Romy war unzufrieden, als sie im Kommissariat eintraf – und das war eine geschönte Umschreibung. Andererseits: Was hatte sie erwartet? Dass Bernburg ihr reuevoll einen sechzehn Jahre alten Brief präsentierte, der wichtige Details offenbarte, die es ihr ermöglichten, innerhalb weniger Stunden den Fall komplett zu lösen? Tagträumerin, schimpfte sie lautlos.
Sie stapfte schnurstracks in ihr Büro und schloss die Tür mit herzhaftem Schwung. Die Nummer von Ricarda Meinold stand in ihrem Notizheft. Sie atmete dreimal tief durch und wollte gerade wählen, als Kasper anklopfte und eintrat.
»Greifswald war wohl nicht so toll«, stellte er fest. Er blieb stehen und lehnte sich an den Türrahmen.
»Sagen wir so: Die Exkursion hat nichts Neues ergeben. Und dass Maria Bernburg, wie ich den Erläuterungen der besten Freundin entnehmen konnte, ganz sicher mit Kai Richardt zusammengetroffen ist … nun ja, diese Tatsache haut mich nicht gerade vom Hocker. Darauf hat uns ja schon Max hingewiesen.« Sie hob beide Hände und ließ sie wieder sinken. »Ein Verdachtsmoment, der sich bestätigt hat, mehr nicht.«
Kasper ließ sie nicht aus den Augen. »Und was haut dich vom Hocker?«
»Die Erläuterungen der Freundin, dass Maria bei den Büroumbauarbeiten gemeinsam mit Richardt richtig kreativ bei der Sache war und Spaß hatte«, antwortete sie ohne Zögern. »Das macht mir üble Magenschmerzen, wenn ich ehrlich bin. Und der erwähnte Abschiedsbrief, auf den ich ein bisschen gehofft hatte, bleibt weiterhin verschwunden, weil ein Ehemann seiner Frau nicht verzeiht, dass sie vergewaltigt wurde. Toll, was?«
Sie hörte selbst, wie wütend und aufgebracht ihre Stimme klang. Professionell distanziert war etwas anderes. Aber in dem Fach war sie noch nie besonders gut gewesen. Und dass sie Bernburg die Unterschlagung des Briefes unbewiesen vorwarf, würde jeden Juristen in schallendes Gelächter ausbrechen lassen – wenn er Humor hatte.
»Ach so ist das«, meinte Schneider ruhig. »Hak mal den Termin ab, Romy.«
Sie sah ihn an. Romy sagte er selten.
»Du bist nämlich auf dem richtigen Dampfer«, fuhr er fort. »Leider, wie ich in dem Fall finde.«
»Was?«
»Die Verbindungsnachweise von Tim Beiers Handy sind gerade eingetroffen – Fine hat da Dampf gemacht. Der Junge hat am Montag mit Mirjam Lupak telefoniert, wie Max gerade herausgefunden hat. Besser gesagt: Er hat am Morgen in der Tierarztpraxis angerufen, in der sie arbeitet. Und das ist nur aufgefallen, weil Max die Daten so penibel auflistet.«
Romy ließ sich tief in ihren Sessel zurückfallen. »Am Montagmorgen? Wow! Hast du schon was veranlasst?«
Kasper nickte. »Der Oberstaatsanwalt hat freundlicherweise vorhin nachgefragt, ob wir irgendwie Hilfe brauchen, und da hab ich glatt mal ja gesagt. Nun beschattet ihn ein Kollege aus Stralsund.«
»Aber warum …«
»Weil die Stimmenanalyse ergeben hat, dass Tim Beier nicht der anonyme Anrufer war«, antwortete Schneider, noch bevor Romy ihre Frage ausformulieren konnte. »Vielleicht hast du recht, und es gibt einen Kumpel, zu dem er uns hinführt. Wenn wir ihn zu früh erneut aus dem Verkehr ziehen, ist er gewarnt, und wir vertun diese Chance.«
»Das stimmt. Hm. Mirjam hat einen Kontakt zu Tim ebenfalls geleugnet … Darüber wird noch zu sprechen sein.«
»Glaube ich auch.«
»Gibt es schon weitere Ergebnisse aus Greifswald?«
»Nö. Da müssen wir noch ein bisschen Geduld haben.« Er nickte ihr zu und wandte sich zur Tür um. »Bis später.«
Romy wartete, bis sie den Eindruck hatte, dass sich ihre aufgeregte Stimmung zumindest etwas gelegt hatte, dann wählte sie Ricardas Telefonnummer. Wie sie nicht anders erwartet hatte, reagierte Richardts Exfrau abweisend.
»Frau Meinold, es ist mir klar, dass Sie keine Lust haben, mit mir zu reden, schon gar nicht über Kai Richardt, aber ich kann Ihnen das nicht ersparen«, unterbrach Romy zügig Ricardas blasierte Was-wollen-Sie-denn-schon-wieder-Reaktion.
»Außerdem möchte ich, dass Sie Ihr Einverständnis erklären, dass wir dieses Telefonat aufzeichnen dürfen«, fügte sie hinzu.
Ricarda Meinold lachte kurz auf, und das klang alles andere als heiter. »Meine Güte, natürlich nicht! Warum sollte ich dem zustimmen?«
Romy spürte ein Kribbeln im Nacken und in den Fingern. »Ganz einfach: Weil ich sonst das Berliner LKA um Amtshilfe bitten müsste. Dann würde man Sie vor Ort vernehmen. Mit allem Drum und Dran«, erklärte sie so sachlich wie nur irgend möglich. »Stattdessen können Sie aber auch mit mir telefonieren. Das ist wesentlich bequemer, unaufwendiger und wahrscheinlich sogar angenehmer – womit ich den Berliner Kollegen jetzt aber keinesfalls zu nahetreten will. Allerdings, wie gesagt, benötige ich Ihre Zustimmung zur Aufzeichnung. Sie haben die Wahl. Entscheiden Sie sich bitte jetzt.«
Daraufhin schwieg Ricarda eine ganze Weile.
»Frau Meinold?«
»Ja – zeichnen Sie auf«, entgegnete sie plötzlich scharf. »Ich kann nur hoffen, dass Sie einen hinreichenden Grund für diese Maßnahme haben.«
»Und ob«, bestätigte Romy übertrieben liebenswürdig. »Es gibt nämlich ein paar neue Erkenntnisse, über die ich unbedingt mit Ihnen sprechen muss.«
»Dann legen Sie mal los. Aber bedenken Sie bitte, dass ich heute noch was anderes zu tun habe, als mit der Bergener Polizei über meinen Exmann zu sprechen, den ich vor zehn Jahren das letzte Mal gesehen habe.« Das klang nicht nur dezent pampig.
»Oh, keine Sorge, ich bedenke das selbstverständlich, aber es könnte durchaus sein, dass Sie nach unserem Telefonat nicht mehr ganz so viel Elan haben … Sagt Ihnen der Name Beate Lauber etwas?«
»Nein. Wer soll das sein?«
»Eine junge Frau, die Kai Richardt ziemlich auf die Füße getreten ist. Dabei ging es um eine Hotelsanierung in Glowe, Ende 1999, Anfang 2000«, schilderte Romy. »Hinz Posall, ein Freund oder besser gesagt Bekannter aus Lübecker Tagen, hat das Hotel nämlich kräftig in die roten Zahlen gewirtschaftet. Kommt Ihnen da irgendwas bekannt vor? Und können Sie etwas dazu sagen?«
»Ja.«
Romy glaubte, sich verhört zu haben. »Bitte?«
»Ja, ich kannte Hinz Posall, das heißt, ich habe ihn mal kennengelernt«, bestätigte Ricarda Meinold. »Der hat geschäftlich kein gutes Händchen bewiesen, obwohl er vom Fach ist und im Hotel von Richardts Eltern gearbeitet hat, wie Sie ja sicherlich auch schon in Erfahrung gebracht haben. Kai hat kaum über Geschäftliches mit mir gesprochen, aber ich weiß noch, dass er sich ziemlich über die Geschichte aufgeregt hat, weil er sich kurz nach der Wende dafür starkgemacht hatte, dass Posall das Hotel kriegt.«
»Genau das ist der Punkt«, meinte Romy. »Das Hotel gehörte nämlich zu DDR-Zeiten, genauer bis 1953, einem gewissen Heinrich Lauber, dem Großvater von Beate. Der Mann ist dann mehrfach ziemlich über den Tisch gezogen worden – mal von der einen, mal von der anderen Seite, um es mal lapidar auszudrücken und die äußerst unerfreulichen Einzelheiten außen vor zu lassen. Jedenfalls hat seine Enkelin, die im Sommer 2000 zu Besuch war, Hinz und Kai kurzerhand im Hotel aufgesucht und ihnen deswegen eine heftige Szene gemacht.«
»Kai lässt sich eine Szene machen? Noch dazu in Anwesenheit eines anderen? Das haben nicht viele gewagt. Gratuliere«, gab Ricarda trocken zurück.
»Würde ich so nicht ausdrücken wollen, Frau Meinold. Beate Lauber verschwand nämlich ein paar Wochen später.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Die Geschichte dürfte zeitlich ungefähr mit der Trennung von Ihrem Mann zusammenfallen, nicht wahr?«, überging Romy die Nachfrage.
»Ja, das stimmt. Unsere Beziehung lag in den letzten Zügen. Im Sommer hatten wir unseren großen Krach …«
»Was genau heißt das?«
»Ein lauter, unerfreulicher Krach, der damit endet, dass man beschließt, sich zu trennen. Ich bin dann erst mal ins Dachgeschoss gezogen und im Herbst nach Berlin übergesiedelt, wo ich Freunde habe, 2001 sind wir geschieden worden«, erklärte Ricarda vergleichsweise ausführlich.
»Und seitdem haben Sie Ihren Exmann nicht wiedergesehen?«
»Nein. Nie wieder, und ich habe ihn nicht eine Sekunde lang vermisst, das können Sie glauben. Aber was hat das jetzt alles mit dieser Frau, ihrem Verschwinden und mir und dem Mord an Kai zu tun?«
»Ihr Exmann hat sich in einem alten Gebäude hinter der Fischfabrik von Bittner eine Werkstatt ausgebaut«, holte Romy weiter aus. »Können Sie sich daran erinnern?«
»Ja, kann schon sein – und?«
»Im Keller dieses Gebäudes wurde Richardt erschlagen aufgefunden. Nur ein paar Schritte weiter fanden wir in einer ausrangierten Kühltruhe die Leiche von Beate Lauber«, erläuterte die Kommissarin. Sie hörte, dass Ricarda scharf einatmete.
»Wir gehen davon aus, dass Ihr Exmann sie getötet hat, nachdem er sie in einem eigens dafür hergerichteten Keller gefangen gehalten hatte«, fuhr Romy fort. »Ihre letzten Tage dürften alles andere als erfreulich verlaufen sein. Fällt Ihnen dazu irgendetwas ein, was uns sachdienliche Hinweise liefern könnte?«
»Kai hat die Frau eingesperrt … und später ermordet?« Ricardas Stimme klang verzerrt.
»Zugegeben: Der allerletzte gerichtstaugliche Beweis steht noch aus und wird wohl in Anbetracht der Umstände von Richardts Tod schwer zu erbringen sein, aber viele überzeugende Spuren und Indizien führen zu ihm. Und das ist noch nicht alles, leider. Es gibt zwei weitere Entführungsfälle, die wir Richardt posthum anlasten.«
»Das ist nicht Ihr Ernst!«
»Schrecklicherweise doch: Immerhin geht es dabei nicht um Mord, denn diese Frauen wurden im Gegensatz zu Beate Lauber nicht von ihm getötet, sondern nach ungefähr anderthalb Wochen Gefangenschaft wieder freigelassen«, berichtete Romy. »Eine Frau hat sich allerdings einige Zeit später das Leben genommen. Ein anderes Opfer ist noch Jahre nach den Geschehnissen so traumatisiert, dass sie sich weigert, Einzelheiten wiederzugeben.«
»Aber …«
»Und nun möchte ich von Ihnen wissen, was Kai Richardt für ein Ehemann war und was Ihnen aufgefallen ist, ohne dass Sie mir entgegnen, Sie hätten keine Lust, nach all den Jahren schmutzige Wäsche zu waschen«, herrschte Romy sie an. »Das ist mir, ehrlich gesagt, in Anbetracht der Umstände herzlich egal.«
Sie hörte, dass Ricarda Meinold schwer atmete. »Das ist ja … um Gottes willen!«
»Das reicht mir nicht! Was hat er Ihnen angetan?«
»Er hat mich geschlagen, wenn ich nicht gespurt habe«, antwortete Ricarda plötzlich mit dumpfer Stimme. »Er war versessen darauf, immer recht zu behalten. Das sagte ich Ihnen schon bei unserem letzten Telefonat. Anfangs dachte ich, dass sich das schon geben würde, er war immer ein temperamentvoller, eigenwilliger Typ gewesen.«
Romy vernahm ein Rascheln in der Leitung.
»Aber selbst wenn mal ein paar Wochen Friede, Freude, Eierkuchen geherrscht hatte … Manchmal genügte eine Kleinigkeit, und er explodierte – wenn wir allein waren«, fuhr Ricarda Meinold nach kurzer Unterbrechung fort. »Als ich ihm sagte, dass ich keine Kinder haben wollte, wurde es noch schlimmer.«
»Er wollte Kinder?«
»Unbedingt. Aber ich habe heimlich die Pille genommen.«
»Lassen Sie mich raten – er ist dahintergekommen.«
»So ist es.«
»Und dann krachte es richtig.«
»Sie bringen es auf den Punkt.«
»Haben Sie jemals daran gedacht, Hilfe in Anspruch zu nehmen? Ein schlagender Ehemann …«
»Nein, habe ich nicht. Warum und weshalb, möchte ich nicht diskutieren!«, erklärte Ricarda energisch. »Bitte respektieren Sie das!«
»Gut, das tue ich. Ist Ihnen in jener Trennungszeit irgendetwas aufgefallen, das Ihnen jetzt, vor dem Hintergrund der Ereignisse, zu denken gibt?«, fragte Romy weiter. »Manchmal sind es nur Kleinigkeiten …«
»Tja, ich weiß nicht … Ich habe Kondome gefunden und dachte mir dann, dass er vielleicht jemanden kennengelernt hatte.«
Romy stutzte. »Und Sie wollten nicht wissen, wer so schnell Ihre Stelle einnehmen sollte?«
»Nein – höchstens, um die Frau zu warnen.«
Das wäre keine schlechte Idee gewesen, dachte Romy.
»Wissen Sie, er wirkte manchmal unerklärlich gut gelaunt, zugleich sehr hektisch und irgendwie angespannt«, fuhr Ricarda diesmal unaufgefordert fort. »Ich hielt es für vorstellbar, dass er Ablenkung gesucht hatte. Vielleicht wünschte ich es mir aber auch nur, weil ich darin den beruhigenden Beweis sehen konnte, dass er mich in Ruhe lassen würde. Endgültig …« Sie zögerte nur kurz. »Andererseits war Kai schon immer ein Mensch gewesen, dessen Stimmungen stark schwankten. Das ließ er nach außen natürlich nicht durchblicken. Und Kondome kann man auch mit Absicht herumliegen lassen – um ein Signal zu setzen. So was wäre ihm auch zuzutrauen gewesen.«
»Um Sie eifersüchtig zu machen, meinen Sie?«, mutmaßte Romy.
»Ja, natürlich. Mein endgültiger Entschluss zu gehen hat ihn ganz schön mitgenommen … nein, das ist die falsche Beschreibung: Er war schockiert, dass ich eine eigenständige Entscheidung gegen ihn getroffen hatte und mich nicht beirren ließ.«
Was für ein Durcheinander, überlegte Romy. Vielleicht aber auch nicht. »Frau Meinold, Richardt muss die Entführung von Beate Lauber bis ins kleinste Detail geplant haben. Sie war nach ihrem Rügen-Urlaub wieder in ihren Alltag nach Rostock zurückgekehrt, bevor sie Wochen später spurlos verschwand. Ihr Exmann hat das sehr geschickt vorbereitet und eingefädelt. Niemandem ist im Zusammenhang mit ihrem Verschwinden sein Name eingefallen. Dass heißt, dass er völlig unauffällig agiert hat.«
»Er konnte jederzeit geschäftliche Aktivitäten vorschieben, um durch die Gegend zu fahren, und er war damals besonders viel unterwegs, das kann ich allerdings bestätigen«, gab Ricarda Meinold zu. »Aber ansonsten …«
Romy fuhr sich durch die Locken und seufzte unterdrückt. »Waren Sie denn nicht mal ein bisschen neugierig, wie Kai das Leben ohne Sie plante – haben Sie nicht mal seine Taschen durchwühlt oder sich in seinem Arbeitszimmer umgesehen? Die Kondome …«
»Lagen im Bad, sodass ich sie finden musste!«, warf Ricarda rasch ein. »Und sein Arbeitszimmer war verbotene Zone – die ich nicht betreten durfte. Es war immer abgeschlossen.«
»Warum?« Romy war verblüfft.
»Alte Angewohntheit, sagte er mir, als ich ihn danach fragte. Seine Mutter hätte sein Zimmer regelmäßig durchwühlt, was er ganz scheußlich fand, und er bräuchte die ständige Bestätigung, dass sich niemals jemand an seinen Sachen zu schaffen machen kann. Ich habe das respektiert.« Plötzlich lachte Ricarda auf. »Irgendwann hatte Kai in seinem Schreibtisch mal eine Mausefalle versteckt – das Schreien seiner Mutter war im ganzen Haus zu hören gewesen, erzählte er mir. Ich fand das sehr komisch.«
Romy konnte nicht mitlachen. »Die Beziehung zu seinen Eltern war nicht gerade unbeschwert, oder?«
»Es gab keine. Er fand beide ätzend und wollte so wenig wie möglich mit ihnen zu tun haben. Ich habe sie kaum gekannt und bin nicht traurig über das distanzierte Verhältnis gewesen.«
»Aber der frühe Tod seines Bruders hat ihm ganz schön zu schaffen gemacht – dahingehend hat sich zumindest ein Freund geäußert«, wandte Romy ein.
»Ja? Möglich. Er hat nie über ihn gesprochen. Ich weiß nur, dass der Junge einen Blinddarmdurchbruch hatte«, meinte Ricarda zögernd.
»Wussten Sie auch, dass Kai jedes Jahr am Todestag des Bruders seine Mutter anrief?«
Stille. »Nein.«
»Trost wollte er ihr allerdings nicht spenden. Er erinnerte seine Mutter an ihr Versagen – jedes Jahr aufs Neue –, an ihre Schuld am Tod des Jungen.«
Ricarda gab ein seltsames Geräusch von sich. »Das passt«, sagte sie dann. »Aber ich wusste nichts davon.«
Das passt auch, dachte Romy. »Frau Meinold, ich möchte Ihnen ein Foto von Beate Lauber mailen«, wechselte sie dann das Thema. »Sehen Sie es sich bitte genau an. Vielleicht ist sie Ihnen ja doch bei irgendeiner Gelegenheit aufgefallen.«
Romy glaubte nicht daran, aber ein Versuch konnte nicht schaden.
»Aber was spielt das denn noch für eine Rolle?«, wandte Ricarda ein. »Ich denke, Sie wissen, dass er es war, und verurteilen können Sie ihn ja doch nicht mehr.«
»Das ist völlig richtig, aber wir müssen den Fällen trotzdem im Detail auf den Grund gehen, um sie endgültig zu den Akten legen zu können. Außerdem erhoffen wir uns bei unseren Recherchen erhellende Hinweise bezüglich des Mords an ihm. Ein Zusammenhang mit den Entführungen ist sehr wahrscheinlich.«
»Nun gut, schicken Sie mir das Foto. Ich melde mich, falls mir etwas dazu einfällt.« Sie diktierte der Kommissarin ihre Mailadresse.
»Danke, Frau Meinold.« Romy verabschiedete sich beiläufig.
Eine Antwort erhielt sie nicht.
Tim wusste, dass es ein Fehler gewesen war, Mirjam am Montagmorgen in der Praxis anzurufen, noch dazu mit seinem eigenen Handy. Ein großer, weil unnötiger und dummer Fehler. Falls die Kommissarin mit den irritierend dunklen Augen und den wilden, schwarzen Locken ihren Hinweis ernst meinte und seine Verbindungen überprüfen ließ, würde die Bergener Polizei sehr bald wieder auf der Matte stehen. Und irgendeine blödsinnige Ausrede würden sie ihm ganz sicher nicht abnehmen.
Andererseits: Sein Alibi war nicht nur gut, es stimmte sogar, und unter Umständen sparte die Polizei sich weitere Nachforschungen, weil sein Auftritt überzeugend gewesen war und andere Aspekte in den Vordergrund rückten. Außerdem hatten die gerade mehr als genug zu tun, und Bergen auf Rügen war nicht New York oder Berlin. Die Uhren tickten hier ein bisschen anders, vor allen Dingen langsamer. »Unter Umständen« war eine Bezeichnung, die ihm nicht gefiel. In diesem Zusammenhang schon gar nicht.
Steffens eindringliche Stellungnahme war überzeugend gewesen. Keine Frage – seit sie sich kannten, hatte der Freund sich grundsätzlich an Tims Vorgaben und Vorschläge gehalten, an seine Anweisungen sowieso. Und doch schwang da noch etwas anderes mit. Tim wusste, dass Steffen ihm sein Leben lang dankbar sein würde. Darüber sprachen sie nicht großartig. Die Ermordung von Kai wäre – erst recht nach dem, was Tim inzwischen noch über die Verbrechen des Mannes erfahren hatte – der größte Freundschaftsdienst, den Steffen ihm je hätte erweisen können. Das war ihnen beiden unausgesprochen klar. Wenn er es denn war.
Aber daran zweifelte Tim kaum noch. Nach seiner tiefen Überzeugung leugnete Steffen die Tat vehement, um es dem Freund besonders einfach zu machen.
Tim stand auf und verließ das kleine Büro, um die eingetroffenen Waren auszupacken. Sein kleines Sportgeschäft war nicht gerade ein Verkaufsrenner, aber es hielt sich besser, als man es in Zeiten von Internetläden und großen Sportketten erwarten durfte. Sein Schwerpunkt lag auch nicht im Verkauf, sondern in der individuellen Beratung, und die saftigen Honorare, die er als persönlicher Fitnesstrainer mittlerweile verdiente, waren höchst erfreulich.
Er begleitete Bankmanager bei ihren morgendlichen Joggingrunden, beriet und trainierte ambitionierte Freizeitläufer genauso wie Menschen, die etwas gegen ihr Übergewicht tun oder den Traum vom Marathon endlich verwirklichen wollten. Seit einiger Zeit arbeitete Tim mit einem Fitnessstudio zusammen und war optimistisch, dass sich die Dinge stetig zum Besseren entwickeln würden. Er hätte zufrieden sein können.
Als Mirjam an jenem Tag vor einigen Wochen völlig unerwartet vor seinem Laden gestanden hatte, war ihm im Bruchteil einer Sekunde klargeworden, dass es immer noch nicht vorbei war. Sie war blass und seltsam atemlos gewesen. Ein Läufer sieht, wenn jemand falsch atmet. Mirjam atmete nicht vernünftig aus, sie stieß die Luft nur unvollständig und in hektischem Rhythmus heraus.
Tim war zur Tür geeilt, hatte sie geöffnet, und jene grauenvollen Tage vor über fünf Jahren waren mit ganzer Wucht zurückgekehrt, noch bevor sie ein Wort über die Geschehnisse verloren hatte, die sie nach der langen Zeit der Funkstille zu ihm führten.
Sie war damals einfach verschwunden gewesen, und er hatte es nicht mitbekommen, weil er so intensiv mit seinem Laden und dem Sport beschäftigt war und nach Spanien geflogen war – zu einem Laufseminar. Das würde er sich nie verzeihen können. Nach zehn Tagen fand man sie auf einem kleinen Rastplatz an der A 20. Mit Medikamenten betäubt, unter Schock und eigentümlich … sauber. Gewaschen. Rein.
Die Polizei zog daraus die Schlussfolgerung, dass Mirjams Entführer dafür gesorgt hatte, dass keinerlei Spuren nachweisbar waren. Sie selbst erzählte später, als sie in der Lage dazu war, Einzelheiten des Geschehens wiederzugeben, dass er sie immer wieder gewaschen hatte. Täglich. Nachdem er sie vergewaltigt hatte. Täglich. »Täglich« bedeutete: bei jedem seiner Besuche in ihrem dunklen Gefängnis, in dem es keine Fenster gab und sie nicht sehen konnte, ob es Tag oder Nacht war.
»Aber das war nicht das Schlimmste«, hatte sie irgendwann Wochen später mit tonloser Stimme zu ihm gesagt. »Das Schlimmste war die Angst. Es war ihm wichtig, dass ich Angst hatte. Angst vor ihm und seiner Macht. Angst vor der Dunkelheit und davor, dass er alles sehen konnte und alles mitbekam und alles von mir wusste. Es gab keinen Schlupfwinkel, in den ich mich zurückziehen und für mich sein konnte.«
»Wie meinst du das?«, hatte Tim nachgefragt.
»Er wusste alles Mögliche von mir: Er wusste, wo ich wohne und welchen Beruf ich habe, und er kannte meine Arbeitsstelle. Er wusste auch, was ich in der Dunkelheit tat, wenn er nicht da war, und das war besonders erschreckend. Manchmal dachte ich, dass er gar nicht wegging, sondern mir die Augen verband und nur so tat, als würde er gehen – um mich in Sicherheit zu wiegen. Stattdessen blieb er und beobachtete mich. Ich lauschte stundenlang auf seinen Atem und bildete mir ein, ihn zu hören. Manchmal rief ich nach ihm und flehte ihn an, mir zu antworten. Später wurde mir klar, dass er eine Kamera laufen ließ und darum genau sagen konnte, wann ich mich umgedreht hatte oder dass ich niesen musste oder besonders verzweifelt war …«
Ihre Beziehung zerbrach einige Monate später. Mirjam trennte sich von Tim. Sie konnte seine Berührung nicht ertragen und auch nicht seine Nähe, und noch weniger konnte sie es ertragen, ihm ständig mit ihrer Zurückweisung wehzutun. Sie brauche Zeit nur für sich, sagte sie, und irgendwo verstand er sie.
Was ihn nicht losließ, war die Tatsache, dass er keine Chance mehr hatte. Auch nicht, als es ihr besser ging, als die Therapie Wirkung zeigte, als die Wunde sich zu schließen begann – mit zarter neuer Haut. So jedenfalls stellte Tim es sich vor.
Dann gab es plötzlich Ben. Ein ganz neues Leben. Tim empfand es als Strafe dafür, dass er nicht zur Stelle gewesen war, als Mirjam ihn zum ersten Mal wirklich gebraucht hatte. Der Gedanke war quälend und tröstend zugleich – wenigstens gab es eine Erklärung.
Tim sah auf die Uhr. Es war noch jede Menge Zeit. Am Abend würde er Steffen nach Drigge fahren. Mindestens eine Woche sollte er dort bleiben. In einer Woche konnte viel passieren. Vielleicht verhaftete die Polizei jemanden, der sich verdächtig machte, vielleicht wurden die Ermittlungen eingestellt, weil man die Chancen auf Ergebnisse als zu gering einschätzte.
Tim hoffte, dass Steffen umsichtig gewesen war und keine Spuren hinterlassen hatte. Er hoffte auch, dass Kai im Angesicht des Todes begriffen hatte, wer ihm eigentlich den Hieb verpasste. Nichts bleibt je ungesühnt, dachte er. Rache kann ein köstlicher Genuss sein.
Mit Ben konnte sie nicht darüber sprechen. Mit ihrem Therapeuten auch nicht. Und schon gar nicht mit Eltern, Freunden oder Arbeitskolleginnen. Wenn sie einen Hund gehabt hätte, wäre er der Richtige gewesen. Hunde waren die besten Zuhörer überhaupt, besser noch als Katzen, weil sie die Fähigkeit hatten, Anteilnahme und Mitgefühl zu äußern. Zumindest gaben sie einem dieses Gefühl. Jeder kleine Mops konnte einem verzweifelten Menschen Verständnis, Wärme und Nähe signalisieren.
Mirjam war nach allem, was sie inzwischen erfahren hatte, davon überzeugt, dass Tim Kai getötet hatte, und sie konnte ihn nicht nur verstehen, sondern musste auch einen Teil der Verantwortung für die Tat übernehmen und ihn schützen. Um Schuld ging es hier nicht. Wenn jemand verdient hatte, so zu sterben, dann der Mann, der nicht nur ihr Leben fast zerstört, sondern auch andere Frauen gequält, sogar ermordet hatte und ganz bestimmt weitere Opfer gesucht und gefunden hätte. Kai Richardt.
Die Möglichkeit eines Irrtums war juristisch nicht auszuschließen. Theoretisch konnte es auch ein anderer gewesen sein. Theoretisch konnte irgendwann der Mond vom Himmel fallen. Mirjam war so sicher, wie man sicher sein konnte, dass Kai der Täter und Tim von der gleichen Überzeugung erfüllt gewesen war wie sie, als er beschloss, selbst für die folgerichtigen Konsequenzen zu sorgen. Es war leicht, Selbstjustiz abzulehnen, womöglich moralisch zutiefst empört dagegen zu wettern, wenn man nicht betroffen war. Mirjam war zutiefst dankbar, dass sie vor diesem Mann nie wieder Angst haben musste.
Sie hatte ihn vor einigen Wochen in Vaschwitz auf Rügen wiedergesehen, ohne in diesem Augenblick zu ahnen, dass es ein Wiedersehen war – Mitte März, bei einer Musical-Aufführung in der Kunstscheune, zu der Ben sie eingeladen hatte. Mirjam wusste nicht, dass der Mann in der Reihe hinter ihr Kai Richardt war, geschweige denn, dass er ihr Entführer und Peiniger gewesen war: Sie registrierte einen gutaussehenden Mann, der ihr einen langen, prüfenden Blick zuwarf, als sie sich setzte und kurz über die Schulter sah. Die kleine zierliche Frau neben ihm war auffallend blass, und ihre Miene ließ nicht darauf schließen, dass sie sich auf die Aufführung freute.
Mirjam erinnerte sich lebhaft, wie sie gerade noch amüsiert überlegt hatte, dass das Paar ganz so wirkte, als sei es sich bei der Freizeitgestaltung nicht einig gewesen. Kurz darauf hörte sie, wie der Mann tief durchatmete und etwas zu seiner Frau sagte – sehr leise und drängend. Seine Worte klangen wie eine Ermahnung oder eine Aufforderung und waren von winzigen Zischlauten begleitet, die ihr seltsam bekannt vorkamen.
Im nächsten Moment zog sich Mirjams Inneres wie schockgefroren zusammen, und ihr Atem stockte, als würde jemand die Hände um ihren Hals legen. Oder um ihr Herz. Ihr Atemzentrum. Sie versuchte, gleichmäßig und ruhig weiterzuatmen – wie sie es vor Jahren gelernt hatte. Panikattacken hatte sie schon sehr lange nicht mehr durchleiden müssen. So lange, dass die leise Hoffnung in ihr aufgekeimt war, sie könnten sich für immer verabschiedet haben. Eine fatale Fehleinschätzung. Eine leise, unangenehm klingende Männerstimme genügte, um sie völlig aus dem Gleichgewicht zu werfen.
In der Pause verließen sie die Veranstaltung. Ben war besorgt. Mit Recht. Die Stimme barg eine Erinnerung in sich. Sie verfolgte Mirjam bis in den Schlaf hinein und beherrschte ihre Träume. Am nächsten Morgen erwachte sie mit der festen Überzeugung, ihrem Entführer begegnet zu sein. Schwachsinn, schimpfte sie sich selbst. Völliger Schwachsinn! Nach mehreren halbdurchwachten Nächten und zwei weiteren Panikattacken ließ sie sich einen Termin bei ihrem Therapeuten geben.
Die Sitzung tat ihr gut, aber die Überzeugung blieb. Mehr noch: Sie wusste, dass der Verdacht sie nie wieder loslassen würde, und die Vorstellung, dass ihr Entführer vielleicht irgendwo auf Rügen lebte und sie einander immer wieder über den Weg laufen konnten, schnitt ihr Herz mit einer Schärfe ein, als läge die Tat kaum vier Wochen zurück.
Er hat gewonnen, dachte Mirjam, als sie die Praxis verließ. Nach fünfeinhalb Jahren hat er immer noch und immer wieder Macht über mich.
»Du wirst mich nie vergessen«, hatte er damals geflüstert. Es waren seine letzten Worte gewesen, bevor die Tabletten gewirkt hatten.
Ohne einen Augenblick darüber nachzudenken, fuhr sie nicht zur Arbeit, sondern machte einen Umweg über den Knieperdamm in Richtung Heinrich-Heine-Ring. Erst als sie vor Tims Laden stand, wurde ihr bewusst, was sie tat. Sie wollte sich abwenden, aber er hatte sie schon gesehen und bat sie herein.
Seit ihrer Trennung hatten sie sich nicht mehr gesehen. Sie hatte manchmal in der Zeitung von ihm gelesen – auf der Sportseite – und sich gefreut, dass es beruflich so gut für ihn lief. Als sie in seine Augen blickte, spürte sie, dass es zwischen ihnen keinen Raum für oberflächliches Geplänkel oder Ausweichmanöver gab, und nur deswegen war sie hier.
»Ich bin ihm begegnet«, sagte sie leise, kaum dass sie einander verlegen begrüßt hatten.
Er wusste sofort, wen sie meinte. »Erzähl«, erwiderte er mit einer Selbstverständlichkeit, die sie zutiefst berührte.
Mirjam beschrieb die Situation und den Mann, sein Aussehen, seine Art sowie ihre Reaktion auf seine Stimme, und je länger und eingehender sie redete, desto nachdenklicher sah Tim aus. Als sie schließlich schwieg, schüttelte er langsam den Kopf.
»Merkwürdig«, meinte er. »Irgendwie …« Er fasste nach ihrem Arm. »Komm mal mit.«
Sie gingen in sein kleines Büro. Der Schreibtisch war mit Papierkram und Fotos übersät.
»Wir hatten vor einigen Wochen eine Crosslaufveranstaltung, und ich stelle gerade Artikel und Fotos für unsere Pinnwand im Vereinslokal zusammen«, erzählte er. »Sieh dir doch mal die Aufnahmen an.«
»Warum?«
»Ist nur so eine Idee. Irgendwas macht mich stutzig. Sieh sie dir einfach an.«
Sie zögerte nur kurz. Das vierte Bild zeigte ihn an einem Erfrischungsstand. Er hob seinen Trinkbecher, als wollte er dem Fotografen zuprosten, und strahlte. Sie spürte, wie sie erbleichte, und hielt Tim die Aufnahme vors Gesicht. »Das ist er.«
Tim war plötzlich mindestens genauso blass wie sie. »Und da bist du dir ganz sicher?«
»Ich bin hundertprozentig sicher, dass dieser Mann bei der Aufführung in der Kunstscheune hinter mir gesessen hat und seine Stimme … alles zurückgebracht hat.« Sie schluckte. »Meine Güte – das ist natürlich kein Beweis, und alle, mit denen ich bisher darüber gesprochen habe, sagen, dass er einen Erinnerungspuls in mir ausgelöst hat, aber …«
»Ich weiß, was du meinst«, unterbrach Tim sie. »Man kann es nicht ausschließen, und du willst wissen, woran du bist.«
Er machte eine Pause und starrte an ihr vorbei. »Ich will es auch wissen, und ich kümmere mich darum«, fügte er schließlich hinzu.
»Was hast du vor?«
»Ich kümmere mich darum«, wiederholte er. »Es ist ganz einfach: Ich werde herausfinden, ob er der Täter war.«
»Und dann?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber vertrau mir.«
Als sie einige Minuten später den Laden verließ, war ihr Herz um ein Vielfaches leichter, und sie konnte durchatmen. Tim hatte sie nicht nur ernst genommen, er würde sich auch kümmern. Was für wunderbare Worte! Sie zweifelte nicht einen Moment daran, dass es ihm gelingen würde, die Wahrheit herauszufinden.
Alles wird gut, dachte sie, als sie in ihren Wagen stieg. Jetzt wird endlich alles gut.
Erna Tihle hatte viel Zeit. Seit die Beine kaum noch wollten und sie die meiste Zeit im Rollstuhl saß, noch mehr als zuvor. Sohn und Schwiegertochter waren den ganzen Tag außer Haus, die Enkel lebten inzwischen in Neubrandenburg und Schwerin, und Erna war einen Großteil des Tages auf sich allein gestellt. Mittags kam eine Pflegerin vorbei, um eilig vorbeihastend nach dem Rechten zu sehen und sich zu vergewissern, dass Erna ihre Tabletten genommen hatte, zwischendurch rief der Sohn mal an. Er wollte hören, dass es ihr gutging und an nichts mangelte. Sie tat ihm den Gefallen und beklagte sich niemals. Auch wenn sie mal Schmerzen hatte oder die Einsamkeit sie so sehr einschnürte, dass sie nur schwer Luft bekam.
Erna verbrachte viele Stunden vor dem Fernseher, weil sie die Liebesschnulzen mochte und dem Vorabendkrimi entgegenfieberte. »Soko Köln« liebte sie besonders, weil der ältere Kommissar mit dem betagten französischen Auto so wunderschön lächeln konnte und immer für einen Scherz aufgelegt war; »Soko Wismar« war eher amüsant als spannend. Sie las viel, blätterte Fotoalben durch und mühte sich mit ihrem Rollstuhl von Zimmer zu Zimmer, um wenigstens das zu tun, was ihr körperlich noch möglich war: Staub wischen, Blumen gießen, ein bisschen aufräumen und in Schwung bleiben.
Einmal am Tag telefonierte sie mit einer Freundin in Bergen, fast jede Woche fuhr der Sohn sie zu einer Veranstaltung ins Seniorenheim, wo Filme gezeigt wurden, Kartenspiel-Turniere stattfanden oder ein Chor sein Können zum Besten gab – was nicht immer ein Genuss war.
Sechsundachtzig war kein Alter für große Sprünge, für Erna nicht mehr. Sie versuchte, sich damit abzufinden. Andere Senioren unternahmen Reisen, schmissen ihren Haushalt noch mit links oder zumindest weitestgehend selbständig und meldeten sich zu Nordic-Walking- und Computer-Kursen an. Sie schaffte das nicht mehr und haderte manchmal damit.
Besonders die Spaziergänge am Meer fehlten ihr. Der Blick in die blaue Weite, der so viel Licht in die Seele ließ. Dafür war ihr Gehör noch sehr gut, sie sah besser als ihr Sohn, was sie insgeheim amüsierte, und senil war sie auch nicht. Jedenfalls war sie davon überzeugt. Ein bisschen schusselig manchmal – aber nicht senil.
Es ist ein schönes Leben hier draußen in Buschvitz, dachte sie häufig. An Tagen, die ihr grau und schwer schienen, ohne dass sie einen vernünftigen Grund dafür anführen konnte, der über das Hadern mit den Widrigkeiten des Altwerdens hinausging, wiederholte sie den Satz wie ein Mantra. Kinder und Enkel sind wohlgeraten, jeder hat seinen Platz gefunden, und meinen macht mir niemand streitig.
Sie saß häufig ganz still auf der windgeschützten Terrasse, an kalten Tagen in eine dicke Decke gehüllt und mit Fäustlingen und Mütze geschützt, und lauschte den Vögeln oder beobachtete ihren Flug. Der Blick auf den Bodden ersetzte nicht das Schauen am Meer, aber auch hier gab es dieses besondere Licht der Insel, das den Geist wach und klar machte. Die Nachbarn zur Rechten hatten zwei kleine Ponys im Garten, zur Linken wohnten die Richardts: die zarte Frau mit den kleinen Kindern, der große schöne Mann – kraftstrotzend, erfolgreich. Eine Bilderbuchfamilie. Bis vor kurzem.
Erna hatte in der Ostsee-Zeitung gelesen, dass er erschlagen worden war. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Die Leute redeten, wie ihre Freundin aus Bergen erzählt hatte, dass es ein Neider gewesen sein musste – jemand, der es nicht ertragen hatte, dass dieser strahlende Mann alles hatte, was man sich fürs Leben wünschen konnte: Erfolg, Geld, Ansehen, eine attraktive Frau und gesunde Kinder. Anders konnte Erna sich das auch nicht erklären.
Am Sonntagabend hatte man ihn hinter der Fischfabrik im Hafen gefunden. Samstagmittag hatte Erna noch die Frühlingssonne auf der Terrasse genossen und die Kinder im Garten spielen gehört. Später war es so still geworden, dass sie eingenickt war. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie die Augen wieder aufschlug. Sie reckte sich und sah zu den Richardts hinüber. Und entdeckte plötzlich etwas Seltsames.
Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, was sie sah. Vera Richardt war aufs Dach geklettert und schwang sich von dort über die Balkonbrüstung – geschickt und anmutig wie eine Tänzerin. Dann warf sie einen Blick in die Runde, worauf Erna ihren Kopf eilig einzog – warum, wusste sie nicht zu sagen. Schließlich schob Frau Richardt die Balkontür auf und verschwand im Inneren des Dachzimmers.
Vielleicht hat sie den Schlüssel vergessen, hatte Erna überlegt. So was konnte schon mal passieren. Ihr Sohn hatte für diesen Fall immer einen Ersatz in der Garage liegen – in einer Tabakdose, die zwischen schmierigen Lappen in einem Putzeimer versteckt war.
Aber die Kinder waren zu Hause, war ihr nächster Gedanke gewesen. Sie waren so groß, dass sie die Tür öffnen konnten. Vielleicht hatten sie die Klingel nicht gehört. Oder es gab einen ganz anderen Grund – ein verschobener Ziegel zum Beispiel, so dass es nun hereinregnete.
Vera Richardt war keine Frau, die auf dem Dach herumkletterte oder handwerklich tätig wurde. Er werkelte gern, wenn er zu Hause war, und sie sah man ab und zu im Garten – ja, aber sonst …
Erna sprach mit niemandem über ihre Beobachtung. Sie war nicht so wichtig. Vielleicht wurde sie allmählich doch etwas mehr als schusselig. Und das musste man ja niemandem auf die Nase binden.