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Neben Vera hatten noch zweiundzwanzig weitere Schülerinnen und Schüler die Berufsschulklasse »Bürokaufmann / Bürokauffrau« im Sommer 1993 erfolgreich abgeschlossen. Mit knapp der Hälfte der Absolventen war Max Breder inzwischen durch, ohne dass sich ein einziger Anhaltspunkt im Sinne einer Verbindung zu den aktuellen Geschehnissen um Vera oder Kai Richardt ergeben hätte.

Ob die weitere Recherche angesichts des erneuten Verhörs von Vera Richardt überhaupt noch sinnvoll war, wagte er zu bezweifeln. Da aber sowohl Romy als auch Kasper viel zu beschäftigt waren, sparte er sich eine Nachfrage und machte einfach weiter.

Seine nächste Kandidatin hieß Claudia Seifert, die nicht nur auf Stayfriends über ihr Leben berichtete, sondern auch eine eifrige Facebook-Nutzerin war. Dort erwähnte sie im beruflichen Werdegang ihres für alle Nutzer freigegebenen Profils, dass sie nach ihrem Abschluss noch einige Zeit in ihrem Ausbildungsbetrieb, einer großen Gärtnerei, beschäftigt gewesen war, bevor sie eine Anstellung in einem Ingenieurbüro in Greifswald bekommen hatte, wo es ihr nach einer gewissen Eingewöhnungszeit »total gut« gefallen habe.

Max gähnte, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten – für wen auch? Im Moment saß er mutterseelenallein in dem winzigen Büro, das von Fines Reich abging und ihn ein wenig vom Lärm des geschäftigen Treibens abschirmte – zumindest wenn die Tür geschlossen war.

Wie aufregend, dachte er und kämpfte sich durch Claudia Seiferts aufgelisteten Lebenslauf, der anlässlich einiger Highlights mit Fotos untermalt war: Aufnahmen von Partys, Gartenfesten und Geburtstagsfeiern, deren Aussagekraft sich darauf beschränkte, Menschen pulkmäßig und möglichst strahlend, trinkend, tanzend, jubelnd zu erfassen.

Vera war bei einigen Gelegenheiten auch eingeladen gewesen. Die Freundschaft mit Claudia hatte offensichtlich noch einige Jahre gehalten. Max fand, dass sie immer noch ganz passabel aussah. Ein arg verpixeltes Foto stammte aus dem Jahre 1994 von der Hochzeit von Claudias älterer Schwester, auf der es hoch hergegangen war.

Erst beim genaueren Hinsehen entdeckte Max am Ende der Seite ein kleines schwarzes Kreuz hinter ihrem Namen. Die Schwester hieß Maria. Sie lebte nicht mehr. Maria Bernburg.

Max ließ den Stift fallen.

 

Er grinste in die Kamera: »Hier spricht Kai vom Hafen. Freu dich, Mirjam, es ist alles bereit für dich«, sagte er leise. »Fast alles. Du kennst ja unser Versteck bereits. Wir sind ein eingespieltes Team. Das hat viele Vorteile.« Er winkte, grinste erneut und wandte sich dann ab.

Das war Samstag, am frühen Morgen, wie die Datums- und Zeitangabe penibel wiedergab. Im Hintergrund war ein Bett zu erkennen. Als Kai sich abwandte, waren für kurze Zeit Hintergrundgeräusche zu hören, dann stoppte die Aufnahme.

Romy saß mit Kasper und Buhls Computerspezialist Jörg Varold, der sich bereits mit dem formatierten Laptop beschäftigt hatte, in ihrem Büro. Varold – ein massiger Zweimeter-Mann mit Hornbrille, ungepflegtem Haar und angenehmer Stimme – hatte seine Zeitvorgabe bei der Entschlüsselung der externen Festplatte fast einhalten können. Er nahm einen Schluck aus seiner Energydrink-Dose und wies auf den Bildschirm.

»Das Aufzeichnungsprogramm wird nur gestartet, wenn was passiert«, erklärte er. »Audio- oder Videoimpulse«, fügte er lapidar hinzu.

Eine ganze Weile blieb es still, dann waren plötzlich Geräusche zu hören.

»Kann ich nicht herausfiltern«, sagte Jörg Varold, als Romy ihn fragend ansah. »Klingt, als würden Leute durch den Keller laufen.«

Beier und Brandt, die Kai nach unten bringen und fertigmachen, dachte die Kommissarin und sah auf die Uhr – anderthalb Stunden nachdem die Kamera mit der Aufzeichnung begonnen hatte.

»Die Geräuschkulisse ist noch etwa eine Stunde zu hören«, erläuterte Varold und stoppte das Programm. »Aber zu sehen ist nichts mehr.«

Abgesehen von den aktuellen Aufnahmen, waren verschiedene Videodateien gespeichert, aber auch Fotomaterial und schriftliche Aufzeichnungen, wie Romy nach einem Blick ins Inhaltsverzeichnis festgestellt hatte. Die Namen der einzelnen Dateien lauteten Beate Lauber, Maria Bernburg, Mirjam Lupak und Lilly Arnold.

Kai hatte nicht nur das Leiden der Frauen dokumentiert, sondern penibel darüber Rechenschaft abgelegt, warum er sich für das jeweilige Opfer entschieden hatte. Romy hoffte inständig, dass es ihr erspart bleiben würde, die einzelnen Videos in voller Länge anzusehen.

»Können Sie sagen, wann die Dateien auf der Festplatte gespeichert wurden?«, fragte Romy.

»Na klar. Sonntagmorgen zwischen eins und drei.«

»Hm. Und in der Nacht zum Sonntag gibt es keine Aufzeichnungen mehr? Nicht mal Hintergrundgeräusche?«

Bevor Varold antworten konnte, drehte Kasper sich plötzlich zu ihr um und starrte sie wie elektrisiert an. »Falls sie das Aufzeichnungsprogramm nicht gestoppt hat, bevor sie in Buschvitz losgefahren ist, müsste doch zumindest erfasst sein, dass Vera den Raum betritt und die Kamera ausstellt.«

»Genau!«

»Sehr guter Hinweis.« Varold nickte anerkennend. »Nach Ihren Erläuterungen war mir klar, dass ich sehr genau hinsehen musste. Da hat jemand …«

»Benutzen Sie ruhig ihren Namen – Vera Richardt«, warf Romy ein.

»Okay, also ich gehe davon aus, dass Vera den Inhalt des Laptops auf die Externe überspielt und sich große Mühe gegeben hat, den PC anschließend sauber und endgültig zu löschen. Ist ihr gelungen, muss ich zugeben.« Varold nickte beifällig. »Bevor sie die Externe mit einem Datenschlüssel vor fremdem Zugriff sichert, wirft sie noch einmal einen genauen Blick auf den Inhalt. Dabei dürfte ihr klargeworden sein, dass genau der Abschnitt, den Kollege Schneider gerade angesprochen hat, unter Umständen ihre Konzeption unterlaufen könnte und auch nicht in einer verschlüsselten Datei ihr Tun unter Beweis stellen sollte. Man kann ja nie wissen – schließlich sieht man Vera, und man hört sie auch …«

Romy konnte kaum noch still sitzen. »Und?«

»Nun, sie ist verdammt schlau und gerissen. Sie hat einfach die letzten Minuten gelöscht …«

Romy wollte aufspringen und etwas sehr Unflätiges herausbrüllen, aber Varold machte rasch eine abwiegelnde Handbewegung.

»Nur keine unnötige Energieverschwendung, Kommissarin. Diesmal hat sie es dabei belassen, den Abschnitt einfach nur zu löschen. Auf einer gut verschlüsselten Platte wollte sie es mit der Absicherung dann wohl doch nicht übertreiben …«

»Sie haben ihn wiederherstellen können?«

Varold grinste. »Und ob!«

Romy hatte nicht übel Lust, dem Mann einen Knutscher auf die Wange zu drücken, aber sie entschied sich dann doch dagegen und beließ es bei einem begeisterten: »Das gibt Sonderpunkte, Varold!«

»Nehme ich gern.«

Er startete erneut das Programm. Sekunden später schwang die Kellertür auf. Zunächst war nur das Irrlicht einer Taschenlampe zu erkennen, dann war Vera Richardt zu sehen. Sie trug dunkle Klamotten und eine Taschenlampe. Plötzlich erstrahlte im Hintergrund für einen Moment eine andere Lichtquelle, die aber sofort wieder erlosch. Die Uhr zeigte 23.12 Uhr an.

»Kann man die Uhrzeit manipulieren?«, fragte Romy leise, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.

»Profis können auch das, aber es ist verdammt aufwendig, und ich würde es bemerken.«

Romy nickte. Vera war also tatsächlich am späten Samstagabend am Hafen gewesen. Aber warum löschte sie ausgerechnet die Aufnahme, die beweisen konnte, dass sie zum Todeszeitpunkt nicht am Tatort war? Sie kann auch ein zweites Mal hingefahren sein, überlegte die Kommissarin. Sie hielt Vera inzwischen für hochgradig abgebrüht.

Vera Richardts bleiches Gesicht befand sich mittlerweile direkt vor der Kamera. Sie runzelte die Stirn und lächelte plötzlich. Ihr Mund verzog sich auf sehr unschöne Weise.

»Hallo, hier spricht Vera vom Hafen«, sagte sie leise und ahmte den grüßenden Tonfall ihres Mannes vom Beginn des Videos nach.

»Ich habe das Versteck gefunden. Das hat ihn ziemlich aus der Fassung gebracht.« Sie hob eine Hand und wies mit dem Daumen über die Schulter. Dann winkte sie, genau wie Kai. Ihr Lächeln wurde noch breiter.

»Kai wird nicht mehr in der Lage sein, sich seine Videos anzusehen – so oder so nicht«, fuhr sie fort. »Mir ist nämlich gerade eine wunderbare Idee gekommen: Ich werde jemanden vorbeischicken, der noch ein paar Fragen an ihn hat. Das ist nur gerecht.« Sie streckte den Arm aus. Dann wurde es dunkel.

»So oder so nicht«, wiederholte Romy im Stillen. Ihr war klar gewesen, dass er noch lebte. Einen Mord wollte sie nicht riskieren oder war im letzten Moment davor zurückgeschreckt. Wenn sie sich diese Theaternummer vor der Kamera gespart hätte, stünde sie jetzt deutlich besser da …

»Es gibt keinerlei Spuren von Christoph Albrecht«, unterbrach Kasper ihre Gedanken. »Das hat Buhl vorhin bestätigt.«

»Das ist nur gerecht«, ließ Romy den Satz nachklingen. »Ich glaube auch nicht, dass er es war«, meinte sie grübelnd. »Er hat am allerwenigsten mit all dem zu tun.

»Und ist auch nicht kaltblütig genug«, schob Kasper nach.

»Vielleicht haben wir eine Verbindung zu Beier und Brandt übersehen.«

»Die waren schon dort. Beier hat seine Fragen gestellt. Ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, dass Brandt ein zweites Mal hingefahren ist …«

»Vorstellen kann ich mir so manches nicht. Aber ausschließen dürfen wir diesen Aspekt nicht«, beharrte Romy.

»Wie dem auch sei«, mischte Varold sich ein, der den Überlegungen der beiden Kommissare nichts hinzuzufügen hatte, und stand auf. »Ihr wisst nun Bescheid – die Schlussfolgerungen müsst ihr selbst ziehen.«

»Danke noch mal«, sagte Kasper, als der Kollege aufbrach.

Romy hob nur kurz grüßend die Hand und brütete dann weiter vor sich hin. »Vera kriegen wir wegen unterlassener Hilfeleistung und Anstiftung zu einer Gewalttat ran – mindestens. Aber was haben wir übersehen? Meinst du, wir sollten sie gleich noch mal vernehmen und mit den Aufnahmen konfrontieren?«

Bevor Kasper darauf eingehen konnte, trat Fine, ohne zu klopfen, ein. »Habt ihr einen Moment Zeit?«

Romy seufzte. »Klar.«

»Kommt mit nach vorne. Max hat was gefunden.«

»Überschneidungen in seiner Tabelle?«

»Und ob.«

 

Sie saßen zu viert im Gemeinschaftsraum. Max Breder war hochrot im Gesicht. Er blickte mehrmals von seinem Hefter in die Runde und wieder zurück. Er ist aufgeregt, dachte Romy. Sie sah ihn forschend an. »Was gibt’s?«

»Es begann 1991«, sagte er schließlich mit gewichtiger Stimme.

Romy stöhnte leise. »Bitte, Max, mach es kurz – wir haben alle verdammt anstrengende Tage hinter uns.«

Er hob eine Hand. »Wart’s ab. Außerdem war es deine Idee, Vera Richardt von Grund auf zu durchleuchten«, entgegnete er.

Romy stutzte und nickte ihm dann zu.

»Von 1991 bis 1993 hat Vera Richardt, die damals noch Sanddorn hieß, die Berufsschule in Greifswald besucht«, begann er seinen Bericht. »Mit ihrer Mitschülerin Claudia Seifert war sie auch nach dem Abschluss noch einige Jahre zumindest locker befreundet. Als Claudias ältere Schwester 1994 heiratete, war Vera auch eingeladen.«

Kasper klopfte mit einer Schuhspitze auf den Boden. »Willst du uns alle ehemaligen Mitschüler in dieser epischen Breite vorstellen?«

»Nein, nur diese«, gab Max mit seiner tiefen Stimme selbstbewusst zurück. »Die ältere Schwester lebt schon lange nicht mehr. Sie hieß Maria. Und sie heiratete seinerzeit Gunnar Bernburg.«

Sekundenlang sagte niemand ein Wort. Romy und Kasper starrten Max perplex an. Nur Fine lächelte.

»Das ist aber noch nicht alles«, fuhr Breder schließlich fort und warf Romy einen nahezu triumphierenden Blick zu. »Ich habe mir auf deine Aufforderung hin noch einmal die Telefonverbindungen vom Festnetz der Richardts angesehen – nach dem Mord an Kai. Am Dienstag gab es einen sehr kurzen Anruf von einer Handynummer, die bislang noch nicht aufgetaucht war. Ich konnte die Rufnummer zu einem Thomas Herbrecht zurückverfolgen. Der Mann stammt aus Greifswald und arbeitet in dem Maschinenbauunternehmen, in dem Gunnar Bernburg technischer Leiter ist.«

Breder hob eine Braue und verschränkte die Arme vor der Brust. Er lächelte.

 

Bernburg öffnete ihnen im Mantel und mit freundlich fragendem Blick die Haustür. Offensichtlich war er gerade erst zu Hause eingetroffen, als Romy und Kasper klingelten. Zwei Greifswalder Kollegen warteten in ihrem Wagen einige Meter weiter unten am Straßenrand.

Die Kommissarin lächelte und stellte Kollege Schneider vor. »Herr Bernburg, ich hoffe, Sie erinnern sich noch an mich. Wir sprachen letztens …«

»Ja, natürlich erinnere ich mich«, unterbrach er sie mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme. »Kommissarin Beccare aus Rügen. Konnten Sie den Fall immer noch nicht zu den Akten legen?« Sein Blick war wachsam.

»Bislang nicht. Und wir haben einige Fragen an Sie.«

»Aber ich sagte Ihnen doch schon, dass ich zu Marias Entführung und den … anschließenden Geschehnissen nichts sagen kann.«

»Das ist mir in guter Erinnerung geblieben«, entgegnete Romy. »Es geht um den Mord an dem Berger Geschäftsmann Kai Richardt, der mehrere Frauen in seiner Gewalt hatte, auch Maria. Dürfen wir hereinkommen?«

Gunnar Bernburg gab nach kurzem Zögern die Tür frei. »Ich weiß zwar nicht, wie ich Ihnen weiterhelfen kann, aber … bitte.«

Er führte sie ins Wohnzimmer – ein karg eingerichteter Raum, in dem ein Fernseher mit gigantischen Ausmaßen und eine ebenso imposante Musikanlage die Atmosphäre bestimmten. Bernburg wies auf ein Ledersofa und nahm selbst in einem Sessel Platz. Ein Panoramafenster gab den Blick in den Garten frei.

»Ihre Frau ist nicht zu Hause?«, fragte Romy, als Bernburg sie auffordernd ansah.

»Nein, sie ist mit unserer Jüngsten unterwegs. Die Große ist bei einer Freundin.«

Er antwortet nur, um nicht unhöflich zu wirken oder um Zeit zu gewinnen, dachte Romy. »Wie haben Sie das letzte Wochenende verbracht, Herr Bernburg?«

Er lehnte sich zurück. »Warum fragen Sie?«

»Wir müssen Ihr Alibi überprüfen.«

»Wie bitte?«

»Reine Routine«, gab Kasper seinen an dieser Stelle immer wieder gern zitierten Lieblingssatz zum Besten.

»Warum brauche ich ein Alibi?«

»Weil Sie Vera Richardt kennen und ein starkes Motiv haben.«

Bernburg lachte kurz auf, aber das klang alles andere als fröhlich. »Verraten Sie mir doch mal, wer Vera Richardt ist?«

»Sie ist die Witwe von Kai Richardt.«

»Das klingt überzeugend. Und?«

»Und sie ist mit Marias Schwester in eine Berufsschulklasse gegangen. Die beiden waren immerhin so eng befreundet, dass Vera zu Ihrer Hochzeit eingeladen war. Damals hieß sie noch Sanddorn.«

Bernburg runzelte die Stirn und verschränkte die Finger ineinander. »Aha. Interessant. Schon möglich, nur für mich ist dieser Aspekt völlig neu …«

»Vera hat sie am letzten Samstag sehr spät angerufen. Es war schon Nacht«, behauptete Romy, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wahrscheinlich von einem öffentlichen Telefon aus. Wir werden das in Ihren Telefonverbindungen nachweisen. Sie hat Ihnen von einer Entdeckung hinter der Fischfabrik im Sassnitzer Hafen berichtet und gab Ihnen einen heißen Tipp.«

»Ich pflege nicht mitten in der Nacht zu telefonieren und mir heiße Tipps geben zu lassen.«

»Herr Bernburg – es hat überhaupt keinen Sinn, eine Tatsache leugnen zu wollen, die wir Ihnen nachweisen können.«

Romy war fest davon überzeugt, dass der Kontakt genau so zustande gekommen war, aber ihr war auch klar, dass sie sich auf dünnem Eis bewegte, solange der Nachweis der Telefonverbindung nicht eindeutig gegeben war. Und Bernburg wusste das. Da er souverän blockte, musste sie eine Möglichkeit finden, ihn aus der Reserve zu locken. Also pokerte sie – ähnlich wie manchmal beim Boxen – mit einer Stärke, die sie gar nicht besaß, in der Hoffnung, ihn so beeindrucken zu können, dass er eine Schwachstelle offenbarte. Und sei es nur für einen Moment.

Er lächelte dünn. Sie lächelte zurück.

»Es existieren Videoaufnahmen, die in dem Keller unter der Werkstatt gemacht wurden, in dem Kai seine Opfer gefangen hielt. Da der Mann eine weitere Entführung plante, nahm er die Kamera an jenem Samstag in Betrieb. Die Aufnahmen wurden auf seinen häuslichen Laptop überspielt, wo Vera sie entdeckte. Als Veras Mann die Werkstatt wieder verlassen wollte, wurde er überwältigt und gefangen genommen. Außer Ihnen gab es noch jemanden, der ein paar Fragen an ihn hatte und ihn im Verlauf der Befragung ziemlich übel zurichtete. Immerhin ließ er Kai am Leben.«

»Durchaus spannend, wenn auch ein bisschen verworren, aber warum erzählen Sie mir das alles?«

»Die technischen Möglichkeiten sind heutzutage beachtlich. Die damit verbundenen Fallstricke allerdings auch – was nicht immer in ausreichendem Maße beachtet wird«, fuhr Romy fort. »Vera Richardt, die ahnte, wo sich ihr seit dem Morgen verschwundener Mann befinden könnte, ist nachts in das Gebäude eingedrungen, um sich zu vergewissern, dass sie mit ihrer Vermutung richtig lag. Als sie die Kamera gefunden hatte, entschied sie sich – ähnlich wie ihr Mann am Morgen – ein paar herzliche Worte im Sinne einer kleinen Ansprache ins Mikro zu sprechen und freundlich zu winken. Sie sagte unter anderem, dass sie jemanden zu Kai schicken würde, der die Möglichkeit erhalten sollte, noch ein paar Fragen an ihn zu richten.«

»Das ist ziemlich albern.«

Romy nickte. »Finde ich auch, aber die Wirkung ist beträchtlich. Wir werden Ihnen diese Aufnahmen vorspielen, weil wir davon überzeugt sind, dass Vera Kontakt zu Ihnen aufgenommen hat – aller Wahrscheinlichkeit nach sogar anonym. Erzählen Sie uns doch einfach, was passiert ist.«

Bernburg winkte genervt ab. In dem Moment fuhr draußen ein Auto vor. Kinderstimmen erklangen. Gunnar sah auf die Uhr.

»Meine Frau und die Kinder«, sagte er. »Kommen Sie bitte zum Ende. Wenn Sie nichts weiter haben als diese albernen Hirngespinste, dann möchte ich Sie bitten zu gehen.«

»Am Tatort wird es Indizien geben, die Sie nicht leugnen können, Herr Bernburg.«

»Toll. Dann kommen Sie wieder, wenn Sie die haben.«

»Spuren, die Sie nicht vernichten können – so wie den Brief Ihrer Frau. Wie leben Sie eigentlich mit dem ständigen Wissen darum?«

Bernburg erstarrte. Einen Augenblick befürchtete Romy, dass er sich auf sie stürzen würde. Dann klappte die Haustür, und er zuckte zusammen.

Eine Frauen- und zwei helle Mädchenstimmen erklangen. Ein vielleicht zwölfjähriges Mädchen stand kurz darauf in der Tür und lächelte. Sie hielt einen Käfig im Arm. Gunnar Bernburg stand rasch auf und ging ihr entgegen.

»Hallo, Papa, Balu geht es viel besser. Er verliert auch kein Fell mehr. Der Tierarzt meint …« Sie brach ab. »Du hast Besuch.«

»Ja, der geht gleich wieder, Schatz«, versicherte Bernburg ihr und tätschelte ihre Schulter.

Romy und Kasper erhoben sich ebenfalls. Wir kommen bald wieder, dachte die Kommissarin und betrachtete den Käfig, in dem ein Zwerghase saß und mit großen schwarzen Knopfaugen vor sich hinstarrte.

»Der ist ja süß«, sagte sie. »Darf ich den mal anfassen?«

Das Mädchen war überrascht, nickte aber sofort. »Na klar. Balu ist total lieb.«

Der Hase hatte seidiges Fell und mümmelte mit zuckendem Näschen zufrieden vor sich hin, während Romy ihn ausgiebig streichelte. Gunnar Bernburg war inzwischen in den Flur gegangen, wo er einige Worte mit seiner Frau und der anderen Tochter wechselte, die daraufhin auffällig eilig hinter einer Tür verschwanden.

Zwei Minuten später standen Romy und Kasper vor dem Haus. Schneider kratzte sich am Hinterkopf. »Der lässt sich nicht einfach so mitnehmen, und auf die Schnelle kriegen wir keinen Haftbefehl. Wir brauchen was Handfestes.«

»So ist es.« Romy nestelte eine Tüte aus ihrer Jacke. »Oder auch was Seidiges.«

»Bitte?«

»Ich habe mir Haare von Balus Seidenfell besorgt«, erklärte sie. »Möller berichtete letztens, dass auf Kais Knebel Tierhaare gefunden wurden. Wir lassen die sofort mit denen hier vergleichen. Und wenn das ein Treffer ist …«

»Verstehe.« Kasper griff zu seinem Handy und nickte in Richtung der Greifswalder Kollegen. »Die Jungs haben sicher nichts dagegen, eine Tour ins Institut zu machen, während wir hier warten.«

 

Ein Polizeifahrzeug fuhr davon, ein Zivilwagen wartete vor dem Haus. Gunnar war davon überzeugt, dass sie dort länger stehen bleiben würden. Er verschanzte sich in seinem Werkzeugkeller.

Die innere Ruhe am Sonntagmorgen war wundervoll gewesen, aber ebenso trügerisch. Seit dem Besuch der Kommissarin am Mittwoch schlief er kaum noch – obwohl ihre Fragen an dem Tag vergleichsweise harmlos gewesen waren und nichts mit ihm persönlich zu tun gehabt hatten. Aber allein die Tatsache, dass die Ermittlungen zu ihm geführt hatten, war beunruhigend gewesen.

Vera hatte ihren Namen nicht genannt und sich als alte Freundin ausgegeben, als sie in der Nacht anrief – eine Freundin, an die er sich nicht erinnerte, auch nicht, als über das Verbrechen in der Zeitung berichtet wurde und er auf gut Glück mit Herbrechts Handy bei den Richardts anrief. Es war dieselbe Stimme wie in der Nacht zum Sonntag – mehr erkannte er nicht. Von der erschütternden Verbindung zu Claudia und Maria hörte er zum ersten Mal. Als gäbe es bei all dem nicht genug Erschütterndes.

Gunnar hatte zunächst gar nicht ans Telefon gehen wollen, aber der Ärger über einen rücksichtslosen nächtlichen Anrufer war stärker gewesen. Mit einigen saftigen Kraftausdrücken auf der Zunge nahm er den Hörer ab.

»Ich bin eine alte Freundin der Familie«, sagte eine leise Frauenstimme. »Und ich würde Ihre Nachtruhe nicht stören, wenn es nicht sehr wichtig wäre.«

Gunnar wollte sofort wieder auflegen.

»Ich weiß, wer Ihre Frau entführt und gequält hat«, fuhr die Frauenstimme fort. »Maria. Sie nahm sich 1995 das Leben, nachdem sie sich in der Gewalt eines Verbrechers befunden hatte.«

Gunnar schnappte nach Luft. »Wer sind Sie und wie kommen Sie darauf …?«

»Eine sehr gute, alte Freundin. Alles andere spielt keine Rolle. Vertrauen Sie mir. Fahren Sie nach Sassnitz, noch heute Nacht. Im Hafen hinter der Fischfabrik stehen mehrere verlassene Gebäude. Im hintersten gibt es eine Werkstatt – im Keller darunter finden Sie einen Mann vor: gefesselt und geknebelt. Er ist heute jemandem begegnet, der einige Fragen an ihn hatte. Das habe ich zufällig in Erfahrung gebracht. Sie sollten sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Fragen Sie ihn, was er mit Maria gemacht und warum er Ihre Ehe zerstört hat.«

»Warum …?«

»Er hat es verdient. Sie haben es verdient. Das ist nur gerecht.« Dann klackte es in der Leitung.

Gunnar schüttelte den Kopf, als wollte er einen wirren Traum abschütteln. Aber es gelang ihm nicht. Eine Stunde später ging er schlafen. Keine Stunde darauf stand er wieder auf und machte sich auf den Weg, obwohl er sein Vorhaben für völlig verrückt und zudem riskant hielt. Er konnte nicht ausschließen, dass ihm jemand einen bösen Streich spielte.

Andererseits … ja, wenn die Frau recht hatte, wäre die Gelegenheit einmalig. Er hat es verdient, ich habe es verdient. Vielleicht ist dies die Möglichkeit, alles zu einem Ende zu bringen. An Mord hatte er in dem Moment gar nicht gedacht. Fragen stellen, Antworten verlangen, die Vergangenheit ein letztes Mal hochkochen und den Brief dann endlich vergessen können. Sonst was hätte er dafür gegeben. Aber es hatte wieder nicht geklappt.

Gunnar setzte sich an die zerkratzte Werkbank und nahm sich aus einer Schublade Block und Stift. Ohne ein einziges Mal abzusetzen, schrieb er Marias Abschiedsbrief nieder.

Er benötigte keine zehn Minuten, riss die Seiten vom Block, faltete sie und verstaute sie in seiner Hosentasche. Kurz darauf klopfte es an der Tür.

»Die Polizei will dich noch einmal sprechen«, sagte seine Frau mit gepresster Stimme.

Er ging an ihr vorbei, ohne sie anzusehen.

 

Die Haarprobe war ein Treffer gewesen. Gunnar hatte sich ohne weitere Gegenwehr oder fadenscheinige Diskussionen nach Bergen mitnehmen lassen. Seine Schweigsamkeit und der nachdenkliche, fast starre Gesichtsausdruck standen in deutlichem Gegensatz zu seinem anfänglichen Verhalten.

Romy hatte vorgehabt, ihm das Video mit Veras Ansprache vorzuspielen, aber als sie die Starttaste betätigen wollte, sah Bernburg sie an und schüttelte den Kopf.

»Seit damals verfolgt mich der Brief«, begann er. »Natürlich gab es ihn. Ich habe ihn gelesen, vernichtet und geleugnet. Und er lässt mich nicht los. Immer noch nicht.« Er verschränkte seine Hände. »Ja – Vera hat mich angerufen, ohne dass mir die Verbindung zu Maria bewusst war, und sie war glaubwürdig und überzeugend. Ich konnte natürlich nicht widerstehen und wollte den Mann sehen, der mein und Marias Leben zerstört hat. Und ich wollte ihm Fragen stellen. An etwas anderes habe ich nicht gedacht.«

»Wann sind Sie dort angekommen?«

»Es war sehr früh, vielleicht halb sechs Uhr, das weiß ich nicht so genau«, antwortete Gunnar. »Kai Richardt war in einem üblen Zustand. Ich dachte zunächst, er wäre längst tot … Aber plötzlich schlug er die Augen auf. Er war sichtlich erleichtert, mich zu sehen, weil er annahm, seine Rettung stünde bevor. Ich habe ihm den Knebel abgenommen und ihm etwas zu trinken gegeben.«

»Sie hatten vorsorglich ein Getränk dabei?«, fragte Romy verwundert.

»Oben in der Werkstatt stand eine Flasche. Ich habe sie geholt, weil er solchen Durst hatte und kaum sprechen konnte, so trocken war sein Hals.«

Romy starrte ihn an.

»Ja, ich weiß, das klingt merkwürdig«, gab Gunnar zu. »Aber … so war es. Irgendwie bizarr. Dann habe ich ihm gesagt, wer ich bin und was ich will.«

»Wie hat er reagiert?«

»Fassungslos und entsetzt. Schließlich fing er an, alles abzustreiten. Damit hatte ich, ehrlich gesagt, gar nicht gerechnet, und sein Verhalten hat mich zunehmend verunsichert. Ich geriet plötzlich ins Wanken und fragte mich, wie ich so leichtgläubig und dumm gewesen sein konnte, einer wildfremden Anruferin und ihrem angeblichen Wissen Glauben zu schenken und mitten in der Nacht auf Verbrecherjagd zu gehen. Andererseits …«

Romy nickte. »Ich verstehe. Und wie haben Sie sich Gewissheit verschafft?«

Bernburg griff in seine Hosentasche. »Ich kann Marias Brief Wort für Wort auswendig. Ich habe ihn zitiert und vorhin aufgeschrieben.«

Er atmete tief durch und gab der Kommissarin die dicht beschriebenen Seiten:

Ich ertrage Deine Scham nicht, Deine Scham und Deine Verachtung, las Romy. Hure steht nur mühsam verschleiert in Deinen Augen, und Du senkst den Blick, wenn ich Dich ansehe und um Zärtlichkeit, Trost und Wärme flehe. Vielleicht hast Du doch eine Wahl gehabt, denkst Du immer wieder. Ich spüre den Gedanken, auch wenn Du versuchst, ihn zu verbergen. Wer weiß, wo Du dem Mann begegnet bist und wie Du ihn angestachelt hast, flüstert es in Dir. Aber der hat sich an meiner Furcht ergötzt. Das war der Stachel, der ihn getrieben hat. Nur deswegen war ich dort. Meine Seele ist gesplittert, sie hat sich in reine Angst verwandelt, und die Dunkelheit lässt mich nicht wieder los.

Romy war zutiefst erschüttert. Sie ließ die Worte einen Augenblick nachklingen, bevor sie hochblickte und Bernburg ansah. »Was hat er dazu gesagt?«

Gunnar überlegte lange. »Gar nichts. Er hat gar nichts gesagt. Aber plötzlich hat er gelächelt. Ein wissendes, verträumtes Lächeln. Das habe ich nicht ertragen – das war das Letzte, was ich ertragen konnte. Ich hörte, wie etwas in mir mit einem lauten Splittern zerbrach, und habe ihm mit der Wasserflasche einen Schlag verpasst. Dass er tot war, spürte ich sofort, aber meine Hoffnung, nun endlich Ruhe zu finden vor der Vergangenheit, war absurd. Ich hätte es besser wissen müssen …«

Die Hoffnung, durch das Vernichten eines Menschen Ruhe zu finden, ist immer absurd, dachte Romy. Glücklicherweise. Andererseits – Gunnars Reaktion war diejenige, die sie am ehesten nachvollziehen konnte.