39. KAPITEL
„Das ist unerhört!“, brüllte Garrett seinen Vorgesetzten an. „Sie geben streng geheime Informationen an Zivilisten weiter. Das ist Verrat!“
General Dawson hatte die Hände zu Fäusten geballt und presste sie an die Seiten. „Es reicht allmählich, Tom. Seit fünfundzwanzig Jahren warten wir auf eine Methode, um diese Ameisen zu vernichten.“
„Sie können doch nicht davon ausgehen, dass ihr lächerliches Experiment erfolgreich ist. Die ganze Welt steht auf dem Spiel.“
Der General wurde rot. „Ich entbinde Sie von sämtlichen Pflichten im Zusammenhang mit diesem Auftrag.“
Garrett ignorierte den Befehl. „Die Entscheidung, die Stadt zu evakuieren und zu bombardieren, ist bereits von unserem Oberbefehlshaber getroffen worden.“
„Das war, bevor uns eine andere Methode zur Verfügung stand, um die Kolonie zu zerstören. Der Plan ist geändert worden.“
„Auf wessen Befehl?“
Dawson schüttelte den Kopf. „Die Zeiten der Vertuschung sind vorbei. Ich werde an jede Abteilung in Washington einen Bericht schicken. Ich versichere Ihnen, dass die Operation Brennglas abgeblasen wird, sobald ich mit dem Präsidenten in Verbindung trete.“
Schäumend vor Wut verließ Colonel Garrett den Raum.
Dawson wandte sich an Paul und Kendra. „Ich kann mir denken, wie das auf Sie wirken muss.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht.“
„Sie haben diese verdammten Dinger erfunden?“, fragte Paul wütend.
„Wir haben eine Waffe erfunden.“
„Ohne Ausschaltknopf.“
„Wir sind amerikanische Soldaten. Zerstörung ist unsere oberste Priorität.“
„Sie benutzen lebende Insekten und manipulieren ihre DNA für Ihre zerstörerischen Zwecke.“
„Ist das denn schrecklicher als biologische Kriegsführung? Viren, Keime, ansteckende Krankheiten, selbst replizierende Organismen, die das Gewebe ihres Wirtes essen. Pocken, Milzbrand, Gelbfieber – es ist doch alles das Gleiche.“
Niemand sagte etwas.
„Hören Sie, dieses Land ist Ihnen zu Dank verpflichtet. Aber versuchen Sie nicht, einen Sinn im Krieg mit Insekten zu finden. Nur wenige Menschen, die nichts mit der Armee zu tun haben, wissen, wie das Militär tickt.“ Dawson fuhr sich durchs Gesicht. „Manchmal bin ich mir selbst nicht sicher.“
Der General wollte unbedingt in Russos Büro, um mit dem Präsidenten zu telefonieren. Er bat Paul und Kendra, ihn zu begleiten.
„Ich möchte, dass Sie beide während des Gesprächs dabei sind.“
Während sie über den Gang eilten, erklärte Dawson, dass Laredo ziemlich wütend gewesen sei, als das Projekt nach fünfundzwanzig Jahren eingestellt wurde. Er sei durchgedreht, habe das ganze Labor mit allen Mitarbeitern in die Luft gesprengt und sei mit einer Königin geflohen.
„Warum wurde das Projekt eingestellt?“, wollte Kendra wissen.
„Wie Sie möglicherweise gesehen haben, sind diese Ameisen unkontrollierbar. Sie haben begonnen, alles aufzufressen, was ihnen über den Weg lief, und Dinge zu tun, die nicht vorgesehen waren. Es gab keine Möglichkeit, sie daran zu hindern und, schlimmer noch, sie zu zerstören. Dann haben wir herausgefunden, dass Laredo eine Königin an eine terroristische Gruppe verkaufen wollte. Er hatte tatsächlich Verbindungen zu Öko-Terroristen.“
„Das FBI steckt also auch mit drin?“
„Nein. Nur ein begrenzter Personenkreis vom Militär und von der CIA. Als Cameron der Spur unserer Finanzierung folgte, riefen wir die Earth Avengers ins Leben, um ihn in die Irre zu führen. Das wird bei den Vernehmungen zweifellos ans Licht kommen.“
„Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, General“, begann Paul, „aber das Militär muss nicht alle Tassen im Schrank haben, wenn es auf die Idee kommt, aus Ameisen Waffen zu machen. Warum haben Sie alle diese Anstrengungen unternommen, um so etwas Unzuverlässiges zu entwickeln?“
„Aus dem gleichen Grund, aus dem die Regierung alles andere ebenfalls macht. Geld. Das Budget der amerikanischen Armee war noch nie so dünn wie heute. Die meisten unserer Aktionen im Mittleren Osten, die nichts mit Feindberührung zu tun haben, werden inzwischen an andere Länder vergeben, und immer mehr unserer Soldaten sind bezahlte Rekruten aus Europa. Seitdem die Wehrpflicht 1974 endete, hat die Zahl der Kampfeinheiten stetig abgenommen, und bei der zunehmenden Unpopularität der Kriege, die wir führen, ist der Etat in den vergangenen zehn Jahren zu einer verschwindend geringen Summe zusammengestrichen worden. Siafu Moto waren die Antwort auf all unsere Probleme. Sie bekommen keinen Sold, keine Sozialleistungen, und niemand schert sich um die Zahl der Opfer. In einer Insektenarmee gibt es keine Bürokratie, interne Kämpfe oder Machtspiele. Sie führen Befehle aus und machen keine Probleme. Sie sind die perfekten Soldaten – fast.“
Kendra schaute auf das Probenglas in ihrer Hand, in dem die Königin steckte.
„Das sind die Krieger der Zukunft“, fuhr Dawson fort. „Auf die alten Methoden können wir uns nicht länger verlassen. Es gibt einfach nicht genug Geld oder Unterstützung. Sie werden sehen – wenn es nicht Ameisen sind, wird es irgendein anderes Geschöpf sein.“ Sie hatten das Büro des Bürgermeisters erreicht.
Dawson führte sie hinein, während er weitersprach: „Und nach fünfundzwanzig Jahren haben wir endlich eine Methode gefunden, um sie zu vernichten.“
Paul und Kendra stießen beide einen Seufzer der Erleichterung aus.
„Ihr Freund Jack Carver hat sich bei uns gemeldet. Er hat ein Dutzend Chemiker darauf angesetzt, eine Tonne Pheromone herzustellen. Sie sind gleich bereit zum Abflug.“
Kendra schloss die Augen. Auf einmal war sie so müde, dass sie kaum auf den Füßen stehen konnte.
„Wann haben Sie beide eigentlich das letzte Mal geschlafen?“
„Was für ein Tag ist heute?“, fragte Kendra zurück.
„Samstag.“
Sie kniff die Augen zusammen und versuchte nachzurechnen.
Dawson grinste. „Legen Sie sich ein paar Stunden aufs Ohr. Es wird noch ein wenig dauern, bis die Flugzeuge beladen sind.“
Die Dusche war eng wie ein Sarg. Paul und Kendra standen eng umschlungen unter einem heißen Wasserstrahl, der die Schmerzen in ihren Muskeln linderte und den Schmutz der Straßen abwusch, allerdings nicht die Erinnerungen. An Kendras linker Hüfte prangte eine faustgroße Prellung, die dunkelrot, gelb und schwarz schimmerte und genauso aussah wie die auf Pauls Rücken. Es gab noch weitere Wunden und Schrammen, doch am schlimmsten war die Erschöpfung.
Schläfrig sah Kendra zu Paul empor und legte den Kopf an seine Schulter, während der warme Dampf sie einhüllte. Sein dunkles Haar hing in feuchten Strähnen herunter, und sie wischte sie ihm aus den Augen, die noch immer so wunderschön braun waren. Leider konnte sie seine Gedanken nicht lesen.
Auf jeden Fall lag mehr als Verzweiflung in seinem Blick.
Paul drehte das Wasser ab und reichte Kendra ein Handtuch. Sie ließ es zu Boden fallen und folgte ihm in das moosgrün gestrichene Zimmer, das wie die winzigen Kabinen in U-Booten mit einem Einzelbett und einem Schrank möbliert war. Sie trat die schmutzigen Schutzanzüge, die auf einem Haufen lagen, beiseite, legte sich auf das Feldbett und schmiegte sich an Paul. Die schmale Matratze reichte kaum für beide; deshalb schlang sie Arme und Beine um ihn.
Mit offenen Augen starrte er an die Wand; sein Gesicht eine kummervolle Maske. Er erinnerte sich an das Gewicht des kleinen Mädchens in den Armen, den Geschmack von Blut im Mund und das Ende einer natürlichen Welt ohne menschliche Lebewesen. Er bemühte sich, einen klaren Kopf zu bewahren. Auf der Kommode stand das Probenglas mit der Königin, deren Körper leblos und zerstört war. Die Prahlereien und Warnungen von Colonel Garrett hallten wie eine verzerrte Melodie in seinen Ohren nach.
„Was haben wir getan?“ Er klang erschöpft und mutlos.
„Was meinst du?“ Kendras Stimme klang heiser, weil sie den ganzen Morgen geredet hatte.
„Die Natur. Mein einziger Trost. Eine Welt ohne Boshaftigkeit und Rache ist zu einem Werkzeug der Zerstörung geworden.“ Er schüttelte den Kopf. „Warum?“
„Weil wir dazu in der Lage sind“, murmelte sie. „Es ist so, wie du in deinem Buch geschrieben hast …“
„Erinnere mich bloß nicht daran. Wie eine Ameisenkolonie die Menschheit retten kann. Himmel, ich werde zur Lachnummer des Nobelpreiskomitees.“
„Aber du hattest recht.“
„Ich hatte unrecht.“ Paul erschauerte. „Wenn nun mein ganzes Leben ein Fehler war?“
„Ja, ja, Tolstoi“, nickte sie.
„Es war eine kindische Vereinfachung, Kendra. Menschen sind keine Ameisen.“
„Sind wir wirklich so anders?“ Sie lächelte, als er den Mund schmollend verzog. „Deine Forschungen haben gezeigt, dass Ameisenkolonien aus den gleichen Gründen kämpfen wie wir.
Die Variationen der Spezies. Sie haben hundert Millionen Jahre überlebt. Das beweist, dass Vielfalt nicht tödlich ist. Wir müssen nur unsere Unterschiede akzeptieren und lernen, neben anderen Kolonien zu existieren … ohne uns gegenseitig in die Luft zu jagen.“
„Ja. Das wird passieren“, entgegnete Paul. „Ameisen handeln nach Instinkt – zum Wohl der Allgemeinheit. Das größte Verhängnis des Menschen waren und sind Individuen, die eigennützig denken und handeln. Menschen wie Garrett und Dawson. Ihnen ist es egal, ob sie mit dem Rest der Welt klarkommen. Sie möchten einfach nur noch tödlichere Waffen entwickeln.“
„Das haben sie ja auch getan“, sagte Kendra. „Aber wer weiß – jetzt, da die Welt das Ergebnis sieht? Vielleicht ändert es die Menschen. Das ist ja das Schöne am Menschsein. Wir sind keine Sklaven unserer Gene.“
„Komm, Kendra“, meinte Paul herablassend, „das hier ist das richtige Leben und kein Märchen. Im Gegensatz zur allgemeinen Ansicht ändern Tragödien die Menschheit nicht. Der Krieg geht weiter. Der Irrsinn geht weiter. Nur, dass wir jetzt auch noch Ameisen in unserem Arsenal haben.“
Kendra musterte Paul aufmerksam. „Warum hast du gestern Nacht das kleine Mädchen gerettet?“
Er schaute sie nicht an. „Weil du wolltest, dass ich es tue.“
„Du hättest es mir ausreden können.“
„Worauf willst du hinaus?“
„Du wolltest sie in Sicherheit wissen, selbst wenn das bedeutete, kostbare Zeit zu verlieren und unsere Chance, die ganze Stadt zu retten, aufs Spiel zu setzen.“
„Es war eine irrationale Entscheidung.“
„Wir sind irrational, das ist der springende Punkt. Ich kann mir eine Welt ohne Mitgefühl, Tapferkeit, Kreativität und individuelle Sichtweisen nicht einmal vorstellen.“ Kendra sah ihn aufmerksam an. „Ameisen haben lange geübt, Ameisen zu sein, und sie sind wirklich gut darin. Wir lernen noch immer, menschlich zu sein.“
Schweigend lagen sie nebeneinander, während Paul über ihre Worte nachdachte.
„Warum tust du das immer wieder?“, wollte er wissen.
„Was?“
„Einen Sinn im Absurden suchen.“ Ein neuer Gedanke schoss ihm durch den Kopf. „Du hast recht. Ich denke, wir werden es eines Tages herausfinden. Wir müssen aus einem wichtigeren Grund hier sein.“
Kendra schien schockiert zu sein. „Glaubst du wirklich?“
„Ich schaue dich an – und bin mir sicher.“ Pauls Blick wurde intensiver. Er sah entschlossen aus, fast wütend. Er rollte sich über sie, schaute auf ihren Mund, die feuchten Haarsträhnen und in ihre tiefblauen Augen, wo er einen Hunger sah, der genauso groß war wie seiner.
Kendra stieß einen Seufzer aus und bettete ihren Kopf an Pauls Hals. Zärtlich biss sie in seine Haut, die vom Duschen noch ganz warm war. Seinen Körper zu spüren machte sie ganz verrückt, und sie spürte ein großes Begehren, das sie lange vergessen hatte.
Unvermittelt schoss Paul hoch. Kendra protestierte mit einem enttäuschten Seufzer und bog sich ihm entgegen, weil sie seine warme Haut an ihrer spüren wollte.
„Nein“, sagte er und drückte ihre Handgelenke auf die Matratze. Dabei verspannte er die Armmuskeln so sehr, dass sie zitterten. „Du musst es mir jetzt sagen, Kendra, denn ich will dich nicht noch einmal verlieren. Morgen oder in fünfzig Jahren können wir tot sein, aber ich will keinen Tag mehr ohne dich verbringen. Entweder meinst du es ernst – oder wir lassen es.“
Sie küsste ihn auf den Mund. „Ich meine es ernst.“