13. KAPITEL

 

Fünf schwarz gekleidete Teenager erschienen wie Fledermäuse bei Dämmerung auf der Straße. Sie überquerten die breite Kreuzung am Columbus Circle an der 59th Street und betraten den Central Park im gelblichen Schein der alten Gaslaternen, die allmählich zum Leben erwachten.

Der sechzehnjährige Tabor Drake führte die Gruppe an. Er war groß und hatte eine milchweiße Gesichtsfarbe. Über den Lippen und auf den Wangen hatte er schwarzes Make-up aufgetragen. Das schwarz gefärbte Haar fiel ihm in langen Strähnen über die Stirn. Er trug einen viel zu großen Trenchcoat und zu große Armeehosen, natürlich ebenfalls in Schwarz. Nur die rote Träne, die er sich unters Auge hatte tätowieren lassen, durchbrach sein schwarz-weißes Erscheinungsbild. Tabors Gefolgschaft war im gleichen düsteren Grufti-Stil gekleidet.

Bis auf Jimmy Porter.

Eigentlich gehörte Porter gar nicht zu der Clique, jedenfalls noch nicht, und er ging ein Stück hinter ihnen. Während sie sich schnell und zielstrebig vorwärtsbewegten, folgte er ihnen nur zögerlich und zerrte an seinem Rucksack, in dem Schaufeln steckten, deren Griffe ihm andauernd gegen den Hinterkopf schlugen. Seine pummelige Figur und sein blondes kurzes Haar unterschieden ihn ebenso wie sein gelbes Spiderman-T-Shirt und die Kakishorts deutlich von den anderen.

Porter warf Sarah, seiner einzigen Verbündeten in der Gruppe, einen flehenden Blick zu, aber sie war darum bemüht, ihre eigene coole Fassade aufrechtzuerhalten. Im Stillen dachte Sarah, dass der Plan, ein paar Killerameisen ins Lehrerzimmer zu schmuggeln, absolut kindisch war, aber mit ihren fünfzehn Jahren traute sie nur selten ihrer eigenen Meinung. Sie starrte auf ihre Füße, die in klobigen schwarzen Stiefeln und zerrissenen Fischnetzstrümpfen steckten, und überlegte, ob sie sich am Montag einer anderen Clique anschließen sollte. Vielleicht den Ökos. Batik-Klamotten standen ihr nämlich ausgezeichnet.

Das großräumige Areal am Eingang des Parks mündete in viele schmale Pfade. Erste Frühlingsboten sprossen aus dem Boden – Blumen, Farne und Moose, und der dunkler werdende Himmel verbarg sich hinter den Kronen von mächtigen Eichen, auf deren Zweige sich das erste Grün zeigte, das für zusätzliches Dämmerlicht sorgte. Kein Laut war zu hören. Aus den Baumwipfeln klang nicht einmal der Gesang der Vögel, der so typisch für diese Jahreszeit war.

„Habt ihr die Schilder nicht gesehen? Da steht Achtung! Park gesperrt! drauf“, krächzte Porter. „Wir sollten zurückgehen.“

Unbeirrt setzte Tabor seinen Weg fort. „Halt die Klappe, Porker.“

„Ich heiße Porter.

„Nein. Porker.

„Ich sag ja nur – es wird gleich dunkel.“

„Uh. Darum geht’s ja gerade“, antwortete Chloe, die sich für Tabors Freundin hielt und, was ihr Aussehen anbetraf, sein weibliches Pendant war. „Sie kommen nur nachts raus, Blödmann.“

Porter verzog das Gesicht. „Ihr wisst doch, dass sie schon sieben Leute getötet haben. Wahrscheinlich werden sie uns auch umbringen.“

„Glaub doch nicht alles, was in den Zeitungen steht, Blödmann! Feuerameisen beißen oder stechen bloß. Die Lehrer werden ausrasten.“

„Wir werden sterben.“

„Sarah, was hat dein fetter Freund eigentlich für ein Problem?“, blaffte Chloe. „Er kann einfach nicht die Klappe halten.“

Ein Junge mit drei Nasenringen hatte jetzt die Führung übernommen. Als er stehen blieb und mit dem Finger auf etwas zeigte, stießen die anderen gegen ihn. „Da ist die Stelle. Harley hat gesagt, dort sind sie überall herumgekrochen.“ Er zeigte auf die Gapstow Bridge, die in einem wuchtigen steinernen Bogen über den Teich führte. Dichte Efeuranken schlängelten sich wie knochige Finger an den Steinen entlang. Auf beiden Seiten der Brücke fiel das Ufer etwa drei Meter zum Wasser ab.

Tabor steuerte die Brücke an, schob die Pflanzen beiseite und trat kleine Steine beiseite. Die anderen folgten ihm, schabten mit ihren Turnschuhsohlen über Geröll und Unkraut und schoben die Farnkrautwedel lässig beiseite. Jemand hatte eine Dose Insektenspray mitgebracht, und die Jugendlichen sprühten sich einer nach dem anderen Stiefel und Turnschuhe ein.

„Hier, nehmt die!“ Tabor holte eine Handvoll Gummiringe aus seiner Tasche. „Schiebt sie über eure Ärmel und Hosenbeine, damit die Ameisen nicht hineinkriechen können. Ich kenne mich mit diesen Biestern aus.“

Resigniert betrachtete Porter sein T-Shirt und seine Shorts. Während die anderen stramme Gummibänder über ihre Hand- und Fußgelenke spannten, sprühte er seinen Körper mit Wolken von Insektenspray ein.

„Ey, Porker.“ Tabor streckte die Hand aus und schnippte mit den Fingern. „Gib mir eine Schaufel!“

Porter ließ den Rucksack von seinen Schultern gleiten und wählte einen kurzen, schweren Spaten aus. Er reichte ihn Tabor und flüsterte: „Sie werden uns umbringen, Mann.“

„Mann, halt endlich dein Maul“, fauchte Nasenring ihn an. „Wir sind fünf gegen – Ameisen

Tabors Blick fiel auf eine Stelle, an der kein Gras mehr wuchs. Sofort ging er zu Porter zurück und drückte ihm die Schaufel in die Hand. „Du – grab dort drüben!“

„Kommt nicht infrage.“

Tabor wandte sich an Sarah. „Du bist so was von raus“

Sarah schien in sich zusammenzufallen. „Jimmy, grab schon!“

Zögernd näherte Porter sich der ausgewählten Stelle. Vorsichtig strich er mit der Schaufel über die Erde, als ob es sich um ein Minenfeld handelte. Der Boden war locker und weich und formte sich zu kleinen Kügelchen, so leicht wie Sägespäne. Mutiger geworden, grub er tiefer und trug hier und dort eine Schaufel Erde ab. Ein weiteres Mal stieß Porter die Schaufel in die Erde, fand keinen Widerstand, und die Schaufel rutschte ihm aus den Händen ins Bodenlose.

Das Erdreich hatte seine Schaufel fast komplett verschlungen, einzig das Querteil des Griffes ragte noch heraus.

Porter schluckte. „Ich glaube, wir sind auf …“

Auf einmal versank die Erde um ihn herum, gleich einem Krater. Der Junge schrie auf und riss die Arme hoch. Bis zur Brust blieb er im Dreck stecken. Die Staubwolke machte ihn fast unsichtbar. Hustend und spuckend gelang es ihm irgendwie, seine feststeckenden Arme zu befreien. Mit dreckigen Fingern wischte er sich den Schmutz vom Mund, als sich der Staub legte.

„Scheiße!“, schrie er.

Die anderen starrten ihn mit offenem Mund an und rührten sich nicht vom Fleck.

„He, ihr Arschlöcher, holt mich hier raus!“

Vorsichtig wagte Tabor einen Schritt nach vorn, während die anderen zurücktraten. Langsam ging er auf Porter zu, bis er nur noch einen knappen Meter von seinem Kopf entfernt war. Dann fiel er auf die Knie und starrte in das schmutzige Gesicht des Jungen.

Tabor brach in schallendes Gelächter aus.

„Das ist nicht komisch“, winselte Porter.

Der furchtlose Anführer hielt ihn für hysterisch, aber er war der Einzige, der lachte. „Er ist okay!“, rief er den anderen über seine Schultern zu. „Ich habe mich schon lange gefragt, wie lange die Erde deinen fetten Arsch noch aushalten würde, Porker.“

Tabor streckte die Hand nach dem Jungen aus und suchte Halt, um sich dem Gewicht des Jungen entgegenzustemmen. Aber als ihre Finger sich berührten, zuckte Porter zurück und fing an zu schreien. Voller Entsetzen lief Tabor weg, während Jimmy unter unerträglichen Schmerzen laut aufheulte.

Unter dem Boden bohrten sich Millionen von Ameisen wie zu allem entschlossene Goldschürfer in den Körper des Jungen. Im Handumdrehen hatten sie Schenkel und Oberkörper erreicht. Mühelos bissen sie sich den Weg durch weiche Haut, krochen durch Muskelstränge und bohrten sich ihre Gänge durch seinen Körper.

Schrille Schreie drangen durch den Park, während Porter um sein Leben schrie und voller Panik hysterisch mit seinen Händen in das Erdreich grub. Als er eine Hand hob, war sie blutverschmiert.

Noch versuchte Tabor, nach Jimmys Hand zu greifen, aber der Junge fing an zu krampfen und schlug hektisch mit den Armen um sich. Rote Flecken breiteten sich auf seinem T-Shirt hoch bis zu seinem Hals aus.

Der Boden unter den Teenagern geriet in Bewegung, und sie wichen zurück. Erst langsam, dann begannen sie zu rennen. Auf dem Weg zum Eingang des Parks schrien sie vor Angst und Entsetzen, riefen sich gegenseitig Warnungen zu und ließen den Jungen zurück.

Alle bis auf Sarah.

Ohne nachzudenken fiel sie auf die Knie und begann, Jimmy Porter auszugraben. Ihre Finger waren rot von Jimmys Blut, als sie mit ihren Händen im Dreck grub, aber es war zwecklos. Seine Arme verschwanden. Er sank tiefer bis zum Kinn. Aus seiner Kehle drang ein gurgelndes Geräusch, ehe sie zuschwoll. Sein Blick wanderte zu Sarah, ein friedlicher Ausdruck legte sich über Jimmys Gesicht. Das Weiß seiner Augen änderte sich zu Rot und aus seiner Nase floss ein schmaler Streifen rosafarbener Schaum.

Dann versank Jimmy Porter im Erdboden. Er war verschwunden.

Sarah erhob sich. Die Erde unter ihren Füßen bebte. Während sie über die Uferböschung zum See hinunterlief, bewegte sie die Arme wie Windmühlenflügel, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Der Himmel verdunkelte sich, und die Luft wurde plötzlich kalt. Zähneklappernd stand sie auf einem Felsen am Wasser und schlang die Arme um sich. Der Schock war so groß, dass sie nicht weinen konnte. Hinter ihr bewegte sich jede Pflanze und jeder Grashalm unter den herannahenden Ameisen.

Sie kommen. Sie werden mich töten.

Sarah watete in das eiskalte Wasser.

Ameisen können nicht schwimmen. Sie können nicht schwimmen.

Der Grund des Sees fiel an dieser Stelle steil ab. Mit langen Schritten ging sie tiefer in das Wasser hinein. Während sie sich vorwärtsbewegte, machten ihre durchnässten Turnschuhe schmatzende Geräusche im Schlick. Sarah geriet in Panik, als ihr das Wasser bis zur Brust reichte.

Eine schwarze Masse spülte das Ufer entlang, dunkel und unförmig, wie geschmolzene Lava. Unter Sarahs Blicken breitete sich die Masse weiter aus und trieb sie weiter in den Teich hinein. Ein eigentümliches Geräusch erfüllte die Luft.

Krrsch. Krrkrrsch. Krrkrrsch.

Das Geräusch wurde lauter. Es schien aus allen Richtungen zu kommen. Sarah drehte sich um und wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. Das Ding, das sich am Ufer bewegte, war ins Wasser gekommen, und hatte sich ausgebreitet wie ein Fischernetz. Es schwamm auf der Oberfläche und kam immer näher – winzige Formen, die miteinander verbunden waren.

Sarah schwamm unter der Brücke hindurch. Das eisige Wasser lähmte ihre Muskeln, fror ihre Lungen ein. Sie schnappte in winzigen Atemzügen nach Luft. Das schwache Licht des Mondes wies ihr den Weg zur anderen Seite der Überführung. Sie zitterte wie verrückt. Das Geräusch war verstummt. Vor Angst tauchte sie unter, kam aber kurz darauf wieder an die Wasseroberfläche.

Das war der Moment, in dem die schwimmende Bestie von allen Ufern aus, auf sie zustürmte. Sie kraulte zur Brücke zurück. Ihre Zähne klapperten so laut, dass sie das merkwürdige Geräusch übertönten. Ihre Beine versanken im Schlamm, dann stand sie genau unter dem Brückenbogen. Sie hyperventilierte und sprach mit sich selbst.

Hilf mir. Lieber Gott, hilf mir!

Ein schwarzer Fleck fiel auf Sarahs Wange. Sie schaute hinauf zur Brücke, unfähig zu atmen. Dann regneten Millionen von Ameisen auf sie herab.