KAPITEL 36
Ich parkte auf einem leeren Stellplatz in der Nähe des Shinobazu-Teichs. Es war fünf Uhr morgens. Die Sonne war zwar noch nicht über dem Horizont aufgetaucht, der Himmel jedoch inzwischen vollständig hell. Die Umgebung lag ruhig und verlassen da.
Ich hievte den toten Yakuza aus dem Kofferraum und bugsierte ihn in den Rollstuhl. Dann setzte ich ihm den Hut auf und legte ihm die OP-Maske an, um die blutige Masse zu verbergen, die einmal sein Gesicht gewesen war. Die Decke, die ich tags zuvor gekauft hatte, breitete ich über ihm aus. Ich schloss den Kofferraum und rollte den Yakuza in den Park. Falls um diese Uhrzeit schon jemand unterwegs sein sollte, würde ich wie ein Pfleger aus einem nahe gelegenen Krankenhaus oder Altersheim wirken, der netterweise seinen alten und ziemlich arthritischen Schützling in den Park fuhr, damit er den Sonnenaufgang über den Lotusblüten verfolgen konnte.
Am Südende des Sees befand sich eine öffentliche Toilette. Ich rollte den Yakuza hinein, zerrte ihn in eine Kabine, verschloss die Tür und kletterte dann über die Trennwand zur nächsten Kabine wieder nach draußen. Alles, was ich angefasst hatte, wischte ich ab.
Wahrscheinlich würde in der nächsten Viertelstunde niemand hereinkommen, und falls doch, gab es ja noch zwei freie Kabinen.
Ich schob den leeren Rollstuhl zurück zum Auto, lud ihn ein und fuhr ihn zu einer Klinik in der Nähe des Bahnhofs. Bevor ich ihn abstellte, putzte ich die Handgriffe ab. Niemand würde seine Herkunft feststellen können oder sich dafür interessieren. Vielleicht brachte ihn ja irgendwann jemand in die Klinik, und diese übernahm ihn. Vielleicht wurde er auch weggeworfen oder gestohlen. Egal. Mit mir war er nicht in Verbindung zu bringen. Die OP-Kleidung und der Arztkittel wanderten in einen Mülleimer in der Nähe. Dann brachte ich den Wagen zurück. Der Verleih hatte geschlossen, und es war etwas ungewöhnlich, dass jemand einen Mietwagen außerhalb der Geschäftszeiten ablieferte, aber der Spalt unter der Tür war hoch genug, um den Schlüssel hindurchzuschieben. Ich schwang mich auf Thanatos, fuhr zum Teich zurück und parkte gleich gegenüber. Ich machte den Motor aus, stieg ab und verharrte einen Moment lang, um die schöne Maschine zu betrachten. Römisch-Rot und Eierschalen-Weiß. Ich seufzte, tätschelte den Tank, den Sattel. Ich lächelte versonnen. Dumm von mir. Es war doch nur ein Motorrad. Vermutlich war es für mich zu einer Art Symbol geworden, ein mikrokosmisches Abbild des Lebens, das ich hinter mir ließ, ein Sammelbecken meiner Trauer und Reue. Aber ich konnte nicht anders. »Werd dich vermissen«, sagte ich, wandte mich ab und ging davon.
Ich kehrte in die Toilette zurück und kletterte in die Kabine, wo ich den Yakuza gelassen hatte, wiederum nicht, ohne alle Stellen abzuwischen, die ich dabei berührte. Die Leiche erwärmte sich langsam. Das war gut. Ein nicht tiefgekühlter Körper war eine Unstimmigkeit weniger, mit der Tatsu sich herumschlagen musste. Ich öffnete meine Tasche, nahm ein paar Kleidungsstücke heraus und zog sie dem Yakuza an. Unterwäsche, Socken, einfach alles. Dazu meine alten Schuhe, während ich selbst in die neuen schlüpfte. Fabrikneue Sohlen hätten verdächtig gewirkt. Je weniger Tatsu zu regeln hatte, desto besser. Er würde auch so genügend wegerklären müssen.
Ich schob dem Mann meine Brieftasche in die Tasche und steckte mit grimmigem Lächeln einen Zettel mit McGraws Nummer dazu. Selbst meine Armbanduhr legte ich ihm an. Die Reisetasche hängte ich ihm über die Schulter. Meine gesamten weltlichen Besitztümer befanden sich darin. Selbst die Briefe von meinen Eltern, die vergilbten Fotos. Ich behielt nur die Pistole und etwas Geld. Das hatte vielleicht etwas Symbolisches. Wenn ja, war ich damals zu jung, um mich davon abhalten zu lassen.
Ich stand auf und betrachtete den Yakuza, mein anderes Selbst. Mein Herz schlug heftig. Es gab kein Zurück mehr. Auf seltsame Art hatte ich das Gefühl, dass ich tatsächlich sterben würde. Der Ueno-Park war ein gigantischer Galgen, und ich war gerade dabei, seine Stufen zu erklimmen.
Mit dem Fingerknöchel schob ich den Riegel der Kabine zurück, schloss sie hinter mir wieder und blickte zur Eingangstür hinaus. Der Pfad um den See herum verlief hier in Form eines Cs, in dessen Mitte sich das Toilettengebäude befand. Ich konnte in beiden Richtungen sehr weit sehen. Niemand war in Sicht. Ich kehrte in die Kabine zurück, legte mir den Arm des Yakuza über die Schulter und meinen Arm um seine Taille. Dann hievte ich ihn hoch. Wenn uns jetzt jemand sah, würde er denken, dass ich nach einer nächtlichen Sauftour einen stockbetrunkenen Kumpan nach Hause brachte. Nicht besonders überzeugend, aber vermutlich ausreichend. Es war immer noch niemand in Sicht. Ich hörte einen Zug der Yamanote-Linie in den Bahnhof von Ueno einfahren. Von der Straße kamen Verkehrsgeräusche. Tokio erwachte. Ich würde nicht lange warten müssen.
Ein hüfthoher Drahtzaun trennte den Pfad vom Wasser des kleinen Sees. Ich setzte den Yakuza auf den oberen Rand, sodass sein Schwerpunkt ihn zu den Lotusblumen hinzog. Jetzt hielt ihn nur noch mein fester Griff um eines seiner Handgelenke. Ich nahm ihm den Hut vom Kopf und zog ihn mir selbst tief ins Gesicht. Die OP-Maske steckte ich ein. Dann nahm ich die letzte verbliebene Hi Power hinten aus dem Hosenbund und wartete.
Ein paar Minuten später sah ich zwei alte Frauen in Trainingsanzügen von rechts auf mich zutraben. Anscheinend führte ihr Morgensport sie um den See herum. Ich blickte nach links und sah zu meiner Befriedigung einen alten Mann mit einem kleinen Hund. Unzusammenhängend fragte ich mich, was es wohl war, das alte Leute so früh aus dem Bett trieb. Aber es spielte keine Rolle. Hauptsache, sie waren zuverlässige, nüchterne, sozial verantwortungsvolle Bürger, die gute Zeugen abgaben. Vielleicht sahen sie nicht mehr ganz so gut, aber das machte nichts, wenn ich sie etwas näher herankommen ließ. Sie wirkten nicht so, als könnten sie mich einholen.
Ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln, bis sie noch ungefähr fünfundzwanzig Meter weit entfernt waren. Dann hob ich die Pistole, zielte dicht an dem unkenntlichen Gesicht des Yakuza vorbei in die Lotusblüten und blieb einen Moment lang theatralisch so stehen, bevor ich feuerte. Der Knall dröhnte laut und unverkennbar durch die Morgenstille am Teich. Ich ließ das Handgelenk des Yakuza los, und seine Leiche plumpste mit einem mächtigen Platsch rücklings ins Wasser. Mehrere Enten in der Nähe ergriffen quakend die Flucht. Ich hielt die Waffe noch einen Moment länger ausgestreckt, damit die Zuschauer sich vergewissern konnten, dass sie tatsächlich richtig gehört und gesehen hatten. Gehetzte Blicke nach links und rechts werfend, stopfte ich mir die Pistole wieder in den Hosenbund und machte mich zwischen den Büschen und Bäumen davon. Ich hielt den Kopf gesenkt und versuchte, wie ein flüchtiger Verbrecher auszusehen.
Ich zweifelte nicht daran, dass die älteren Herrschaften, die gerade auf mich zuspaziert waren, schockiert und ungläubig zum Tatort laufen und ins Wasser starren würden. Wo sie die Leiche sahen. Sie würden die Polizei rufen und aufgeregt das Ereignis beschreiben, dessen Zeuge sie geworden waren: Ein Mann hatte einem anderen aus nächster Nähe ins Gesicht geschossen und war dann zu Fuß geflüchtet. Tatsu erwartete diesen Anruf und wusste auch ungefähr, wann er damit zu rechnen hatte. Er würde als Erster am Schauplatz eintreffen. Wasser und Schlamm mussten einen Teil der Unstimmigkeiten überdecken, zumindest auf den ersten Blick, und um den Rest sollte sich Tatsu kümmern. Er würde feststellen, dass das Opfer keine Verwandten hatte, und selbst wenn, machten die Gesichtsverletzungen eine Identifizierung schwierig. Sie musste über den Inhalt der Taschen erfolgen und den Motorradschlüssel, den er bei sich trug. Er passte zu einer Maschine, die in Tokio zugelassen war und die in der Nähe gefunden werden würde. Der Tote hieß John Rain, und die einzige Spur, was seine Ermordung anbetraf, war eine auf einen Zettel gekritzelte Telefonnummer. Bei der Tatsu als leitender Ermittler natürlich anrufen würde, um die Person am anderen Ende der Leitung zu vernehmen. Kannten Sie das Opfer? Welcher Art war Ihre Beziehung? Warum trug er Ihre Telefonnummer bei sich? Wo waren Sie zum Zeitpunkt seiner Ermordung?
Natürlich würde McGraw leugnen, mich zu kennen, und behaupten, keine Ahnung zu haben, wie ich an seine Telefonnummer gekommen sei. Niemand konnte ihm das Gegenteil beweisen. Angesichts seiner diplomatischen Immunität und seiner Verbindungen gab sich sicher auch niemand große Mühe damit. Außerdem hatte er sich bestimmt ein Alibi verschafft. Schließlich war ihm klar gewesen, dass heute am frühen Morgen im Ueno-Park ein Mord geschehen würde. Egal, das Fracksausen, das er unter Tatsus durchdringendem Polizeiblick und seinen methodischen Fragen bekommen würde, sollte ihn nur blind für den wahren Grund seiner Vernehmung machen: nämlich eine hieb- und stichfeste, offizielle polizeiliche Bestätigung für meinen Tod zu schaffen. Danach durfte McGraw sich von mir aus wieder abregen. Er konnte ja nicht wissen, dass die Meldung über meinen Tod geringfügig übertrieben war.
Jedenfalls bis ich es ihm persönlich sagte.