41. KAPITEL
Atemlos stand Kendra vor der Tür des Computerraums und beobachtete Jeremy, der mit weit aufgerissenem Mund und hervortretenden Augen auf einen Monitor starrte. Er wirkte beunruhigt, gleichzeitig jedoch auch ziemlich kühl. In diesem Zustand hatte Kendra ihn bisher nur einmal erlebt – als eine Superkolonie von Ameisen einen Generalangriff auf den Militärflughafen von Edwards unternommen hatte, der all seinen Computersimulationen widersprach.
Als sie den Raum betrat, verkündete er mit unheilvoller Stimme: „Ich habe schlechte Neuigkeiten.“
Bei der Vorstellung, dass es noch schlimmer kommen konnte, hätte Kendra fast gelacht.
„Sie kommen“, sagte er.
„Wer?“
„Sie.“
Ein graues Stück vom unterirdischen Manhattan flackerte dreidimensional über einen Bildschirm. Die Darstellung zeigte verwirbelte Radiowellen, die sich um ein Netz von Röhren, Leitungen und Abflüssen schlängelten. Blau eingefärbt war alles, was aus Eisen oder Beton war. Hohlräume und Durchgänge wie ungenutzte U-Bahn-Tunnel, Bachläufe und ausgetrocknete Flussbette wurden violett dargestellt.
„Das Bodenradarsystem des Bunkers“, mutmaßte Kendra, während sie das Bild betrachtete.
„Richtig.“ Jeremy war ganz in die grafische Darstellung versunken. „Es ist fantastisch. Weiterentwickelt als jedes Radarsystem, das ich bisher kennengelernt habe.“ Der Querschnitt durch das Erdreich wurde durch die Ausstrahlung von niederfrequenten Radiowellen sichtbar, die durch die Wände des Bunkers gingen und in die Erde eindrangen. Wann immer die Funkwellen auf ein Objekt stießen, wurde das Signal an eine Empfangsantenne gesendet und erzeugte ein Bild. Die hohe Auflösung und dreidimensionale Darstellung ergaben ein Tomogramm, das mittels parallel aufgenommener Schichten und gezielt gesammelter Daten ein genaues Abbild der unterirdischen Umgebung rund um den Bunker zeigte.
Doch Kendra hatte Wichtigeres auf dem Herzen. „Jeremy, wir brauchen unbedingt eine Leitung nach draußen. Kannst du das Pentagon kontaktieren?“
„Nicht im Moment“, erwiderte er, noch immer ganz gebannt von dem sich bewegenden Erdreich. „Das Internet ist vor einer halben Stunde zusammengebrochen.“
Sie schloss die Augen und holte tief Luft. „Wir haben ein Problem.“
Kendra berichtete ihm kurz von den Ereignissen der vergangenen halben Stunde einschließlich ihres Verdachts, dass Colonel Garrett den General ermordet und die Operation Brennglas wieder ins Spiel gebracht hatte.
„Leider ist das momentan nicht unsere größte Sorge“, entgegnete Jeremy. „Das hier sind die letzten Bilder, die vom Bodenradar übermittelt wurden.“ Mit einem Fingerstrich wurden auf dem Schirm tiefere Erdschichten sichtbar.
Deutlich konnte Kendra die blau schimmernden Umrisse des Bunkers erkennen. Direkt oberhalb befand sich ein grünlich schimmernder Klecks, der sich bewegte und ständig seine Form veränderte und sich wie eine riesige Amöbe zusammenzog.
„Wegen ihrer schnellen Bewegung sind die Ameisen leicht zu erkennen. Du kannst die Schwärme dabei beobachten, wie sie von einem Bildfeld ins nächste wandern.“ Jeremy zoomte näher. „Dort, wo das Grün am dunkelsten ist, sind die Ameisen am dichtesten. Zu den Rändern hin werden die Schichten dünner.“ Von der Oberfläche gruben sich hektisch zitternde Fühler immer tiefer ins Erdreich. „Dort, wo das Radar schwächer wird, sind sie nur noch undeutlich zu erkennen. Wenn du diesen beiden Unterkolonien folgst – hier und da –, scheinen sie sich in unsere Richtung zu bewegen.“
„Die Ameisen kommen zum Bunker?“
„Das versuche ich dir gerade zu erklären.“
„Ich dachte, er sei vor ihnen sicher.“
„Nichts in dieser Stadt ist vor ihnen sicher. Die meisten Wände bestehen immer noch aus Felsbrocken und lockerer Erde.“
Kendra sah verwirrt aus. „Dann können sich die Siafu Moto hundert Meter tief eingraben?“
Jeremy zuckte mit den Achseln. „In der Regel leben sie in Röhren und Kanälen, U-Bahn-Schächten und Tunneln. Ihre Nistplätze bauen sie in der Regel nahe an der Oberfläche.“
„Und wie schaffen sie es bis hierhin?“
„Turtle Creek.“
„Turtle Creek?“
Jeremy rief eine weitere Karte vom unterirdischen Manhattan ab und legte sie über das dreidimensionale Bild des Bodenradars. Der Viele-Plan, den Colonel Egbert Viele 1874 gezeichnet hatte, war der einzige bekannte Lageplan von Manhattans unterirdischen Bächen und Flüssen. Für Bauingenieure war die Karte die Bibel, die sie sorgfältig konsultieren mussten, ehe irgendwo in der Stadt auch nur ein Zementblock in den Boden gegossen werden konnte.
Jeremy deutete auf eine lange geschwungene Ader, die sich über die Insel zog. „New York ist voll von diesen unterirdischen Flussbetten. Die meisten sind ausgetrocknet und höhlenartig. Turtle Creek verbindet den East River mit der Turtle Bay. Der unterirdische Fluss schlängelt sich durch die halbe Stadt bis zum Riverside Park. Er verläuft direkt unter dem Hauptsitz der Vereinten Nationen, also praktisch über unseren Köpfen.“
„Wie schnell kommen sie voran?“
„Den letzten Bildern nach zu urteilen werden sie immer schneller, je näher sie kommen.“
„Sie können doch nicht wissen, dass wir hier sind.“
„Nein. Aber vielleicht werden sie ja auch von starker Elektrizität angezogen.“
Kendra deutete mit dem Kopf auf das Bild des Bunkers. „Das elektrische Feld. Es führt sie direkt zu uns … wie lange haben wir noch?“
„Schwer zu sagen. Vielleicht eine Stunde, bis sie das Lüftungssystem erreichen.“
„Dann bleibt uns ja noch Zeit aufs Dach zu kommen.“ Sie griff nach seiner Hand. „Gehen wir.“
„Warte. Vielleicht wandern sie an die Oberfläche zurück, wenn ich den Strom im Bunker abschalte.“
„Das kannst du?“
Jeremy runzelte die Stirn, als habe sie ihn beleidigt. „Ich kann das Kontrollzentrum, die Klimaanlage und sämtliche Lichter und Computer abschalten.“ Er überlegte einen Moment. „Ja, ich bin sicher, dass sie an die Oberfläche zurückkehren würden.“
Sie schaute auf ihre Uhr. „Dafür haben wir keine Zeit. Der letzte Flug geht in achtzehn Minuten.“
„Du bist der Boss.“ Jeremy griff nach seiner Aktentasche und folgte Kendra zur Tür.
Dort blieb sie wie erstarrt stehen. Ihre Nackenhaare richteten sich auf. Sie schaute hoch zur Decke.
Krrsch. Krrkrrsch. Krrkrrsch.
Jeremy blieb ebenfalls stehen. „Was ist das?“
Sie ging hinaus in den Korridor. Auf den weißen Fliesen bildeten die Siafu Moto ein wimmelndes Mosaik. Sie krochen um die Ecken, bevölkerten den Gang, quollen aus den Lüftungsschächten der Klimaanlagen. Entsetzt stolperte Kendra zurück und schlug die Tür zu.
„Sie sind da“, sagte sie zu Jeremy. „Der Korridor ist verseucht.“
Ratlos schaute er sie an. „Oh … dann habe ich mich wohl in der Zeit verschätzt … Denken wir nach.“
„Denk schneller.“
„Vielleicht gibt es noch einen Ausweg.“ Jeremy holte einen Lageplan des Bunkers auf den Bildschirm. „Ich weiß nicht, warum sie diesen Tunnel gebaut haben – vielleicht ein Versorgungs- Schacht oder eine zusätzliche Lüftungsanlage –, aber er scheint aus Stahl zu sein und damit das ameisensicherste, was wir haben. Er führt um den gesamten Bunker herum.“
Er leuchtete die Konstruktion rot aus. Während er mit dem Finger entlangfuhr, sprach er schnell und zornig. „Wir sind hier, und wenn du etwa hundertfünfzig Meter nach Süden gehst, gibt es dort einen Ausgang, der direkt aufs Dach führt.“
„Wo die Hubschrauber landen“, ergänzte sie.
Jeremy packte Kendra am Arm und zog sie nach hinten. Die schmale Tür, die in die Wand eingelassen war, reichte ihr gerade bis zu den Knien – wie der Schrank in Pauls Labor. „Dort hinein“, befahl er.
Kendra hockte sich hin und schaute in den schmalen Gang. Er war höchstens fünfundvierzig Zentimeter breit, und die Wände glänzten wie Spiegel. „Bist du verrückt? Da passe ich doch gar nicht hinein.“
Jeremy betrachtete sie von Kopf bis Fuß und legte die Hände an ihre Schultern, als ob er ihre Breite ausmessen wollte. „Doch, ich glaube schon.“
Kendra kniete sich hin und steckte den Kopf durch die Tür. „Niemals.“
„Beeil dich.“ Er versetzte ihr einen sanften Stoß. „Du verschwendest kostbare Zeit.“
„Aber du passt nicht hindurch.“
„Vermutlich nicht“, stimmte er ihr zu. „Sobald ich den Strom abgeschaltet habe, werden die Ameisen an die Oberfläche zurückkehren, und wir treffen uns auf dem Dach.“
„Ich komme mit dir.“
„Das riskieren wir lieber nicht, Kendra. Geh!“ Jeremys Stimme klang streng. Er wurde zusehends nervöser.
„Es ist so dunkel.“ Erneut steckte sie den Kopf hinein. „Warte mal – dahinten sehe ich ein wenig Licht.“
„Gut. Ich achte darauf, dass die Beleuchtung nicht ausgeschaltet wird.“
Kendra zögerte kurz. Dann riss sie sich zusammen, schob die Beine hinein und machte sich ganz schmal. Rückwärts rutschte sie in die enge Röhre hinein, die ihren Körper umfing wie eine Schwertscheide. Schließlich steckte nur noch ihr Kopf im Freien. Vergeblich versuchte sie, auf Knien vorwärtszurutschen. Aber auch Kriechen war fast unmöglich.
„Das ist lächerlich, Jeremy!“ Sie schob den Kopf zur Tür heraus. „Geh zur Seite! Ich komme raus.“
Unvermittelt griff Jeremy ihren Haarschopf und küsste sie ungestüm auf den Mund. Als er sich von ihr löste, sagte er nur: „Such Paul!“
Die Tür fiel ins Schloss, und um Kendra wurde es pechschwarz.
„Jeremy?“ Angestrengt lauschte sie nach draußen. Metall quietschte, und etwas Schweres wurde gegen die Tür gewuchtet. Sie schlug dagegen, doch sie gab keinen Millimeter nach.
Jeremy hatte sie eingeschlossen.