9

Die Schwäne sangen tatsächlich. Steffen hatte angenommen, Tim hätte ihm einen Bären aufgebunden. So wie er den Drigge-Vorschlag nicht hundertprozentig ernst genommen hatte. Aber Tim hatte ihn sogar abgeholt, und Steffen musste seinen Wagen stehen lassen.

»So unauffällig wie möglich«, meinte er, und Steffen hatte sich eine Erwiderung gespart.

Was sollte er auch sagen? Tim wollte ihn in Sicherheit bringen, weil er ihn entweder immer noch für den Mörder hielt und darum schützen wollte oder es selbst gewesen war und nun befürchtete, dass Steffen bei weiteren Nachforschungen ins Visier der Polizei geraten könnte. So einfach war das.

»Sie überprüfen alles Mögliche«, hatte er später noch hinzugefügt, als sie bereits über die Brücke gefahren waren. »Auch Telefonverbindungen und den ganzen Kram. Vergiss nicht, dass du der anonyme Anrufer warst.«

»Nein, vergesse ich nicht.«

Der kleine Bungalow befand sich am äußeren Rand der Siedlung: ein beschauliches Gartenidyll, wie Steffen es gar nicht mochte. Er würde hier mehr Ruhe finden, als ihm lieb war. Immerhin war die Ausstattung erfreulich: Radio und Fernseher, moderne Küchenzeile und Duschbad. Der Wohnraum mit der abgetrennten Schlafecke war gemütlich, und die üblichen Bilder von Schiffen und Naturlandschaften ließen sich gut ertragen. Es gab sogar einen Kamin.

Als Tim aufgebrochen war, unternahm Steffen einen ersten Erkundungsspaziergang – zum Strelasund, wo kleine Boote träge auf dem Wasser schaukelten und Dutzende von Schwänen von einer Bucht in die nächste schwammen. Singend und schnarrend wie Wale. Ein betörendes Geräusch.

Steffen bekam eine Gänsehaut. Er wagte kaum sich zu rühren. Irgendwo hatte er mal gehört, dass Schwäne sehr ungemütlich werden konnten, wenn sie sich bedroht fühlten. Ich bedrohe euch nicht, dachte er wortlos. Den Typen habe ich bedroht, bis er auf den Knien vor uns lag. Und halbtot geprügelt oder besser: vierteltot, denn einen Teil hatte Tim übernommen – mindestens. Steffen hatte gar nicht gewusst, dass ein Läufer derart zuschlagen konnte.

Später briet er sich Spiegeleier mit Speck und aß vor dem Fernseher. Er ließ den Apparat die ganze Nacht laufen, um die Stille zu übertönen. Aber die Erinnerungen kamen trotzdem. Als ob sie wüssten, dass er ihnen an jedem Ort schutzlos ausgeliefert war.

 

Tim war weiß wie eine Wand gewesen, und er hatte heftig gezittert. In dem Moment, als er den Mann fixierte und die Zähne aufeinanderbiss, wusste Steffen plötzlich, dass das Spiel, wenn es denn je eins gewesen war, vorbei war – und dass er nicht mehr aussteigen konnte. Das war er dem Freund schuldig. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn – wie Schüttelfrost. Er schämte sich dafür und hatte Mühe, es zu ignorieren.

»Es hat dich wirklich niemand gesehen?«, flüsterte Tim, während sein Blick starr auf den zusammengekrümmten Kai Richardt gerichtet blieb, der mit schreckgeweiteten Augen zu ihm hochsah.

»Nein, niemand – er hat die Tür geöffnet, ich habe ihm auf die Fresse gehauen, ihn gefesselt und geknebelt.« Steffen gab seiner Stimme einen betont schnoddrigen Klang.

»Nachdem ich die Handschuhe angezogen habe«, versicherte er. »Wie abgesprochen. Ich will mich ja an dem nicht schmutzig machen. Was jetzt?«

»Das hängt von dem Arschloch ab«, sagte Tim und griff in die Innentasche seiner Jacke, um ein Foto herauszuholen. Er ging in die Hocke, packte den Mann und setzte ihn aufrecht hin. Dann hielt er ihm das Bild vor die Nase.

»Mirjam. Meine Mirjam. Du kennst sie«, sagte Tim mit bebender Stimme. »Und du hast gewusst, dass wir damals zusammen waren, stimmt’s? War dir das vor fünf Jahren auch schon klar?«

Der Mann sagte nichts, er machte auch keine Anstalten, gegen den Knebel anzureden.

»Du hast sie beobachtet und beschattet wie ein Stalker, nur unauffälliger. War es ein besonderer Kick, dass es meine Frau war?«

Tim hob langsam den Kopf und sah zu Steffen hoch. »Er ist das Schwein, das Mirjam entführt, eingesperrt und tagelang missbraucht und gequält hat … Kai Richardt, ein Laufkollege. Kannst du dir das vorstellen?«

Bevor Steffen etwas erwidern konnte, holte Tim aus und schlug dem Mann mit voller Wucht die geballte Faust ins Gesicht. Sein Kopf flog zur Seite. Steffen hörte das Knacken des Nasenbeins, als es brach. »Du wirst mir jetzt alle Fragen beantworten, die ich dir stelle, kapiert?«, raunte Tim ihm zu.

Richardt stöhnte mit erstickter Stimme und deutete ein Nicken an. Tim richtete sich auf und zerrte ihn hoch, um ihn mit dem Rücken an die Wand zwischen zwei Kajaks zu lehnen. Seine Hose war im Schritt feucht.

»Machst du dich nass vor Angst?«, fragte Tim mit heiserer Stimme und riss ihm den Knebel herunter. »Täte ich an deiner Stelle auch. Wie oft hat Mirjam vor Angst gewimmert? Sag schon!«

Kai atmete hektisch. »Hör zu, Tim, ich …«

Tim stieß ihm das Knie in den Unterleib. »Nein, du hörst zu und beantwortest meine Fragen! Hast du das kapiert?«

Richardt hatte sich gekrümmt. Er keuchte. »Ja, ja …«

Red bloß, fuhr es Steffen durch den Kopf. Und red schnell! Der Gedanke gehört hier nicht her, dachte er und hoffte, dass er sich nicht auf seinem Gesicht abzeichnete.

Bis es vorbei war, verging mehr als eine Stunde. Sie brachten ihn nach unten, wo sie abwechselnd auf ihn eindroschen und Kai schließlich zugab, Mirjam in einem der Kellerräume gefangen gehalten zu haben. Als er gestand, in Erwägung gezogen zu haben, sie sogar ein zweites Mal zu entführen, nachdem er sie in der Kunstscheune gesehen und erkannt hatte, war Tim kurz davor, ihm den Schädel endgültig einzuschlagen. Aber er tat es nicht, und als Steffen es für ihn übernehmen wollte – damit es endlich vorbei war –, ließ er es nicht zu.

Sie fesselten und knebelten ihn, so dass er sich kaum rühren konnte. Richardt war blutverschmiert und völlig fertig. Er atmete flach. Steffen vermied es, ihn direkt anzusehen.

»Er bleibt hier, für zwei Tage. Montagmorgen rufen wir die Polizei«, sagte Tim erschöpft. »Bis dahin hat er genug Zeit, über seine Verbrechen nachzudenken – und zwar an dem Ort, an dem er sie begangen hat.«

»Und dann?«, fragte Steffen, der die Idee, Richardt in der Prora suchen zu lassen, bedeutend cooler fand, aber darum ging es Tim wohl nicht. Coolness war das Letzte, um das es hier ging.

»Werde ich dafür sorgen, dass alle erfahren, was dieses Schwein angestellt hat. Und er wird sich verantworten müssen.«

Kurz darauf schlichen sie aus dem Gebäude und fuhren auf verschiedenen Wegen nach Stralsund zurück.

Steffen traf eine Dreiviertelstunde später zu Hause ein. Er stopfte seine Klamotten, einschließlich der Schuhe, in die Waschmaschine und setzte sich in die heiße Badewanne. Mehrmals schrubbte er sich von Kopf bis Fuß ab, säuberte seine Fingernägel und wusch sich zweimal die Haare. Das hatte Tim ihm ans Herz gelegt. Keine Spuren.

Man müsste sie auch aus dem Inneren herauswaschen können, dachte er, während das heiße Wasser an ihm herabrann. Und damit den Schrecken wegspülen und den tiefen Schmerz, der mit der Lust an Rache und Erniedrigung gerungen und gewonnen hatte.

Steffen wusste, dass er Richardts Blick, den er aufgefangen hatte, als sie die Treppe nach oben gegangen waren und er sich noch einmal nach ihm umgesehen hatte, niemals vergessen würde und auch nicht den verzweifelten halberstickten Schrei, der seitdem jede Nacht in ihm widerhallte. Wie ein gequältes Kind, in dem die Panik hochkochte, hatte der Mann ausgesehen.

Steffen hasste sich selbst dafür, diesem Frauenquäler sogar noch einen Funken Mitleid entgegenzubringen. Das durfte Tim niemals erfahren.

 

Romy legte den Hörer auf und sah zu Kasper hoch, der vor ihrem Schreibtisch stand.

»Das war der Stralsunder Kollege, der unseren Läufer beschattet und demnächst Feierabend macht«, erläuterte sie. »Tim Beier ist mit einem Bekannten, den er aus einer Sportlerkneipe abgeholt hat, nach Rügen gefahren – genauer gesagt: nach Drigge. Dort hat er den Mann in einem dieser Wochenend-Gartenhäuser abgesetzt und ist anschließend in seinen Laden zurückgekehrt.« Sie hob eine Braue.

Kasper machte ein nachdenkliches Gesicht. »Und wer ist dieser Bekannte?«

»Ein gewisser Steffen Brandt. Wie es aussieht, wohnt er im Dachgeschoss des Lokals. Überprüfung läuft bereits.«

»Wollen wir da heute noch tätig werden?«

»Gute Frage.«

Romy atmete tief aus – nach einigen Stunden intensiver Büroarbeit gab es nur noch drei Möglichkeiten für sie: Feierabend machen und zwei Stunden am Strand spazieren gehen, um den Kopf wieder frei zu bekommen, eine Runde Boxen oder noch einmal richtig aktiv werden. Womit sie keinesfalls gesagt haben wollte, dass man am Schreibtisch nicht aktiv sein konnte.

Sie hatte in den letzten Stunden ihre Gesprächsnotizen geordnet und ausformuliert und Max zur weiteren Bearbeitung überlassen sowie mehrere Telefonate geführt und einige Male versucht, Vera Richardt zu erreichen – was ihr nicht gelungen war –, während Kasper das Umfeld von Tim Beier ausleuchtete.

Vielleicht war die Verbindung zwischen den beiden Läufern enger, als es auf den ersten Blick schien. Doch wenn dem so war, hätte Mirjam Lupak Kai Richardt nicht zumindest flüchtig kennen müssen? Sie bestritt das – weder Name noch Gesicht sagten ihr irgendetwas, angeblich. Aber sie bestritt ja auch, nach ihrer Trennung noch Kontakt zu Beier gehabt zu haben. Warum?

»Wir sollten Tim Beier und seinen Kumpel morgen vernehmen – wenn wir frisch und munter sind.« Sie stand langsam auf. »Aber ich möchte heute noch mal mit der Witwe sprechen. Ich bin dafür, unangemeldet vor ihrer Tür zu stehen. Sie wird jetzt sicher zu Hause sein.«

»Hältst du das für sinnvoll?« Kasper sah sie prüfend an. »Seine erste Frau hat nichts von Richardts Entführungsaktivitäten mitbekommen, warum sollte …«

»Ricarda hat mehr mitbekommen, als ihr bewusst war«, unterbrach Romy ihn. »Sie zog nur andere Schlussfolgerungen, als wir es heute tun. Im Übrigen ist es höchste Zeit, Vera über ihren Mann aufzuklären.« Sie seufzte. »In seinem Arbeitszimmer würde ich mich ja gern mal genauer umsehen, aber ich fürchte, dass sie das nicht zulassen wird.«

»Sehe ich auch so, und für einen Durchsuchungsbefehl reicht es wohl noch nicht.«

Romy nickte. »Da hast du wohl recht.«

Kasper griff nach seiner Jacke. »Gut, ich komme mit.«

Romy lächelte. »Befürchtest du, dass ich …?«

»Ja.«

Sie waren schon fast aus der Tür, als Romy noch mal zurückging und Max bat, ihr ein Foto von Tim Beier aufs Handy zu schicken. »Findest du sicherlich im Internet – der hat ja eine eigene Website.«

Breder nickte. »Kein Problem. Noch was?«

Sie überlegte kurz. »Die Überprüfung von seinem Kumpel Steffen Brandt läuft noch – versuch doch mal vorab dein Glück. Vielleicht findet sich ja in den Tiefen des Netzes auch ein brauchbares Bild von ihm.«

»Schon verstanden.«

»Danke.«

Kasper sah Romy fragend an, als sie die Treppe hinuntergingen. »Denkst du, die Witwe kennt die beiden?«

»Fragen kostet nichts, auch wenn man sich nicht immer beliebt damit macht.«

 

Der Eingangsbereich war hell erleuchtet, und ein Wagen stand vor dem Haus. Romy spürte, dass jemand durch den Spion lugte, und als Vera Richardt die Tür öffnete, gab sie sich Mühe, ein ebenso unschuldiges wie freundliches Gesicht aufzusetzen.

»Sie schon wieder? Gibt es Neuigkeiten?«

Sie hält sich nicht mit langen Vorreden, geschweige denn auch nur höflichen Begrüßungsfloskeln auf, dachte Romy, während sie den abweisenden Blick der Frau über sich ergehen ließ.

»Ja, es gibt Neuigkeiten«, erwiderte Romy und nickte ihr zu. »Können wir hereinkommen?«

»Wenn es sein muss – bitte.«

Sie ging vor und führte die Kommissare diesmal ins Wohnzimmer. Das dunkelgrüne Kostüm saß perfekt, der Stoff knisterte leise. Sie sieht aus, als hätte sie noch was vor, dachte Romy. Andererseits sollte es ja Frauen geben, die grundsätzlich gut gekleidet herumliefen, auch wenn sie keinen Besuch erwarteten.

Romy ließ die Atmosphäre des protzig eingerichteten Raumes einen Moment auf sich wirken. Schwere Teppiche, helles Mobiliar und auffallend viele Lampen. Der Raum war lichtdurchflutet. TV- und Musikanlage waren vom Allerfeinsten.

Vera Richardt machte eine halbherzig einladende Bewegung in Richtung der Essecke. »Bitte, nehmen Sie Platz.«

Romy legte Notizheft und Ordner auf den Tisch. Irgendwo im Haus klappte eine Tür, und sie hörte leise Stimmen. Die Kinder, dachte sie. Kasper schlug ein Bein über das andere. Sie sah ihm an, dass er die Befragung für überflüssig hielt, zumindest zu diesem Zeitpunkt.

»Haben Sie ihn?«, fragte Vera Richardt und blickte Schneider an.

Romy spürte das Vibrieren ihres Handys und schätzte, dass die Fotos eingetroffen waren. Sie verschränkte die Hände ineinander.

»Nein, wir haben ihn noch nicht – wer auch immer er sein mag«, entgegnete sie.

Was genau hast du eigentlich gegen mich, fuhr es ihr durch den Kopf. Passen dir meine Fragen nicht, oder stört dich meine Nase? Oder ist es vielleicht doch eher die legere Lederkluft? Romy räusperte sich. »Aber wir haben einige unangenehme Neuigkeiten.«

Vera Richardt atmete tief durch. »Das erstaunt mich nicht.«

»Ich versuche, es kurz zu machen …« Romy öffnete den Ordner und entnahm ihm ein Foto von Mirjam Lupak, das sie der Witwe vorlegte. »Kennen Sie diese Frau?«

Vera Richardt schüttelte den Kopf, allerdings mit einem spürbaren Zögern. »Nein ... Ich meine …«

»Wir müssten es genau wissen.«

»Das ist mir klar, nur …« Eine ungesunde Blässe stahl sich über ihr Gesicht. »Nein, keine Ahnung. Ich erinnere mich jedenfalls nicht, ihr begegnet zu sein. Wer ist die Frau?«

»Sie wurde im Herbst 2005 entführt, gequält, vergewaltigt und anschließend wieder freigelassen. Den Täter konnte sie nicht erkennen und auch nicht den Ort, an dem sie gefangen gehalten wurde.«

Vera starrte sie mit geweiteten Augen stumm an.

»Wir gehen inzwischen davon aus, dass sie Opfer Ihres Mannes geworden ist«, erörterte Romy weiter.

Vera Richardt blieb stumm. Ihre Gesichtszüge wirkten wie eingemeißelt.

»Außer dieser Frau gab es zu früheren Zeitpunkten noch zwei weitere Opfer – eine hat Suizid begangen, eine zweite wurde in der Gefangenschaft getötet. Ihre Leiche fanden wir im selben Gebäude wie Ihren Mann.«

»Um Gottes willen!«, flüsterte Vera nun bestürzt. »Mein Mann ist ein Mörder?« Sie schlang ihre Finger ineinander. »Wie kommen Sie darauf, dass er so etwas getan haben könnte?«

»Dazu kann ich Ihnen im Moment nicht viel sagen«, wehrte Romy die Nachfrage ab. »Die Indizien mehren sich aber, so dass wir inzwischen von handfesten Verdachtsmomenten sprechen können und natürlich weiterermitteln müssen.«

»Ja … aber …?« Sie brach ab und sah erneut auf das Foto. »Ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht …«

»Nach so langer Zeit gestalten sich die Nachforschungen äußerst schwierig – wir haben nicht allzu viele Ansatzpunkte, die uns weiterführen«, erklärte Romy. »Einer besteht in der festen Annahme, dass Ihr Mann die Entführungen detailliert geplant hat, und das hinterlässt immer irgendeine Spur.«

»Wozu mir jetzt natürlich spontan etwas einfallen soll.«

»Wir bitten Sie nur, darüber nachzudenken, ob Ihnen im Nachhinein etwas zu denken gibt, was Sie seinerzeit nicht großartig hinterfragt haben«, erläuterte die Kommissarin vergleichsweise gelassen. »Vielleicht verhielt er sich in auffälliger Weise anders als sonst, ohne dass Sie eine schlüssige Erklärung dafür fanden – insbesondere als über den Entführungsfall in der Zeitung berichtet wurde ...«

Vera hob die Hände. »Das ist über fünf Jahre her! Und selbst wenn ich mich an so etwas erinnern würde – was nützt das denn jetzt noch?«

Stell dich doch um Gottes willen nicht so dämlich an, stöhnte Romy innerlich auf und befürchtete, dass der unfreundliche Gedanke deutlich lesbare Spuren auf ihrem Gesicht hinterließ.

Kasper räusperte sich. »Um die Fälle endgültig zu klären und die Akten tatsächlich schließen zu können, müssen wir ins Detail gehen, Frau Richardt«, entgegnete er besonnen. »Außerdem glauben wir, dass der Mörder Kenntnis vom Tun Ihres Mannes hatte.«

»Ach?« Sie lehnte sich zurück. »Wie kommen Sie denn darauf?«

»Seine Gewalttaten sind ein sehr starkes Motiv.«

»Aber wenn ich Sie richtig verstehe, vermuten Sie diesen Zusammenhang lediglich«, entgegnete sie kopfschüttelnd. »Es könnte sich doch auch ein brutaler Schläger ausgetobt haben.«

»Unwahrscheinlich.«

»Na ja … was heißt das schon? Sind Sie nicht gerade dabei, einen Zusammenhang zu konstruieren, der kaum überzeugender ist«, wandte Vera Richardt ein.

»Wir basteln uns keine wilden Geschichten zusammen, falls Sie das meinen, sondern versuchen nachzuvollziehen, was geschehen ist«, erwiderte Romy und bemühte sich erst gar nicht, die Heftigkeit in ihrer Stimme zu kaschieren. »Die Polizei geht jedenfalls davon aus, dass der Mörder auf eine Spur gestoßen ist – zufällig oder nicht zufällig –, und diese Spur müssen wir finden.«

Vera zuckte mit den Achseln.

»Bedenken Sie den anonymen Anruf«, ergriff Kasper wieder das Wort. »Das ist ein wichtiger Aspekt. Dem Anrufer war es sehr wichtig, dass wir Ihren Mann finden – dass wir ihn dort finden, am Ort seiner eigenen Verbrechen.«

Vera sah zum Fenster hinaus und wandte den Blick dann kopfschüttelnd wieder zurück. »Rache? Nach so vielen Jahren rächt sich jemand? Warum erst jetzt? Wie passt das denn zusammen?«

»Das ist eine ganz entscheidende Frage«, bemerkte Romy und zog ihr Handy aus der Tasche.

Max hatte drei Fotos geschickt. Zwei zeigten Tim Beier, eines war eine Aufnahme von Steffen Brandt, wie Breder erklärend hinzugefügt hatte. Er war auf der Website von Tim in der Fotogalerie fündig geworden. Steffen Brandt arbeitete in dem Vereinslokal, in dem Tim sich regelmäßig mit seinen Lauffreunden traf, und war bei der letzten Weihnachtsfeier mit abgelichtet worden.

Romy reichte der Witwe ihr Handy. »Sehen Sie sich bitte mal die Fotos an. Sagen Ihnen diese Gesichter vielleicht etwas?«

Vera Richardt betrachtete die Aufnahmen von Tim Beier nur kurz und nickte sofort. »Ja, den kenne ich. Mit dem hat Kai manchmal zusammengesessen, um Läufe zu organisieren.« Sie klickte aufs nächste Bild und stutzte. »Bei dem bin ich mir nicht sicher, aber ich habe den Eindruck, dass ich ihn schon mal gesehen habe, und zwar in letzter Zeit.«

»Das ist ein Freund oder Bekannter von Tim Beier«, erklärte Kasper.

Die Witwe schüttelte den Kopf. »Nein, in dem Zusammenhang ist er mir nicht aufgefallen. Ich glaube …« Sie sah plötzlich hoch. »Ja, jetzt fällt es mir wieder ein: Der stand neulich mit seinem Wagen hier in der Straße, nicht weit von unserem Haus entfernt.«

»Wie bitte?« Romy beugte sich vor. »Und daran erinnern Sie sich?«

»Er saß in einem alten 500er Fiat, wie man ihn nicht mehr häufig zu Gesicht bekommt, und telefonierte«, berichtete Vera. »Ich war im Garten und habe kurz hinübergesehen. Ich bin ziemlich sicher, dass es sich um den Mann handelte, dessen Foto Sie mir gezeigt haben. Wenig später war er verschwunden.«

Interessante Beobachtung, dachte Romy, sogar sehr interessant. Sie spürte, dass sich ihr Puls beschleunigte. »Können Sie sich noch an den Tag erinnern?«

»Nein, nicht genau. Irgendwann letzte Woche. Kai fuhr ins Geschäft, und kurz darauf brach der Fiatfahrer ebenfalls auf.«

»Haben Sie mit Ihrem Mann darüber gesprochen?«

»Nein, warum sollte ich? Die Tatsache bekommt ja offensichtlich erst jetzt eine Bedeutung. Ich hätte nie wieder darüber nachgedacht, wenn Sie mir das Foto nicht gezeigt hätten.«

»Und der Mann ist Ihnen nur einmal hier in der Straße aufgefallen?«

Vera zögerte. »Ich glaube schon, aber ich könnte es nicht beschwören. Vielleicht stand er öfter hier, ohne dass ich ihn bemerkte.«

Romy hob eine Braue und sah Kasper an. Der nickte unmerklich.

»Das könnte ein wichtiger Hinweis sein«, sagte Romy. »Noch eine Frage, wenn Sie erlauben.«

Die Witwe verzog den Mund. »Sie werden sich kaum davon abhalten lassen.«

Romy lächelte liebenswürdig, auch wenn es ihr schwerfiel.

»Egal, mit wem wir sprachen, bei unseren Befragungen wurde immer wieder betont, dass Ihr Mann ein Macher war – jemand, der allein bestimmte, wo es langging, und sich nicht reinreden ließ, sowohl im Job als auch privat.«

Vera Richardt verschränkte die Arme. »Und?«

»Kai Richardt war immer tonangebend und hatte sehr klare Vorstellungen, nach welchen Kriterien und Regeln er seinen Alltag gestaltete, seine Aufträge und Geschäfte abwickelte«, erklärte die Kommissarin langatmig. »Er war grundsätzlich der Chef und diskutierte darüber auch nicht.«

»Ja, ich hab’s verstanden. Und worauf wollen Sie hinaus?«

»Sein Arbeitszimmer war stets abgeschlossen«, fügte Romy nach kurzer Pause mit unschuldiger Miene hinzu. »Er wollte immer sichergehen, dass niemals jemand in seinen Sachen herumwühlte oder ohne seine ausdrückliche Erlaubnis seinen persönlichen Bereich auch nur betrat, geschweige denn sich dort umsah. Das konnte er nicht ausstehen, wie man uns sehr eindringlich versicherte.«

Vera Richardt wippte mit einem Fuß. »Ich bin gespannt auf Ihre Frage.«

Kasper sah Romy neugierig von der Seite an. Ihm schien es ähnlich zu gehen wie der Witwe.

»Als wir Sie am Sonntagabend baten, uns unter anderem den Laptop Ihres Mannes zu überlassen, sind Sie, ohne zu zögern, nach oben gegangen – in sein Zimmer«, erläuterte Romy. »Warum war es an dem Abend nicht abgeschlossen? Ihr Mann hatte seine Schlüssel bei sich, wie wir festgestellt hatten.«

Ein winziges Aufblitzen erleuchtete Vera Richardts Augen für Sekundenbruchteile.

»Es war abgeschlossen«, erwiderte sie dann ruhig. »Aber es gibt natürlich einen Zweitschlüssel – so wie es logischerweise für alle Räume Zweitschlüssel gibt.«

Romy nickte. »Ach so.« Sie hielt Vera Richardts Blick fest. »Und wo genau befand der sich?«

Die Witwe hob das Kinn. »Ist das Ihr Ernst?«

»Unbedingt.«

»Wir haben im Werkzeugkeller einen Schlüsselschrank. Dort hing er neben all den anderen Zweitschlüsseln. War es das jetzt?«

»Ja, fürs Erste – danke, Frau Richardt. Wir finden selbst hinaus.«

Zwei Minuten später standen sie vor dem Haus. Es war inzwischen dunkel. Vom Bodden stieg kühle Nachtluft auf. Das Wiehern eines Pferdes drang an Romys Ohr.

»Was sollte das mit dem Arbeitszimmer?«, fragte Kasper, und die Verwunderung war seiner Stimme deutlich anzuhören.

»Die Sache mit dem Abschließtick ist bei dem Telefonat mit Ricarda hängengeblieben. Sie hat sehr betont, wie wichtig Richardt sein eigener Bereich war«, erläuterte Romy. »Außerdem erinnere ich mich, wie der Junge am Sonntag seiner Mutter zurief, dass sie ›Papas Zimmer‹ nicht betreten dürfe. Und sie ist flott nach oben und nicht etwa in den Keller gegangen, um den Zweitschlüssel zu holen. Also war sie bereits vorher in seinem Zimmer.«

»Ja, mag sein. Wahrscheinlich hat sie einen Blick auf seinen Schreibtisch geworfen, um doch Hinweise auf den Verbleib ihres Mannes zu erhalten. Würdest du das nicht tun?«, gab Kasper zu bedenken.

Romy stöhnte leise auf. »Schon gut. Vergiss es – ein Detail, das hängengeblieben ist. Manchmal sind es diese Kleinigkeiten, die irgendwann noch einmal wichtig werden, wie zum Beispiel die Sache mit der vollständig formatierten Festplatte.«

»Oder die endgültig unter den Tisch fallen und dort auch hingehören.«

»Richtig. Auch das ist möglich«, stimmte Romy zu.

»Der Hinweis auf Steffen Brandt ist allerdings wichtig gewesen«, sagte Kasper. »Verdammt wichtig. Insofern gratuliere ich dir zu der Entscheidung, die Witwe noch mal zu befragen.«

Romy grinste. »Danke, Kollege. Das tut jetzt richtig gut.«

 

Er war vor dem Fernseher eingeschlafen und schreckte hoch, als sein Handy klingelte. Marko Buhl stand auf dem Display. Kasper stellte die Verbindung her und gleichzeitig den Fernseher leise.

»Komm morgen früh mal am Hafen rum«, sagte Buhl, ohne sich vorzustellen.

Kasper setzte sich unterdrückt gähnend auf und spähte zur Uhr. Kurz nach neun. Er war gleich nach dem Essen eingepennt. Das durfte man ja auch keinem erzählen. »Was Neues?«

»Nicht unbedingt.«

»Sag schon, was los ist.«

»Ich habe mir noch mal den ganzen Kram in den Kellern vorgenommen. Da ist genügend Zeug dabei, mit dem man einen Raum einrichten kann: sogar ein altes Bettgestell und eine kleine Badewanne – na ja, eher eine Waschschüssel.«

Kasper war plötzlich hellwach. »Aha. Und? Spuren?«

»Möglich. Ich konnte Reste von Seilenden sichern, mit denen die Frauen unter Umständen gefesselt waren.«

»Du bist gut«, sagte Kasper. »Ich guck mir das morgen an.«

»Jo. Mach das. Ich bin gegen sieben da.«

Kasper konnte lange nicht einschlafen.