KAPITEL 38

Die nächsten Tage waren qualvoll. Ich grübelte und grübelte, ob ich mit Sayaka Kontakt aufnehmen sollte. Solange Mad Dog glaubte, ich wäre tot, konnte ich mir ziemlich sicher sein, dass ihr nichts zustoßen würde. Wahrscheinlich beobachteten sie sie nicht einmal mehr. Wahrscheinlich. Doch wenn ich mich irrte, konnte das ihren Tod bedeuten. Morbide Bilder gingen mir durch den Kopf. Was wäre geschehen, wenn ich sie damals, als ich auf Thanatos zum Hotel zurückgerast war, nicht lebendig und zornig, sondern vergewaltigt und zerschlagen und tot aufgefunden hätte? Der Gedanke war unerträglich. Es war reines Glück, dass sie beim ersten Mal lediglich bedroht worden war. Ich bezweifelte, dass es noch einmal so glimpflich ausgehen würde.

Als ich bereit war, rief ich Tatsu an. Wir trafen uns am Meiji-Schrein. Er warf einen scharfen Blick auf meinen rasierten Schädel, sagte aber nichts. Während wir unter den hohen Bäumen dahinschlenderten, die den Schrein umgaben, berichtete er mir, wie die Dinge in Ueno und mit McGraw verlaufen waren. Er hatte alles so geregelt, wie ich gehofft hatte, und niemand hatte Verdacht geschöpft. Ich teilte ihm mit, was ich von McGraw erfahren hatte. Das war das Mindeste, was ich tun konnte.

»Du hattest Glück, noch mit ihm sprechen zu können«, meinte er. »Unmittelbar danach hat ihn jemand auf dem Zoshigaya-Friedhof exekutiert.«

»Ich weiß. Ich habe es in den Nachrichten gehört. Vielleicht hat jemand aus seiner Organisation erfahren, dass er den Mund nicht halten konnte.«

»Schon möglich«, entgegnete er trocken. Manchmal konnte ich nur schwer einschätzen, was Tatsu dachte. Aber ein Teil seiner Philosophie schälte sich immer deutlicher heraus: Als Polizist ging es ihm mehr um das Ziel als um die Mittel.

»Kannst du mit dem, was ich dir gesagt habe, etwas anfangen?«, fragte ich.

»Ich glaube schon, obwohl es eine Weile dauern wird und einige geschickte Schachzüge erfordert. Die Korruption scheint bis ganz in die Spitze zu reichen – Sato, der Finanzminister, Genda, der Stabschef der Luftwaffe, selbst Premierminister Tanaka. Doch mit dem, was ich von dir weiß, kann ich zumindest einiges davon aufdecken.«

»Was ist mit den Vereinigten Staaten? McGraw hat angedeutet, dass er die abgeschöpften Gelder auch an amerikanische Politiker verteilt hat.«

»Es wäre naiv, etwas anderes anzunehmen. Ob sich jemand dafür interessiert, ist eine andere Frage. Aber es gibt da einen Senator namens Frank Church, der einen Untersuchungsausschuss zu illegalen Geheimdienstaktivitäten einsetzen will. Das könnte ihn interessieren. Ich werde mich mit ihm in Verbindung setzen.«

Wir spazierten weiter. Es war angenehm im Schatten der Bäume, kühl für einen Sommermorgen und ruhig. Der Schrein selbst war eine Oase des Friedens im Trubel der Stadt. Genau die Art von Ort, die ich an Tokio liebte. Die Art, die ich vermissen würde.

»Seit deinem Tod ist es relativ ruhig geworden in der Keisatsucho-Polizeizentrale«, sagte er. »Nach McGraw sind keine Leichen mehr aufgetaucht.«

»Das ist gut. Ich bin sicher, ihr Jungs braucht auch mal ein bisschen Ruhe zur Abwechslung.«

»Ja. Ich erwarte allerdings jeden Moment, von Fukumoto juniors vorzeitigem Abgang zu hören. Aber fürs Erste scheint ihm nichts zu fehlen.«

Mad Dog. Ausgerechnet ihn übrig zu lassen, fiel mir nicht leicht. Zum hundertsten Mal rief ich mir ins Gedächtnis, dass es der richtige Weg war. Der einzige. McGraws Tod konnte auf eine Auseinandersetzung mit dem Typen zurückgeführt werden, den er angeheuert hatte, um mich zu ermorden. Wenn allerdings unmittelbar danach auch noch Mad Dog starb, hätte das nicht mehr als Zufall durchgehen können. Tatsu hatte die Ungereimtheiten mit der Leiche des Yakuza ausgebügelt, aber falls jemand genauer nachbohrte, würde die Geschichte in sich zusammenfallen. Und dann hätte Sayaka wieder in Gefahr geschwebt. Also musste Mad Dog weiterleben. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass meine Entscheidung ein Zeichen größerer Reife und Selbstbeherrschung war. Trotzdem brachte sie mich fast um.

»Solange Mad Dog glaubt, ich wäre tot«, sagte ich, »hat er von mir nichts zu befürchten.«

»Solange er lebt, bist du in Japan nicht sicher.«

Verflixt. Wollte Tatsu mich etwa dazu ermutigen, Mad Dog abzuservieren? Das hätte ich liebend gern getan, aber ich konnte ihm den Grund nicht nennen, warum das nicht ging.

»Natürlich ist Fukumoto junior ein Schwächling«, fuhr er fort. »Er genießt keinen großen Respekt. In gewissen Kreisen gilt er als illegitimer Nachfolger, ein Produkt der Vetternwirtschaft. Seine Feinde könnten von der Rolle erfahren, die er beim Tod seines Vaters gespielt hat. Falls die ans Tageslicht kommt, würde ich nicht in seiner Haut stecken wollen.«

Ich sah ihn an. Wollte er etwa andeuten, dass er dafür sorgen würde?

»Wie dem auch sei«, sprach er weiter, »vielleicht kannst du früher zurückkehren, als du es dir vorstellst.«

»Ich wüsste nicht, was mich in diesem Fall hier erwarten würde.«

»Ich zum Beispiel. Vielleicht könnten wir wieder zusammenarbeiten.«

Ich lachte. »Ach, haben wir zusammengearbeitet?«

Er zuckte die Achseln. »Nicht immer bewusst, aber unsere Aktivitäten scheinen sich gut zu ergänzen, findest du nicht? Wäre es denn schlecht, wenn es so … weiterginge?«

»Ich weiß nicht. Ich müsste erst darüber nachdenken.« Doch ich hatte meine Zweifel. Ich wollte nicht noch einmal zum Spielball einer groß angelegten Strategie werden. Ein freier Dienstleister zu sein, das konnte ich mir vorstellen. Ein Angestellter? Niemals.

»Weißt du«, sagte Tatsu, »es gibt da etwas, das ich einfach nicht verstehe.«

»Ja?«

»Ich sagte dir doch, es hätte keine weiteren Todesfälle mehr gegeben. Aber da war noch eine Schießerei. Erst letzte Nacht.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Das Opfer war ein ziemlich prominenter Politiker der Liberaldemokratischen Partei. Nobuo Kamioka. Vielleicht sagt dir der Name etwas.«

»Nein, da klingelt nichts.«

»Aha. Das Seltsame ist, ihm wurde die Wirbelsäule durchschossen. Er wird nie wieder laufen können, aber der Angreifer hat ihn nicht getötet.«

»Vielleicht hat er schlecht gezielt.«

»Kamioka behauptet, der Schütze sei ein buddhistischer Mönch gewesen. Und bevor er auf den Abzug drückte, habe dieser Mönch zu ihm gesagt: ›Karma ist kein Wunschkonzert.‹ Kannst du damit etwas anfangen?«

»Hm. Höchstens: Wenn Karma wirklich kein Wunschkonzert ist, dann wage ich nicht daran zu denken, was es für mich bereithält.«

»Es war also reiner Zufall, dass du mich erst heute Morgen angerufen hast und nicht schon früher?«

»Was denn, glaubst du, ich hatte etwas damit zu tun?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich hatte deinen Anruf früher erwartet. Genauer gesagt am selben Morgen, als du im Ueno-Park ›gestorben‹ bist.«

»Sorry, mir ist etwas dazwischengekommen.«

»Ich habe das seltsame Gefühl, dass die Kugel, die McGraw tötete, zu der passen könnte, die Kamioka gelähmt hat.«

»Glaubst du, du findest die Waffe?«

»Nein. Ich bin ziemlich sicher, dass uns das nicht gelingen wird.«

»Was für ein Jammer.«

Er warf einen Seitenblick auf meine rasierte Kopfhaut. »Ich habe mich auch über deine neue Frisur gewundert.«

»Das ist nur so ein Sommerhaarschnitt. Wahrscheinlich lasse ich sie bald wieder lang wachsen.«

Er gab auf, und wir gingen schweigend weiter. Am Ausgang nach Harajuku überreichte er mir einen Pass. »Du kannst jetzt überall hingehen«, meinte er. »Aber wo wird das sein?«

Die Tokioter hasteten kreuz und quer an uns vorbei, auf dem Weg zur Arbeit, zum Kaffeetrinken, zum Einkaufen, nach Hause. Es war eine frenetische, hektische Kulisse wie ein Film, der mit leicht erhöhter Geschwindigkeit abgespielt wird. Eine dunkle Wolke schob sich vor die Sonne, und für einen Augenblick wirkte die Stadt wie in Sepia getaucht.

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Wenn ich die Zeitung aufschlage und von einem Skandal lese, der mit amerikanischen Bestechungsgeldern für japanische Politiker zu tun hat, werde ich an dich denken.«

Er lächelte. »Ich glaube nicht, dass Fukumoto junior es lange macht.«

»Wir werden sehen.«

»Abgesehen davon hoffe ich, dass in Tokio jetzt für eine Weile Frieden einkehrt.«

Ich dachte an Sayaka. »Da bin ich sicher.«