich in Versuchung war», sagte ich und entsetzte ihn damit erneut. Ich galoppierte weiter.
Sigurd und Eohric hatten eine gutdurchdachte Falle für mich aufgestellt, eine, die beinahe zugeschnappt wäre, und nun würde ich für Sigurd eine Falle aufstellen. Ich konnte nicht darauf hoffen, ihn zu töten, noch nicht, aber ich wollte ihn bereuen lassen, dass er dasselbe mit mir versucht hatte. Doch zuerst wollte ich wissen, was die Zukunft bringen würde. Es war Zeit, nach Norden zu gehen.
Ich gab Cerdic meine gute Rüstung, meinen Helm, meinen Umhang und mein Pferd. Cerdic war nicht so groß wie ich, aber groß genug, und, angetan mit meiner prächtigen Kriegsausrüstung und das Gesicht von den Wangenstücken meines Helms verdeckt, würde er mir ähneln. Ich gab ihm auch meinen Schild, auf den ein Wolfskopf gemalt war, und erklärte ihm, er solle sich jeden Tag zeigen. «Reite nicht zu dicht an die Wälle», sagte ich, «lass ihn einfach nur denken, ich würde ihn beobachten.»
Mein Banner mit dem Wolfskopf gab ich Finan, und am nächsten Tag ritt ich mit sechsundzwanzig Männern ostwärts.
Wir ritten noch vor Tagesanbruch, sodass Haestens Späher unseren Aufbruch nicht sahen, und wir ritten in Richtung der aufgehenden Sonne. Beim Hellwerden würden wir uns in Waldstücken weiter in Richtung Osten halten. Noch immer war Ludda bei uns. Er war ein Bauernfänger und ein Halunke, und ich mochte ihn. Und das Beste war, dass er Britannien außerordentlich gut kannte. «Ich ziehe ständig um, Herr», erklärte er mir, «deshalb kenne ich mich aus.»
«Du ziehst ständig um?»
«Wenn man einem Mann zwei rostige Nägel für einen Silberklumpen verkauft, will man ja am nächsten Morgen nicht in seiner Reichweite sein, Herr, nicht wahr? Deshalb zieht man lieber weiter.»
Ich lachte. Ludda war unser Führer und brachte uns auf einer Römerstraße ostwärts, bis wir eine Siedlung vor uns hatten, von der die Rauchfäden der Kochfeuer in den Himmel stiegen, und da schlugen wir einen weiten Bogen nach Süden, damit wir nicht gesehen wurden. Jenseits der Siedlung gab es keine Straße, nur Viehwege, die in die Hügel hinaufführten.
«Wohin bringt er uns?», fragte mich Osferth.
«Buchestanes», sagte ich.
«Was gibt es dort?»
«Das Land gehört Jarl Cnut», sagte ich, «und was es dort gibt, würde dir nicht gefallen, also erzähle ich es dir nicht.» Ich hätte lieber Finan bei mir gehabt, aber ich traute nur dem Iren zu, dass er Cerdic und Merewalh vor Ärger bewahren würde. Ich mochte Osferth recht gern, aber es gab Zeiten, in denen seine Vorsicht eher eine Behinderung als eine Bereicherung war. Wenn ich Osferth in Ceaster gelassen hätte, wäre der Rückzug vor Sigurd zu übereilt erfolgt. Er hätte Merewalh vor Problemen bewahrt, indem er sich tief in die Grenzwälder zwischen Mercien und Wales zurückgezogen hätte, und dann hätte die Gefahr bestanden, dass Sigurd die Verfolgung aufgab. Ich musste darauf zählen, dass Sigurd herausgefordert und geködert wurde, und ich glaubte, Finan würde das sehr gut machen.
Es begann zu regnen. Kein milder Sommerregen, sondern ein stürmischer Wolkenbruch, der von einem beißenden Ostwind herangetragen wurde. Der Regen machte unser Weiterkommen langsamer, mühseliger und sicherer. Sicherer, weil nur wenige Männer bei einem solchen Wetter draußen sein wollen. Wenn wir Fremde trafen, behauptete ich, ein Herr aus Cumbrien zu sein, der unterwegs war, um Jarl Sigurd seine respektvolle Aufwartung zu machen. Cumbrien war eine wilde, einsame Gegend, in der sich unbedeutende Herren herumzankten. Ich hatte einige Zeit dort verbracht und kannte mich gut genug aus, um jede Frage darüber zu beantworten, aber niemand, den wir trafen, stellte solche Fragen.
Also ritten wir in die Hügel hinauf, und nach drei Tagen waren wir in Buchestanes. Es lag in einer Senke zwischen den Hügeln, und die Stadt war um eine Ansammlung von römischen Gebäuden errichtet worden, deren Steinmauern sich erhalten hatten, wenn ihre Ziegeldächer auch schon vor langem durch Stroh ersetzt worden waren. Es gab keine Verteidigungspalisade, aber am Rande der Stadt traten uns aus einer Hütte drei Männer in Rüstungen entgegen. «Ihr müsst bezahlen, wenn Ihr in die Stadt wollt», sagte einer.
«Wer seid Ihr?», fragte ein zweiter.
«Kjartan», sagte ich. Das war der Name, den ich in Buchestanes benutzte, der Name von Sihtrics bösartigem Vater, ein Name aus meiner Vergangenheit.
«Von wo seid Ihr?», fragte derselbe Mann. Er trug einen langen Speer mit einer rostigen Spitze.
«Cumbrien», sagte ich.
Darüber grinsten sie alle höhnisch. «Von Cumbrien, wie?», sagte der erste Mann. «Hier könnt Ihr aber nicht mit Schafsmist zahlen.» Er lachte über seinen eigenen Scherz.
«Wem dient Ihr?», fragte ich.
«Jarl Cnut Ranulfson», antwortete der zweite Mann, «und selbst in Cumbrien müsst Ihr schon von ihm gehört haben.»
«Er ist berühmt», sagte ich und tat beeindruckt, dann bezahlte ich sie mit Silberstückchen eines zerhackten Armrings. Vorher feilschte ich mit ihnen, aber nicht zu sehr, denn ich wollte diese Stadt besuchen, ohne Misstrauen zu erregen, also zahlte ich den Preis, obwohl ich ihn mir kaum leisten konnte, und wir wurden in die morastigen Straßen vorgelassen. Auf der Ostseite der Stadt fanden wir Unterkunft in einem weitläufigen Bauerngehöft. Es gehörte einer Witwe, die schon lange die Schafszucht aufgegeben hatte und nun von den Reisenden lebte, die zu den heißen Quellen wollten, weil ihnen Heilkräfte nachgesagt wurden. Inzwischen allerdings, so erzählte sie uns, wurden die Quellen von Mönchen bewacht, die Silber verlangten, bevor sie jemanden in das alte römische Badehaus ließen. «Mönche?», fragte ich sie. «Ich dachte, das hier ist Cnut Ranulfsons Land.»
«Warum sollte es ihn kümmern?», erwiderte sie. «Solange er sein Silber bekommt, ist es ihm gleichgültig, welchen Gott sie anbeten.» Sie war Sächsin wie die meisten in dem kleinen Städtchen, doch sie sprach von Cnut mit sichtlichem Respekt. Kein Wunder. Er war reich, er war gefährlich, und es hieß, er sei der beste Schwertkämpfer in ganz Britannien. Sein Schwert sollte die längste und tödlichste Klinge im Land sein, weshalb er auch Cnut Langschwert genannt wurde, aber Cnut war auch ein leidenschaftlicher Verbündeter von Sigurd. Wenn Cnut Ranulfson gewusst hätte, dass ich mich auf seinem Gebiet aufhielt, hätte es in Buchestanes nur so gewimmelt von Dänen, die mir nach dem Leben trachteten. «Ihr seid also wegen der heißen Quellen gekommen?», fragte mich die Witwe.
«Ich suche die Zauberin», sagte ich.
Sie bekreuzigte sich. «Gott bewahre uns», sagte sie.
«Und um sie zu sprechen», sagte ich, «was muss ich da tun?»
«Die Mönche bezahlen natürlich.»
Die Christen sind so seltsam. Sie behaupten, die heidnischen Götter besäßen keine Macht und dass die alte Magie genauso betrügerisch ist wie Ludda mit seinen Eisenbeutelchen; wenn sie aber krank sind oder es eine Missernte gibt, oder wenn sie Kinder wollen, dann gehen sie zur galdricge, der Zauberin, und in jeder Gegend gibt es eine. Ein Priester wird in seiner Predigt gegen diese Frauen hetzen, sie als Gottesleugnerinnen und als böse bezeichnen, doch am nächsten Tag bezahlt er einer galdricge Silber, damit sie ihm die Zukunft voraussagt oder er die Warzen in seinem Gesicht loswird. Die Mönche von Buchestanes waren genauso. Sie bewachten das römische Badehaus, sie psalmodierten in ihrer Kapelle, und sie nahmen Silber und Gold, um ein Treffen mit dem aglæcwif zu vermitteln. Ein aglæcwif ist ein weibliches Ungeheuer, und so stellte ich mir Ælfadell vor. Ich fürchtete mich vor ihr, und ich wollte dennoch hören, was sie zu sagen hatte, und deshalb schickte ich Ludda und Rypere los, um die Vorbereitungen zu treffen, und sie kehrten mit der Botschaft zurück, die Magierin fordere Gold. Kein Silber, sondern Gold.
Ich hatte Geld auf diese Reise mitgenommen, nahezu alles, was ich auf der Welt noch besaß. Ich war gezwungen, Sigunn die Goldketten abzunehmen, und ich nahm zwei davon, um die Mönche zu bezahlen, während ich mir schwor, eines Tages zurückzukehren und mir die kostbaren Gliederketten zurückzuholen. Dann, in der langsam einsetzenden Abenddämmerung unseres zweiten Tages in Buchestanes, ging ich Richtung Südwesten zu einem Hügel, der die Stadt überragte und von einem der Gräber des alten Volkes beherrscht wurde, eine grüne Kuppe auf einem regendurchtränkten Hügel. Diese Gräber werden von rachsüchtigen Geistern bewacht, und als ich dem Pfad in einen Wald aus Eschen, Buchen und Ulmen folgte, überlief mich ein Schauder. Ich war angewiesen worden, allein zu gehen, und man hatte mir gesagt, dass die Zauberin nicht erscheinen würde, wenn ich nicht gehorchte, doch in diesem Moment wünschte ich mir sehnlichst jemanden, der dafür sorgte, dass mir niemand in den Rücken fallen konnte. Ich blieb stehen, aber ich hörte nur den Wind durchs Blattwerk seufzen und Wasser tropfen und den nahen Fluss rauschen. Die Witwe hatte mir erzählt, dass manche Männer schon tagelang auf ein Treffen mit Ælfadell hatten warten müssen, und einige, so sagte sie, hatten ihr Silber oder Gold bezahlt, waren in den Wald gekommen und hatten sie dennoch nicht gefunden. «Sie kann sich in Luft auflösen», erklärte mir die Witwe und bekreuzigte sich. Einmal, so sagte sie, war Cnut selbst gekommen, und Ælfadell hatte es abgelehnt zu erscheinen.
«Und Jarl Sigurd?», hatte ich sie gefragt. «War er auch hier?»
«Er kam vergangenes Jahr», sagte sie, «und er war großzügig. Ein sächsischer Herr war bei ihm.»
«Wer?»
«Wie soll ich das wissen? Sie haben nicht bei mir übernachtet. Sie sind bei den Mönchen geblieben.»
«Dann erzählt, woran Ihr Euch erinnert», bat ich sie.
«Er war jung», sagte sie, «und hatte langes Haar wie Ihr, aber er war trotzdem Sachse.» Die meisten Sachsen schneiden ihr Haar, während die Dänen es lieber lang wachsen lassen. «Die Mönche haben ihn den Sachsen genannt, Herr», fuhr die Witwe fort, «aber wer es war, kann ich nicht sagen.»
«Und er war ein Herr?»
«Er trug die Kleidung eines Herrn.»
Und ich trug Eisen und Leder. Ich hörte nichts Bedrohliches im Wald, also ging ich mit hochgezogenen Schultern unter tropfendem Blattwerk weiter, bis ich vor mir einen hoch aufragenden, von oben nach unten gespaltenen Kalksteinfelsen sah, bei dem der Pfad endete. Wasser sickerte an der Felswand herab, und unten aus der Felsspalte schoss der Fluss hervor und schäumte weiß über herabgestürztes Gestein, bevor er zwischen den Bäumen fortströmte. Ich ließ meinen Blick herumschweifen, doch ich sah niemanden, hörte niemanden. Es kam mir so vor, als würde kein einziger Vogel singen, aber das lag wohl an meinen bösen Ahnungen. Das Rauschen des Flusses war laut. Ich entdeckte Fußspuren im Kies und Steine, mit denen der Wasserlauf abgelenkt worden war, doch keine der Spuren war frisch, und deshalb atmete ich tief ein, kletterte über das herabgestürzte Gestein, und betrat den schlitzartigen Mund der Höhle, der von Farnen eingerahmt war.
Ich weiß noch, wie ich mich in dieser Höhle fürchtete, es war eine größere Furcht, als ich sie bei Cynuit empfunden hatte, als sich Ubbas Männer zum Schildwall aufstellten, um uns zu töten. Ich berührte den Thorshammer, der um meinen Hals hing, und ich sagte ein Gebet an Hoder auf, den Sohn Odins und blinden Nachtgott, und dann tastete ich mich vor, duckte mich unter einem Felsbogen hindurch, hinter dem das letzte graue Licht des Spätnachmittags schnell versickerte. Ich wartete, bis sich meine Augen an die Düsternis gewöhnt hatten, und ging weiter, wobei ich versuchte, oberhalb des Flusses zu bleiben. Meine Schritte knirschten auf seinem schmalen Rand aus Kies und Sand. Langsam schob ich mich durch einen engen, niedrigen Felsdurchgang. Es wurde spürbar kälter. Ich trug einen Helm, und er streifte mehr als einmal an den Felsen entlang. Wieder tastete ich nach meinem Thorshammer. Diese Höhle war ganz gewiss einer der Eingänge zur Unterwelt, in der Yggdrasil wurzelte und die drei Nornen über unser Schicksal bestimmen. Es war ein Ort für Kobolde und Elfen, für die Schattenwesen, die uns heimsuchen und über unsere Hoffnungen spotten. Ich fürchtete mich.
Ich glitt auf dem Sand aus, stolperte vorwärts, und spürte, dass der Durchgang hinter mir lag und dass ich mich in einem großen, hallenden Raum befand. Ich sah Licht schimmern und fragte mich, ob mir meine Augen einen Streich spielten. Wieder berührte ich den Thorshammer, und dann legte ich meine Hand an Schlangenhauchs Griff. Ich stand bewegungslos, hörte Wasser tropfen und das Rauschen des Flusses, aber ich lauschte auf ein Geräusch von einem Menschen. Meine Finger krampften sich um den Schwertgriff, und ich betete zum blinden Hoder, dass er mich durch diese Finsternis leiten solle.
Und dann war da Licht.
Ganz unvermittelt. Es waren nur ein paar Binsenlampen, aber sie waren hinter Abschirmungen verborgen gewesen, und nun wurden diese Abschirmungen auf einmal weggezogen, und die kleinen, rauchenden Flammen wirkten blendend hell in der vollkommenen Dunkelheit.
Die Binsenlichter standen auf einem Felsen mit einer glatten, tischähnlichen Oberfläche. Ein Messer, ein Becher und eine Schale befanden sich neben den Lampen, die eine Felskammer so hoch wie jeder erdenkliche Palas erhellten. Von der Decke der Höhle hingen bleiche Steine herab, die aussahen, als wären sie im Fließen erstarrt. Flüssiger Stein, durchzogen von bläulicher und grauer Farbe, und all das sah ich in einem einzigen Augenblick, dann starrte ich das Geschöpf an, das hinter dem Felstisch kauerte und mich beobachtete. Das Wesen hing wie ein schwarzer Umhang in der Dunkelheit, ein Umriss in den Schatten, eine gekrümmte Form, das aglæcwif, doch als sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah ich, dass die Gestalt klein war, zerbrechlich wie ein Vogel, so alt wie die Zeit, und mit einem so dunklen und zerfurchten Gesicht, dass es aussah wie Leder. Ihr schwarzer Wollumhang war verdreckt, und seine Kapuze verdeckte ihr schwarzes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar. Sie war die Hässlichkeit in Menschengestalt, die galdricge, das aglæcwif, Ælfadell.
Ich rührte mich nicht, und ich sagte kein Wort. Sie betrachtete mich einfach, ohne auch nur einmal zu blinzeln, und ich spürte, wie sich Angst in mir regte, und dann winkte sie mich mit einer klauenartigen Hand zu sich und berührte die leere Schale. «Füll sie», sagte sie. Ihre Stimme klang wie Wind, der über eine Kiesfläche zieht.
«Sie füllen?»
«Gold», sagte sie, «oder Silber. Aber füll sie.»
«Ihr wollt noch mehr?», fragte ich wütend.
«Ihr wollt alles, Kjartan von Cumbrien», sagte sie, und sie hatte einen winzigen Moment innegehalten, bevor sie den Namen aussprach, als hätte sie den Verdacht, er sei falsch, «und deshalb, ja. Ich will mehr.»
Ich hätte mich beinahe geweigert, aber ich gebe zu, dass mich ihre Macht schreckte, also nahm ich Silber aus meinem Beutel, fünfzehn Münzen, und legte sie in die Holzschale. Bei dem Geräusch der klimpernden Münzen verzog sie den Mund zu einer Art Lächeln. «Was wollt Ihr wissen?», fragte sie.
«Alles.»
«Es wird eine Ernte geben», sagte sie herablassend, «und dann wird der Winter kommen, und nach dem Winter kommt die Zeit der Aussaat, und dann wieder eine Ernte und dann wieder ein Winter, bis zum Ende der Zeiten, und Menschen werden geboren, und Menschen werden sterben, und das ist alles.»
«Dann erzählt mir, was ich wissen will», sagte ich.
Sie zögerte, dann nickte sie beinahe unmerklich. «Legt Eure Hand auf den Stein», sagte sie, doch als ich meine linke Hand flach auf den kalten Felstisch legte, schüttelte sie den Kopf. «Eure Schwerthand», sagte sie, und gehorsam legte ich meine rechte Hand auf den Stein. «Dreht sie um», knurrte sie, und ich drehte die Hand mit der Handfläche nach oben. Sie nahm das Messer und beobachtete dabei meinen Blick. Sie lächelte beinahe, forderte mich dazu heraus, die Hand zurückzuziehen, und als ich sie nicht bewegte, zog sie mir unvermittelt das Messer über die Handfläche. Sie ritzte sie einmal vom Daumenballen bis zum Ansatz meines kleinen Fingers ein, und dann noch einmal, kreuzweise. Ich sah das frische Blut aus den Schnitten quellen und dachte an die kreuzförmige Narbe auf Sigurds Hand. «Jetzt», sagte sie und legte das Messer weg, «schlagt fest auf den Stein.» Sie deutete mit dem Zeigefinger auf die glatte Mitte des Steins. «Schlagt hierher.»
Ich schlug fest auf den Stein und hinterließ ein Muster aus Blutspritzern, ausgehend von einem grob verschmierten Handabdruck, der von einem roten Kreuz entstellt wurde.
«Und jetzt schweigt», sagte Ælfadell und schüttelte ihren Umhang ab.
Sie war nackt. Mager, bleich, hässlich, alt, eingeschrumpft und nackt. Ihre Brüste waren Fleischlappen, ihre Haut faltig und fleckig, und ihre Arme dürr. Sie hob die Hand und löste ihr Haar, das im Nacken zusammengedreht war, sodass die grauschwarzen Strähnen nach der Art junger, unverheirateter Mädchen um ihre Schultern fielen. Sie war das Zerrbild einer Frau, sie war die galdricge, und es schauderte mich bei ihrem Anblick. Sie schien meinen Blick nicht wahrzunehmen, sondern starrte auf das Blut, das im Licht der Flammen schimmerte. Sie berührte das Blut mit einem Finger, der so gekrümmt war wie eine Klaue, und schmierte es über den glatten Stein. «Wer seid Ihr?», fragte sie, und es kam mir so vor, als läge echte Neugierde in ihrer Stimme.
«Ihr wisst, wer ich bin», sagte ich.
«Kjartan von Cumbrien», sagte sie. Ein merkwürdiges Geräusch entwich ihrer Kehle, es mochte wohl ein Lachen gewesen sein, dann bewegte sie die blutbesudelte Klaue zu dem Becher. «Trinkt das, Kjartan von Cumbrien», sagte sie und sprach den Namen mit säuerlichem Spott aus, «trinkt es ganz aus!»
Ich hob den Becher und trank. Es schmeckte faulig. Bitter und ranzig. Es schnürte einem die Kehle zu, und ich trank alles aus.
Und Ælfadell lachte.
Ich erinnere mich nur an wenig aus dieser Nacht, und das meiste von diesem Wenigen würde ich am liebsten vergessen.
Ich erwachte nackt, frierend und gefesselt. Um meine Hand- und Fußgelenke waren Lederschlaufen gebunden, die miteinander verknotet waren, sodass meine Hände zu meinen Fußknöcheln hinuntergezogen wurden. Schwaches graues Licht sickerte durch den Felsspalt und den Durchgang in die große Höhle. Der Boden war weiß von Fledermauskot, und mein Körper war mit meinem eigenen Erbrochenen beschmiert. Ælfadell, gekrümmt und dunkel in ihrem schwarzen Umhang, hatte sich über meine Rüstung gebeugt, meine beiden Schwerter, meinen Helm, meinen Hammer und meine Kleidung. «Du bist wach, Uhtred von Bebbanburg», sagte sie. Sie scharrte zwischen meinen Besitzungen herum. «Und du glaubst», fuhr sie fort, «dass ich leicht zu töten wäre.»
«Ich glaube, dass du leicht zu töten wärest, Weib», sagte ich. Meine Stimme war ein trockenes Krächzen. Ich zerrte an den Lederriemen, aber ich schnitt mir damit nur in die Handgelenke.
«Ich kenne mich mit Knoten aus, Uhtred von Bebbanburg», sagte sie. Dann nahm sie den Thorshammer auf und ließ ihn an seinem Lederband schwingen. «Ein wertloses Amulett für einen großen Herrn.» Sie kicherte. Sie war krumm, alt und widerwärtig. Ihre Klauenhand zog Schlangenhauch aus seiner Scheide, und sie trug die Klinge auf mich zu. «Ich sollte dich töten, Uhtred von Bebbanburg», sagte sie. Ihre Kraft reichte kaum aus, die lange Klinge hochzuheben, die sie nun auf einem meiner gebeugten Knie ablegte.
«Warum tust du es nicht?», fragte ich.
Sie musterte mich genau. «Bist du nun klüger geworden?», fragte sie. Ich schwieg. «Du hast nach Weisheit gesucht», fuhr sie fort. «Nun? Hast du sie gefunden?»
Irgendwo weit außerhalb der Höhle krähte ein Hahn. Ich zerrte wieder an den Riemen, und wieder nutzte es nichts. «Schneid die Fesseln durch», sagte ich.
Darüber lachte sie nur. «Ich bin keine Närrin, Uhtred von Bebbanburg.»
«Du hast mich nicht getötet», sagte ich, «also bist du vielleicht doch eine Närrin.»
«Das ist wahr», pflichtete sie mir bei. Sie schob das Schwert vor, sodass seine Spitze meine Brust berührte. «Hast du in deiner Nacht Weisheit gefunden, Uhtred?», fragte sie und lächelte mich mit ihren verfaulten Zähnen an. «Deiner Nacht der Lüste?» Ich versuchte, das Schwert wegzustoßen, indem ich mich auf die Seite rollte, aber sie hielt es gegen meinen Körper gedrückt, und an der Spitze lief ein wenig Blut herab. Sie war belustigt. Ich lag nun auf der Seite, und sie setzte die Klinge auf meiner Hüfte ab. «Du hast im Dunkeln gestöhnt, Uhtred. Du hast vor Lust gestöhnt, oder hast du das vergessen?»
Ich erinnerte mich an das Mädchen, das in der Nacht zu mir gekommen war. Ein dunkelhaariges Mädchen, schlank und schön, geschmeidig wie eine Weidenrute, ein Mädchen das gelächelt hatte, als es auf mir geritten war und mit seinen zarten Händen mein Gesicht und meine Brust gestreichelt hatte, ein Mädchen, das sich zurückgebogen hatte, als ich seine Brüste mit den Händen liebkoste. Ich erinnerte mich an den Druck seiner Oberschenkel auf meinen Hüften, die Berührung seiner Finger auf meinen Wangen. «Ich erinnere mich an einen Traum», sagte ich verdrießlich.
Ælfadell wippte auf ihren Fersen vor und zurück, in obszöner Nachahmung dessen, was das schwarzhaarige Mädchen in der Nacht getan hatte. Die flache Seite der Schwertklinge glitt über meinem Hüftknochen hin und her. «Es war kein Traum», sagte sie spöttisch.
Da wollte ich sie töten, und sie wusste es, und dieses Wissen brachte sie zum Lachen. «Es haben schon andere versucht, mich umzubringen», sagte sie. «Die Priester hatten es auch einmal auf mich abgesehen. Es kamen beinahe zwei Dutzend von ihnen, angeführt von dem alten Abt mit einer Fackel. Sie haben laut gebetet, mich eine heidnische Hexe genannt, und ihre Knochen verrotten immer noch im Tal. Ich habe Söhne, weißt du? Es ist gut für eine Mutter, Söhne zu haben, denn es gibt keine Liebe, die sich mit der Liebe einer Mutter zu ihren Söhnen vergleichen lässt. Hast du diese Liebe vergessen, Uhtred von Bebbanburg?»
«Das war auch ein Traum», sagte ich.
«Kein Traum», sagte Ælfadell, und ich erinnerte mich an meine Mutter, die mich nachts gewiegt und in ihren Armen geschaukelt und mir die Brust gegeben hatte, und ich konnte mich an das Behagen dieses Augenblicks erinnern, und an die Tränen, als mir klar wurde, dass es ein Traum gewesen sein musste, denn meine Mutter war bei meiner Geburt gestorben, und ich hatte sie nie gekannt.
Ælfadell lächelte. «Von jetzt an, Uhtred von Bebbanburg», sagte sie, «sehe ich dich als Sohn an.» Wieder wollte ich sie töten, und sie wusste es und lachte mich aus. «Heute Nacht», sagte sie, «ist die Göttin zu dir gekommen. Sie hat dir dein ganzes Leben gezeigt, und deine ganze Zukunft, und die ganze weite Menschenwelt und was in ihr geschehen wird. Hast du das alles schon vergessen?»
«Die Göttin ist gekommen?», fragte ich. Ich erinnerte mich daran, unablässig geredet zu haben, und ich erinnerte mich an die Traurigkeit, als mich meine Mutter verließ, und ich erinnerte mich daran, dass mich das schwarzhaarige Mädchen bestieg, und ich erinnerte mich, dass mir übel war und ich mich betrunken fühlte, und ich erinnerte mich an einen Traum, in dem ich über die Welt geflogen war, indem ich auf den Winden ritt, ebenso wie die Langschiffe auf den Meereswellen, aber ich erinnerte mich an keine Göttin. «Welche Göttin?», fragte ich.
«Erce natürlich», sagte sie, als hätte ich eine dumme Frage gestellt. «Weißt du etwas über Erce? Sie kennt dich.»
Erce war eine der alten Göttinnen, die in Britannien gewohnt hatten, als unser Volk übers Meer kam. Ich wusste, dass ihr auf dem Land noch immer gehuldigt wurde, als Erdmutter, als Lebensspenderin, als Göttin. «Ich weiß von Erce», sagte ich.
«Du weißt, dass es Götter gibt», sagte Ælfadell, «darin bist du nicht töricht. Die Christen denken, ein einziger Gott würde alle Männer und Frauen versorgen, aber wie könnte das sein? Könnte ein einziger Schäfer jedes Schaf auf der ganzen Welt beschützen?»
«Der alte Abt hat versucht, dich zu töten?», fragte ich. Ich hatte mich mühsam auf die rechte Seite gedreht, sodass sie meine gefesselten Hände nicht sehen konnte, und ich rieb die Lederriemen an einer Steinkante, weil ich hoffte, sie zerspleißen zu können. Ich konnte nur winzig kleine Bewegungen machen, damit sie nichts bemerkte, und ich musste sie am Reden halten. «Der alte Abt hat versucht, dich zu töten», fragte ich erneut, «und trotzdem wirst du jetzt von den Mönchen beschützt?»
«Der neue Abt ist kein Narr», sagte sie. «Er weiß, dass ihm Jarl Cnut bei lebendigem Leib die Haut abziehen würde, wenn er etwas gegen mich unternimmt, also steht er mir lieber zu Diensten.»
«Stört es ihn nicht, dass du keine Christin bist?»
«Er liebt das Geld, das ihm Erce bringt», sagte sie höhnisch, «und er weiß, dass Erce in dieser Höhle wohnt und dass ich unter ihrem Schutz stehe. Und jetzt wartet Erce auf deine Antwort. Bist du klüger geworden?»
Wieder sagte ich nichts, weil mich die Frage verwirrte, und damit erzürnte ich sie.
«Spreche ich zu undeutlich?», fauchte sie. «Hat dir die Dummheit die Ohren zuwachsen lassen und den Kopf mit Stroh vollgestopft?»
«Ich erinnere mich an nichts», sagte ich wahrheitswidrig.
Das brachte sie erneut zum Lachen. Sie hockte sich auf die Fersen, das Schwert lag immer noch auf meiner Hüfte, und sie begann wieder vor und zurück zu wippen. «Sieben Könige werden sterben, Uhtred von Bebbanburg, sieben Könige und die Frauen, die du liebst. Das ist dein Schicksal. Und Alfreds Sohn wird nicht in Wessex regieren, und Wessex wird untergehen, und der Sachse wird töten, was er liebt, und die Dänen werden alles gewinnen, und alles wird sich ändern, und alles wird so bleiben, wie es immer war und wie es immer sein wird. So, siehst du, nun bist du klüger.»
«Wer ist der Sachse?», fragte ich. Noch immer rieb ich die Fesseln an dem Stein, aber nichts schien auszufasern oder lockerer zu werden.
«Der Sachse ist der König, der das zerstören wird, was er regiert. Erce weiß alles, Erce sieht alles.»
Schlurfende Schritte in dem Felsdurchgang machten mir einen Moment lang Hoffnung, aber statt meiner Männer duckten sich drei Mönche unter dem Bogen hindurch und kamen in die düstere Höhle herein. Ihr Anführer war ein älterer Mann mit zottigem weißen Haar und eingefallenen Wangen, der zuerst mich anstarrte, dann Ælfadell, und dann wieder mich. «Ist er es wirklich?», fragte er.
«Es ist Uhtred von Bebbanburg, es ist mein Sohn», sagte Ælfadell und lachte.
«Gütiger Gott», sagte der Mönch. Einen Augenblick lang zeigte sich Verängstigung in seiner Miene, und sie war der Grund, aus dem ich noch lebte. Sowohl Ælfadell als auch der Mönch wussten, dass ich Cnuts Feind war, aber sie wussten nicht, was Cnut von mir wollte, und sie fürchteten, dass sie den Zorn ihres Herrn herausfordern könnten, wenn sie mich umbrachten. Der weißhaarige Mönch kam auf mich zu, langsam und vorsichtig, weil er sich vor dem fürchtete, was ich tun könnte. «Seid Ihr Uhtred?», fragte er.
«Ich bin Kjartan von Cumbrien», sagte ich.
Ælfadell kicherte. «Er ist Uhtred», sagte sie. «Erces Trank lügt nicht. Er hat heute nacht geredet wie ein Wasserfall.»
Der Mönch fürchtete sich vor mir, weil mein Leben und Sterben jenseits seines Begriffsvermögens lagen. «Warum seid Ihr hierhergekommen?», fragte er.
«Um die Zukunft kennenzulernen», sagte ich. Ich spürte Blut zwischen meinen Händen. Als ich mit den Riemen an dem Stein gescheuert hatte, war der Schorf von den Schnitten abgefallen, die mir Ælfadell in der Handfläche beigebracht hatte.
«Er hat die Zukunft kennengelernt», sagte Ælfadell. «Die Zukunft toter Könige.»
«Hat Erce auch von meinem Tod gesprochen?», fragte ich sie, und zum ersten Mal sah ich einen Zweifel auf dem hageren Runzelgesicht.
«Wir müssen eine Nachricht an Jarl Cnut schicken», sagte der Mönch.
«Tötet ihn», sagte einer der jüngeren Mönche. Er war groß und kräftig, mit einem harten, langen Gesicht, einer Hakennase und grausamem, gnadenlosem Blick. «Der Jarl wird gewiss seinen Tod wollen.»
Der ältere Mönch war unsicher. «Wir wissen nicht, was der Jarl will, Bruder Hearberht.»
«Tötet ihn! Er wird Euch belohnen. Er wird uns alle belohnen.» Bruder Hearberht hatte recht, aber die Götter hatten den anderen Zweifel eingeflößt.
«Der Jarl muss entscheiden», sagte der ältere Mönch.
«Es wird drei Tage dauern, bis wir die Antwort haben», sagte Hearberht ätzend, «und was sollen wir drei Tage lang mit ihm machen? Er hat seine Männer in der Stadt. Zu viele Männer.»
«Sollen wir ihn zum Jarl bringen?», schlug der ältere Mönch vor. Er suchte verzweifelt nach einer Lösung, die ihn davor bewahren würde, eine Entscheidung treffen zu müssen.
«Um Himmels willen», zischte Hearberht. Dann schritt er zu dem Stapel mit meinen Besitzungen, beugte sich hinab und richtete sich mit Wespenstachel in der Hand wieder auf. Die kurze Klinge fing das schwache Licht ein. «Was tut man mit einem Wolf, den man in die Enge getrieben hat?», wollte er wissen und kam auf mich zu.
Und ich setzte all meine Kraft ein, all die Kraft, die Jahre der Übung mit Schwert und Schild in meinen Knochen und Muskeln hatten wachsen lassen, die Jahre des Krieges und der Vorbereitung auf den Krieg, und ich stieß meine Beine vor und zog meine Arme hoch, und ich spürte, wie die Fesseln rissen, und rollte zurück, die Klinge rutschte von meiner Hüfte, und ich begann zu brüllen, den Schlachtenschrei eines Kriegers, und griff nach Schlangenhauchs Heft.
Ælfadell versuchte, das Schwert wegzuziehen, aber sie war alt und langsam, und ich brüllte, um die Höhle mit schauerlichem Widerhall zu füllen, und ich packte den Schwertgriff und schwang die Klinge, um sie zurückzutreiben, und Hearberht blieb stehen, als ich auf die Füße kam. Ich stolperte beinahe, die Riemen immer noch um meine Fußgelenke, und Hearberht sah seine Gelegenheit und griff an, hielt die kurze Klinge in niedriger Höhe, um mir den nackten Bauch aufzuschlitzen, und ich schlug die Waffe zur Seite und fiel gegen ihn. Er taumelte zu Boden, und ich stand wieder auf, und er hackte mit der Klinge in Richtung meiner bloßen Beine, aber ich wehrte ihn ab, und dann stach ich Schlangenhauch hinab, mein Schwert, meine Geliebte, meine Klinge, meine Kampfgefährtin, und sie nahm diesen Mönch aus wie einen Fisch unter einem frisch geschliffenen Messer, und sein Blut spritzte auf seinen schwarzen Habit und färbte den Fledermauskot schwarz, und ich riss die Klinge weiter durch seinen Körper und wusste nicht, dass ich immer noch brüllte, um die Höhle mit all meiner Wut zu erfüllen.
Hearberht kreischte und zitterte und starb, und die anderen beiden Mönche flüchteten. Ich riss die übrigen Riemen von meinen Fußgelenken und verfolgte sie. Der Griff meines Schwertes war schlüpfrig von meinem Blut, und Schlangenhauch war gierig.
Ich erwischte sie im Wald, keine fünfzig Schritt von der Felsspalte entfernt, und ich streckte den jüngeren Mönch mit einem Hieb auf den Hinterkopf nieder, dann packte ich den älteren an seinem Gewand. Ich drehte ihn zu mir um und roch die Angst, die er säuerlich ausatmete. «Ich bin Uhtred von Bebbanburg», sagte ich, «und wer seid Ihr?»
«Abt Deorlaf, Herr», sagte er, fiel auf die Knie und streckte mir seine gefalteten Hände entgegen, und ich hielt ihn an der Kehle fest und vergrub Schlangenhauch in seinem Bauch und sägte ihn mit der Klinge auf, und er fiepte wie ein Tier und schluchzte wie ein Kind und rief Jesus den Erlöser an, als er in seinen eigenen Exkrementen starb. Dann schnitt ich dem jüngeren Mönch die Kehle durch und kehrte in die Höhle zurück, wo ich Schlangenhauch im Fluss abwusch.
«Erce hat deinen Tod nicht vorausgesagt», kam es von Ælfadell. Sie hatte geschrien, als ich die Riemen durchgerissen und ihr das Schwert weggenommen hatte, doch nun war sie merkwürdig ruhig. Sie sah mir nur zu und hatte offenkundig keine Angst.
«Hast du mich deshalb nicht getötet?»
«Sie hat auch meinen Tod nicht vorausgesagt», erklärte Ælfadell.
«Dann hat sie sich vielleicht geirrt», sagte ich und nahm Hearberht Wespenstachel aus der toten Hand.
Und da sah ich sie.
Aus einer tiefer gelegenen Höhle, aus einem Durchgang zur Unterwelt, kam Erce. Sie war ein Mädchen von solcher Schönheit, dass mir der Atem stehenblieb. Das dunkelhaarige Mädchen, das in der Nacht auf mir geritten war, das langhaarige Mädchen, schlank und bleich, so schön und so gelassen und so nackt wie die Klinge in meiner Hand, und alles, was ich tun konnte, war, sie anzustarren. Ich konnte mich nicht bewegen, und sie erwiderte meinen Blick mit ernsten, großen Augen, und sie sagte nichts, und ich sagte nichts, bis ich endlich wieder zu atmen begann. «Wer bist du?», fragte ich.
«Zieh dich an», sagte Ælfadell, ob zu mir oder dem Mädchen wusste ich nicht.
«Wer bist du?», fragte ich das Mädchen, aber sie schwieg weiter.
«Zieht Euch an, Herr Uhtred!», befahl Ælfadell, und ich gehorchte ihr. Ich zog meinen Kittel an, meine Stiefel, mein Kettenhemd und schnallte mir die Schwerter um die Hüfte, und immer noch betrachtete mich das Mädchen mit seinem ruhigen, dunklen Blick. Die junge Frau war so schön wie die Morgenröte des Sommers und so schweigsam wie die Winternacht. Sie lächelte nicht, ihr Gesicht zeigte keinen Ausdruck. Ich ging auf sie zu und spürte etwas Seltsames. Die Christen sagen, wir haben eine Seele, was immer das sein mag, und es schien mir, als hätte dieses Mädchen keine Seele. In seinen dunklen Augen war Leere. Es war furchterregend, sodass ich mich ihr nur langsam näherte.
«Nein!», rief Ælfadell. «Du darfst sie nicht berühren! Du hast Erce bei Tageslicht gesehen. Kein anderer Mann hat sie jemals bei Tag zu Gesicht bekommen.»
«Erce?»
«Geh», sagte sie, «geh.» Sie wagte es, sich mir in den Weg zu stellen. «Du hattest einen Traum letzte Nacht», sagte sie, «und in deinem Traum hast du die Wahrheit gefunden. Gib dich damit zufrieden und geh.»
«Sprich mit mir», sagte ich zu dem Mädchen, aber die rätselhafte Schönheit blieb bewegungslos, schweigend und ohne jeden Ausdruck, und doch konnte ich meinen Blick nicht von ihr wenden. Ich hätte den Rest meines Lebens nichts anderes tun können, als sie immer nur anzuschauen. Die Christen reden von Wundern, von Männern, die auf dem Wasser gehen und die Toten aufwecken, und sie sagen, diese Wunder sind Beweise für ihre Religion, und dennoch kann keiner von ihnen ein Wunder bewirken oder uns ein Wunder zeigen, hier aber, in dieser feuchten Höhle jenseits des Hügelgrabes, sah ich ein Wunder. Ich sah Erce.
«Geh», sagte Ælfadell, und obwohl sie zu mir sprach, war es die Göttin, die sich umdrehte und in der Unterwelt verschwand.
Ich tötete die alte Frau nicht. Ich ging. Ich schleppte die toten Mönche ins Gestrüpp, wo sich vielleicht die wilden Tiere an ihnen gütlich tun würden, und dann hockte ich mich an den Fluss und trank wie ein Hund.
«Was hat Euch die Hexe gesagt?», fragte mich Osferth, als ich wieder bei dem Gehöft der Witwe ankam.
«Ich weiß nicht», sagte ich, und mein Ton hielt ihn von allen weiteren Fragen ab, bis auf eine. «Wohin gehen wir, Herr?», fragte Osferth.
«Wir gehen nach Süden», sagte ich, immer noch leicht benommen.
Und so ritten wir auf Sigurds Gebiet zu.