Abbys Mund hatte sich regelrecht an dem kleinen Zylinder festgesaugt. Ihr Brustkorb hob und senkte sich hektisch, aber schließlich tat das Sedacanol seine Wirkung. Ihr Atem wurde gleichmäßiger. Noch immer zitternd schob sie Ferres Hand mit dem Inhalator beiseite.
„Danke... es geht schon wieder.“
„Sie leiden an Asthma, nicht wahr?“
„Ja. Normalerweise haben meine Medikamente die Krankheit im Griff, aber wenn ich mich zu sehr aufrege, bekomme ich einen Anfall.“ Ihre Augen fixierten den eingeschüchterten Beamten, der sich die ganze Zeit keinen Zentimeter von seinem Platz gerührt hatte. „So, wie in diesem Fall.“
„Madame, es tut mir leid, wenn ich Ihnen...“, versuchte sich der Mann zu entschuldigen.
„Morgen früh um zehn Uhr bin ich wieder in Ihrem Büro. Dann erwarte ich von Ihnen, die Urne mit den sterblichen Überresten meiner Schwester, zusammen mit einer Ausfuhrgenehmigung ausgehändigt zu bekommen.“
Draußen war es noch heißer geworden. Die Sonne stand hoch am Himmel. Die Luft kochte. Abby lehnte sich neben dem Gebäudeeingang an die Wand. Das Atmen fiel ihr noch schwer, aber wenigstens pfiff ihre Lunge nicht mehr wie eine alte Dampfturbine. Die Hände gegen den kühlen Stein gelegt, die Augen geschlossen, dachte sie über dieses Land nach. Haiti war ein Alptraum. Nichts schien hier normal zu sein. Für alles gab es Regeln, die sie nicht verstand und ehrlich gesagt, auch gar nicht verstehen wollte. Wäre es nicht um die sterblichen Überreste ihrer Schwester gegangen, Abby wäre mit dem nächsten Flugzeug, das Port-au-Prince verließ, abgereist. So musste sie wohl oder übel noch einen weiteren Tag ausharren.
Wie hatte Linda bloß hier leben können?
Obwohl sie die Augen geschlossen hielt, spürte Abby wie ein Schatten auf sie fiel. Patrick Ferre.
„Alles in Ordnung? Soll ich Sie zu einem Arzt bringen?“, fragte er schüchtern.
Abby schüttelte den Kopf.
„Sie haben ihm Geld gegeben. Wie viel und wofür?“, fragte sie stattdessen.
Seine Jeans knisterte, als er sich neben sie an die Wand lehnte. Abby hörte das Rascheln einer Zigarettenpackung und kurz darauf das Schnippen eines Feuerzeugs. Obwohl sie Nichtraucherin war, empfand sie den Geruch der brennenden Zigarette als tröstlich. Linda hatte geraucht.
„So laufen die Dinge in Haiti nun mal“, erklärte Patrick. „Wenn Sie etwas möchten, müssen Sie auch etwas dafür geben.“
„In England kommen wir ohne Bestechung aus.“
„England ist im Augenblick sehr weit weg.“
„Erinnern Sie mich nicht daran. Wie viel war es?“
„Vergessen Sie es.“
„Wie viel?“, blieb Abby beharrlich.
„Sechzig Dollar.“
„Sechzig Dollar?“
„Der Typ hätte uns noch den ganzen Tag warten lassen. Das war es mir wert.“
„Ich gebe Ihnen das Geld. Nur einen Moment noch.“
„Behalten Sie es. Kaufen Sie sich etwas Schönes stattdessen.“
Abby schlug die Augen auf. Sie forschte in Ferres Gesicht, ob die letzte Bemerkung sarkastisch gemeint war. Anscheinend nicht. Er sah sie ernst an.
„Was soll ich mir hier wohl kaufen?“, höhnte Abby. „Eine Voodoo-Puppe vielleicht?“
„Reden Sie nicht so über Dinge, die sie nicht verstehen. Mit Voodoo macht man keine Späße. Hier auf Haiti ist das eine todernste Angelegenheit.“
Nun war er wütend. Er hatte die Zähne aufeinander gepresst. Abby konnte seinen Kiefer mahlen sehen. Mist, warum nur konnte sie nicht ihre vorlaute Klappe halten. Immer wieder stieß sie Leute vor den Kopf. Hauptsächlich Menschen, die es gut mit ihr meinten.
Was zum Teufel ist bloß mit mir los?
Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. „Tut mir leid, ich habe es nicht so gemeint. Es ist nur...“
„Möchten Sie, dass ich Sie zu Ihrem Hotel zurückbringe?“, unterbrach er sie unwirsch.
Na prima, dachte Abby. Jetzt ist er wirklich sauer.
„Ja, danke. Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich fühle mich ein wenig müde und würde mich gern hinlegen.“
Wortlos wandte sich Ferre um und ging zu seinem Wagen. Abby musste zusehen, dass sie mit ihm Schritt hielt. Als er die Fahrzeugtür öffnete, hatte Abby für einen Augenblick das Gefühl, er würde sie, wie bei einer Entführung, in den Wagen stoßen, aber Ferre wartete lediglich bis sie eingestiegen war, bevor er sich selbst hinter das Steuer setzte.
Er startete den Motor. Ohne auf den Verkehr zu achten, scherte er aus der Parklücke. Sein Fuß stampfte das Gaspedal durch und der Mercedes machte einen Satz nach vorn. Abby wurde regelrecht in den Sitz gepresst.
Die Wasserfälle von Saut d’Eau würde sie nun wohl doch nicht zu sehen bekommen.
8. Gelöscht
Abby stand noch unter der Dusche, als es an ihre Zimmertür klopfte. Hastig drehte sie das Wasser ab und schlang sich ein Badetuch um den Körper. Das konnte nur Patrick sein. Anscheinend hatte er ihr verziehen. Nun gut, dann würde sie ihm auch nachsehen, dass er sie ohne ein Abschiedswort vor dem Hotel hatte stehen lassen und davon gebraust war.
„Ich komme“, rief sie zur Tür hinüber. Wo waren ihre Badelatschen? Sie hatte sie doch vor der Duschkabine abgestellt. Jetzt waren die Dinger verschwunden. Nein, dort unten dem Waschbecken standen sie. Abby schlüpfte hinein. Das Handtuch rutschte, während sie zur Tür hetzte und sie aufriss.
Vor ihr stand nicht Patrick Ferre. Es war der junge Arzt aus dem Krankenhaus mit dem Abby am Morgen gesprochen hatte. Ihr wurde bewusst, wie sie auf ihn wirken musste. Halbnackt. Mit einem Griff zog sie das Badetuch hoch, bis alles bedeckt war.
Offensichtlich war ihr die Enttäuschung anzusehen, denn Mitchard sagte: „Es tut mir leid, wenn ich ungelegen komme. Soll ich...“
„Nein, schon gut. Treten Sie ein.“
Abby schloss hinter ihm die Tür. Mitchard ging bis zur Mitte des Raumes und blieb dann verlegen stehen.
„Setzen Sie sich doch“, lud Abby ein. „Möchten sie etwas trinken?“
Mitchard schaute sich um, als er suche er die Antwort auf diese einfache Frage an den Zimmerwänden.
Abby schritt zur Minibar hinüber. Die kalte Luft aus dem Kühlschrank strich erfrischend über ihr heißes Gesicht, als sie hineinspähte.
„Ich könnte Ihnen einen Whisky, einen Fernet Branca, was auch immer das ist oder ein Bier anbieten.“
„Ich nehme das Bier. Danke.“
„Es ist leider nur Dosenbier.“
„Das macht nichts.“
Abby reichte ihm ein Heineken. Mitchard nahm ein Glas vom Tisch. Kurz darauf erfüllte das zischende Geräusch den Raum, mit dem die Bierdose geöffnet wurde. Abby bekam ebenfalls Appetit auf ein Bier. Sie nahm eine weitere Dose aus dem Kühlschrank und setzte sich Mitchard gegenüber.
„Schmeckt herrlich“, meinte der Arzt. „Besonders nach einem harten, heißen Tag.“
„Sie haben mich also nicht vergessen“, sagte Abby.
Seine Augen weiteten sich, als sei es vollkommen unvorstellbar, dass ihm so etwas geschehen könnte.
„Nein, aber ich habe keine guten Nachrichten.“
Abby seufzte. Eigentlich hatte sie nichts anderes erwartet.
„Die Computerdatei Ihrer Schwester wurde gelöscht.“
„Gelöscht? Was meinen Sie mit gelöscht?“, fragte Abby.
„Ich meine damit, dass jemand die Datei absichtlich gelöscht hat.“
Das kühle Bier war vergessen. Das angenehme Gefühl frisch geduscht zu sein war verschwunden. Alles war verschwunden. Absichtlich. Nur noch dieses eine Wort hatte Bedeutung und nahm sämtlichen Platz in ihrem Bewusstsein in Anspruch.
„Warum sollte jemand so etwas tun? Und wie sind Sie darauf gekommen?“
„Warum? Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Natürlich habe ich mir darüber Gedanken gemacht und verschiedene Möglichkeit durchgespielt, aber letztendlich ergibt es keinen Sinn. Ihre Schwester ist einen natürlichen Tod gestorben. Niemanden am Krankenhaus trifft eine Schuld an ihrem Tod, also hat auch niemand etwas zu verbergen.“
„Und wenn ihr Tod doch nicht so natürlich war? Wenn jemand einen Fehler gemacht hat?“
Mitchard zuckte zusammen. „Unmöglich. Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Ihre Schwester wurde von Dr. Muncine behandelt. Einen besseren Arzt gibt es in ganz Haiti nicht.“ Er schüttelte energisch den Kopf. „Und selbst wenn ihm ein Fehler bei der Behandlung unterlaufen wäre, Muncine ist ein Ehrenmann. Er würde niemals Computerdaten löschen, um besser dazustehen.“
„Okay“, beruhigte ihn Abby. „Könnte jemand anderes ein Interesse daran haben, dass die Daten meiner Schwester verschwinden?“
„Ich wüsste nicht wer. Außerdem wozu das alles? Jeder am Krankenhaus kennt den Fall Ihrer Schwester. Es bringt nichts, die Daten zu löschen. Am Tag ihrer Einlieferung waren Krankenschwestern, Pflegepersonal und Ärzte anwesend. Mindestens ein Dutzend Menschen wissen von ihrem Tod. Es macht einfach keinen Sinn.“
„Lassen wir den Grund dafür einen Augenblick außen vor. Wie haben Sie die Sache entdeckt?“
„Eigentlich ist Corinne Savalle, die Verwaltungschefin, dahinter gekommen. Sie schwört Stein und Bein, sie habe die Daten selbst in den Computer eingegeben. Ich bat sie, die Sache zu überprüfen und Corinne fand die Datei Ihrer Schwester allerdings leer. Alle Angaben waren gelöscht worden.“
„Was ist mit den schriftlichen Unterlagen, nach denen Sie sehen wollten?“
Mitchards Gesichtsausdruck wurde noch betrübter. „Wir haben überall gesucht. Entweder wurde das Krankenblatt an einer unmöglichen Stelle abgelegt oder jemand hat dafür gesorgt, dass es nicht gefunden werden kann.“
„Sie meinen damit, jemand könnte die Unterlagen vernichtet haben.“
„Ja“, gab Mitchard zu. „Auch wenn ich mir das nicht vorstellen kann. Es bleibt die einzige Möglichkeit.“
„Mr. Mitchard wissen Sie, was das bedeutet?“
„Ja.“
„Etwas ist beim Tod meiner Schwester nicht mit rechten Dingen zugegangen und jetzt gibt sich jemand alle Mühe, die Spuren zu beseitigen.“
Mitchard schwieg und knetete seine Hände als läge ein Gummiball darin. Abby beobachtete sein Mienenspiel. Sie sah, wie er grübelte, wie er Gedanken abwog und wieder verwarf.
„Ich gebe zu, so sieht es aus“, meinte Mitchard schließlich.
„Was werden Sie in der Sache unternehmen?“, fragte Abby.
Seine dunklen Augen richteten sich auf sie. Ein sonderbarer Ausdruck lag darin, fast so, als versuchten sie Abby die hoffnungslose Wahrheit zu vermitteln.
„Ich kann nichts tun.“ Mitchard stand auf und ging zum Balkon hinüber. Den Rücken ihr zugewandt, sprach er weiter. „Sicherlich könnte man die Polizei einschalten, aber glauben Sie mir, es macht wenig Sinn. In Port-au-Prince werden täglich mehr Verbrechen verübt als in New York City, aber im Gegensatz zu Amerika gibt es hier nur ein Zehntel der nötigen Polizeibeamten, die nicht nur hoffnungslos überlastet, sondern auch noch durch und durch korrupt sind.“
„Soll das bedeuten, Sie wollen die Sache auf sich beruhen lassen?“ Abbys Stimme klang hart, als sie die Worte ausstieß. Zu hart. Mitchard begann heftig mit den Augen zu blinzeln
„So habe ich das nicht gemeint“, begann er sich zu rechtfertigen. „Ich wollte Ihnen nur die Aussichtlosigkeit eines solchen Versuchs verdeutlichen.“
„Meine Schwester ist in Ihrem Land an einer unbekannten Krankheit gestorben. Unterlagen, die Aufschluss über den Krankheitsverlauf und ihren Tod geben könnten, wurden vernichtet. Der Leichnam meiner Schwester wurde ohne meine Erlaubnis eingeäschert. Und nun...“
„Sie wurde eingeäschert?“, fragte Mitchard verblüfft. „Das wusste ich nicht.“
„Ich war heute beim Gesundheitsministerium, um die Rückführung des Leichnams nach England in die Wege zu leiten. Der dortige Beamte erklärte mir allerdings, es gäbe keinen Leichnam mehr. Meine Schwester wurde mit Rücksicht auf die Gesundheit der haitianischen Bevölkerung verbrannt.“
„Seltsam“, sagte Mitchard. Es klang als spräche er mit sich selbst. „Das ist sehr ungewöhnlich.“
„Wieso ist das ungewöhnlich?“, hakte Abby nach.
Der junge Arzt sah von seinen Händen auf. In seinen Augen entdeckte Abby, dass er beunruhigt war.
„Es widerspricht einfach den üblichen Gepflogenheiten. In Haiti messen die Menschen einem Begräbnis im herkömmlichen Sinn große Bedeutung zu.“
„Der Beamte erklärte mir, die Einäscherung wäre aufgrund der möglichen Seuchengefahr angeordnet worden“, sagte Abby.
„Ein dürftiger Grund. In Haiti sterben viele Menschen an Infektionskrankheiten, aber meinem Wissen nach, hat das Ministerium trotzdem noch nie eine Einäscherung befohlen. Ihre Schwester war eine Ausländerin, die sich nur vorübergehend auf Haiti aufhielt. Ein verschlossener und versiegelter Zinksarg wäre vollkommen ausreichend gewesen, um der Sicherheit der öffentlichen Gesundheit Genüge zu tun. Außerdem hätte man erst telegrafisch Ihr Einverständnis für eine Einäscherung einholen müssen.“
Abby erhob sich langsam von ihrem Platz. Ihre Bewegung wirkte kontrolliert, aber innerlich zitterte sie. „Wissen Sie, was ich denke“, wandte sie sich an Mitchard. „Ich glaube, bei der Behandlung meiner Schwester wurde ein furchtbarer Fehler begangen. Dieser Fehler sollte nicht ans Tageslicht kommen...“
Mitchard hob den Kopf, sah Abby direkt an. Er setzte zu einer Erwiderung an, ließ es dann aber bleiben.
„... und der letzte Beweis, um zu klären, was mit meiner Schwester geschehen ist, wurde vernichtet – ihr Leichnam. Alle Hinweise und Unterlagen über Linda Summers sind verschwunden oder zerstört worden. Fast hat es den Anschein, als hätte es meine Schwester nie gegeben, als wäre sie nie in Haiti gewesen.“
Abby trat näher an Mitchard heran. Sie war kleiner als er und musste den Kopf in den Nacken legen, damit sie ihm in die Augen blicken konnte.
„Aber das werde ich nicht hinnehmen. Meine Schwester ist unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen und ich werde herausfinden, wer für ihren Tod verantwortlich ist.“
Mitchard war gegangen. Nicht wortlos, nein, er hatte Abby versichert, dass er sie verstehe und ihren Verdacht gerechtfertigt finde, sich aber nicht vorstellen könne, warum jemand ein Interesse daran haben könne, über den Tod ihrer Schwester den Mantel des Schweigens zu legen.
Abby saß allein in ihrem Hotelzimmer und grübelte über ihre nächsten Schritte nach. Was konnte sie noch tun? Wie konnte sie herausfinden, was mit ihrer Schwester seit der Einlieferung in das Hospital geschehen war?
Zunächst würde sie nochmals zum Krankenhaus fahren und versuchen, mit Dr. Muncine, dem behandelnden Arzt, in Verbindung zu treten. Er sollte in der Lage sein, sie über die Vorkommnisse aufzuklären. Zumindest konnte er ihr von Lindas letzten Stunden berichten und was er unternommen hatte, um sie am Leben zu erhalten.
Sollte das Treffen mit Muncine ihre Zweifel nicht ausräumen, gab es immer noch die Britische Botschaft in Port-au-Prince, die intervenieren konnte und ein Interesse daran haben sollte, unter welchen Umständen ihre Schwester ums Leben gekommen war. Vielleicht konnte die Botschaft Druck auf die haitianischen Behörden ausüben, damit Ermittlungen im Fall von Linda Summers aufgenommen werden.
Mehr kann ich nicht tun, dachte Abby.
Innerlich noch aufgewühlt durch die Ereignisse des Tages und Dr. Mitchards Eröffnung, dass Lindas Daten absichtlich gelöscht worden waren, leerte Abby ihr inzwischen lauwarmes Bier. Es war jetzt kurz vor sieben Uhr abends. Draußen vor dem Fenster nahm das Licht langsam ab. Abby spürte, wie sich ihr leerer Magen zusammenzog. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen, und der Gedanke allein im Hotel zu speisen, weckte in ihr ein Gefühl der Verlorenheit.
Was war mit Patrick? Er hatte sich nicht mehr gemeldet. Bedeutete dies, dass sie ihn nun nicht mehr wiedersehen würde? Er war freundlich und hilfsbereit gewesen und sie hatte seine Freundlichkeit mit Sarkasmus und ätzenden Bemerkungen beantwortet.
Ich rufe ihn an, entschloss sich Abby. Wenn er mich abblitzen lässt – gut, aber ich werde mich wenigstens für meinen Auftritt heute Mittag entschuldigen.
Sie nahm ihre Handtasche vom Garderobenhaken und fischte die Karte heraus, die Patrick an den Blumenstrauß geheftet hatte. Kurz entschlossen hob sie den Hörer von der Station und tippte seine Nummer ein.
Das Telefon schien endlos läuten zu wollen, bis endlich jemand abhob.
„Ferre“, meldete sich seine dunkle Stimme. In Abbys Magen begann ein Schwarm Schmetterlinge herumzuflattern.
„Hallo, hier ist Abby Summers.“ War das ihre Stimme, die so nervös krächzte?
„Ja?“
„Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Mein Benehmen heute Nachmittag war unverzeihlich.“
„Unverzeihlich war es nicht. Es war nur unpassend.“
„Ja und es tut mir leid. Sie waren...“
„Genug“, lachte es aus dem Hörer. „Lassen Sie uns lieber überlegen, was wir mit diesem herrlich Abend anfangen sollen.“
Abbys Herz machte einen Sprung. „Sie möchten etwas mit mir unternehmen?“
„Ja, das würde ich sehr gern“, sagte er leise. „Ich möchte nicht, dass sie sich nur an die schlechten Seiten meiner Heimat erinnern, wenn Sie nach England zurückkehren. Haiti hat soviel Wunderbares zu bieten und einen kleinen Teil möchten ich Ihnen heute Abend zeigen.“
Abbys Sorgen zerflogen in einem Sturm der Gefühle.
„Wann soll ich Sie abholen?“, fragte Patrick.
„Wann können Sie hier sein?“
„In zehn Minuten. Reicht Ihnen...“
„Ich warte unten auf Sie.“
9. Blutrote Sonne
Abby war bereits nach fünf Minuten unten. Sie hatte nur kurz ihr Aussehen kontrolliert und stand nun vor dem schmiedeeisernen Tor und blickte erwartungsvoll die Rue Cadet Jérémie hinunter. Patrick kam später als angekündigt, aber er entschuldigte sich mit einem Lächeln und dem Hinweis auf den vielen Verkehr.
Er hatte sich umgezogen. Die Jeans war einer leichten Baumwollhose gewichen, zu der er ein farbenfrohes Hemd trug. Seine nackten Füße steckten in braunen Lederslippern. Die Sonnenbrille ins Haar geschoben, sah er wie der Inbegriff eines reichen Playboys aus, aber Abby fand, dass seine offene Art diesen Nachteil wieder wettmachte. Sie beugte sich zum Fahrzeugfenster hinein und hauchte einen Kuss auf seine Wange. Der süße Geschmack seines Rasierwassers brannte leicht auf ihren Lippen, als sie sich wieder zurückzog, um das Auto herumging und auf der Beifahrerseite einstieg.
„Wofür war das?“, fragte Patrick schmunzelnd.
„Weil Sie so nett waren und mir verziehen haben.“
„Mhm, ich denke, Sie dürfen ab jetzt öfters grob sein.“
Abby wollte zu einer erneuten Entschuldigung ansetzen, aber Patrick erriet ihre Gedanken und winkte ab.
„Haben Sie Lust, Haiti kennen zu lernen?“, fragte er stattdessen. „Ich meine damit, wie es wirklich ist. Unverfälscht.“
„Ja“, sagte Abby.
„Gut“, meinte Patrick zufrieden. „Dann geht es jetzt los.“
Sie verließen Port-au-Prince in Richtung Westen. Die untergehende, blutrote Sonne spiegelte sich im Meer und erschuf aus einen Ozean aus flüssigem Feuer, während die Ortschaften an dem schwarzen Mercedes vorbeiflogen. Légoâne, Grand Goâve, Petit Goâve, Miragoâne und viele Dörfer, deren Namen Abby gleich wieder vergaß. Bei Baradéres verließen sie die Hauptstraße und folgten einer schlecht ausgebauten Nebenstraße in das hügelige Gebirge. Die Straße wurde unwegsamer, aber der Mercedes fuhr kaum langsamer, obwohl es immer steiler hinaufging. Schließlich erreichten sie ein winziges Dorf, dessen verblassendes Ortsschild den Namen Palestine verriet.
Patrick lenkte den Wagen geschickt durch die engen Gassen und hielt schließlich vor einem nach allen Seiten offenen Gebäude, das Abby im ersten Moment an eine Scheune erinnerte. Ein verrostetes Wellblechdach ruhte auf roh behauenen Holzpfeilern. Die ganze Konstruktion sah nicht nur luftig, sondern auch baufällig aus. Abby fragte sich, was es hier wohl zu sehen gab. Der Motor wurde abgestellt und Patrick stieg aus, um ihr die Wagentür zu öffnen. Ihr leichtes Sommerkleid bauschte sich im Wind, der von den Hügeln herabstrich. Es war ein angenehmes Gefühl und Abby erschauerte wohlig.
Sie bemerkte die vielen Menschen, die auf das Gebäude zuhielten. Es waren fast ausnahmslos Männer. Viele in Jeans mit aus den Hosen hängenden Hemden und Baseballkappen auf dem Kopf. Die Passanten unterschieden sich durch ihre ärmliche Kleidung auffällig von ihnen beiden, aber Patrick schien das nicht zu stören. Er fasste nach Abbys Arm und zog sie mit sich.
Als sie näher kamen, entdeckte Abby überrascht, dass es sich bei dem Schuppen um eine Arena handelte. Der Boden war mit Sägespänen und Sand gefüllt. Darum zog sich ein Rondell aus gemauerten, ungestrichenen Backsteinen hinter das sich die Zuschauer knieten oder auf mitgebrachte Klappstühle setzten. Der Rauch unzähliger Zigaretten lag in der Luft, wurde aber durch den Wind in kleine Wolken zerfetzt, die aus dem Gebäude schwebten. Es roch nach Holz und etwas anderem. Abby brauchte einen Moment, bis sie den Geruch einordnen konnte. Rum. Nun sah sie auch die Flaschen, die von Hand zu Hand wanderten und aus denen die Männer in großen Schlucken tranken.
„Was machen wir hier?“, raunte Abby Patrick zu.
Er legte den Finger über die Lippen. „Warten Sie. Gleich geht es los.“
Der Satz war noch nicht beendet, als ein an der Decke der Baracke verborgener Scheinwerfer anging und die Arena in gleißendes Licht tauchte, während die Zuschauer im Schatten verschwanden. Ein dicker Mann mit beginnender Glatze, aus dessen Hose ein schwabbeliger Bauch quoll, betrat den Kreis und hob beide Hände. Sofort erstarb das allgegenwärtige Gemurmel. Mit lauter Stimme sprach er in die Runde, ohne dass Abby auch nur ein Wort verstand.
„Was sagt er?“, fragte Abby. „Um was geht es hier?“
Patricks Augen blitzten in der Dunkelheit auf, als er sich ihr zuwandte.
„Dies ist eine ‚Gallera’ und das ist der Veranstalter und gleichzeitig der Wettrichter. Er stellt die Kontrahenten des ersten Kampfes vor.“
Abby wollte weiterfragen, wollte wissen, wer denn da kämpfen werde, als zwei weitere Männer die Arena betraten. Jeder von ihnen hielt einen Hahn fest in den Händen, den er ehrfurchtsvoll, wie ein Ministrant die brennende Kerze in der Kirche, dem Publikum entgegenstreckte. Während die Männer einmal die Arena umrundeten, erklärte Patrick Abby, was sie nun erwartete.
„Der Fettsack, der die Ansprache gehalten hat, wird gleich die Wetteinsätze annehmen. Die Ausbilder der Hähne werden ‚Galleros’ genannt. Man sagt, dass man für diesen Beruf geboren sein muss und ihn nicht erlernen kann. Auch die beiden Galleros verkünden ihre Pflichteinsätze, denn umsonst gibt es hier gar nichts.“
Patrick deutete auf einen Gallero, der nun direkt vor ihnen anhielt, um ihr und Patrick seinen Hahn zu präsentieren.
„Der kreolische Hahn heißt ‚El criollo’“, erläuterte Patrick. „Er wird bis zu vier Pfund schwer. Man klassifiziert ihn nach Herkunft und Farbe. Am vornehmsten gilt der braune „indio“. Danach kommt in der Reihenfolge der gelblich gefiederte ‚talisayo’ und der zweifarbige ‚canelo’. Den weißen ‚jabado’ schätzt man am wenigsten, obwohl mitunter besonders wilde Hähne darunter sind.“
„Ist das nicht Tierquälerei, sie gegeneinander kämpfen zu lassen?“, fragte Abby vorsichtig.
„In europäischen Augen mag es so erscheinen, aber es ist nicht ganz so schlimm, wie es aussieht. Wenn sich ein Sieger abzeichnet, wird der Kampf durch den ‚juez de valla’ gestoppt, und selbst starke Blutungen hören bei einem Hahn sofort auf, wenn man seine Füße in kaltes Wasser stellt. Für den Besitzer, den ‚aficionado’, stellt so ein Hahn den wertvollsten Besitz dar, den er hegt und pflegt und dem er mehr Liebe und Aufmerksamkeit entgegenbringt als Frau und Kindern. So ein Hahn wird mit einer strengen Diät aus Getreidekörnern und Insektenlarven großgezogen. Wer es sich leisten kann, gibt dem Tier einmal pro Woche rohes Fleisch, Tomaten und Bananen. Nahrungsmittel, auf die der Besitzer selbst verzichtet. Die Hähne werden gebadet, mit Alkohol und Öl eingerieben, um die Muskeln zu kräftigen.“ Patrick blickte nun ernst. „Bitte denken Sie bei dem nun folgenden Spektakel auch daran, was ihr Europäer mit euren Hühnern macht. Ihr haltet sie in engen Käfigen, die nicht größer als ein Blatt Schreibmaschinenpapier sind und fragt nicht danach, woher das billige Geflügel und die Eier zu Spottpreisen kommen. Dagegen lebt so ein ‚El criollo’ wie ein Fürst.“
Abby wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Der Wettrichter rief die beiden Männer mit ihren Hähnen zu sich in die Mitte der Arena und Patrick sagte ihr, dass nun versucht würde herauszufinden, ob sich die Tiere auch genügend hassen. „Verheiraten“ nenne man dies. Die Männer bewegten ihre Tiere aufeinander zu, ohne sie loszulassen und zogen sie sofort zurück, wenn einer der Hähne Anstalten machte, nach dem anderen zu hacken. Abby sah, dass die Tiere immer wilder wurden und es kaum noch erwarten konnten, übereinander herzufallen. Der Wettrichter rief immer wieder in die Menge der Zuschauer und notierte Zurufe und Handzeichen auf Wettzetteln. Die Atmosphäre füllte sich mit der erwartungsvollen Erregung der Zuschauer. Ein Prickeln lag in der Luft, das schließlich auch Abby erfasste. Sie spürte, wie ihr Blut schneller durch die Adern floss und sich Herzschlag beschleunigte.
„Jetzt werden die Wetten abgeschlossen“, sagte Patrick, den das Fieber nun auch gepackt hatte. „Eine Wette ist absolut bindend, auch wenn sie nur mündlich erfolgt. Es ist ungefähr so, wie an den großen Börsen, an denen sich Käufer und Verkäufer Angebote zurufen. Wenn alle Wetten notiert sind, geht es los.“
Schließlich war es soweit. Das Geschrei erstarb und machte einer atemlosen Stille Platz. Den Hähnen wurden nun, anstelle der schon früher abgesägten Sporen, Schildkrötenkrallen und aus Metall geschliffene Sporen angelegt. Als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, bewegten sich die Galleros noch einmal durch das Rondell. Der Schiedsrichter betrat nun die Arena, breitete seine Hände gebieterisch aus, bevor er laut zum Start pfiff. Die Männer setzten ihre Hähne ab und zogen sich zurück.
Zunächst belauerten sich die beiden Tiere mit wütend herausgestellter Brust, dann fielen sie urplötzlich übereinander her. Die Menge kreischte auf, während die Hähne in einem Wust aus wilden Bewegungen, Flügelschlagen und Federn verschwanden. Abby konnte kaum etwas erkennen. So plötzlich wie es begonnen hatte, war das Spektakel auch schon vorbei. Einer der Hähne verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. Sofort schritt der Schiedsrichter ein und schützte den Verlierer, indem er ihn aus der Reichweite des Angreifers zog. Der ‚juez de valla’ hob den Verlierer hoch, sodass ihn alle im Raum sehen konnten, dann verkündete er sein Urteil.
„Was sagt er?“, fragte Abby.
„Er sagt: ‚la canillera’, eine Fußverletzung. Zum Beweis zeigt er die Wunde, damit niemand nachher behaupten kann, er hätte den Kampf zu früh abgebrochen. Niemand hat Interesse an einem toten Tier, auch der Besitzer des Verlierers nicht, dazu sind die Hähne viel zu kostbar. Er wird froh sein, dass es keine ‚golpe de vaca’, ein tiefer tödlicher Stich, eine ‚bolsón’, eine tödliche Verwundung der Halsschlagader oder eine ‚el golpe de sangre’, eine Lungenverletzung ist. So muss er zwar die Schmach, den Spott und den Verlust seines Wetteinsatzes hinnehmen, aber sein Hahn kann bald wieder kämpfen oder für Nachwuchs sorgen.“
„Haben Sie auch gewettet?“, wollte Abby wissen, die beobachtet hatte, wie Patrick kurz vor dem Kampf dem Wettrichter ein Zeichen gegeben hatte.
„Ja, auf den Verlierer.“
„Dann hatten Sie heute kein Glück.“
Patrick lächelte Abby an. „Sie sind hier. Mehr Glück brauche ich nicht.“
Es gab nur einen Hahnenkampf, danach zerstreute sich die Menge schnell. Als Abby und Patrick zurück zum Auto gingen, sahen sie viele der Männer in kleinen Gruppen zusammenstehen und heftig den Ausgang des Kampfes diskutieren.
Abby ließ sich die in die weiche Polsterung des Mercedes sinken und dachte darüber nach, was sie gerade erlebt hatte. Die ganze Sache hatte eine Ursprünglichkeit, eine Natürlichkeit enthalten, die wie das Leben selbst war. Sieg oder Niederlage. Hoffnung und Enttäuschung. Alles lag dicht beisammen und konnte sich in Sekundenbruchteilen zum Positiven oder Negativen verändern. Das Rad der Fortuna drehte sich ständig, aber es ließ sich nicht beeinflussen.
In England hatte sie derartige Gefühle nie kennengelernt. Als Kind hatte sie einmal mit ihrem Vater das berühmte Pferderennen in Ascot besucht. Das eigentliche Rennen war dort nur Nebensache und Hintergrund für den Adel und die Reichen gewesen, die wie jedes Jahr die Gelegenheit nutzten, sich und ihren Wohlstand zu präsentieren. Die Frauen in eleganten Sommerkleidern und mit Hüten, die kein normaler Mensch auf der Straße tragen würde, wirkten wie Paradiesvögel, neben denen die Männer in ihren steifen Anzügen zu Statisten verblassten. Abby war staunend zwischen all den Menschen umhergegangen, aber sie hatte sich niemals wieder an einem Ort so deplaziert gefühlt, wie damals in Ascot. Kein Vergleich zur der ausgelassenen, aufgeheizten Stimmung in der Gallera.
„Das war interessant“, wandte sich Abby an Patrick, der den Motor startete.
„Hat es Ihnen gefallen?“
„Gefallen ist das falsche Wort. Ich stehe Tierkämpfen grundsätzlich abneigend entgegen, aber das Erlebnis in der Arena hat mich etwas über das Leben gelehrt.“
„Dann hat sich der Besuch gelohnt.“
„Was haben wir jetzt vor?“, fragte Abby und lehnte sich wohlig im Sitz zurück.
„Haben Sie schon einmal Merengue getanzt?“
„Was?“
„Lassen Sie sich überraschen“, schlug Patrick vor.
Sie verließen Palestine Richtung Süden und erreichten über eine schmale Bergstrasse die Hafenstadt Les Cayes. Patrick parkte den Mercedes direkt am Hafen, an einer Stelle, die das Parken hier deutlich verbot. Als Abby ihn darauf ansprach, ob er keine Sorge habe, abgeschleppt zu werden, grinste er nur.
Es war kühler geworden. Abby legte sich die mitgenommene Strickjacke um die Schulter und schlenderte mit Patrick durch die engen Hafengassen. Zahlreiche Pärchen waren unterwegs, junge Männer und Frauen, die eng umschlungen die Straßen entlang spazierten. Die Luft roch nach dem nahen Meer und war erfüllt von karibischer Musik, die aus Cafes und Bars nach draußen drang. Abby beobachtete erstaunt, dass viele der Passanten auf der Straße dazu tanzten. Ein Lächeln erschien in ihrem Gesicht.
„Haben Sie Hunger?“, fragte Patrick.
„Oh ja.“
„Dann wollen wir etwas essen.“
Er führte sie zu einem kleinen Straßenstand, hinter dem ein hutzliger Mann in einen massiven, schwarzen Topf rührte, der von einem offenen Grill erhitzt wurde. Der Duft, der Abby entgegen wehte, ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen.
„Was kocht er da?“, fragte sie.
„Colombo. Ein kreolisches Curry.“ Patrick gab die Bestellung für zwei Portionen auf. „In Pétonville zahlen Sie dafür ein Vermögen, aber glauben Sie mir, hier gibt es das beste Colombo der ganzen Insel.“
Der Verkäufer schöpfte zwei Plastikteller voll, reichte ihnen Löffel und Servietten, bevor er mit einer eleganten Verbeugung die Bezahlung entgegen nahm und sich überschwänglich für das großzügige Trinkgeld bedankte.
Vorsichtig die Teller balancierend, gingen Patrick und Abby ein paar Meter weiter und setzten sich auf die Hafenmauer.
„Es schmeckt köstlich“, versicherte Abby, nachdem sie den ersten Löffel probiert hatte. Patrick zwinkerte ihr zu, widmete sich dann aber mit Hingabe seinem eigenen Essen.
Gesättigt brachten sie die Teller und das Besteck zurück zum Stand, wo inzwischen eine lange Menschschlange anstand. Der Verkäufer bedankte sich nochmals und winkte ihnen hinterher, als sie ihren Bummel durch die Gassen fortsetzten.
Les Cayes war nicht unbedingt hübsch zu nennen. Auch hier zeigten sich deutlich der Verfall und die Armut der Menschen, aber die Stimmung auf den Straßen war wesentlich freundlicher als in Port-au-Prince. Niemand starrte Abby auffällig an, obwohl hier kaum Weiße unterwegs waren. Patrick erklärte ihr, dass es in der Hauptstadt um diese Uhrzeit keineswegs ratsam war, durch die Straßen zu spazieren und das weiße Touristen nachts dort um ihr Leben fürchten mussten.
„Warum ist es hier anders?“, wollte Abby wissen.
Patrick zuckte mit den Schultern. „Die Menschen von Les Cayes sind ein besonderer Schlag. Manchmal habe ich das Gefühl, es sind gar keine Haitianer. Sie sind offen und warmherzig. Vielleicht liegt es daran, dass sie in einer alten Hafenstadt leben und seit Jahrhunderten daran gewöhnt sind, Fremde aufzunehmen.“
„Woher stammen Sie?“
„Aus Trou du Nord, nicht weit von Cap Haïtien entfernt.“
„Wie ist es dort?“, wollte Abby wissen.
„Anders“, meinte Patrick einsilbig.
Offensichtlich war dies ein wunder Punkt. Abby beschloss, das Thema ruhen zu lassen und fragte stattdessen: „Was ist den nun Merengue?“
Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. „Kommen Sie mit.“
Es war nur eine kleine Bar, aber man hatte die Tische zur Seite gestellt, um eine Tanzfläche zu schaffen. Die Glastüren des Eingangs waren zur Seite geschoben worden, damit die Tanzpaare draußen auf der Veranda zusätzlichen Platz fanden. Patrick führte Abby in die Mitte des Raumes. Er lächelte nach links und rechts, begrüßte Bekannte auf Kreolisch, die ihrerseits ihnen freundlich zuwinkten. Direkt neben der Theke hatte eine dreiköpfige Combo Aufstellung genommen und begann nun ein Lied zu spielen.
Patrick umfasste Abbys Hüfte mit der einen Hand, während sich seine andere um ihre Finger schlossen.
„Und jetzt?“, fragte Abby.
„Schließen Sie die Augen und fühlen den Rhythmus.“
Abby zögerte einen Moment, aber dann gab sie seiner Aufforderung nach. Patrick zog sie enger an sich und machte den ersten Tanzschritt. Unbewusst folgte Abby der Bewegung, aber dann stolperte sie über seine Füße. Sie schlug die Augen auf.
„Nein“, sagte Ferre sofort. „Lassen Sie die Augen geschlossen. Sie müssen die Musik spüren.“
„Ich werde sie verletzten“, lachte Abby.
„Nein, dass werden Sie nicht.“
Abby schloss erneut die Augen. Der heiße Rhythmus durchflutete ihren Körper, wie eine Meereswelle, die an Land strömt. Patricks nächste Bewegung ahnte Abby mehr, als dass sie sie spürte. Automatisch machte sie den richtigen Schritt. Er führte ihren Körper in eine wilde Drehung und es war als könne sie fliegen. Völlig schwerelos. Der Boden bewegte sich unter ihren Füssen, während sie selbst schwebte.
Ein Lied folgte dem nächsten und Abby schien für diese Musik, für diesen Tanz geboren. Sie stolperte nur noch zweimal, doch das war die Schuld anderer Tanzpaare, die mit ihnen zusammenstießen, ansonsten bildeten ihre beiden Körper eine perfekte Einheit und verschmolzen miteinander zu einem neuen Wesen.
Die Zeit verging in einem Taumel aus leidenschaftlicher Musik, dem Gefühl, Patricks Körper so eng an sich zu spüren und seinen heiseren Worten, wenn er ihr ein Kompliment machte. Schließlich ließen sie sich erhitzt in Korbstühle sinken und tranken Rum mit Limettensaft.
„Mein Gott, ist mir heiß“, stöhnte Abby lachend und fächelte sich mit Hand Luft zu.
„Sie tanzen wunderbar.“
„Wahrscheinlich werden Sie ihre Wunden erst morgen entdecken.“
Sein jungenhaftes Grinsen tauchte wieder auf. „Sind Sie bereit?“
„Nicht schon wieder Tanzen. Ich kann nicht mehr.“
„Nein, keine Sorge, für heute ist es genug. Aber ich möchte Sie noch an einen anderen Ort entführen.“
„Ist es nicht schon spät?“, meinte Abby.
„Für junge Menschen wie uns, in einer derartigen Nacht, ist es niemals spät.“ Er streckte seine Hand nach ihr aus und zog sie aus dem Sessel.
„Wohin wollen Sie diesmal?“, fragte Abby.
Patrick legte seinen Zeigefinger über seine Lippen.
„In eine andere Welt“, flüsterte er geheimnisvoll.
10. Der Tempel
Abby konnte später nicht mehr sagen, wie lange sie durch die Nacht gefahren waren, aber es schien eine Ewigkeit zu dauern. Die Landschaft, eine Komposition aus grauen Schatten, flog an dem Mercedes vorbei, so als befänden sie sich nicht mehr auf dieser Welt, sondern rasten durch das nachtschwarze All.
Als Patrick den Wagen endlich an den Straßenrand lenkte, fühlte Abby sich müde und erschöpft. Nur mühsam quälte sie sich aus dem Sitz und folgte Patrick, der zu einem schmiedeeisernen Tor ging und an einem altmodischen Klingelzug zog.
„Wo sind wir hier?“, fragte Abby, die kaum noch die Augen offen halten konnte.
„Das ist ein Hounfour, ein Voodootempel mit dem Heiligtum und dem Schrein.“
Mehr erklärte er nicht und Abby fragte auch nicht nach. Ein Mann erschien aus der Dunkelheit. Gespenstisch leise schritt er heran und öffnete das Tor, das mit einem Ächzen aufschwang. Der Mann war um die fünfzig Jahre alt, mit einem spärlichen Kinnbart. Gebückt huschte er vor ihnen den Weg entlang. Abby begann zu frösteln, aber es war nicht die nächtliche Kühle, die sie zittern ließ. Sie spürte das Unbekannte und es machte ihr Angst.
„Müssen wir...“, wollte sie Patrick fragen, aber der nahm ihre Hand und zog sie mit sich.
Der Alte führte sie in einen überdachten Hof. Ein halbes Dutzend Menschen, Schwarze, Weiße und Mischlinge saßen auf dem festgestampften Lehmboden und wiegten mit geschlossenen Augen den Oberkörper, obwohl keine Musik zu hören war. Patrick setzte sich mit untergeschlagen Beinen nieder und bedeutete ihr, es ihm gleichzutun.
Ein Mädchen in weißem Gewand tauchte aus der Dunkelheit auf und betrat das Peristyl.
„Das ist eine hounsis, eine Tempeldienerin“, erklärte Patrick leise.
Das Mädchen führte eine Drehung nach zwei Richtungen aus, stellte eine Kerze auf den Boden und entzündete sie. Das Licht der kleinen Flamme zuckte über die Gesichter der Anwesenden, ließ sie geisterhaft aussehen. Abbys Aufmerksamkeit wurde auf eine korpulente Frau gelenkt, die alle Bewegungen des Mädchens mit einem Tonkrug nachahmte.
„Die mambo, die Voodoo-Priesterin“, hauchte Patrick neben ihr. Seine Augen glänzten im Schein der Kerze und Abby bemerkte, wie er gebannt das Ritual verfolgte. Inzwischen hatte die Priesterin einen weiteren Tonkrug in die Hand genommen, aus dem sie mit Maismehl ein geheimnisvolles Muster auf den Boden zeichnete. Abby wusste nicht, dass dies vévé, das Symbol eines loas oder Geistes war, der dadurch angerufen wurde.
Anschließend nahm die mambo ein Gefäß mit Wasser und drehte sich in die vier Himmelsrichtungen. Schließlich goss sie das Wasser an den mittleren Pfeiler des Peristyls. Hier sollten die angerufenen Geister erscheinen. Als sie damit fertig war, schüttete sie das restliche Wasser über die drei Trommeln, die auf dem Boden standen und ein wenig davon auf den Lehm des Einganges zu Peristyl.
Nun erschien der houngan, der Voodoopriester. Abby hatte ihn nicht kommen sehen. Urplötzlich stand er da. Seine Präsenz war überwältigend. Ein hagerer, hochgewachsener Schwarzer mit kahlem Kopf und langen Armen, die er nun erhob, als wolle er die Anwesenden segnen. Sein weites Gewand bauschte sich in einer unsichtbaren Brise. Ein raschelndes Geräusch, fast wie ein heimliches Flüstern erklang, als er seine Hände in die weiten Ärmel seines Gewandes steckte.
Die mambo bedeutete den gebannten Zuschauern sich zu erheben und führte die kleine Gruppe gegen den Uhrzeigersinn um den poteau mitan, den Mittelpfeiler herum. Schließlich mussten alle Versammelten vor dem houngan auf die Knie fallen. Abby war längst von dem Geschehen fasziniert und wunderte sich überhaupt nicht, als sie vor einem vollkommen Fremden im Staub saß.
Der Priester hob eine Rassel und begann zu beten. Uralte Worte einer rituellen Sprache flogen durch den offenen Raum und verloren sich im Nichts.
Plötzlich und unerwartet setzten Trommeln ein. Abby konnte die Trommler nirgends entdecken, das durchdringende Stakkato der cata, einer kleinen Trommel, die mit zwei dünnen Schlegeln geschlagen wurde, versetzte sie in Aufruhr. Ihr Herz pochte in ihrer Brust und das Blut rauschte durch ihre Adern. Der Schlag der cata wurde vom donnernden Rollen einer größeren Trommel abgelöst. Kurz darauf setzten die maman ein. Es war, als wolle die Erde bersten. Schließlich wurden alle drei Trommeln gleichzeitig geschlagen. Jede in ihrem eigenen Rhythmus und trotzdem war das Zusammenspiel der Klänge überwältigend.
Die Stimme der mambo durchschnitt die Nacht. Ihr Anruf an die Götter folgte dem Klang der Trommeln, steigerte sich mit jedem Schlag der unsichtbaren Musiker.
Tempeldienerinnen erschienen im Ring des Peristyls, tanzten in wilden Bewegungen, so als seien sie alle von einer fernen Macht gesteuert. Ihre Schultern, Arme und Beine zuckten im Rhythmus der Trommeln. Der Tanz schien eine Ewigkeit zu dauern, aber plötzlich setzte die maman, die große Trommel aus dem Stakkato aus, schwieg und hinterließ eine qualvolle Leere. Eines der Mädchen erstarrte. Dann setzte die Trommel wieder ein und ihr Dröhnen schien das Mädchen zu peitschen. Bei jedem Schlag krümmte sie sich zusammen. Sie stolperte über den Lehmboden, scheinbar von Krämpfen getrieben, fiel hin, rappelte sich wieder auf, nur um erneut vom Schlag der Trommel zu Boden gestreckt zu werden.
„Der Geist trifft ein“, hauchte Patrick Abby zu.
Das Mädchen hob ihr Gesicht zum Himmel. Entzücken stand in ihren Augen.
„Der göttliche Reiter hat sie aufs Pferd gezogen. Der loa ist angekommen“, flüsterte Patrick weiter.
Abby war fasziniert von dem Spektakel. Ihr Geist schwamm träge auf einer Flut von neuen Eindrücken und sie hörte Patricks Worte kaum, ahnte aber ihre Bedeutung.
Inzwischen hatte die mambo der Tempeldienerin eine lebende Taube gebracht. Die junge Frau vollführte mit dem Vogel in der Hand mehrere Drehungen um die eigene Achse. Dann blieb sie stehen, brach dem Vogel beide Flügel und biss den Kopf vom Rumpf. Blut spritzte aus dem kleinen Körper. Aus den Mundwinkeln der Dienerin lief Blut ihren Hals hinab und befleckte das weiße Kleid. Sie schien es nicht zu merken, sondern begann wieder, zum Schlag der Trommeln zu tanzen.
Abby war über das Geschehen weder erstaunt, noch fühlte sie sich abgestoßen. Ihr Geist war träge. Zu keinem klaren Gedanken fähig. Eine Art Rausch hatte sich ihrer bemächtigt. Die Gesichter der anderen Anwesenden verschwammen zu diffusen Farbklecksen, dafür wurde der Geruch brennender Blütenblätter immer intensiver. Nur das Schlagen der Trommeln zählte noch. Der wilde, ungezügelte Pulsschlag der Erde, der ihren Körper vibrieren ließ, als sei ihre Haut über die Trommel gespannt.
Die Priesterin stimmte einen leisen Singsang an, dem sich die Musiker mit ihren Trommeln unterwarfen. Sie änderten ihren Rhythmus nicht, aber ihr Klang wurde subtiler, trat in den Hintergrund, wurde mehr fühlbar, als dass man ihn hörte.
Das tanzende Mädchen verschwand aus Abbys Blickfeld, dafür schälte sich Patricks Gestalt aus der Dunkelheit. Unerwartet stand er plötzlich vor ihr. Nackt. Abby, die noch immer auf dem Boden kniete, sah langsam an ihm hoch. Sie sah seine harten Oberschenkel, die Bauchmuskeln, die sich unter der Haut abzeichneten und sie sah sein erigiertes Geschlecht, dass diese Harmonie unterbrach und sich pulsierend ihr entgegenstreckte.
Abby hatte nicht bemerkt, dass Patrick aufgestanden war. Sie hatte nicht gesehen, wie er sich entkleidet hatte und trotzdem wunderte sie sich keinen Augenblick. Nicht einmal die Tatsache, ihn nackt hier stehen zu sehen, ließ sie staunen. Alles schien so zu sein, wie es sein sollte. Hitze breitete sich in ihrem Gesicht aus, fraß sich über ihren Hals den Körper hinab, bis selbst ihre Fußsohlen kribbelten. Sie schloss die Augen und gab sich ganz dem Gefühl hin.
Patrick kniete nun vor ihr. Er griff nach ihrer Hand und zog sie zu seinem steifen Glied. Fast automatisch schlossen sich Abbys Finger darum. Ohne, dass sie es bemerkte, begann sie sanft, ihn zu massieren.
Sein Atem strich wie eine kühle Brise über ihr Gesicht. Abby öffnete den Mund und seine Zunge drang in sie ein. Im Rhythmus der Trommeln küssten sie sich immer leidenschaftlicher. Sie spürte, wie Patrick ihr Kleid aufknöpfte, den Büstenhalter nach oben schob und ihre Brüste entblößte. Seine Hände umfassten die vollen Halbkugeln, massierten und pressten sie. Abbys Lippen entwich ein Stöhnen. Auch die Bewegungen ihrer Hand, mit der sie sein Glied rieb, wurden immer intensiver.
Seine Hände zogen sich für einen Moment zurück, dann lagen sie zwischen ihren Beinen und spreizten ihre Schenkel. Er kratzte auf dem Weg nach oben mit seinen Fingernägeln über ihre bloße Haut, dann fühlte Abby, wie er eine Hand drehte und schließlich mit einem Finger in sie eindrang.
Es war der plötzliche Schmerz, den sie tief in sich fühlte, der sie wieder zur Besinnung brachte. Sie riss die Augen auf, nur um festzustellen, dass die anderen Anwesenden sie umringten. Ihre gierigen Augen leckten über ihre nackten Körper. Die meisten hatten die Münder leicht geöffnet und stöhnten im Takt der Trommeln. Patrick hielt seine Augen geschlossen. Auf seinem Gesicht lag Verzückung. Abby sah an sich herab und stellte fest, dass sie seinen Penis in der Hand hielt. Angewidert zog sie die Hand zurück. Patrick befummelte immer noch ihr Geschlecht und es kostete Abby einige Kraft, seinen Arm wegzuziehen.
„Nein!“, kreischte Abby und versetzte Patrick eine schallende Ohrfeige. Patrick schlug die Augen auf. Sein Gesicht drückte zunächst Verwirrung aus, dann er sah Abby an und blickte an sich herab. Als er sah, dass er nackt war, lächelte er.
„Gib dich hin, Abby. Lass alles fallen, was dich in dieser Welt hält“, krächzte er.
„Nein!“ Sie erhob ihre Hand erneut zum Schlag, aber da wurde sie von hinten gepackt und auf die Füße gezogen. Es war die mambo, die dicke Priesterin.
„Gehen Sie“, befahl sie in strengem Ton. „Sofort!“
Abby zog ihr Kleid zusammen. Ihre Augen huschten noch mal zu Patrick, dann wandte sie sich um und rannte den Weg zur Straße hinunter.
Abby stolperte durch die Nacht. Heiße Tränen liefen über ihre Wangen. Tränen der Scham und voll ohnmächtiger Wut. Warum das alles geschehen war, konnte sich Abby immer noch nicht erklären. Es war so ein schöner Abend und Patrick ein zuvorkommender Begleiter gewesen. Sie waren Hand in Hand durch die Gassen spaziert, hatten gemeinsam gegessen und stundenlang getanzt.
Im Schein einer Straßenlampe blickte Abby auf ihre Armbanduhr. Drei Uhr nachts. Sie wusste ja nicht einmal genau, wo sie sich auf der Insel befand. Angst machte sich in ihr breit, aber gleich darauf gewann der Zorn wieder die Oberhand.
Scheiß drauf, dachte Abby. Irgendwie werde ich schon zurück zum Hotel kommen. Ich brauche nur ein Telefon oder ein verfluchtes Taxi.
Noch immer klopfte ihr Herz, als versuche es aus der Brust zu springen. Bevor sie weiterging, musste sie erst einmal Luft schöpfen. Sie beugte sich nach vorn, stützte ihr Hände auf die Oberschenkel und atmete tief ein. Gott sei Dank hatte sie keinen Asthmaanfall bekommen.
Schließlich ging es wieder soweit, dass Abby sich auf die Suche nach einem Taxi machen konnte. Eine halbe Stunde später kam ihr tatsächlich eines entgegen. Abby stellte sich breitbeinig auf die Straße und stoppte es mit hoch erhobenen Händen. Der Fahrer, ein junger Mann Anfang zwanzig, schwarz wie Nacht und mit den fast schon obligatorischen Rastazöpfen, kurbelte das Fenster langsam herunter. Seine Augen glitten über ihren Körper. Abby hätte kotzen können, so gedemütigt fühlte sie sich, aber sie wollte nur noch zurück ins Hotel.
„Wohin möchten Sie?“, fragte er in gebrochenem Englisch.
„Port-au-Prince. Hotel Ollofson.“
„Das macht einhundert amerikanische Dollar. Kein Gourde“, grinste er, als er erkannte, in welcher hoffnungslosen Lage sich Abby befand.
„Fick dich ins Knie“, murmelte Abby so leise, dass er sie nicht verstehen konnte.
„Was haben Sie gesagt?“, fragte der Fahrer.
„Der Preis geht in Ordnung.“
Als Abby schließlich, über eine Stunde später, erschöpft in ihr Bett sank, schwor sie sich, dieses verfluchte Land mit dem nächsten Flug zu verlassen.
11. Der Morgen danach
Abby erwachte mit einem schalen Geschmack im Mund. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es erst 8.30 Uhr war. Sie hatte kaum drei Stunden geschlafen und sie fühlte sich wie erschlagen. Müde tappte sie ins Bad hinüber. Ihr Spiegelbild zeigte eine junge Frau mit eingefallenen Wangen und tiefen Ringen unter den Augen. Der Anblick brachte die Erinnerung an die letzte Nacht zurück. Übelkeit stieg in ihr auf. Der Brechreiz war so stark, dass sie sich in die Toilettenschüssel übergeben musste.
Nach mehrfachem Würgen war es vorbei. Abby ging zurück zum Waschbecken. Das Wasser war nur lauwarm, aber es erfrischte sie dennoch. Mit beiden Händen schöpfte sie das Nass und spritzte es sich ins Gesicht.
Beim Zähneputzen überfielen Abby erneut die Ereignisse im Voodootempel. Wie hatte sie sich nur so gehen lassen können? Sie fühlte sich missbraucht. Beschmutzt. Und alles Wasser dieser Welt konnte diesen Schmutz nicht wegwaschen. Sie war wie im Rausch gewesen. Betäubt, so als habe sie Drogen genommen und Patrick hatte diese Gelegenheit genutzt, um sie zu verführen. Und das vor den Augen aller anderen.
Warum hat er das getan?, fragte sie sich stumm. Ich hätte mich ihm hingeben. Mein Gott, ich war drauf und dran, mich in ihn zu verlieben. Und dann das!
Patrick hatte gesagt, er wolle ihr Haiti von einer anderen Seite zeigen. Die Magie und den Zauber der Karibikinsel spürbar werden lassen, aber die Erlebnisse der letzten Nacht hatten Abscheu in Abby geweckt.
Dabei war es ein schöner Abend gewesen. Die Atmosphäre beim Hahnenkampf. Die kleine Stadt am Meer, die erfüllt war vom Pulsschlag des Lebens. Die Stunden, die sie getanzt hatten. Eng umschlungen, den Rhythmus der Nacht fühlend.
Warum hatte Patrick sie nur in diesen Tempel geschleppt? Was für eine Art Mensch war er, dass er sich solcher Tricks bediente, wenn er jemanden begehrte? Oder verstand sie ihn schlichtweg nicht?
Wie auch immer, Abby hatte nicht vor, ihn nochmals wiederzusehen. Nicht nach der letzten Nacht. Sie konnte ihm nicht mehr in die Augen blicken, ohne an ihre Scham erinnert zu werden.
Nein, sie wollte nur noch weg aus diesem Höllenloch von einem Land. Im Bademantel ging sie zum Telefon hinüber und ließ sich von Richard Morse mit dem Flughafen verbinden.
„Bonjour“, meldete sich eine freundliche Stimme.
„Entschuldigung, sprechen Sie Englisch?“, fragte Abby.
„Ja, Madame“, kam es zurück.
Gott sei Dank, dachte Abby. Alles hätte sie jetzt gebrauchen können, nur nicht irgendwelche Schwierigkeiten beim bestätigen ihres Rückfluges.
„Wann geht morgen der erste Flug nach Santa Domingo?“
Die Antwort kam prompt. „Um 10.30 Uhr.“
„Können Sie mich für diesen Flug buchen?“ Abby gab ihren Namen und ihre Ticketnummer durch.
„Oui, Madame.“
„Gut. Danke schön.“
Sie legte den Hörer zurück auf die Gabel und dachte darüber nach, was sie noch alles zu erledigen hatte, bevor sie abreisen konnte. Zunächst musste sie zum Gesundheitsamt, um die sterblichen Überreste ihrer Schwester abzuholen. Anschließend wollte Abby noch bei der Britischen Botschaft vorbeigehen. Sie musste die Behörden über die mysteriösen Vorkommnisse informieren, die sich um Lindas Tod spannten. Außerdem wollte sie nachfragen, was mit den persönlichen Gegenständen ihrer Schwester geschehen war. Linda hatte hier über ein Jahr lang gelebt. Abby wollte die Adresse herausfinden und Lindas Besitz nach England schicken. Sie erwartete keine Wertsachen, aber alles, was Linda mit nach Haiti gebracht hatte, sollte zurück in die Heimat kehren.
Das Telefon klingelte. Es war der Hotelbesitzer, der fragte, wann sie ihr Frühstück zu sich nehmen wollte. Abby erklärte ihm, dass sie auf das Frühstück verzichtete und ordnete an, ihr ein Taxi zu bestellen.
Nachdem ihr Rückflug gebucht und bestätigt war, fühlte sich Abby besser. Bald würde sie wieder in England sein und das Geschehen hier vergessen, falls sie es jemals vergessen konnte.
Sie öffnete den eingelassenen Wandschrank. Auf mehreren Metallbügeln hingen ordentlich ihre Kleider, Blusen und Hosen. Abby entschied sich trotz der draußen herrschenden Hitze für eine lange Leinenhose und eine schwarze Bluse. Ihr kurzes Haar band sie mit einem Gummi zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie verzichtete auf Makeup und Lippenstift, sondern trug nur etwas Wimperntusche auf.
Es klopfte an der Tür.
„Ja?“
Die Stimme des Pagen erklang. „Ein Brief für Sie, Madame.“
Abby öffnete die Tür. Der gleiche Junge, der ihr gestern das Frühstück serviert hatte, stand auf dem Flur. Seine rechte Hand streckte ihr einen schlichten Briefumschlag entgegen. Auf der Vorderseite stand ihr Name. Abby erkannte Patricks Schrift. Sie nahm den Brief und legte ihn auf die kleine Kommode neben der Tür.
„Danke. Ist mein Taxi schon da?“
„Nein, Madame. Soll ich Sie rufen, wenn es vorfährt?“
„Das ist nicht nötig. Ich komme gleich runter und warte in der Lobby.“
Der Junge nickte und wandte sich ab. Abby schloss die Tür. Sie stand vor der Kommode und betrachtete Patricks Brief. Sie ahnte, dass er versuchte, sich für das Geschehen im Tempel zu entschuldigen. Wahrscheinlich hatte er den Brief bereits letzte Nacht geschrieben und unten an der Rezeption abgegeben.
Abby konnte und wollte ihm nicht verzeihen. Sicher ein großer Teil der Schuld traf sie selbst. Sie hätte es nie so weit kommen dürfen lassen, aber es war gerade dieses eigene Schuldeingeständnis, dass es ihr unmöglich machte, ihm nochmals gegenüberzutreten. Abby zerriss den ungelesenen Brief und warf ihn in den Papierkorb.
Sie nahm ihre Handtasche von der Kommode und ging hinunter in die Lobby. Zu ihrer Überraschung wartete dort bereits Jean Mitchard auf sie. Er hatte mit Richard Morse geplaudert, aber nun drehte er sich um und ging auf sie zu.
„Guten Morgen, Miss Summers“, begrüßte er sie.
Abby erwiderte den Gruß, dann fragte sie, was ihn hier herführe.
„Sie haben mir gestern erzählt, dass Sie heute Morgen die sterblichen Überreste Ihrer Schwester abholen möchten. Ich würde Sie gern begleiten.“
„Hat sich etwas Neues ergeben? Ist die Akte meiner Schwester aufgetaucht?“
„Nein, leider nicht.“
„Warum sind Sie dann hier?“
„Nach all den Vorkommnissen um den Tod Ihrer Schwester ist es das Mindeste, was ich für Sie tun kann. Vielleicht benötigen Sie meine Hilfe, um alle Formalitäten zu klären.“
„Danke, aber ich denke, ich komme zurecht“, erwiderte Abby.
Mitchard zögerte. Abby fühlte, dass Hilfsbereitschaft nicht der einzige Grund für sein Kommen war.
„Was ist los?“, fragte sie barsch.
Jean Mitchard drehte den Kopf und sah, wie Richard Morse sie beide beobachtete.
„Lassen Sie uns draußen weiter darüber sprechen“, bat er.
„Mein Taxi kommt jeden Moment“, erklärte Abby.
„Es dauert nur einen Augenblick und wenn Sie es möchten, kann ich Sie zum Gesundheitsamt fahren. Mein Wagen steht vor dem Eingang.“
Abby nickte zum Einverständnis und folgte Mitchard hinaus in die drückende Hitze des Morgens. Der Arzt hielt auf einen verbeulten, zehn Jahre alten Renault zu, von dem die rote Farbe abblätterte. Kurz vor dem Fahrzeug blieb er unschlüssig stehen und wandte sich wieder Abby zu.
„Wollen Sie mir nun bitte sagen, was eigentlich los ist?“, forderte Abby ihn ungehalten auf.
Mitchard trat von einem Fuß auf den anderen. „Ich habe letzte Nacht viel nachgedacht und je länger ich nachdachte, umso merkwürdiger erschienen mir die Vorkommnisse rund um den Tod Ihrer Schwester.“ Er zögerte. „Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie eines natürlichen Todes gestorben ist, aber der Gedanke an Ihre verschwundene Krankenakte beschäftigte mich. Immer wieder fragte ich mich, warum die Datei ihrer Schwester gelöscht wurde. Wer versucht da etwas zu verbergen?“
„Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?“, fragte Abby.
Mitchard ging auf ihre Frage nicht ein. „Dann ist da noch die zwangsweise angeordnete Einäscherung des Leichnams. Wie ich Ihnen schon sagte, finde ich diesen Umstand sehr merkwürdig. Die Begründung des Gesundheitsamtes erscheint mir äußerst unglaubwürdig.“
„Das alles bringt uns nicht weiter“, unterbrach ihn Abby. „Darüber haben wir gestern schon gesprochen. Also, wenn Sie mir nichts Neues zu berichten haben, verraten Sie mir bitte, warum Sie darauf beharren, mich zum Gesundheitsamt zu begleiten?“
Mitchard sah ihr direkt in die Augen. Ein seltsamer Ausdruck lag darin. Eine Entschlossenheit, die Abby zuvor nicht an ihm entdeckt hatte.
„Ich möchte die sterblichen Überreste Ihrer Schwester untersuchen!“
Abby schnappte nach Luft. „Sind Sie verrückt?“
„Ich möchte mir Gewissheit verschaffen.“
„Worüber möchten Sie sich Gewissheit verschaffen?“
Mitchards Augen ließen ihren Blick nicht los. „Vielleicht erfahren wir etwas Neues über den Tod Ihrer Schwester.“
„Das glaube ich Ihnen nicht. Was wollen Sie aus einem Häufchen Asche denn noch erfahren? Sagen Sie mir die Wahrheit!“
Mitchard fasste nach Abbys Arm, aber sie entzog sich ihm.
„Also gut“, seufzte er. „Ich möchte herausfinden, ob es sich bei der verbrannten Toten wirklich um Ihre Schwester handelt.“
12. Ein Häufchen Asche
Sie saßen in Mitchards Wagen und fuhren durch die engen Straßen von Port-au-Prince. Der Verkehr hatte das übliche Ausmaß an Chaos angenommen und sie kamen nur langsam voran. Tap-Taps zwängten sich hupend in jede schmale Lücke, die sich zwischen den Fahrzeugen auftat. Fußgänger strömten dazwischen und Mitchard musste oft anhalten, bevor es wieder ein paar Meter weiterging.
Der Renault hatte keine Klimaanlage und die Hitze drang durch die geöffneten Fensterscheiben herein. Die Scheiben hochzukurbeln kam nicht in Frage, wenn man nicht an den eindringenden Abgasen ersticken wollte. Abby wischte sich mit der Hand über die Stirn.
„Sie vermuten also, dass es sich bei der Toten nicht um meine Schwester handelt?“, fragte sie.
„Ich vermute gar nichts. Wie gesagt, ich möchte mir Gewissheit verschaffen.“
„Und Sie glauben, Sie können das aus der Asche erfahren?“
„Ja. Kein Körper verbrennt restlos. Es bleiben immer Knochenfragmente und Haare übrig.“
„Untersuchen Sie die Reste am Krankenhaus?“
„Nein, die dortigen Mikroskope wurden schon vor langer Zeit gestohlen und auf dem Schwarzmarkt verkauft. Wir besuchen einen Freund.“
Um wen es sich bei dem Freund handelte, erklärte er nicht. Abby wusste noch immer nicht, was sie von Mitchards Vorhaben halten sollte. Anderseits wollte auch sie die Bestätigung haben, dass es sich bei der Toten um ihre Schwester handelte. Ihr leerer Magen zog sich bei dem Gedanken zusammen, es könnte anders sein.
Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Schließlich erreichten sie das Gesundheitsministerium und Mitchard lenkte den Wagen an den Straßenrand. Als er Anstalten machte auszusteigen, hielt Abby ihn auf.
„Ich gehe allein hinein.“
„Vielleicht brauchen Sie meine Hilfe“, widersprach der Arzt.
„Wenn Sie mich begleiten, fallen wir nur auf. Falls bei dem Tod meiner Schwester oder den folgenden Umständen irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, sollten wir keinen Verdacht erregen. Wenn mich plötzlich ein einheimischer Arzt begleitet, könnte jemand misstrauisch werden.“
„An wen denken Sie?“
„Wenn etwas wirklich nicht stimmt, ist das Gesundheitsamt darin verwickelt. Schließlich hat der dortige Beamte die Einäscherung angeordnet.“
Abby berichtete ihm von den Schwierigkeiten, die sie am gestrigen Tag auf dem Amt gehabt hatte. Sie erzählte Mitchard, dass Ferre den Beamten bestechen musste, damit sie überhaupt etwas erfuhr.
„Sie kennen Patrick Ferre?“, fragte Mitchard verblüfft.
„Ja“, antwortete Abby knapp. „Wieso? Kennen Sie ihn auch?“
Mitchards Gesicht nahm einen harten Ausdruck an. „Allerdings.“
„Klingt nicht, als würden Sie ihn mögen.“
„Bestimmt nicht.“
„Was hat er Ihnen getan?“
„Darüber möchte ich nicht sprechen. Es hat nichts mit Ihnen oder Ihrer Schwester zu tun.“
Abby wollte nachhaken, aber Mitchards verschlossene Miene, sagte ihr, dass es zwecklos war.
„Gut, dann ich gehe ich jetzt hinein“, erklärte sie.
„Ich kann hier nicht stehen bleiben.“ Seine Hand deutete auf eine Parkbucht auf der anderen Straßenseite. „Ich warte dort auf Sie.“
Als Abby zurückkam, war kaum eine Viertelstunde vergangen. Der ihr schon bekannte Beamte hatte sie in Empfang genommen und ihr die Urne samt einer amtlichen Berechtigung, sie auszuführen, übergeben.
„Nochmals mein Beileid“, hatte er gesagt.
Abby hatte sich höflich bedankt und war gegangen, bevor der Mann ein Gespräch mit ihr führen konnte.
Die Hitze im Inneren des Fahrzeugs hatte noch zugenommen. Es erschien Abby, als würde sie in einen dampfenden Kochtopf steigen.
„Hätten Sie nicht einen Parkplatz im Schatten wählen können?“, fragte sie ärgerlich.
Mitchards Hände vollführten eine ungehaltene Geste. „Sehen Sie hier vielleicht irgendwo Schatten?“
„Nein, entschuldigen Sie bitte. Die Hitze macht mich fertig.“
„Sie haben die Urne also bekommen.“ Die Bemerkung war überflüssig. Wie eine überdimensionale Thermoskanne lag sie in Abbys Schoß.
Sie reichte ihm die Ausfuhrgenehmigung. Mitchard warf nur einen kurzen Blick darauf, bevor das Schreiben zurückgab.
„Kennen Sie den Beamten, der unterzeichnet hat?“, fragte Abby.
„Nein. Der Name sagt mir nichts.“
Mitchard startete den Motor. „Es wird Zeit, dass wir meinem Freund einen Besuch abstatten.“
Sie verließen Port-au-Prince über die Rue du Quai. Als der Wagen die Docks passierte, konnte Abby verrostete Ozeanriesen sehen, die vor schwarzen, baufälligen Baracken lagen. Arbeiter zogen in einem Tross schwer beladene Karren hinter sich her.
Kurz darauf kamen sie am Flughafen der Stadt vorbei, aber dort herrschte Ruhe. Keine Maschine startete oder landete. Abby konnte kaum glauben, dass sie erst vor zwei Tagen in Haiti eingetroffen war. So vieles war inzwischen geschehen. Morgen würde sie die Karibikinsel verlassen und nie wiederkehren. Sie seufzte unhörbar. Wenn es nur schon soweit wäre. Abby sehnte sich nach der Ordnung und Beständigkeit ihres Heimatlandes. In Haiti herrschte das Chaos und wenn hier Gesetze regierten, dann waren es Gesetze, die sie nicht kannte. Für sie war die Insel eine Ausgeburt der Hölle, mit nichts auf dieser Welt vergleichbar.
Mitchard folgte der Küstenstrasse Richtung Nordwesten. Die Fahrt ging durch die lang gestreckten Zuckerrohrfelder der Ebene Cul de Sac zu den Abhängen der Chane de Matheux, bevor die Strasse sie wieder Richtung Meer führte. Links von ihnen tauchte die Insel Ille de la Gonave aus dem Mittagsdunst auf. Fischerboote kreuzten zwischen der Insel und dem Festland.
Sie durchfuhren mehrere Ortschaften, bis sie schließlich die Stadt St-Marc erreichten. Hier war nichts mehr von der Hektik der Hauptstadt zu spüren. Nur wenige Fahrzeuge befuhren die schlecht ausgebesserten Straßen. Mitchard schien sich hier auszukennen. Ohne zögern lenkte er das Fahrzeug durch die Stadt, wobei er so oft abbog, dass Abby jedes Orientierungsgefühl verlor. Schließlich erreichten sie ihr Ziel im nördlichsten, ‚Wespentor’ genannten Teil der Stadt. Vor einer baufälligen Kirche mit kleinem Glockenturm und spitzen Giebeln hielt Jean an.
„Hier wohnt Ihr Freund?“, fragte Abby erstaunt.
Mitchard deutete auf ein winziges Haus, das sich an die Kirche schmiegte. „Mein Freund ist Priester.“
Mehr sagte er nicht. Erklärungen hielt er anscheinend für überflüssig. Mitchard verließ den Wagen und Abby folgte ihm durch ein rostiges Tor in der Kirchenmauer. Das Tor ächzte in den Angeln, schwang aber problemlos auf. Der Weg war mit weißem Kies bestreut. Die Steine knirschten unter ihren Füßen, während sie den kleinen Hügel zum Haus hinaufgingen.
Sie hatten den Eingang noch nicht erreicht, als die Tür aufflog und ein Mann im Türrahmen erschien. Er war groß und wuchtig, bestimmt über 180 cm groß, mit einem mächtigen Bauch, der sich unter seiner Soutane spannte. Das graue, fast schon weiße Haar fiel ihm in Locken bis auf die Schultern. Auf dem feisten Gesicht, das auf Abby irisch wirkte, lag ein freundliches Lächeln, als er die Arme ausstreckte, so als wolle er sie beide gleichzeitig umarmen. Abby betrachtete ihn ausgiebig. Sie sah die fleischige Nase mit den geplatzten Äderchen an den Seiten. Die wulstigen Lippen hatten in der Mitte einen Spalt, als habe der Mann irgendwann einmal zu heftig auf ein Stück Holz gebissen. Die Augen des Priesters lagen unter buschigen Brauen und waren so grau wie seine Haare. Insgesamt strahlte Mitchards Freund Ruhe und Kraft aus. Abby fand ihn auf Anhieb sympathisch.
„Hallo Jean“, dröhnte die Stimme des Priesters ihnen entgegen.
Abby sah, wie ein breites Grinsen auf Mitchards Gesicht erschien.
„Hallo Bob“, antwortete er.
„Schön, dass du mal wieder vorbeischaust.“
„Du bist noch fetter geworden seit dem letzten Mal.“
Der Priester klopfte mit beiden Händen auf seinen Bauch. „Das liegt nur an Mama Kokos gutem Essen. Du kennst sie ja. Erstens schmeckt es hervorragend und zweitens gibt sie niemals Ruhe, bevor man nicht mindestens zweimal nachgeschöpft hat.“
Mitchard lachte. „Ja, ich kenne sie. Wo ist Mama Koko?“
„In der Stadt. Einkäufe erledigen. Wenn du es nicht eilig hast, wirst du sie später noch sehen. Aber jetzt sag mir, wen du mir da mitgebracht hast.“
„Das ist Abby Summers aus England.“ Mitchard wandte sich Abby zu. „Abby, darf ich Ihnen Pater Bob Maddox aus Ohio vorstellen.“
Der Priester trat einen Schritt vor und umfasste Abbys Hand mit seinen beiden Pranken. „Willkommen. Willkommen in meinem Haus. Ich will doch hoffen, dass sie eine gute Katholikin sind?“
„Nein, ich bin protestantisch erzogen worden“, erwiderte Abby lächelnd.
„Nun ja, dann werden Sie später mit Sicherheit in der Hölle braten, aber nun kommen Sie schnell ins Haus. Die Hitze hier draußen ist mörderisch.“
Sie folgten dem Pater durch einen engen Flur in eine geräumige Wohnküche. Der Raum war größer als Abby erwartet hatte. Von draußen wirkte das Gebäude durch seine Bauweise kleiner als es tatsächlich war. Links von ihr befand sich eine lang gestreckte Küchenzeile mit Herd, Spüle und mehreren an der Wand hängenden Schränken. In der Mitte des Zimmers stand ein wuchtiger, alter Holztisch, dem man sein hohes Alter ansah. Um ihn herum gruppierten sich sechs, eben so alt aussehende Holzstühle mit hohen Lehnen. Direkt über dem Tisch hing ein massives Holzkreuz an der Wand, welches den gekreuzigten Christus zeigte. Abby ließ ihren Blick weiterwandern. An der anderen Seite des Raumes lehnte sich ein mit Büchern überladenes Regal an die Wand, als wolle es sich gegen die Last abstützen. Daneben hatte ein zerschlissenes Sofa mit verblasstem rotem Bezug seinen Platz gefunden. Ein unbekannter, aber angenehmer Geruch lag über allem. Abby konnte ihn nicht einordnen, aber er erinnerte sie ein wenig an den Duft von Mangos.
Bob Maddox hatte Abby heimlich beobachtet und sagte nun: „Sie haben sicherlich ein bisschen mehr Protz und Prunk erwartet.“ Seine fleischige Hand deutete auf einen Durchgang, der von einem Stoffvorhang verdeckt wurde. „Mein Schlafzimmer. Da drin sieht es ganz anders aus. Ich habe ein Himmelbett aus Samt mit einem Baldachin darüber, der sich wie ein Segel von einer Zimmerecke zur anderen spannt. Mein Kopf ruht auf seidenen Kissen und ich bedecke diesen mir von Gott geschenkten Körper mit den feinsten Daunendecken.“ Er lachte dröhnend.
„Glauben Sie ihm kein Wort“, meinte Mitchard trocken. „Da drin befinden sich nur ein sehr alter, von Holzwürmern zerfressener Sekretär und ein Feldbett aus dem ersten Weltkrieg. Pater Maddox übertreibt gern ein wenig.“
„Was kann ich euch zu trinken anbieten?“, fragte der Pater. „Mama Koko hat frische Zitronenlimonade gemacht.“
„Danke für mich nichts“, meinte Mitchard.
„Ich nehme sehr gern ein Glas“, sagte Abby.
Pater Maddox schenkte ihr aus einem tönernen Krug ein Glas ein und vergaß auch nicht eine frische Scheibe Zitrone abzuschneiden, die er einschlitzte und an den Rand des Glases klemmte.
„Bitte sehr.“
Abby dankte ihm. Die Zitronenlimonade schmeckte herrlich erfrischend nach der langen Fahrt. Abby leerte ihr Glas auf einen Zug. Der Pater füllte das Glas unaufgefordert wieder auf.
„Nehmt bitte Platz“, lud er sie ein. „Was führt euch zu mir.“
Nachdem sie sich gesetzt hatten, erklärte Jean sein Anliegen. Er erzählte von Linda Summers Tod und den merkwürdigen Umständen, die ihn begleiteten. Bob Maddox schwieg die ganze Zeit. Als Mitchard endete, beugte sich der Pater zu Abby hinüber und legte seine Hand über ihre. „Mein Beileid für Ihren Verlust.“
„Danke, Pater.“
„Und du möchtest nun mein Mikroskop benutzen, um herauszufinden, ob diese Asche wirklich von Linda Summers Körper stammt?“, wandte Maddox sich wieder an Jean.
„Ja, wenn du nichts dagegen hast.“
„Kein Problem. Du weißt, wo meine Sachen stehen. Einfach die Kellertreppe hinunter.“
Jean erhob sich. „Dann will ich mich mal an die Arbeit machen. Je schneller wir die Sache hinter uns haben, desto besser.“
Abby reichte ihm die Stofftasche, in der sie die Urne transportiert hatte. „Darf ich mitkommen?“
„Nein, besser nicht. Sie können mir nicht helfen. Und ich mache das lieber ungestört.“
„Sie bleiben mir, meine Liebe“, mischte sich der Pater ein. „Und lauschen den Geschichten eines alten Mannes, während Jean seine Arbeit tut.“
„Verzeihen Sie meine Neugier, aber wieso hat ein Priester ein Mikroskop?“, fragte Abby, nachdem Jean im Keller verschwunden war.
Maddox grinste wie ein kleiner Junge. „Ich sammle Schmetterlinge. Schmetterlinge sind so ziemlich das Einzige, was Haiti im Überfluss zu bieten hat. Mama Koko mag keine toten Tiere in der Wohnung, also habe ich meine Sammlung in den Keller verbannt.“
„Mama Koko ist Ihre Haushälterin?“
„Ja, Sie werden sie später noch kennen lernen. Ich verspreche Ihnen, dass wird ein Erlebnis.“
„Stört es Sie, wenn ich Ihnen Fragen stelle?“
„Keineswegs, so etwas nennt man Konversation und wir haben sowieso nichts anderes zu tun, bis Jean mit seiner Untersuchung fertig ist.“
„Woher kennen Sie Jean Mitchard?“
Eine Augebraue des Priesters zuckte nach oben, als versuche sie aus seinem Gesicht zu fliehen. „Hat er das Ihnen nicht gesagt?“
„Nein.“
„Ich habe viele Jahre das Waisenhaus von St-Marc geleitet. Jean ist ein Waise, er ist bei mir aufgewachsen. Später hat ihn meine Kirche in Cleveland das Medizinstudium in den USA finanziert. Er hätte nach seinem Abschluss dort bleiben können, aber er kam zurück nach Haiti, um hier zu arbeiten.“
„Was ist mit seinen Eltern geschehen? Starben Sie bei einem Unfall?“
Die Augen des Priesters blickten sie traurig an. „Darüber möchte ich nicht sprechen. Jean soll es Ihnen selbst erzählen. Sie wissen nicht viel über Haiti.“
„Nein, eigentlich nicht. Nur was man so in den Zeitungen liest und das ist wenig genug.“
„Sie haben Recht, die Welt hat uns vergessen.“ Er rückte mit dem Stuhl näher an Abby heran. „Lassen Sie mich Ihnen ein wenig von diesem Land und seiner Geschichte erzählen. Vielleicht verstehen Sie Haiti dann ein bisschen besser.“
Abby nippte an ihrer Limonade.
„Kolumbus hat Haiti im Jahr 1492 bei seiner Suche nach einem Seeweg nach Indien entdeckt. Er nannte die Insel Hispaniola, da sie ihn an seine spanische Heimat erinnerte. Bei den Einheimischen, den Taino und Arauak, hieß die Insel Haiti – Insel der Berge.
Anfang des 16. Jahrhunderts trafen die ersten spanischen Siedler ein. Auf der Suche nach Gold drangen sie ins Landesinnere vor. Und sie fanden Gold. Ein wahrer Goldrausch setzte ein. Tausende von Europäern zog es nach Haiti, zu der Insel, von der man sagte, sie könne jeden über Nacht reich machen und dass hier selbst der ärmste Bauer noch wie ein König lebe.
In den nächsten hundert Jahren wurde die Urbevölkerung Hispaniolas systematisch ausgerottet. Man zwang die Eingeboren unter sklavenähnlichen Bedingungen in den Minen der weißen Herren zu arbeiten, aber die Taino und Arauak eigneten sich nicht für den Frondienst. Sie starben wie die Fliegen. Ende des 17. Jahrhunderts waren von den ehemals eine Million zählenden Ureinwohnern nur noch sechzigtausend am Leben.
Die Gier der Fremden war nicht zu besänftigen. Kurzerhand suchten sie nach neuen Arbeitskräften und sie fanden sie an den dicht besiedelten Küsten Afrikas. ‚Schwarze Arbeitstiere’ von anderen Schwarzen und Arabern eingefangen und an weiße Menschenhändler verkauft wurden nach Haiti verschifft.
Die Spanier gingen die Verschleppung ganzer Völker noch langsam an, aber inzwischen hatten auch französische Glückssucher die Insel entdeckt und sich im Westen festgesetzt. Sie gründeten die ‚Compagnie des Indes’, mit dem erklärten Ziel, Unmengen von Sklaven nach Haiti zu importieren, um die wirtschaftliche Oberhand über die Insel zu gewinnen. Im Jahre 1697 trat Spanien das westliche Drittel, des heutige Haiti, an Frankreich ab. Nun begann der Sklavenhandel erst richtig.“
Abby lauschte gebannt der Stimme des Priesters. Maddox hatte eine engagierte Art zu reden, die sie die Geschichte Haiti fühlen ließ.
„Interessiert Sie das eigentlich?“, fragte er.
„Ja. Bitte erzählen Sie weiter“, forderte sie ihn auf.
„Das Leid der Sklaven war unvorstellbar. Schlecht ernährt und regelmäßig ausgepeitscht, eng zusammengepfercht, starben schon viele von ihnen während der Überfahrt. Die Überlebenden wurden einer regelrechten Gehirnwäsche unterzogen. Die weißen Herren hatten aus den Erfahrungen mit den Taino und den Arauak, die sich immer wieder gegen sie erhoben hatten, gelernt. Jeder Sklave erhielt einen neuen Namen. Die verschiedenen Stämme und Völker wurden so durcheinander gemischt, dass nur noch einander Fremde miteinander lebten und schufteten. Familien wurden getrennt, Traditionen und alte Rituale verboten. Sechzehn Stunden täglich mussten diese bedauernswerten Menschen in den Minen und auf den Zuckerrohrplantagen arbeiten. Mangelernährt und für jedes kleine Verbrechen unmenschlich hart bestraft, lebte kaum einer von ihnen länger als zehn Jahre. Zwar hatten die Weißen in Massentaufen die Sklaven zu Christen gewandelt, das hielt sie aber nicht davon ab, ihnen das Leben zur Hölle zu machen.
Da ihnen der gekreuzigte weiße Heiland, so oft sie ihn auch anriefen, nicht zur Seite stand, erinnerten sich die Sklaven an ihre alten Religionen. Legba, Damballah und Ogu würde ihnen helfen, so wie sie schon ihren Vorfahren geholfen hatten. Immer mehr Schwarze fanden zurück zu ihren alten Traditionen. Versammlungen, die man Calenda nannte, wurden abgehalten. Es blieb nicht nur bei religiösen Ritualen. Immer mehr Schwarze flohen in die Berge Haitis. Diese Entflohenen wurden von den Franzosen Marron genannt, ein Wort, das sich vom spanischen Cimarron ableitet und soviel, wie ‚gezähmtes Tier, das sich in eine wilde Bestie verwandelt hat’ bedeutet.
Die Marron erhielten immer mehr Zulauf von entflohenen Sklaven. Im Jahr 1791, zwei Jahre nach Ausbruch der französischen Revolution, erhoben sie sich gegen ihre weißen Herren. Der Aufstand dauerte zwölf lange Jahre. Schlecht ausgerüstet und nur spärlich bewaffnet, kämpften sie zunächst gegen die restlichen Truppen der französischen Monarchie, danach gegen eine ausgesandte Streitmacht der Republikaner und zuletzt gegen britische Invasoren, die versuchten sich das Chaos zunutze zu machen und die reiche Karibikinsel an sich zu reißen. Auf dem Höhepunkt der Kämpfe sandte Napoleon 34000 Mann nach Haiti, kampferprobte Soldaten, die größte Expedition, die französische Häfen je verlassen hatte. Eigentlich waren diese Truppen dafür vorgesehen, das Gebiet des Mississippi in Amerika zu erobern, um eine weitere Ausdehnung der Vereinigten Staaten zu verhindern. Napoleon befahl auf dem Weg dahin, in Haiti Halt zu machen und die Sklaven niederzuwerfen. Seine Truppen sollten Louisiana nie zu sehen bekommen.
Der Kampf wurde mit äußerster Härte geführt. Ein Schwager Napoleons hatte das Kommando. Er starb bereits im ersten Jahr. Mit ihm viele seiner Männer. Der neue französische Anführer Rochambeau kündigte nach seiner Befehlsübernahme sofort die Ausrottung aller Aufständischen bis zum letzten Mann an.
Einfache Gefangene wurden verbrannt. Die Generäle der Rebellen, und die gab es tatsächlich, denn kein Aufstand kommt ohne Führung aus, wurden an Felsen gefesselt, um zu verhungern. Frauen und Kinder dieser Männer wurden vor ihren Augen ertränkt.“
„Das ist ja furchtbar“, stöhnte Abby.
„Ja“, gab Maddox zu. „Aber es wurde noch schlimmer. Aus Jamaika wurden 1500 abgerichtete Hunde importiert, die in öffentlichen Veranstaltungen schwarze Gefangene zerfleischten.“
Abby spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Das Gehörte überstieg ihr Vorstellungsvermögen, aber dennoch...
Maddox erzählte weiter. „Trotz tausendfachem Mord, Folter und gnadenloser Verfolgung siegten die aufständischen Truppen. Im Jahr 1803 räumten die Franzosen Haiti. Sie hatten insgesamt 70000 Soldaten verloren. Am 1. Januar 1804 wurde der unabhängige Staat Haiti ausgerufen. Ein Datum, das kein Einheimischer je vergessen wird.“
Maddox erhob sich und ging zur Spüle hinüber. Aus dem Hahn ließ er sich ein Glas Wasser einlaufen, das er in großen Zügen leerte.
„Wie ging es weiter?“, fragte Abby.
Maddox wandte sich ihr zu. „Nun, wie es überall auf der Welt nach Revolutionen zugeht. Gute und schlechte Herrscher lösten einander ab. Sie alle wurden reich, während das Land und seine Menschen immer mehr verarmten. Viele der Herrscher, die sich zu Königen oder Kaisern krönen ließen, war Anhänger der alten Religion. Sie waren Voodoopriester – bokor, schwarze Magier. Von all den Verrückten, Größenwahnsinnigen und Blutsäufern, die Haiti seit seiner Unabhängigkeit hatte erdulden müssen, war François Duvalier der Schlimmste. 1957 gelangte er mit Hilfe der Amerikaner an die Macht. Er war ein glühender Antikommunist, wahrscheinlich war dies der Grund für seine Unterstützung. Duvalier oder Papa Doc, wie er sich selbst nannte, verehrte Hitler, aber sein größtes Vorbild war ‚Baron Samedi’, der Herr der Friedhöfe. ‚Baron Samedi’ ist ein Voodoogeist des Todes, ein übernatürliches Wesen. Duvalier kleidete sich wie sein Vorbild in Schwarz und mit der Zeit glaubte er selbst, unsterblich zu sein. Er ließ überall eine neue Version des Vaterunsers anschlagen: „Unser Doc, der du bist im Nationalpalast, geheiligt werde dein Name...“
Maddox schwieg für einen Moment.
„Waren Sie damals schon in Haiti?“, wollte Abby wissen.
„Nein, ich traf erst in den siebziger Jahren in Haiti ein. Meine Kirche hatte mich entsandt, um hier ein Waisenhaus zu errichten und zu leiten. Und Waisen gab es viele. Papa Doc und später sein Sohn Baby Doc, regierten mit Hilfe der tonton macoute. Der Name leitet sich aus einem Abzählvers ab, mit dem man Kindern mit dem ‚Schwarzen Mann’ droht. Die tontons folterten und töteten Zehntausende, während François Duvalier Voodoomessen im Nationalpalast abhielt. Sein Sohn war kaum besser, musste aber Mitte der achtziger Jahre nach Frankreich fliehen, wo er noch heute unbehelligt lebt.“
Abby blickte Maddox direkt in die Augen. „Die tontons haben Jean Mitchards Eltern getötet, nicht wahr?“
Maddox antwortete nicht auf die Frage, aber in seinem Blick erkannte Abby, dass sie Recht hatte.
„Und trotzdem ist er nach Haiti zurückgekehrt“, meinte sie nachdenklich.
„Seine Eltern starben für ein besseres Haiti. Er ist hier, um ihren Traum Wirklichkeit werden zu lassen.“
Abby lachte bitter. „Ein Traum? Ich bin erst wenige Tage hier, aber was ich gesehen habe, erinnert mich mehr an einen Albtraum.“
„Dem viele Haitianer zu entfliehen versuchen. Die meisten von ihnen ersaufen in seeuntüchtigen Booten, bei dem Versuch die USA zu erreichen. Diejenigen, die es tatsächlich schaffen, amerikanische Hoheitsgewässer zu erreichen, werden von der US-Küstenwache aufgegabelt und hierher zurückgeschickt.“ Der Priester schüttelte resigniert den Kopf. „Haiti verlässt niemand. Weder die Lebenden noch die Toten werden dieser Insel je entkommen.“
„Warum sind Sie noch hier?“
„Das Waisenhaus ist längst geschlossen. Die demokratische Regierung von Präsident Aristide ist pleite, wenn sie überhaupt jemals Geld hatte. Ich leite hier eine kleine Gemeinde. Anständige Menschen, die auf meine kirchliche Führung vertrauen. Nein, ich könnte sie nicht im Stich lassen. Ich habe diesen Beruf gewählt, um den Menschen Hoffnung zu bringen, nirgends auf der Welt ist die Hoffnung nötiger.“ Wieder schüttelte er den Kopf, aber diesmal wirkte es, als wolle er eine Last abwerfen. „Mein Platz ist genau hier.“
Abby kam nicht mehr dazu, ihm weitere Fragen zu stellen, denn plötzlich stand Jean Mitchard am Kelleraufgang. Sie konnte ihm ansehen, dass er etwas entdeckt hatte und sein Gesichtsausdruck verriet ihr, es würde ihr nicht gefallen.
„Lassen Sie uns nach Port-au-Prince zurückfahren“, sagte Jean.
„Was haben Sie herausgefunden?“, verlangte Abby zu wissen.
„Später. Ich erzähle es Ihnen auf der Rückfahrt.“
„Nein“, sagte Abby bestimmt. „Sie sagen es mir jetzt.“
Mitchards seufzen klang wie ein Stöhnen. Sein Blick wanderte von Abby zu Maddox und wieder zurück.
„Ich kann rausgehen“, meinte der Priester.
„Das ist nicht nötig“, sagte Jean. „Du kannst es ruhig hören.“
„Also, ist das meine Schwester oder nicht?“, fragte Abby hart.
„Nein, sie ist nicht.“
Abby, die sich erhoben hatte, wankte zurück zum Stuhl und ließ sich schwer hineinfallen. Maddox schaute erschrocken Jean an, der seinen Blick ungerührt erwiderte.
„Bei dem verbrannten Leichnam handelt es sich definitiv nicht um eine Weiße. Die Knochenfragmente, die ich untersucht habe, waren zwar zu klein, um etwas damit anzufangen, aber ich habe mehrere Haare gefunden, die nicht vollständig verbrannt waren.“ Er wandte sich an Abby. „Sie sagten, Ihre Schwester sei blond gewesen.“
Abby nickte.
„Nun, die Haare, die ich gefunden habe, waren schwarz.“
„Linda könnte sich die Haare gefärbt haben“, warf Abby ein.
„Nein.“ Mitchard schüttelte energisch den Kopf. „Die Haare entsprechen in Aufbau und Struktur afrikanischem Haar, das viel dicker ist und einen anderen Querschnitt hat als europäisches Haar. Die Haarspitzen waren grau. Nicht durch Entfärbung oder durch die Hitze beim Verbrennen der Leiche. Es waren die Haare eines alten Menschen. Wahrscheinlich handelte es sich bei dem Toten um einen Mann. Ich habe ein einzelnes schwach gekräuseltes Haar entdeckt, von dem ich glaube, es könnte aus dem Bartwuchs eines Mannes stammen.“
Abby war bleich geworden. Ihre Hände lagen auf der Tischplatte des Küchentisches. Jean konnte sehen, wie sie zitterten. Als er in Annys Gesicht blickte, bemerkte er, dass sie weinte. Er ging zu ihr hinüber, aber bevor er sie erreichte, erhob sie sich und verschwand durch die Tür nach draußen.
„Lass sie gehen“, sagte Maddox zu Jean, der Anstalten machte, ihr zu folgen. „Sie muss jetzt allein sein.“
Mitchard setzte sich zu dem Priester. „Es ist nimmt kein Ende, nicht wahr?“
„Nein, mein Freund. Wir beide wissen, auf Haiti findet es niemals ein Ende.“
Abby stand an die alte Kirchmauer gelehnt und weinte, bis keine Tränen mehr kamen. Sie spürte weder die Hitze noch den Wind, der vom Meer heraufstrich.
Sie dachte an Linda. Linda, wie sie immer gelächelt hatte. Ein stolzer Schwan in einer Welt, die von Spatzen bevölkert war. Linda war tot, unwiederbringlich an die Ewigkeit verloren, zu der Sterbliche keinen Zutritt hatten. Und ihr selbst blieb nicht einmal ein Leichnam, den sie beerdigen konnte.
Was war das nur für ein Land, in dem man Leichen stahl und dafür andere Tote verbrannte, um die Trauernden zu täuschen?
Obwohl Abby durch Mitchards Bericht wie betäubt war, zuckten doch regelmäßig Fragen durch ihren Geist.
Warum?
Wofür das alles?
Wenn Linda durch ärztliches Versagen gestorben war, hätte sie es nie erfahren. Den Leichnam durfte man nur in einem versiegelten und feuerfesten Sarg aus Haiti ausführen und in England musste er ungeöffnet beerdigt werden. Gut, vielleicht hätte sie die Behörden überzeugen können, eine Autopsie an ihrer Schwester durchzuführen, um die tatsächliche Todesursache herauszufinden, aber irgendwie glaubte Abby nicht so recht daran.
War Linda ermordet worden?
Jean Mitchard schwor Stein und Bein, dass sie einen natürlichen Tod gestorben war. Es gab jede Menge Zeugen für ihr Ableben. Aber wo war ihr Leichnam? Warum hatte man ihn verschwinden lassen, wenn es nichts zu verbergen gab?
Abby fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Alles war so verwirrend. Es machte keinen Sinn. Jede Frage führte nur zu weiteren Fragen und bis jetzt hatte sie noch nicht eine einzige Antwort gefunden.
Unerwartet legte sich eine schwere Hand auf ihre Schulter. Sie hatte nicht bemerkt, wie der Priester neben sie getreten war.
„Kommen Sie ins Haus. Ich mache uns einen Tee.“
Widerstandslos ließ sich Abby von ihm zurück in die Küche führen. Mitchard saß am Tisch und sah ihr entgegen, als sie den Raum betrat, aber er sagte nichts.
Maddox hantierte mit einem alten Wasserkessel herum, den er auffüllte und auf die Herdplatte stellte. Aus einem der Schränke nahm er eine Blechdose mit Teebeuteln, die er auf drei Tassen verteilte.
„Morgen fliege ich nach Hause“, sagte Abby leise. Niemand antwortete ihr. Was hätten sie auch sagen können.
Der Kessel begann zu kochen. Maddox schüttete das Wasser in die Tassen und stellte vor Abby und Mitchard jeweils eine hin. Die letzte Tasse behielt er in der Hand, als brauche er etwas, um sich daran festzuklammern.
„Geht zum Friedhof“, sagte er schließlich.
„Wie bitte?“, fragte Abby. Mitchard blickte von seinen Händen auf, die er die ganze Zeit geknetet hatte.
„Zum Friedhof“, wiederholte Maddox. „Geht zum Friedhof und sprecht mit den Totengräbern. Vielleicht können sie euch helfen. Wenn eine weiße Frau begraben wurde, wissen sie es.“
„Ich habe Ihnen doch erklärt, dass man mir gesagt hat, sie wäre...“ Mitten im Satz hielt Abby inne. Vielleicht war auch das eine Lüge gewesen, wie alles andere? Vielleicht hatte man ihr nur gesagt, dass Linda verbrannt worden war, damit sie ihre Leiche nie zu Gesicht bekam? Vielleicht war Linda tatsächlich beerdigt worden und ruhte nun in einem Grab, wartete darauf, dass sie kam, um sie heimzuführen?
„Es wird bestimmt keinen Stein mit ihrem Namen darauf geben“, sagte Abby.
„Nein, aber die Totengräber wissen alles. So war es schon immer in Haiti.“
13. Tonton
Sie hatten sich von Maddox verabschiedet, ohne dass sie Mama Koko noch getroffen hatten. Abby hatte dem Priester mehrfach gedankt, aber der hatte schlicht abgewunken. Nun saßen sie in Mitchards Renault und fuhren die Küstenstraße zurück nach Port-au-Prince.
„Sie haben mir nicht gesagt, dass Ihre Eltern von den tontons umgebracht wurden“, sagte Abby.
Maddox blickte kurz zu ihr hinüber, bevor er sich wieder dem Verkehr zuwandte. „Hat Maddox Ihnen davon erzählt?“
„Nein, er sprach von der Geschichte Haitis. Unweigerlich sind wir auch auf die Verbrechen zu sprechen gekommen, die hier begangen wurden.“
„Ich hätte Sie nicht mit dem Alten allein lassen sollen“, knurrte Mitchard. „Er redet zuviel.“
„Er ist ein netter Mann. Ein guter Mensch.“
„Ja, das ist er“, seufzte Jean Mitchard. „Ich verdanke ihm alles.“
„Wie kam es dazu, dass Sie Waise wurden?“
Er zögerte, sprach dann aber doch. „Meine Eltern waren beide Lehrer. Meine Mutter eine Schwarze, mein Vater ein Franzose, den es nach Haiti verschlagen hatte. Eigentlich hatte er nur kurz auf Haiti Halt machen wollen, er befand sich auf einer Reise um die Welt, aber dann traf er meine Mutter und verliebte sich in sie. Er blieb in Port-au-Prince und wurde Lehrer an der gleichen Schule wie sie. Eine Zeitlang waren sie zu verliebt, als dass sie sich um die politischen Verhältnisse gekümmert hätten und dann war da noch ich, der die beiden auf Trab hielt. Aber schließlich konnten meine Eltern die Augen nicht mehr vor dem versperren, was um sie herum geschah. Menschen wurden verschleppt, gefoltert und getötet. Besonders mein Vater betrachtete das herrschende System mit Abscheu. Er war Franzose und glaubte, dieser Umstand mache ihn immun gegen Angriffe.“
„Was geschah?“
„Nun, es war unausweichlich. Mein Vater hatte sich mit anderen zusammengetan und eine Untergrundzeitschrift gegründet, in der den Menschen schonungslos mitgeteilt wurde, welche Verbrechen Duvalier beging.“ Mitchard schluckte schwer, als er sich erinnerte. „Unter ihnen war ein Mann, Julius Castor, Vorarbeiter auf einer Farm im Norden Haitis, der sie an die tonton macoute verriet. Alle wurden verhaftet. Ich habe meine Eltern nie wieder gesehen.“
„Wie alt waren Sie damals?“
„Elf Jahre alt. Ich konnte den Häschern entkommen. Mein Vater hatte kurz vor seiner Verhaftung erfahren, dass man ihn und meine Mutter abholen würde. Er versuchte erst gar nicht zu fliehen.“ Mitchard zuckte mit den Achseln. „Wohin hätte er auch gehen sollen? Aber er schickte mich zu einem Freund, der mich zu Pater Maddox brachte. Der Pater hat mir in dieser Nacht die Haare kurz geschoren, damit ich zwischen den anderen Kindern nicht auffiel. So wurde ich ein Waise unter Waisen. Die tontons kamen auf der Suche nach mir, auch nach St-Marc, aber sie fanden mich nicht. Ich war unsichtbar geworden und blieb es viele Jahre. Lange Zeit trug ich einen falschen Namen. Erst nachdem auch die Anhänger Duvaliers entmachtet waren, konnte ich es wieder wagen, Jean Mitchard zu sein.“
„Dante muss an Haiti gedacht haben, als er die Hölle beschrieb.“
„Was ist mit Ihnen? Erzählen Sie mir etwas über sich.“
„Was möchten Sie wissen?“
„Fangen Sie einfach an zu erzählen.“
„Ich glaube, ich kam schon zornig auf die Welt“, begann Abby leise. „Auf jeden Fall war dieser Zorn in mir, solange ich denken kann. Meine Mutter erzählte mir später, ich hätte ständig gebrüllt. Nicht wie andere Kleinkinder, wenn sie Hunger oder ein Bedürfnis nach Nähe haben. Nein, bei mir schien es Wut zu sein. Vielleicht war die Wut, eine verzweifelte Erinnerung an den Ort im Leib meiner Mutter, der mir Schutz und Wärme geboten hatte und den ich nun nie wieder betreten würde.
„Mein Vater liebte mich. Ich war seine Prinzessin. Als er starb, war ich die einzige sechsjährige Witwe auf diesem Planeten. Mit ihm ging all die Freude und fröhliche Ausgelassenheit, die eine glückliche Kindheit begleiten sollten. Für meine Mutter war ich stets nur ein Ärgernis gewesen. Jemand, den man notgedrungen in ein hübsches Kleid stecken und den Verwandten präsentieren musste, wenn irgendein Ereignis anstand und den man aber sofort wieder ignorierte, wenn der letzte Gast gegangen war.“
Abby hustete verlegen „Wahrscheinlich hat sich meine Mutter Zeit ihres Lebens gefragt, wie ich ihr es antun konnte, ihre Tochter zu sein. Aber auch sie wusste, man kriegt nie alles im Leben. Und sie hatte viel. Mehr als sie verdiente. Geboren als Tochter einer wohlhabenden Adelsfamilie, hatte meine Mutter nie auf etwas verzichten müssen. Im Alter von einundzwanzig hatte sie sich eine weitere Stufe in der gesellschaftlichen Schicht nach oben gearbeitet, indem sie meinen Vater, den Sohn des Earl of Wilshire heiratete. Allerdings war mein Vater so gar nicht wie der Rest seiner sozialen Schmarotzerschicht. Er hatte gern Umgang mit den Arbeitern, soff wie ein Loch, war großherzig und komplett verrückt.“ Abby lachte. „Außerdem war er ein Versager. Was immer er geschäftlich anpackte, ging schief. Mein Vater hält noch heute den britischen Rekord für die meisten Firmenpleiten in einem Jahr. Im Frühjahr 1977 eröffnete er einen Pferderennstall, mit dem er Aufmerksamkeit beim traditionellen Rennen in Ascot erregen wollte. Er investierte fast zwei Millionen Pfund in drei arabische Vollblüter, die er im Oman bestellte. Auf dem Weg nach Europa ging das Transportschiff unter und mein Vater verlor die Hälfte seines Vermögens. Natürlich hatte er nicht daran gedacht, die Gäule zu versichern. Solche weltlichen Dinge hatten in seinem Bewusstsein keinen Platz. Da war nur Raum für großspurige Träume.“
„Ich kenne solche Menschen“, meinte Mitchard. „Ihr Kopf schwebt immer über den Wolken und manchmal sehen sie den Boden nicht mehr. Wie ging es weiter?“
„Nur wenig entmutigt, machte sich mein Vater daran, den Verlust wieder hereinzuholen, indem er eine heruntergewirtschaftete Porzellanmanufaktur aufkaufte und für Unsummen modernisierte. Er hoffte auf ein glänzendes Geschäft mit der Krone und plante den millionenfachen Absatz an Touristen, die sich von dem Aufdruck der Royals blenden lassen würden. Die Queen empfing ihn nicht einmal, als er mit seiner Mustersammlung in Windsor auftauchte. Zu diesem Zeitpunkt grübelte meine Mutter bereits darüber nach, ob sie sich von ihm scheiden lassen sollte. Zwar hätte es einen gesellschaftlichen Makel bedeutet, aber das war immer noch besser, als der soziale Knockout, der nun drohte.
Ich denke, es war meine zwei Jahre ältere Schwester, die unserem Vater noch eine Gnadenfrist bescherte. Linda war alles, was ich nie sein würde. Hübsch, von ruhigem, ansprechendem Wesen, talentiert auf allen Gebieten, brachte sie stets nur die besten Noten nach Hause. Sie war der Augapfel meiner Mutter, ihr großer Traum. Ich hingegen war ungehobelt, unbegabt und in der Schule eine Niete. Mich mochten weder die Lehrer noch meine Mitschüler. Ich hatte keine Freunde, nur eine Schwester, mit der ich gern meinen Platz im Leben getauscht hätte.“
Mitchard beobachtete Abby aus dem Augenwinkel. Er sah, wie die feinen Linien um ihre Mundwinkel härter wurden. Er konnte fühlen, dass nun der traurige Teil der Geschichte kommen würde.
„Nach der Pleite mit der Porzellanmanufaktur versuchte sich mein Vater an der Börse und verlor den Rest seines früher so umfangreichen Vermögens und noch einen großen Teil des Geldes meiner Mutter dazu. Am 13. November 1977 beendete er seine Misserfolgsserie, in dem er sich eine Kugel in den Kopf schoss. Er hatte sein altes Jagdgewehr mit in den Wald genommen, den Lauf in den Mund gesteckt und mit einer Schnur den Abzug bestätigt. Ein Jagdaufseher fand ihn zwei Tage später.“
Wieder seufzte Abby. Es klang, wie das Stöhnen eines alten Hundes. „Ich denke, meine Mutter hat ihm nie verziehen, dass er nicht bei einem Autounfall ums Leben kam. In der Rolle, der durch ein Unglück des Mannes beraubten Witwe hätte sie sich besser gefallen. So war sie nur die Frau eines geschäftlichen Versagers, der nicht einmal den Mut gehabt hatte, für seine Schulden geradezustehen. Nach dem Tod meines Vaters ging es uns nicht gut. Mutter konnte das Anwesen und den ausgedehnten Besitz in Leicester nicht halten und wir zogen in ein winziges Haus in einem Londoner Vorort. Meine Schwester Linda wurde zur letzten Hoffnung meiner Mutter. All ihre Sehnsüchte fokussierten sich nun auf sie. Ich war ein Nichts. Ein kleines ungehobeltes Nichts. Am liebsten hätte mich meine Mutter in den Keller gesperrt, aber das war natürlich undenkbar. Außerdem hätte meine Mutter den Keller gar nicht gefunden. Sie war nie dort. Ich hingegen spielte öfters im Keller, durchwühlte die alten Sachen und stellte mir vor, ich wäre an Lindas Stelle und all die Liebe, die sie bekam, wäre für mich. Der Traum endete, wenn ich verdreckt die Kellertür hinter mir schloss und meine Mutter mich als ‚Bauerntrampel’ oder ‚Zigeunerkind’ beschimpfte.“
„Möchten Sie weiter erzählen?“, fragte Mitchard. Seine Hand streckte sich nach ihr aus, aber er wagte nicht, sie zu berühren. Abby nickte. Ihr Kinn war auf die Brust gesunken und ihre Finger öffneten und schlossen sich, so als suchte sie die richtigen Worte.
„Es gibt nicht mehr viel zu sagen. Wir lebten unser kleines Leben, so gut wir konnten. Linda wurde mit dem letzten Rest unseres Geldes auf die besten Schulen geschickt. Für mich blieb nichts übrig, aber das war mir egal. Mein Weg war nie der Weg meiner Familie.“
„Lebt Ihre Mutter noch?“
„Nein, sie starb vor Jahren an Krebs.“
„Und wie fühlen Sie sich jetzt, wo Sie tot ist?“
In Abbys Augen schwammen Tränen, die sie nicht weinte. „Ich bin noch immer zornig.“
Dann herrschte die Stille ausgesprochener Wahrheiten. Das Schweigen lastete schwer.
„Und trotzdem tun Sie alles, um Ihre tote Schwester zurück nach England zu bringen?“, fragte Mitchard schließlich.
„Ja. Linda war ein guter Mensch. Es war nicht ihre Schuld, dass ich nicht so wie sie sein konnte und sie beneidete. In meiner Jugend erkrankte ich an.... Linda hat mir ohne zu zögern eine ihrer Nieren gespendet. Ohne sie würde mein Leben heute ganz anders aussehen.“
Mitchard hörte die Entschlossenheit in Abby Stimme. „Sie wollen also Maddox’ Vorschlag folgen und die Totengräber befragen?“
„Ja, bevor ich abreise, möchte ich die Wahrheit kennen.“
„Haben Sie ein Foto von Ihrer Schwester?“
„Nein“, erwiderte Abby. „Aber ich weiß, wo wir vielleicht eines finden. Fahren Sie mich zur Britischen Botschaft.“
„Was erhoffen Sie sich dort?“
„Ich werde mich an den Botschafter wenden und ihm meine Lage schildern. Vielleicht kann er ja Druck auf die Behörden ausüben. Außerdem lagern dort die persönlichen Gegenstände meiner Schwester. Zumindest ihr Reisepass sollte sich unter den Sachen befinden, also haben wir auch ein Foto von ihr.“
„Gut, dann fahren wir zur Botschaft.“
14. Das Foto
„Der Botschafter befindet sich außer Landes“, wiederholte der Beamte zum dritten Mal. Er hatte sich als Richard Hurston vorgestellt. Ein mittelgroßer, schlanker Mann mit lichter werdendem Haar und perfekten, fast arroganten Manieren.
Es war eindeutig, dass er Abby nicht ernst nahm. Sie hatte ihm die Situation erklärt, hatte ihm die Geschehnisse, die auf den Tod ihrer Schwester gefolgt waren, in allen Details erläutert, aber Hurston machte keine Anstalten, in der Sache irgend etwas zu unternehmen.
„Sie müssen sich an die hiesigen Behörden wenden“, sagte er nun. „Die Botschaft kann bei so einem Fall nicht intervenieren. Unsere Aufgabe ist rein politischer Natur. So etwas fällt in die Zuständigkeit der Exekutive. Wir haben leider keine Möglichkeiten, die Umstände des Todes Ihrer Schwester zu untersuchen.“
Abby kochte vor Wut. Dieses eingebildete Arschloch ließ sie nun bereits seit zehn Minuten im Empfangsraum der Botschaft stehen, ohne ihr oder Jean Mitchard einen Stuhl anzubieten. Er sprach in einem Tonfall, der glauben ließ, er hielte sie für ein kleines Mädchen, dem man umständlich alles erklären musste.
„Ich habe Ihnen doch gesagt“, versuchte es Abby erneut. „Die Behörden lügen. Dr. Mitchard hat herausgefunden, dass es sich bei den sterblichen Überresten, die man mir ausgehändigt hat, nicht um meine Schwester handelt. Und Sie wollen nichts unternehmen?“
„Uns sind leider die Hände gebunden. Unser Einfluss ist begrenzt.“
„Eine britische Staatsbürgerin ist verstorben. Die Umstände ihres Todes sind, gelinde gesagt, merkwürdig. Ich werde bei dem Versuch den Leichnam zurück nach England zu führen, belogen und betrogen, aber Sie sehen keinen Grund etwas zu unternehmen?“
Der Beamte verdrehte die Augen. „Meine Liebe...“
„Nennen Sie mich nicht so. Ich habe einen Namen“, zischte Abby.
„Miss Summers“, begann Hurston unbeeindruckt von vorn. „Die Sterbeurkunde Ihrer Schwester wurde von Dr. Raphael Muncine unterzeichnet, einem angesehenen Arzt in Haiti. Ein Mann von internationalem Renommee.“ Seine Hand deutete auf Jean, der schweigend neben Abby stand. „Selbst Dr. Mitchard hat bestätigt, dass er sich nicht vorstellen kann, etwas sei beim Tod von Linda Summers nicht mit rechten Dingen zugegangen.“
„Und was ist mit dem Versuch, mir eine falsche Leiche unterzuschieben?“
Hurston ächzte. „Vielleicht und ich sage nur vielleicht, haben die Behörden den Leichnam ‚verlegt’ und wollten nicht, dass Sie deshalb Schwierigkeiten machen.“
„Verlegt? Sind Sie noch ganz bei Trost?“
„Ich muss Sie bitten, nicht persönlich zu werden. Ich habe Ihnen nur eine weitere Möglichkeit aufgezeigt.“
Mitchard fasste nach Abbys Arm und zog sie einen Schritt zur Seite. „Hier kommen wir nicht weiter. Lassen Sie uns gehen“, flüsterte er ihr zu.
„Dieses blöde Arschloch treibt mich zur Weißglut“, sagte Abby keineswegs leise.
„Trotzdem verschwenden wir hier nur Zeit.“
Abby drehte sich wieder zu Hurston um. „Wo sind die Sachen meiner Schwester?“
„Sie stehen unten am Empfang bereit. Es handelt sich um einen Koffer mit Kleidungsstücken und zwei Kartons, die hauptsächlich Bücher und Geschäftspapiere enthalten. Die Polizeibehörde hat eine Liste der Gegenstände angefertigt, als sie die Wohnung Ihrer Schwester ausräumte. Bitte kontrollieren Sie alles, bevor Sie gehen und bestätigen den Empfang.“ Er zog einen Briefumschlag aus der Innenseite seines Jacketts. „Hier sind Reisepass, Führerschein und Impfbuch Ihrer Schwester. Bitte bestätigen Sie auch dafür den Empfang. Der Reisepass wurde ungültig gestempelt, also wundern Sie sich nicht.“
Abby nahm das Kuvert entgegen. Sie starrte Hurston noch einmal wütend an, bevor sie auf dem Absatz kehrtmachte und zur Eingangshalle hinunterging.
„Guten Tag, Miss Summers“, rief ihr der Sekretär hinterher. Selbst auf diese Entfernung konnte Abby die Zufriedenheit aus seiner Stimme heraushören, sie endlich loszuwerden.
„Und nun?“, fragte Mitchard.
„Wie viel Uhr ist es?“ Abby hob den letzten Karton in den Kofferraum und ließ den Deckel zuknallen.
„Kurz nach drei.“
„Fahren wir gleich zum Friedhof?“
„Das würde wenig Sinn machen. Um diese Tageszeit arbeitet dort wahrscheinlich niemand.“
„Gut, dann würde ich vorschlagen, wir fahren in mein Hotel. Ich dusche kurz, ziehe mir etwas Leichteres an und wir gehen noch etwas essen. Mir knurrt der Magen.“
„Steigen Sie ein.“ Mitchard hielt ihr wie ein Chauffeur die Wagentür auf. Abby ließ sich in den Sitz fallen. Im Fahrzeug war es noch heißer als draußen. Der Schweiß drang ihr aus allen Poren. Sie kurbelte das Seitenfenster hinunter. Obwohl ein leichter Wind wehte, brachte er nur die Illusion von Abkühlung.
„Ist es in diesem Land eigentlich immer so heiß?“, fragte Abby.
Mitchard lächelte verschmitzt. „Sie haben Glück. Der Sommer hat noch nicht einmal angefangen.“
„Oh, mein Gott“, stöhnte Abby.
Abby kam aus der Dusche und setzte sich zu Jean auf das Sofa. Sie hatte ein leichtes Kleid übergestreift. Um ihre nassen Haare war ein Handtuch gewickelt. Mitchard hatte seine Slipper ausgezogen und eine Dose kalte Cola in der Hand.
„Ich habe mich selbst bedient“, meinte er entschuldigend.
„Ist schon in Ordnung.“
Sie ging zur Minibar hinüber und nahm sich ebenfalls eine Dose Cola. Auf dem Fußboden standen Lindas Koffer und die zwei Kartons. Abby stellte ihre Dose ab und öffnete einen Karton. Sie hatte die Sachen schon flüchtig beim Empfang in der Botschaft kontrolliert, aber nun nahm sie alles genauer in Augenschein.
Mitchard beobachtete sie stumm, als sie alles auf dem Boden ausbreitete. Der erste Karton enthielt nur Bücher. Meist Taschenbuchausgaben von Lindas geliebten Autoren. Die Einbände waren abgenutzt und die Seiten zerfleddert. Sie musste die Bücher unzählige Male gelesen haben, damit sie in diesem Zustand waren. Abby machte zwei gleich große Stapel daraus. Im zweiten Karton befanden sich Geschäftsunterlagen, die mit Lindas Tätigkeit für einen europäischen Zuckerankäufer zu tun hatten. Mehrere schmale Ordner waren mit ihrer zierlichen Handschrift beschrieben.
Abby nahm den Stapel und reichte ihn Mitchard. „Können Sie da mal einen Blick reinwerfen?“
„Ich dachte, Sie wollten essen gehen?“
„Später.“
„Also gut. Sagen Sie mir, was Sie suchen?“
„Weiß ich nicht so genau. Schau Sie einfach mal die Unterlagen durch, ob Ihnen etwas Ungewöhnliches auffällt.“
Mitchard nahm den ersten Ordner und blätterte ihn auf, während Abby die restlichen Sachen aus dem Karton holte. Es war nicht viel. Als sie alles vor sich ausgebreitet hatte, lagen da die altmodische Polaroid-Sofortbildkamera, die Linda so geliebt hatte, mehrere Modezeitschriften vom letzten Jahr und eine Geldbörse, die neben 137 Dollar in Scheinen und Kleingeld auch ein Bündel Gourde enthielt, deren Wert Abby nicht kannte. Es war zwar nicht allzu viel Geld, aber Abby war trotzdem erstaunt, dass es niemand gestohlen hatte. In den Fächern der Börse steckten Lindas Kreditkarten von Barclay und American Express. Reiseschecks fand sie keine. Wenn Linda welche besessen hatte, waren sie nun verschwunden, aber Abby glaubte nicht daran. Ein Dieb hätte zuerst das Bargeld mitgehen lassen.
Alles in allem gaben ihr Lindas Sachen keine neuen Aufschlüsse. Abby hatte nicht erwartet etwas zu finden, war aber dennoch enttäuscht. Sie nahm sich den Koffer vor und nahm alle Kleidungsstücke heraus. Nichts. Mitchard blätterte noch immer in den Unterlagen, als Abby den Koffer wieder einräumte.
„Und, irgendetwas entdeckt?“, fragte sie ihn.
Mitchard blickte auf, schüttelte den Kopf. „Die Ordner enthalten Daten und Preise für Zuckerrohr. Ich bin zwar kein Fachmann, aber alles sieht ordnungsgemäß aus. Haben Sie etwas gefunden?“
„Nein“, gab Abby zu. Ihr Blick fiel auf die Sofortbildkamera, die noch immer auf dem Boden lag. Etwas störte Abby an dem Anblick, ohne dass sie es benennen konnte. Sie setzte sich und schlug die Beine im Schneidersitz unter. Die Kamera befand sich einen Meter vor ihr. Sie schien ihr etwas sagen zu wollen. Aber was?
Zwei Minuten lang starrte Abby die Kamera an, dann wusste sie die Antwort.
Da lag eine Sofortbildkamera, aber sie hatte kein einziges Foto entdecken können, dass mit ihr gemacht worden war. Linda war eine begeisterte Fotografin gewesen, allerdings hatte sie Digitalkameras stets mit dem Argument abgelehnt, da stecke kein Leben drin, sondern lieber Aufnahmen mit ihrer alten Sofortbildkamera gemacht. Immer und überall. Und nun stellte sich eine Frage: Wo waren die Fotos, die sie hier in Haiti geschossen hatte?
Ihr Fehlen war verdächtig. Abbys Blick wanderte zum Koffer. Sie untersuchte das Gepäckstück nach Fächern und Seitenklappen, aber da war nichts. Bei dem Koffer handelte sich um einen Samsonite mit Hartplastikschale. Es gab keine Innenfächer. Blieb nur noch der Karton mit den Büchern. Obwohl sie wusste, dass der Karton leer war, warf sie nochmals einen Blick hinein, bevor sie sich den Büchern zuwandte. Nacheinander klappte sie jedes einzelne auf und blätterte es durch. Im vorletzten Buch wurde sie schließlich fündig. Ein Foto fiel heraus, als sie das Buch umdrehte. Die weiße Rückseite lag nach oben. Abby nahm das Bild und drehte es um.
Die Fotografie zeigte Linda in strahlendem Sonnenschein vor dem blauen Hintergrund des Meeres. Sie trug ein einfaches schwarzes Leinenkleid, das ihre braungebrannten Schultern freiließ. Ausgebleichtes blondes Haar fiel darauf. Linda war nicht allein auf dem Bild. Sie küsste leidenschaftlich einen Mann mit schwarzem Haar und ebenmäßigen Gesichtszügen.
Es dauerte einen Moment, bevor Abby realisierte, wen Linda da küsste.
Der Mann war Patrick Ferre.
Patrick Ferre saß seinem Stiefvater gegenüber, der in einem Sessel wie ein König thronte. Er selbst hatte auf einem unbequemen Stuhl vor dem Schreibtisch Platz genommen und wartete darauf, dass der Alte endlich Zeit für ihn hatte.
Julius Castor war der Mann, den seine Mutter nach dem Selbstmord seines Vaters geheiratet hatte. Er war damals acht Jahre alt gewesen und konnte sich inzwischen nicht einmal mehr an das Gesicht seines Vaters erinnern. Es gab nur noch einen blassen, schwammigen Eindruck von ihm, wie er sich über sein Bett beugte, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu geben. Mehr war nicht mehr vorhanden, aber Patrick forschte auch nicht in seiner Erinnerung. Während all der Jahre, war ihm sein Vater gleichgültig geworden. Castor war die Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit mit er sich abfinden und mit der er zurechtkommen musste.
Als seine Mutter vor zehn Jahren gestorben war, hatte er Haiti verlassen und in Amerika gelebt. Aber das riesige Land mit seinen mächtigen Städten hatte ihn verwirrt und ihm ein Gefühl der Verlorenheit vermittelt, das er nicht ertragen konnte. Also war er zurückgekehrt.
Obwohl ihm die Zuckerrohrplantage zur Hälfte gehörte, liefen alle Fäden in Castors Händen zusammen und er musste sich mit ihm gutstellen, wenn der Geldfluss nicht versiegen sollte. Sein Lebensstil war aufwendig. Neben dem teuren Mercedes, den er fuhr, unterhielt er noch eine verschwenderische Wohnung in Port-au-Prince, die jeden Monat ein kleines Vermögen verschlang. Hinzu kamen immense Summen, die er für Kleidung und Essen ausgab. Seine Abende in den Restaurants und den Bars der Hauptstadt, die er stets in Begleitung von hübschen, aber kostspieligen Frauen verbrachte, waren auch nicht gerade billig.
Patrick hasste die Abhängigkeit von seinem Stiefvater und die Verachtung mit der Castor auf ihn herabsah, aber er schaffte es nicht, sein bequemes Leben zu ändern. Das Dasein eines Farmers, der sich vor Sonnenaufgang aus dem Bett quälte, den Tag in sengender Sonne verbrachte und abends erst nach ein Einruch der Dunkelheit ins Bett kroch, war nichts für ihn.
Julius Castor hingegen wurde von einer Energie getrieben, die Patrick nicht verstand. Vielleicht lag es daran, dass er als einfacher Zuckerrohrschneider auf der Farm begonnen und sich später zum Vorarbeiter hochgearbeitet hatte. Als sein Vater verstarb, hatte er nur einen Haufen Schulden und eine heruntergewirtschaftete Plantage hinterlassen, deren Felder ausgelaugt und unproduktiv geworden waren. Die Arbeiter waren faul und hatten ständig höhere Löhne verlangt. In ihrer Verzweiflung hatte Patricks Mutter den Vorarbeiter in ihr Haus und ihr Bett eingeladen und Castor hatte in kürzester Zeit die Farm auf Vordermann gebracht. Er kürzte die Löhne um die Hälfte und prügelte die Arbeiter mit brutaler Härte auf die Felder, wo sie bis zum Umfallen schuften mussten. Jeder, der sich weigerte, sein Soll zu erfüllen, bekam die Peitsche zu spüren. Nach drei Monaten war die Hälfte der Arbeiter geflohen, aber Castor hatte für Nachschub gesorgt, für Menschen, die weder Lohn verlangten, noch jemals aufbegehrten.
Patrick fragte sich manchmal, warum es Castor nicht zu Lebzeiten seines Vaters gelungen war, die Plantage in Ordnung zu halten. Er hatte den Verdacht, dass Castor von Anfang an geplant hatte, eines Tages den Platz am Kopfende des Tisches einzunehmen. Castor war gerissen, sehr gerissen und tief in seinem Inneren fürchtete sich Patrick vor ihm.
„Sie hat die Urne abgeholt. Claude vom Gesundheitsministerium hat vorhin angerufen.“ Castor sprach, ohne von seinen Unterlagen aufzusehen. „Ich habe mit dem Flughafen telefoniert. Abby Summers hat ihren Rückflug für morgen bestätigt. Wir sind sie also bald los.“
Patrick schwieg.
„Das hast du nicht schlecht gemacht, Sohn“, gab Castor zu.
Patrick hasste es, wenn ihn der Alte mit ‚Sohn’ ansprach. Julius Castor hatte keine eigenen Kinder, aber deswegen betrachtete er Patrick noch längst nicht als Sohn. Wenn er ihn so ansprach, schwang immer ein unausgesprochener Vorwurf darin, der ihn an seine Unfähigkeit und Schwäche erinnern sollte.
„Alles geht seinen gewohnten Gang“, murmelte Castor.
Patrick hatte ihm nichts von dem Vorfall im Voodootempel erzählt. Sollte der Alte ruhig glauben, er habe Abby Summers soweit beeinflusst, dass sie bereit war abzureisen.
„Was ist mit meinem Geld?“, fragte er.
Castor öffnete eine Schreibtischschublade und zog mehrere Bündel grüner Scheine daraus hervor, die von einfachen Gummiringen zusammengehalten wurden. Mit verächtlichem Grinsen warf er das Geld vor Patrick auf den Schreibtisch.
„Fast dreitausend Dollar. Dein Anteil für diesen Monat.“
„Mehr nicht?“, fragte Patrick, der das Gefühl hatte, der Alte betrüge ihn um seinen rechtmäßigen Anteil.
„Nein, mehr ist es diesmal nicht. Die Erträge der Farm sind gesunken. Mehrere Arbeiter sind verstorben und ich habe noch keinen Ersatz für sie geliefert bekommen.“
„Aber das deckt kaum meine Unkosten.“
„Dann solltest du dich ein bisschen mehr ums Geschäft kümmern.“
„Ich tue mein Bestes“, widersprach Patrick heftig.
„Dein Bestes?“, ächzte Castor sarkastisch. „Ich arbeite Tag und Nacht, damit die Plantage überhaupt noch etwas abwirft und du spielst den reichen, naiven Sohn aus gutem Hause und vögelst irgendwelche Ausländerinnen.“
„Ein Umstand, der uns schon mehrfach zugute kam“, erinnerte ihn Ferre.
Castor wedelte mit der Hand, als versuche er, eine lästige Fliege zu verscheuchen. „Ja, ja. Aber vielleicht hörst du mal auf, so mit Geld um dich zu werfen. Es erregt Verdacht und weckt Neid.“
„Aber genau das ist es doch. Wir sind so mächtig, weil wir reich wirken. Die Menschen fürchten unseren Einfluss. Wenn ich plötzlich anfange, knauserig zu werden, könnten die Leute auf dumme Gedanken kommen. Sie könnten sich fragen, ob wir Schwierigkeiten haben. Es wäre der Anfang vom Ende. Wir bestimmen die Zuckerrohrpreise auf der ganzen Insel, damit wäre es vorbei, wenn die anderen Anbieter keine Angst mehr vor uns hätten.“
Julius Castor widerstrebte es, aber Patrick hatte Recht. Er war ein Schwächling und Weiberheld, aber er war nicht dumm. Nur die Furcht hielt die anderen Farmer bei der Stange.
„Wann siehst du die Engländerin wieder?“
„Heute Abend. Morgen früh begleite ich sie zum Flughafen, um mich zu vergewissern, dass sie auch wirklich abreist“, log Patrick. Er war sich sicher, Abby Summers würde ihn nach den Ereignissen im Voodootempel nicht mehr sehen wollen. Ihre überstürzte Flucht aus dem Tempel und die Tatsache, dass sie seinen Brief nicht beantwortet hatte, sprachen eine deutliche Sprache. Castor durfte diesen Umstand aber keinesfalls erfahren. Der Alte war zu allem fähig. Patrick hatte ihn oft genug dabei beobachtet, mit welcher Grausamkeit er Arbeiter selbst für Kleinigkeiten bestrafte. Nein, mit Julius Castor legte man sich nicht an.
„Ich fahre jetzt zurück in die Stadt“, sagte Ferre und erhob sich.
Castor wandte sich wieder seinen Unterlagen zu. „Ruf mich morgen an und sag mir, ob alles glatt gegangen ist.“
15. Boule
Abby saß noch immer auf dem Fußboden und starrte die Fotografie von Linda und Patrick Ferre an. Sie fühlte sich unendlich gedemütigt. Patrick hatte ganz offensichtlich ein Verhältnis mit ihrer Schwester gehabt und er hatte versucht, auch sie zu verführen. Aber vor allem hatte er gelogen. Abby konnte sich noch gut an ihr erstes Aufeinandertreffen in dem exklusiven Restaurant am Tag ihrer Ankunft erinnern. Nachdem er ihr erzählt hatte, er wäre Zuckerrohranbauer, hatte sie ihn gefragt, ob er Linda kenne, die für einen europäischen Konzern Zucker in Haiti ankaufe. Er hatte das vehement verneint, aber das Foto bewies, dass er sie doch kannte. Und zwar auf sehr intensive Weise.
Als sie über den ersten Abend nachdachte, fiel ihr ein, wie erschrocken Ferre beim Zusammenstoß gewirkt hatte. Dafür gab es nur eine Erklärung. Sie und Linda sahen sich zwar nicht übermäßig ähnlich, aber bei ungünstiger Beleuchtung konnte man sie durchaus im ersten Moment verwechseln.
Abby sah die Szene vor ihrem inneren Auge, sah Ferres ängstlichen Blick. Das konnte nur bedeuten, dass er von Lindas Tod wusste. Für ihn musste es für einen kurzen Augenblick so ausgesehen haben, als sei sie von den Toten auferstanden.
Immer mehr Merkwürdigkeiten fielen Abby ein. Ferre hatte sie ohne zu zögern zum Essen eingeladen, obwohl er sie gar nicht kannte. Seine Hilfsbereitschaft, als er sie zum Gesundheitsministerium begleitet hatte. Im Nachhinein erschien es ihr, als habe Patrick Ferre nur ein Ziel gekannt – sie auf Schritt und Tritt zu begleiten.
Hatte er etwas mit Lindas Tod zu tun?
Ihr Blick wanderte zu Jean Mitchard hinüber, der noch immer die Akten durchsah. Jean war sich sicher, dass Linda eines natürlichen Todes gestorben war.
Konnte sie ihm vertrauen? Konnte sie überhaupt jemandem in diesem verfluchten Land trauen?
Ja, beantwortete sie sich ihre Frage still. Jean konnte sie vertrauen. Er war es gewesen, der vorgeschlagen hatte, die Asche zu untersuchen und er war es auch, der herausgefunden hatte, dass sie belogen und betrogen worden war.
Jean schien ihren Blick zu spüren, denn er hob den Kopf und sah sie an.
„Was ist mit Ihnen? Sie sehen aus, als haben Sie ein Gespenst gesehen.“
Wortlos reichte sie ihm das Foto. Mitchard betrachtete es lange, bevor er etwas sagte.
„Das ist also Ihre Schwester. Eine wunderschöne Frau.“
„Und der Mann neben ihr, ist Patrick Ferre.“
„Ja, ich habe ihn gleich erkannt.“
Abby erzählte ihm von ihren Bedenken gegenüber Ferre. Sie berichtete ihm alles, was geschehen war, seit sie Patrick kennengelernt hatte, nur den Vorfall im Voodootempel ließ sie unerwähnt.
„Meinen Sie, er hat etwas mit Ihrem Tod zu tun?“, fragte sie schließlich.
„Ihre Schwester verstarb an einer fieberhaften Erkrankung. Dafür gibt es wahrscheinlich ein Dutzend Zeugen. Sie wurde nicht ermordet, falls sie das glauben sollten.“
„Aber finden Sie sein Verhalten nicht verdächtig?“
„Ehrlich gesagt - nein. Für all das kann es auch eine einfache Erklärung geben. Er hat sie zum Essen eingeladen, weil sie fremd in der Stadt waren. Außerdem sind Sie eine schöne Frau. Patrick Ferre ist in Port-au-Prince berüchtigt. Er ist ein Weiberheld. Die Hälfte der Frauen von Pétonville war schon mit ihm im Bett. Die andere Hälfte hält sich von ihm fern, um ihre Ehen nicht zu gefährden.“
Mitchards Bemerkungen versetzten Abby einen Stich. Sie war also nicht mehr als ein flüchtiges Abenteuer für Ferre gewesen. Eine Eroberung für die Nacht. Wahrscheinlich hatte er sich im Voodootempel königlich über sie amüsiert. Abby verfluchte ihre Naivität, die sie immer wieder an die falschen Männer geraten ließ.
„Wahrscheinlich hat er Sie wirklich nur aus Hilfsbereitschaft zum Gesundheitsministerium begleitet“, sprach Mitchard ungerührt weiter.
„Das glaube ich nicht.“
Jean sah sie eindringlich an. „Sie verrennen sich da in etwas. Ihre Verdächtigungen haben einen entscheidenden Fehler.“
„Welchen?“
„Sie haben ihn angerempelt und dadurch kennengelernt. Nicht umgekehrt. Ferre konnte nicht ahnen, dass sie an diesem Abend im Restaurant sein würden. Wahrscheinlich wusste er nicht einmal von ihrer Ankunft in Haiti.“
Abby musste zugeben, dass Mitchard Recht hatte. Die Szene im Restaurant konnte nicht gestellt sein. Zu viele Unwägbarkeiten. Sie selbst hatte sich spontan beim Spazieren gehen dazu entschlossen, noch etwas zu essen. Ihr Aufeinandertreffen musste also tatsächlich ein Zufall gewesen sein. Andererseits war da noch etwas. Etwas, das sie nicht greifen, aber spüren konnte.
„Was bedeutet eigentlich ‚Boune’?“, fragte sie Mitchard.
„Ich weiß nicht. Wie kommen Sie jetzt darauf?“
„Ferre hat dieses Wort mehrfach zu dem Beamten im Gesundheitsministerium gesagt. Er sagte es so eindringlich, dass ich es mir merken konnte. Ich dachte, es wäre französisch.“
„Boule“, sagte Jean plötzlich.
„Ja, genau. So klang es. Es ist also doch französisch.“
„Nein. Creole. Es bedeutet ‚verbrannt’.“
Abby war bleich geworden. Sie konnte spüren, wie sich die Haut über ihrem Gesicht spannte.
„Was haben Sie?“, fragte Mitchard.
„Er hat dem Beamten vorgegeben, was er mir sagen soll. Es war seine Idee zu behaupten, Linda wäre verbrannt worden.“
„Jetzt übertreiben Sie wirklich. Sie sprechen kein Creole. Die beiden haben sich darüber unterhalten, dass Ihre Schwester verbrannt wurde, da ist es klar, dass dieses Wort gefallen ist.“
„Nein, ich bin mir ganz sicher. Ich weiß noch genau, was für einen seltsamen Gesichtsausdruck der Beamte gemacht hat, als Patrick dieses Wort verwendete.“ Abbys Mund wurde zu einem harten Strich. „Außerdem hat er das Wort zweimal wiederholt, um sicherzugehen.“
„Was soll ich dazu sagen?“
Abby stand energisch auf. „Nichts. Lassen Sie uns zum Friedhof fahren. Vielleicht stimmt es ja, was Pater Maddox sagt und die Totengräber kennen die Antworten auf all unsere Fragen.“
Patrick Ferre saß in seinem schwarzen Mercedes und fuhr in Richtung Hauptstadt. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren, dadurch war von der draußen herrschenden Hitze im Wageninneren nichts zu spüren. Es waren nur wenige Fahrzeuge unterwegs. Die meisten Fahrer machten sofort Platz, wenn sie seinen Mercedes im Rückspiegel entdeckten. Die wenigen, die stur blieben, jagte er durch Aufblenden und brüllendes Hupen zur Seite.
Ferre dachte über das Gespräch mit seinem Stiefvater nach. Selbst nach all den Jahren flößte ihm Castor noch immer Angst ein. Der Alte war grausam. Berechnend grausam. Sollte er sich ihm je in den Weg stellen, würde er vernichtet werden. Daran zweifelte Patrick keine Sekunde.
Die Sache mit Linda Summers war schlimm genug. Patrick hatte nicht gewollt, dass ihr etwas geschah, aber letztendlich war er machtlos gegen das Wirken seines Stiefvaters. Hoffentlich reiste Abby morgen ab. Wenigstens sie sollte verschont bleiben. Abby hatte etwas in seinem Inneren berührt. Er war nicht verliebt in sie, aber ihre offene Art hatte ihn bezaubert. Sie war so anders als ihre Schwester. Linda war eine bildschöne Frau gewesen, klug und gebildet. Der perfekte Geist in einem perfekten Körper, aber genau ihre Perfektion war es gewesen, die ihm eine innere Distanz zu verschaffte. Niemand konnte das Perfekte lieben. Man bestaunte Perfektion, wenn sie man sie traf. Man bewunderte sie, aber niemand verliebte sich in sie. Linda Summers war wie das Bildnis der Mona Lisa gewesen. Ein Kunstwerk, dem man fernblieb, egal, wie weit man sich ihm auch näherte.